de | en | fr

9.4.2018, 19 Uhr: Buchvernissage

Lotte Schwarz: Die Brille des Nissim Nachtgeist (Roman)

Buchvernissage mit der Herausgeberin Christiane Uhlig

Lisette, eine junge Hamburgerin, emigriert im Sommer 1934 aus politischen Gründen nach Zürich. Sie findet Arbeit und Unterkunft in der Pension Comi, die vom russisch-jüdischen Ehepaar Paksmann geführt wird. Viele Geflüchtete und Vertriebene finden hier ein Zuhause auf Zeit: Nissim Nachtgeist, der gerne Schauspieler geworden wäre und nun illegal Berufsmäntel näht, Signora Teresa mit den leuchtenden roten Haaren oder auch Vicky, die samstags die Damen der Pension mit einer Schönheitspflege verwöhnt, leben hier und versuchen Vertreibung und Krieg zu überstehen.

Lotte Schwarz, die von 1938 bis 1948 als Bibliothekarin im Schweizerischen Sozialarchiv tätig war, arbeitete bis zu ihrem Tod 1971 an ihrem Roman «Die Brille des Nissim Nachtgeist», der nun erstmals veröffentlicht wird.

Montag, 9. April 2018, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum
Mit anschliessendem Apéro, Eintritt frei

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 2 MB)

17.4.2018, 19 Uhr: Streik im 21. Jahrhundert

Buchpräsentation mit den Co-Autoren Andreas Rieger (Gewerkschaft Unia) und Paul Rechsteiner (Präsident Schweizerischer Gewerkschaftsbund/Ständerat SG)

Streiks gibt es in der Schweiz nicht nur in Geschichtsbüchern. Auch im 21. Jahrhundert greifen, wenn es nicht anders geht, jedes Jahr Tausende zum Mittel des Arbeitskampfs. Arbeiterinnen und Arbeiter streiken, aber auch Angestellte in sehr «modernen» Berufen. Und das meist mit Erfolg und begleitet von einer sympathisierenden Öffentlichkeit – obwohl der helvetische Mythos vom Arbeitsfrieden Streik eigentlich ausschliessen würde.
Historikerinnen, Journalisten und aktive Gewerkschafter zeigen auf, wie Arbeitskämpfe in der Schweiz eine Renaissance erlebten. Anhand von bekannten Streiks seit der Jahrtausendwende schildern sie Strategien, Erfolge und Widrigkeiten, so zum Beispiel bei den Officine in Bellinzona, bei SPAR, Novartis, im Schauspielhaus Zürich oder in der Baubranche.

Dienstag, 17. April 2018, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum
Eintritt frei

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 335 KB)

23.4.2018, 18.30 Uhr: Die Neuerfindung der Berufslaufbahn

Buchvernissage

Einführung: Prof. Dr. Christian Koller, Direktor Schweizerisches Sozialarchiv

Gespräch zwischen:

  • Elisabeth Michel-Alder, Unternehmensberaterin und Buchautorin
  • Thomas Gächter, Professor Universität Zürich, Staats-, Gesundheits- und Sozialversicherungsrecht
  • Marco Jakob, Wirtschaftsinformatiker, Berufsschullehrer, Berater und Mitgründer des Effinger Coworking Space in Bern
  • Petra Weigert, Head HR Jelmoli und Swiss Prime Site, Mitglied der Geschäftsleitung

Montag, 23. April 2018, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Theater Stadelhofen
Mit anschliessendem Apéro, Eintritt frei

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 329 KB)
> Buchflyer herunterladen (PDF, 3 MB)

Digitales Sozialarchiv: Was bisher geschah

Die «digitale Revolution» ist in aller Munde. Im vergangenen November hat in Biel die erste nationale Konferenz «Digitale Schweiz» stattgefunden, an der rund 700 Personen aus Politik (darunter zwei Mitglieder des Bundesrats), Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung einen Tag lang über digitale Zukunftsstrategien diskutierten. Gedächtnisinstitutionen wie das Schweizerische Sozialarchiv befassen sich schon seit einem Vierteljahrhundert mit dem digitalen Wandel. Bibliotheken, Archive und Dokumentationsstellen haben sich in den letzten Jahren zu hybriden Informationszentren entwickelt, die die Sammlung und Vermittlung digitaler Dokumente vorantreiben, ohne ihren Auftrag im Bereich der analogen Kulturgütererhaltung und -vermittlung zu vernachlässigen. Sowohl durch ihr Know-how als auch durch ihre Gegenposition zu Tendenzen des digitalen «Postfaktizismus» sind die Gedächtnisinstitutionen Vorreiter der digitalen demokratischen Gesellschaft. Nicht umsonst wurde jüngst konstatiert, die Bibliotheks- und Informationswissenschaft könne heute sowohl «als eine Art Meta-Wissenschaft ihre Erfahrung in puncto Digitalisierung von Kulturobjekten als auch ihre Expertise in der Elektronisierung von wissenschaftlichen Arbeitsabläufen einbringen» (Redaktion LIBREAS: Editorial #30: Post-Digital Humanities, in: LIBREAS. Library Ideas 30, 2016).

Um die digitalen Herausforderungen und unsere Antworten darauf besser zu vermitteln, eröffnen wir hier eine neue Rubrik, die Sie über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden hält. Zum Auftakt fassen wir das Viele zusammen, was bisher im Bereich des digitalen Sozialarchivs geschah. Die digitale Revolution betrifft Gedächtnisinstitutionen wie das Schweizerische Sozialarchiv in doppelter Weise: Zum einen unterliegen sie und ihre BenutzerInnenschaft selber einem Prozess der Digitalisierung, zum anderen gilt dies auch für die von ihnen gesammelten Dokumente beziehungsweise die als UrheberInnen dahinterstehenden Personen und Institutionen. Aus dieser verdoppelten Digitalisierung ergeben sich verschiedene Herausforderungen: Die Metadaten der Bestände, Kataloge und Findmittel müssen digitalisiert und online angeboten werden. Die Information von und Kommunikation mit den BenutzerInnen geschieht zunehmend elektronisch. Analoge Bestände werden retro-digitalisiert und online zur Verfügung gestellt. Und genuin digitale Bestände müssen übernommen, erschlossen, langfristig gesichert und der Benutzung zugänglich gemacht werden.

In all diesen vier Bereichen befindet sich das Schweizerische Sozialarchiv auf der Höhe der Zeit. Bereits 1992 ist es als erste geisteswissenschaftliche Institution dem damaligen Bibliothekskatalog der ETH Zürich beigetreten, aus dem im Laufe der Jahre durch das Hinzukommen immer neuer Institutionen, so der Zentralbibliothek Zürich, der Bibliotheken der Universität Zürich, aber auch zahlreicher Informationsstellen ausserhalb des Standortes Zürich, der heutige NEBIS-Verbund mit rund 140 Bibliotheken und Informationsstellen entstanden ist. Dessen gemeinsamer Katalog ging 1999 im World Wide Web online. Bald gilt es indessen von NEBIS Abschied zu nehmen: Für 2020/21 ist der Übergang zur «Swiss Libraries Service Platform» (SLSP) geplant, die sämtliche wissenschaftlichen Bibliotheken der Schweiz umfassen soll. Auch hier wird das Sozialarchiv selbstverständlich mit von der Partie sein – mehr dazu in einem der nächsten Beiträge.

Seit 1998 informiert das Sozialarchiv über seine Bestände und deren Benutzung auf einer eigenen Website (www.sozialarchiv.ch), die kontinuierlich mit Links zu den neuen digitalen Katalogen angereichert wurde. Die Kataloge und Findmittel des Papierarchivs (www.findmittel.ch), der Dokumentation (www.sachdokumentation.ch) und des audiovisuellen Archivs (www.bild-video-ton.ch) sowie den Zettelkatalog der Bibliothek von 1906 bis 1992 hat das Sozialarchiv in eigener Regie digitalisiert, so dass seit 2014 sämtliche Bestände im Netz recherchierbar sind und online bestellt werden können. Im laufenden Projekt «Unity» werden die verschiedenen Findmittel enger zusammengeführt, mit zusätzlichen Suchfunktionen ausgestattet und visuell ansprechender präsentiert. Dem 2011 gestarteten Facebook-Auftritt folgen knapp 800 Personen, der 2015 begonnene elektronische Newsletter ist von rund 2’000 Personen abonniert. Der Betrieb eines Instagram-Accounts ist zurzeit in der Versuchsphase.

Darüber hinaus hat sich das Sozialarchiv an mehreren nationalen und internationalen online-Archivportalen (Archives Online, Europeana, Social History Portal, Memobase, arbeiterbewegung.ch) beteiligt. Zudem werden seit 2015 die Artikel der Wikipedia systematisch mit Hinweisen auf Archivbestände des Sozialarchivs angereichert; dasselbe ist für die digitale Neuversion des Historischen Lexikons der Schweiz («Neues HLS») geplant. Das Sozialarchiv ist aktives Mitglied der Open-GLAM-Initiative und hat sich an verschiedenen Hackathons beteiligt. Dem kooperativen Ansatz beim Angebot digitaler Daten und Metadaten ist auch die Infostation im Lesesaal des Sozialarchivs verpflichtet, die den Zugriff auf digitale Sammlungen anderer Institutionen und Datenbanken gestattet, etwa auf die Zeitungsdatenbank PresseDox, die Sendungsdatenbank FARO von Schweizer Radio und Fernsehen oder Memobase+ des Vereins Memoriav.

Bei der Retro-Digitalisierung analoger Bestände konzentriert sich das Sozialarchiv auf zwei unter den Aspekten der Kulturgütererhaltung und Forschungsrelevanz besonders zentrale Bereiche: die audiovisuellen Quellen und die historischen Zeitungs- und Zeitschriftenbestände. Die seit über einem Jahrzehnt aufgebaute Datenbank Bild + Ton enthält zurzeit knapp 107’000 audiovisuelle Quellen (Fotografien, Grafiken, Filme, Videos, Tonaufnahmen und Tonbildschauen) aus rund 200 Beständen, von denen etwa 70’000 online konsultiert werden können. Damit verfügt das Sozialarchiv über ein einmaliges audiovisuelles online-Angebot, das von Wissenschaft und Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Medien intensiv genutzt wird.

Von seinen umfangreichen historischen Zeitungs- und Zeitschriftenbeständen hat das Sozialarchiv ausgewählte Titel retro-digitalisiert. Seit 2014 läuft in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Nationalbibliothek ein grosses Projekt zur Retro-Digitalisierung der historischen Schweizer Gewerkschaftspresse, das mehrere 100’000 Seiten von Publikationen ehemaliger und noch bestehender Verbände sozialistischer, christlichsozialer, liberaler und evangelischer Ausrichtung in unterschiedlichen Wirtschaftsbranchen umfasst. Die erste von zwei Hauptetappen des Projekts ist beinahe abgeschlossen. Die Retro-Digitalisierung historischer Zeitungsbestände, die zurzeit von zahlreichen Gedächtnisinstitutionen vorangetrieben wird, generiert für die historische Forschung einen kaum zu überschätzenden Nutzen: Die früher übliche wochenlange Sichtung von Originalzeitungen oder Mikrofilmen (die den Schreibenden bei der Abfassung seiner Doktorarbeit seinerzeit zwei Dioptrien gekostet hat) wird dank der Möglichkeit der Stichwortsuche im Volltext massiv rationalisiert und präzisiert. Aber auch andere Disziplinen interessieren sich für retro-digitalisierte Zeitungen: Im Rahmen des laufenden interdisziplinären SNF-Sinergia-Projekts «impresso – Media Monitoring of the Past», das getragen wird vom Digital Humanities Laboratory der EPFL Lausanne, dem Institut für Computerlinguistik der Universität Zürich und dem Luxemburg Centre for Contemporary and Digital History, dienen die retro-digitalisierten Gewerkschaftszeitungen des Sozialarchivs zusammen mit anderen Beständen als Basis zur Entwicklung von Werkzeugen des historischen «text mining».

Die Sammlung und Langzeitsicherung genuin digitaler Quellen ist ein junger, aber immer wichtiger werdender Zweig der Kulturgütererhaltung. Auch in diesem Bereich befindet sich das Schweizerische Sozialarchiv auf der Höhe der Zeit. Seit 2007 beteiligt es sich am «Webarchiv Schweiz«, einem von der Schweizerischen Nationalbibliothek geleiteten Projekt zur Archivierung landeskundlich wichtiger Websites. Die Sachdokumentation des Sozialarchivs wurde 2016 um die Sammlung von «Digitalen Schriften» (DS) erweitert. Nur noch im Web publizierte «graue» Dokumente zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen in der Schweiz werden seither als PDF archiviert und im Katalog der Sachdokumentation den entsprechenden Themen zugeordnet, wo sie online konsultiert werden können. Bereits jedoch werden von zahlreichen Organisationen viele Inhalte nicht mehr als Textdateien aufbereitet und zur Verfügung gestellt, sondern als html-Webseiten, Videoaufzeichnungen und Social-Media-Inhalte, was die Sammeltätigkeit vor neue Herausforderungen stellt.

Im laufenden Jahr durchläuft das neu konzipierte e-Archiv seine Versuchsphase. Damit wird es nun möglich, elektronische Archivablieferungen zu übernehmen und erschliessen, langfristig zu archivieren und der Benutzung zugänglich zu machen. Aufgrund der sehr eingeschränkten Möglichkeiten des vorarchivischen Records Management bei privaten Ablieferern wurde in Zusammenarbeit mit der Firma Docuteam eine pragmatische Lösung zur Strukturierung und Erschliessung dieser Bestände entwickelt. Machen heute bei Archivablieferungen Papierbestände noch die Mehrheit des Materials aus, so ist absehbar, dass sich in den kommenden Jahren das Schwergewicht immer mehr zu den elektronischen Beständen verschieben wird. Das Schweizerische Sozialarchiv ist nun gut gerüstet, auch diese Herausforderung anzunehmen.

Die Entwicklung des digitalen Sozialarchivs widerspiegelt sich spektakulär in den Statistiken des Medienangebots wie auch der Benutzung: 2010 wurden im Gesamtmedienangebot erst 1’725 digitalisierte Verzeichnungseinheiten ausgewiesen – sieben Jahre später sind es 69’580 Einheiten mit 378’917 dazu gehörigen Datensätzen. Im selben Zeitraum hat die Zahl der abonnierten elektronischen Zeitungen von 151 auf 689 Titel beziehungsweise einem Zehntel auf knapp die Hälfte der laufenden Periodika zugenommen. Und gab es im Betriebsjahr 1999 knapp 90’000 Hits auf die Website des Sozialarchivs, so verzeichnet die Web-Statistik heute, obwohl sie inzwischen um maschinengenerierte Hits bereinigt wird, jährlich rund 1,7 Millionen Zugriffe auf unsere vier URLs!

Vor 50 Jahren: Der Prager Frühling und die Schweiz

Im Februar 1968 brachten verschiedene Schweizer Tageszeitungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung in rascher Folge Artikel mit beinahe gleichlautenden Titeln: «Freiere Luft in der Tschechoslowakei» (Volksrecht, 15.2.1968), «Der neue Wind in Prag» (Neue Zürcher Zeitung, 16.2.1968), «Ein neuer Wind weht durch die Tschechoslowakei» (Tages-Anzeiger, 20.2.1968). Sie alle nahmen Bezug auf den Beginn der Reformpolitik in einem kommunistischen Land, die hoffnungsvoll begann, aber bereits nach einem halben Jahr gewaltsam unterdrückt wurde. Zu Beginn der 60er Jahre hatte sich die Tschechoslowakei in einer tiefen Krise befunden, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Der anfängliche Goodwill gegenüber der Sowjetunion als Befreierin von 1945 war seit dem kommunistischen Staatsstreich von 1948 und der folgenden Phase stalinistischer Herrschaftsausübung fast ins Bodenlose gesunken. Innerhalb und ausserhalb der Kommunistischen Partei wurden Rufe nach Reformen laut. 1963 bildete sich unter Leitung des Ökonomen Ota Šik, Leiter des Wirtschaftsinstituts an der Prager Akademie der Wissenschaften und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, eine Reformbewegung, die auf eine grundlegende Erneuerung der bürokratisch-zentralistischen Planwirtschaft drängte. Šik schlug eine «sozialistische Marktwirtschaft» mit Arbeiterselbstverwaltung in den Staatsbetrieben, privaten Kleinunternehmen und einem Ende der staatlich administrierten Preisbildung vor. Parallel zu dieser technokratischen entwickelte sich auch eine intellektuelle Opposition, die in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in ihrer Kritik immer radikaler wurde. Im Oktober 1967 kam es zu Studentenprotesten gegen die Zustände in den Wohnheimen, die gewaltsam aufgelöst wurden.

Im Januar 1968 fanden im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei scharfe Auseinandersetzungen zwischen dem orthodoxen Flügel um Staats- und Parteichef Antonín Novotný und den Reformern statt. Novotný wurde als Parteichef vom reformerischen Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Slowakei, Alexander Dubček, abgelöst und behielt lediglich das faktisch unbedeutende Amt des Staatspräsidenten. Dubček leitete eine zunächst aus Rücksicht auf Kritik aus den anderen Ostblockstaaten recht vorsichtige Reformpolitik ein, die aber bald an Schwung gewann und von den westlichen Medien das Label «Prager Frühling» verpasst bekam. Ota Šik wurde Leiter des Wirtschaftsausschusses, zugleich bemühte sich Dubček um eine Reform der Bundesverfassung und mehr Selbstverwaltungsrechte für die Slowakei. Das am 5. April 1968 vorgestellte Aktionsprogramm kündigte Wirtschaftsreformen, Meinungs-, Informations- und Reisefreiheit, eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit, insbesondere der Schauprozesse der frühen 50er Jahre, und eine allgemeine Neuausrichtung der Rolle der Kommunistischen Partei in der Gesellschaft an. Im Westen wurden diese Vorhaben auf die Formel «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» gebracht.

Die reformkommunistische Regierung lavierte zwischen zunehmendem Druck aus der Gesellschaft zur Beschleunigung des Umbaus und dem Bemühen, die Sowjetunion und die anderen Ostblockstaaten nicht zu brüskieren. So wurde etwa betont, das sozialistische System und die Mitgliedschaft der Tschechoslowakei im Warschauer Pakt stünden grundsätzlich nicht zur Disposition. Bei einer Umfrage im Juli sprachen sich 89% der tschechoslowakischen Bevölkerung für eine Beibehaltung des Sozialismus aus, allerdings in einer demokratisierten Form, und lediglich 7% der Bevölkerung zeigten sich unzufrieden mit der Regierung Dubček. Sehr ungelegen kam der Regierung das am 27. Juni veröffentlichte «Manifest der 2000 Worte», welches von zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet worden war und nachdrücklich eine Beschleunigung des Reformprozesses forderte. Die sowjetische Führung betrachtete diese Initiative als eine konterrevolutionäre Plattform und erhöhte im Juli ihren Druck auf die tschechoslowakischen Reformkommunisten massiv.

Bereits im Mai und Juni hatten die «Warschauer Fünf», die Regierungen der Sowjetunion, Bulgariens, Ungarns, Polens und der DDR, auf mehreren Treffen ihre Politik gegenüber der Prager Reformregierung beraten. Antonín Novotný, der am 22. März auch zum Rücktritt als Staatspräsident gezwungen und im Juni aus dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ausgestossen worden war, behauptete bei zwei Besuchen in Moskau, die Regierung Dubček stehe kurz davor, das Machtmonopol der Kommunisten aufzugeben. Am 3. August fand in Bratislava eine Zusammenkunft zwischen der Regierung der Tschechoslowakei und den «Warschauer Fünf» statt. Das dabei verabschiedete Abschlusskommuniqué räumte den einzelnen Bruderländern nationale Souveränität auf ihrem Weg zum Sozialismus ein und wurde von der Tschechoslowakei deshalb als Zeichen der Entspannung gedeutet. Nach dem Treffen intensivierte die Sowjetunion aber die laufenden Vorbereitungen für eine militärische Intervention. Die orthodoxen Kommunisten der Tschechoslowakei hatten die Konferenz in Bratislava dazu genutzt, dem sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew den sogenannten «Einladungsbrief» zukommen zu lassen, mit dem sie um eine Intervention zur Verhinderung einer «Konterrevolution» baten.

In der Nacht zum 21. August 1968 marschierten etwa eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei ein und besetzten innerhalb von wenigen Stunden alle strategisch wichtigen Positionen des Landes. Die DDR, deren Regierung zuvor die sowjetische Führung zu einem militärischen Vorgehen gedrängt hatte, hielt sich zurück, um keine Erinnerungen an die deutsche Besatzung zwischen 1938 und 1945 aufkommen zu lassen. Von den Mitgliedern des Warschauer Pakts verurteilte Rumänien die Intervention scharf und Albanien erklärte am 5. September seinen Austritt aus dem Militärbündnis. Beim Einmarsch gab es 98 zivile Todesopfer; ausserdem starben etwa 50 Soldaten der Invasionstruppen. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei beschloss, der Invasion keinen militärischen Widerstand entgegenzusetzen, und rief die Bevölkerung zur Ruhe auf. Dennoch kam es zu vereinzelten Auseinandersetzungen zwischen der Zivilbevölkerung und den Invasoren. Wichtiger war aber der gewaltfreie Widerstand: Ortstafeln und Strassenschilder wurden abmontiert oder verdreht, um die Invasionstruppen in die Irre zu leiten, Eisenbahner leiteten Nachschubzüge der Roten Armee auf Abstellgeleise und Tausende improvisierter Plakate riefen in den Städten zu passivem Widerstand auf und verspotteten die Invasoren. Neben dem offiziellen Rundfunk, der auf Sendung blieb, informierten verschiedene Piratensender sowie das österreichische Radio die Bevölkerung über die Ereignisse.

Dubček und andere hochrangige Regierungsmitglieder wurden festgenommen und nach Moskau gebracht. Aufgrund des geschlossenen Widerstands der Bevölkerung konnte der sowjetische Plan, den Einmarsch als Antwort auf einen Hilferuf der Kommunistischen Partei darzustellen und eine neue Regierung aus orthodoxen Kommunisten zu präsentieren, aber nicht umgesetzt werden. Während der ersten Tage der Besatzung fand sogar noch eine ausserordentliche Sitzung der Nationalversammlung der Tschechoslowakei statt, die den Einmarsch verurteilte und die Regierung Dubček im Amt bestätigte. Am 23. August wurde Staatspräsident Ludvík Svoboda offiziell zu Verhandlungen nach Moskau zitiert, an denen auf seine Forderung hin auch die in Haft gehaltenen Regierungsmitglieder um Dubček teilnahmen. Das drei Tage später verabschiedete Moskauer Protokoll enthielt eine Aufhebung fast aller Reformen. Dubček wurde vorerst in seinen Ämtern belassen und durfte nach Prag zurückkehren, wo er begeistert empfangen wurde. Bald wurde aber klar, dass der Prager Frühling vorbei war. Am 16. Januar 1969 verbrannte sich der Student Jan Palach aus Protest auf dem Prager Wenzelsplatz. Einen Monat später folgte ihm dort auch Jan Zají. Wegen der Zerschlagung des Prager Frühlings verliessen Zehntausende die Tschechoslowakei. Allein nach Österreich flüchteten rund 96’000 Menschen, weitere 66’000 AuslandsurlauberInnen kehrten vorerst nicht in die Tschechoslowakei zurück. 50’000 bis 60’000 blieben dauerhaft im Westen.

Das endgültige Ende kam nach der Eishockey-Weltmeisterschaft vom März 1969, die aufgrund der angespannten Lage kurzfristig von Prag nach Stockholm verlegt worden war. Dort kam es gleich zu zwei Aufeinandertreffen zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Für das erste Spiel klebten die meisten tschechoslowakischen Spieler den kommunistischen Stern auf ihren Trikots ab. Das schwedische Publikum sympathisierte lautstark mit ihnen, rief «Dubček! Dubček!» und skandierte antisowjetische Parolen. Die Partie endete mit einem 2 : 0-Sieg der Tschechoslowakei, was beim sowjetischen Trainer eine leichte Herzattacke auslöste. Nach der Partie verweigerten die tschechoslowakischen Spieler den Sowjets den traditionellen Händedruck. Löste bereits dieser Sieg in der Heimat Euphorie aus, in die sich politische Töne mischten, so war dies umso mehr der Fall, als die Tschechoslowakei in der zweiten Begegnung mit der Sowjetunion abermals gewann, dieses Mal mit 4 : 3. In Prag gingen nach dem Schlusspfiff etwa eine halbe Million Menschen auf die Strassen, es kam zu Kämpfen mit der Polizei und zum Sturm auf das Büro der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot. Auch in zahlreichen anderen Städten des Landes ereigneten sich Massenkundgebungen und Übergriffe auf sowjetische Einrichtungen.

Schliesslich sollte die Sowjetunion die Eishockey-Weltmeisterschaft doch noch gewinnen. Nach dem entscheidenden Spiel fiel bei der Siegerehrung im tschechischen Fernsehen just beim Abspielen der sowjetischen Hymne der Ton aus und als die sowjetische Fahne ins Blickfeld kam, verschwand auch das Bild. Die Vorfälle rund um diesen Sportanlass gaben der sowjetischen Führung und den reformfeindlichen Kräften unter den tschechoslowakischen Kommunisten den Vorwand, die letzten Reste des Prager Frühlings zu beseitigen. Am 17. April 1969 musste Dubček als Parteichef zurücktreten und übernahm bis September 1969 den Vorsitz der Nationalversammlung. Darauf war er für kurze Zeit Botschafter in der Türkei. Im Juni 1970 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und arbeitete fortan als Inspektor bei der Forstverwaltung von Bratislava, bis er 1989 während der «samtenen Revolution» nochmals kurz ins politische Leben zurückkehrte.

In der Schweiz erschien der Einmarsch in die Tschechoslowakei vielen als ein Déjà-vu der Vorgänge, die sich zwölf Jahre zuvor in Ungarn abgespielt hatten (vgl. SozialarchivInfo 5/2016). Auch die unmittelbaren Reaktionen in der Schweiz glichen denjenigen während der Ungarnkrise: Es gab Protestaktionen vor der sowjetischen Botschaft in Bern, Kundgebungen in allen grösseren Städten und Stimmen, die einen Abbruch der Beziehungen zur Sowjetunion forderten. Wie am 20. November 1956 wurde am 23. August 1968 eine Schweigeminute abgehalten, bei der im ganzen Land die Kirchenglocken läuteten. Der Bundesrat drückte seine Betroffenheit und sein Mitgefühl mit den Opfern aus, wurde teilweise indessen dafür kritisiert, nicht schärfer reagiert zu haben. Zum Spengler-Cup im Dezember 1968 wurde kein sowjetisches Team eingeladen; der Sieg ging an den tschechoslowakischen Vertreter Dukla Jihlava. Ein Zürcher Kino setzte aus Russophobie sogar den Film «Anna Karenina» von seinem Spielplan ab. Die Presseberichterstattung zog Parallelen sowohl mit dem Einmarsch in Ungarn von 1956 als auch mit der nazideutschen «Zerschlagung der Rest-Tschechei» von 1939.

Die Empörung war aber weniger nachhaltig als zwölf Jahre zuvor während der Ungarnkrise. So war beispielsweise bereits am Spengler-Cup 1969 auch Lokomotive Moskau wieder mit dabei und die Verteilung des «Zivilverteidigungsbuches» an die Schweizer Haushalte im September 1969, das anhand einer fiktiven Geschichte den Widerstand im Falle der Invasion durch eine fremde Grossmacht thematisierte, stiess auf ein geteiltes Echo, das auch heftige Kritik einschloss. Zum einen reichte die Intervention von 1968 nicht an die Brutalität derjenigen von 1956 heran, als bei Kämpfen rund 2’500 Ungaren getötet worden waren und bei den anschliessenden «Säuberungen» etwa 350 Menschen hingerichtet wurden, unter ihnen Ministerpräsident Imre Nagy. Zum anderen hatte sich die bipolare Weltsicht aufgelockert und gab es im Umfeld von «68» auch heftige Kritik an der amerikanischen Intervention im Vietnam sowie an den Zuständen im eigenen Land. Hinzu kam drittens ein gewisser Gewöhnungseffekt an derlei Aktionen von Grossmachtpolitik im Kalten Krieg.

Im Unterschied zu 1956, als sich die politischen Kräfte von der SP bis zum rechten Rand des Bürgertums in einer einhelligen Frontstellung gegen die PdA, die den Einmarsch in Ungarn verteidigt hatte, befanden, gab es 1968 auch Kritik am sowjetischen Vorgehen von links aussen. Die beiden grössten kommunistischen Parteien Westeuropas, die französische und die italienische, verurteilten den Einmarsch offen. Komplizierter war die Lage bei der PdA. Deren Zentralsekretär Edgar Woog hatte im Frühjahr die Prager Reformpolitik mehrfach begrüsst. Nach dem Einmarsch gab es in Teilen der PdA-Presse und durch das Zentralkomitee Solidaritätsbekundungen mit der Tschechoslowakei, zugleich aber auch Warnungen vor einer antisowjetischen Kampagne. Sehr viel schärfer reagierte die «Junge Sektion» der PdA, die sich in Zürich ein paar Jahre zuvor gebildet hatte. Einer Erklärung der «Jungen Sektion», die einen offenen Bruch mit der KPdSU beinhaltete, wurde der Abdruck in der PdA-Presse verweigert und im folgenden Jahr erfolgte die Auflösung der «Jungen Sektion». Bereits am Abend des 21. August hatte die «Junge Sektion» auf dem Zürcher Bürkliplatz zusammen mit den Jungsozialisten und verschiedenen Gruppierungen der Neuen Linken eine Protestveranstaltung organisiert. Am folgenden Abend zogen die etablierten Kräfte der Stadt Zürich nach: Sämtliche politischen Parteien mit Ausnahme der PdA hielten eine Protestversammlung auf dem Münsterhof ab, zusätzlich gab es eine Demonstration der Zürcher Mittelschülerorganisationen sowie einen Fackelzug der Liberalen Studentenschaft.

Wie 1956 öffnete sich die Schweiz aber auch 1968 und in den folgenden Jahren den Flüchtlingen aus dem Ostblock. Bis Ende 1970 kamen knapp 12’000 Menschen aus der Tschechoslowakei in die Schweiz. Sie waren im Zeichen der Hochkonjunktur nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Gründen willkommen, verfügten die meisten von ihnen doch über eine qualifizierte Ausbildung: 56% hatten einen Hochschulabschluss, 17% eine Matura und 26% verfügten über eine abgeschlossene Berufslehre. Schon am Tag des Einmarsches übermittelte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement den Kantonen die Richtlinie, Touristen aus der Tschechoslowakei könnten auf Kosten des Bundes vorerst für drei Monate in der Schweiz bleiben und sich ein Asylgesuch überlegen, von dem sie damit rechnen könnten, dass es bewilligt werde. Gesuchen um Arbeitsvermittlung und Stellenantritt sei zu entsprechen, die Asylsuchenden von der Plafonierung ausländischer Arbeitskräfte ausgenommen. Zum grossen Erfolg wurde der Verkauf von Wimpeln in den tschechoslowakischen Landesfarben Blau-Weiss-Rot, dessen Erlös der Unterstützung von Flüchtlingen zugutekam. Ab Ende August wurde auch den tschechoslowakischen BürgerInnen, die an der Schweizer Grenze um Einreise ersuchten, die Aufenthaltsbewilligung erteilt. Bereits im Frühjahr 1969 wurden die Einreisebestimmungen aber sukzessive wieder verschärft.

Der prominenteste Flüchtling des Prager Frühlings in der Schweiz war Ota Šik. Als Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung war er 1940 verhaftet und ins Konzentrationslager Mauthausen eingewiesen worden, wo ihn erst 1945 amerikanische Truppen befreiten. Nach wirtschaftswissenschaftlichen Studien wurde er Mitte der 50er Jahre Professor für politische Ökonomie in Prag und im April 1968 als führender Wirtschaftsreformer stellvertretender Ministerpräsident. Im August 1968 hielt er sich in Belgrad auf, wo er die sowjetische Intervention verurteilte. Am 3. September wurde er seines Amtes enthoben. Danach bekleidete er vorübergehend den Posten eines Botschaftsrats in Belgrad, dann emigrierte er in die Schweiz. 1969 erfolgte sein Ausschluss aus der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und im folgenden Jahr wurde ihm die Staatsbürgerschaft entzogen. Ab 1970 lehrte Šik an der Hochschule St. Gallen, wo er von 1974 bis 1989 einen Lehrstuhl für Vergleich der Wirtschafssysteme innehatte. Er setzte seine Arbeiten über eine Verbindung von Plan- und Marktwirtschaft («Dritter Weg») fort und publizierte 1979 sein Hauptwerk «Humane Wirtschaftsdemokratie». Nach Beginn der Perestroika in der Sowjetunion hielt er 1987 im Schweizerischen Sozialarchiv ein Referat zum Vergleich der Wirtschaftsreformen Dubčeks und Gorbačevs. Ota Šiks Nachlass befindet sich heute im Sozialarchiv. Er umfasst 1.4 Laufmeter Akten, insbesondere Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Vortragsmanuskripte und Interviews aus den 70er und 80er Jahren.

Neben dem Šik-Nachlass verfügt das Sozialarchiv noch über einen zweiten wichtigen Quellenbestand zu Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Prager Frühlings: die Kleinschriftensammlung KVC in der Sachdokumentation. Aufgebaut wurde diese einmalige Sammlung von Miroslav Tuček, der Anfang der 50er Jahre während der Prager Schauprozesse seinen Dienst in der tschechoslowakischen Diplomatie quittiert und in der Schweiz Asyl erhalten hatte. Ab 1967 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter, von 1968 bis 1987 dann Vorsteher des Schweizerischen Sozialarchivs. Zugleich war er Vertreter des Verbandes tschechoslowakischer Vereine in der Schweiz und ab 1971 Sekretär der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei im Exil. Dieses Beziehungsnetz ermöglichte den Aufbau einer Sammlung, die schliesslich 41 Schachteln und etwa 3 Laufmeter umfasste und die tschechoslowakische Zeitgeschichte vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 80er Jahre abdeckt. Die Sammlung enthält Monografien, Bildbände, Broschüren, Reiseführer, Lehrbücher, Reiseberichte, Plakate, Flugblätter und Periodika mit breitem inhaltlichen Profil aus den Gebieten Geschichte, Innen- und Aussenpolitik, Verwaltung, Wirtschaft, Recht, Gesundheitswesen, Kultur und Wissenschaft auf Tschechisch, Slowakisch sowie in westeuropäischen Sprachen. Aus dem Themenbereich des Prager Frühlings zu erwähnen sind etwa ein Dossier mit Dokumenten des internationalen Echos auf die Ereignisse im August 1968, die Kopie einer Erklärung des Historischen Instituts der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, die dem ZK der Kommunistischen Partei im Januar 1969 zugeschickt wurde, ein Dossier mit Plakaten, Flugblättern, Erklärungen, Aufrufen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, Kommentaren und Gedichten tschechoslowakischer und ausländischer Autoren, die 1968/69 im In- und Ausland publiziert wurden, oder Übersetzungen von Dokumenten der Bürgerrechtsbewegung Charta 77.

Materialien zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.150.3 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Aussenpolitik
  • Ar 20.971.108 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Internationales Arbeiterhilfswerk IAH: Korrespondenz 1958-1970
  • Ar 134 Nachlass Ota Šik
  • Ar 155.25.5 Nachlass Jost von Steiger: Drucksachen Ausland II
  • Ar 201.207.4 Kommunistische Partei der Schweiz/Marxisten-Leninisten: Arbeitskomitee «10 Jahre seit dem sowjetischen Überfall auf die Tschechoslowakei», 1978
  • Ar 201.218 Arbeitsgemeinschaft Zürcher Manifest
  • Ar 579 Archiv Schweiz-Osteuropa

Archiv Bild + Ton

  • F 5093 Zürcher Manifest

Sachdokumentation

  • KS 335/403 Kommunistische Partei der Tschechoslowakei
  • QS 40.51 Internationale Blockbildung; Ost-West-Konflikt; Kalter Krieg
  • QS 47.2 Warschauer Pakt
  • QS 69.0 C Asylpolitik & Flüchtlingswesen in der Schweiz
  • QS 82.4 Osteuropäische Wirtschaftszusammenschlüsse
  • QS KVC Tschechoslowakei (CSSR): Allgemeines
  • QS KVC + Tschechoslowakei (CSSR): Geschichte
  • QS KVC 0 Tschechoslowakei (CSSR): Gesellschaft
  • QS KVC 1 Tschechoslowakei (CSSR): Kultur, Bildungswesen
  • QS KVC 2 Tschechoslowakei (CSSR): Recht, Verfassung, Verwaltung
  • QS KVC 3 Tschechoslowakei (CSSR): Innenpolitik
  • QS KVC 4 Tschechoslowakei (CSSR): Aussen- & Sicherheitspolitik
  • QS KVC 6 Tschechoslowakei (CSSR): Sozialpolitik, Soziale Hilfe, Gesundheitswesen
  • QS KVC 7 Tschechoslowakei (CSSR): Arbeit
  • QS KVC 8 Tschechoslowakei (CSSR): Wirtschaft
  • ZA 47.2 Warschauer Pakt
  • ZA 58.0 KVC Kommunismus, kommunistische Partei in der Tschechoslowakei
  • ZA 69.0 C *2 Asylpolitik & Flüchtlingswesen in der Schweiz: Allg.
  • ZA 82.4 Osteuropäische Wirtschaftszusammenschlüsse
  • ZA KVC Tschechoslowakei (CSSR)

Bibliothek

  • Banki, Christine und Christoph Späti: Ungaren, Tibeter, Tschechen und Slowaken: Bedingungen ihrer Akzeptanz in der Schweiz der Nachkriegszeit, in: Goehrke, Carsten und Werner G. Zimmermann (Hg.): «Zuflucht Schweiz»: Der Umgang mit Asylproblemen im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich 1994, S. 369-415, 97808
  • Bartosek, Karel: Les aveux des archives: Prague-Paris-Prague: 1948-1968. Paris 1996, 101393
  • Bollinger, Stefan: Dritter Weg zwischen den Blöcken? Prager Frühling 1968: Hoffnung ohne Chance: Mit einem Anhang bisher nicht veröffentlichter Dokumente zur Haltung der SED-Führung zum Prager Frühling. Berlin 1995, Gr 8633
  • Crusius, R. et al. (Hg.): ČSSR: Fünf Jahre «Normalisierung», 21.8.1968 – 21.8.1973: Dokumentation. Hamburg 1973, 50830
  • CSSR – Geist und Gewalt: Die intellektuelle Revolution, die sowjetische Intervention und die Okkupation der Tschechoslowakei. Jona 1968, 40507
  • Dubček, Alexander: Leben für die Freiheit. München 1993, 95630
  • Garaudy, Roger: La liberté en sursis: Prague 1968. Paris 1968, Bo 2180
  • Goëss, Franz und Manfred R. Beer: Prager Anschläge: Bilddokumente des gewaltlosen Widerstandes. Frankfurt/M 1968, 39244
  • Golan, Galia: Reform rule in Czechoslovakia: The Dubček Era 1968-1969. London 1973, 50616
  • Hofmann, Birgit: Der «Prager Frühling» und der Westen: Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968. Göttingen 2015, 133341
  • Kanyar Becker, Helena (Hg.): Prager Frühling: Mythos und Realität: Erinnerungsbuch: 1968-2008. Basel 2008, Gr 12073
  • Kanyar Becker; Helena: Prager Frühling und die Schweiz, 1968-2008: Ausstellungsdokumentation. Basel 2014, Gr 13663
  • Karner, Stefan et al. (Hg.): Prager Frühling: Das internationale Krisenjahr 1968. Köln 2008, 120428: 1+2
  • Kohout, Pavel: Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Luzern 1969, 40208
  • Koller, Christian: Bibliotheksgeschichte als histoire croisée: Das Schweizerische Sozialarchiv und das Phänomen des Exils, in: Ball, Rafael und Stefan Wiederkehr (Hg.): Vernetztes Wissen – Online – Die Bibliothek als Managementaufgabe: Festschrift für Wolfram Neubauer zum 65. Geburtstag. Berlin 2015. S. 365-392, 132218
  • Koudelka, Josef: Invasion Prag 1968. München 2008, Gr 12026
  • Lotar, Peter (Hg.): Prager Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter: Tschechische Dichtung aus «Literárni Listy» 1968. Bern 1969, 39670
  • Mlynář, Zdeněk (Hg.): Der «Prager Frühling»: Ein wissenschaftliches Symposion. Köln 1983, 75390
  • Pauer. Jan: Prag 1968: Der Einmarsch des Warschauer Paktes: Hintergründe – Planung – Durchführung. Bremen 1995, 99733
  • Pelikan, Jiri: Ein Frühling, der nie zu Ende geht: Erinnerungen eines Prager Kommunisten. Frankfurt/M 1976, 58283
  • Peschler, Eric A. (Hg.): Das kalte Paradies: Emigration – Integration – Konfrontation. Frauenfeld, 1972, 48742
  • Priess, Lutz et al.: Die SED und der «Prager Frühling» 1968: Politik gegen einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz». Berlin 1996, 100010
  • Rendl, Renate: Die Integration der Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei in der Schweiz seit 1968, in: Bankowski, Monika et al. (Hg.): Asyl und Aufenthalt: Die Schweiz als Zuflucht und Wirkungsstätte von Slaven im 19. und 20. Jahrhundert. Basel 1994, S. 239-252, 97258
  • Rentsch, Lena: Die Junge Sektion der PdA Zürich und die PdA: Ein exemplarischer Konflikt zwischen der Neuen und der Alten Linken. Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2014, Gr 13295
  • Röll, F. und G. Rosenberger: ČSSR: Dokumentation und Kritik. München 1968, 77154
  • Schneider, Eleonora: Prager Frühling und samtene Revolution: Soziale Bewegungen in Gesellschaften sowjetischen Typs am Beispiel der Tschechoslowakei. Aachen 1994, 99803
  • Segert, Dieter: Prager Frühling: Gespräche über eine europäische Erfahrung. Wien 2008, 119847
  • Šik, Ota: Fakten der tschechoslowakischen Wirtschaft. Wien 1969, 40344
  • Šik, Ota: Der Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern. Zürich 1971, Hf 632
  • Šik, Ota: Argumente für den Dritten Weg. Hamburg 1973, 51274
  • Šik, Ota: Für eine Wirtschaft ohne Dogma. München 1974, 52591
  • Šik, Ota: Humane Wirtschaftsdemokratie: Ein Dritter Weg. Hamburg 1979, 64786
  • Šik, Ota: Wirtschaftssysteme: Vergleiche – Theorie – Kritik. Berlin 1987, 83391
  • Šik, Ota: Prager Frühlingserwachen: Erinnerungen. Herford 1988, 86952
  • Skála, Jan: Die ČSSR: Vom Prager Frühling zur Charta 77: Mit einem dokumentarischen Anhang. Berlin 1978, 62564
  • Spiritova, Marketa: Hexenjagd in der Tschechoslowakei: Intellektuelle zwischen Prager Frühling und dem Ende des Kommunismus. Köln 2010, 122539
  • Stach, Sabine: Vermächtnispolitik: Jan Palach und Oskar Brüsewitz als politische Märtyrer. Göttingen 2016, 135901
  • Svitak, Ivan: The Czechoslovak Experiment 1968-1969. New York 1971, 43508
  • Wenzke, Rüdiger: Die NVA und der Prager Frühling 1968: Die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung. Berlin 1995, 98779

Periodika

  • Rudé právo: Ustredni organ Komunistické Ceskoslovenska, 1949-1990, 1991-1995, Z 1125
  • Pravda: Organ Centralʹnogo Komiteta Kommunističeskoj Partii Sovetskogo Sojuza, 1948-heute, Z 1041
  • Komsomol’skaja Pravda: Organ Centralnogo Moskovskogo Komitetov VLKSM, 1949-1953, 1961-1990, 1992-2014, Z 1169
  • Der aktuelle Osten: Kommentare und Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Technik der UdSSR und der übrigen Länder des RGW (COMECON), 1955-1967, N 3101
  • Informationsbulletin: Materialien und Dokumente kommunistischer und Arbeiterparteien, 1965-1989, N 2571
  • Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, 1961, 1964, 1966-1968, N 2349
  • Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, 1969-1989, N 2349
  • L’est: Rivista trimestrale di studi sui paesi dell’est (1965-1969), N 2889
  • Kontinent: Unabhängiges Forum russischer und osteuropäischer Autoren, 1974-1979, N 4239
Gertrud Vogler mit Kamera auf dem Gelände des Autonomen Jugendzentrums Zürich, Oktober 1981 (Foto: Michel Fries; SozArch F 5111-013-012)
Gertrud Vogler mit Kamera auf dem Gelände des Autonomen Jugendzentrums Zürich, Oktober 1981 (Foto: Michel Fries; SozArch F 5111-013-012)

Gertrud Vogler (1936-2018)

Aus Gertrud Voglers Wohnung im Lochergut blickt man weit über die Gleisanlagen und über Aussersihl. Vor einem halben Jahrzehnt war ich dort zum ersten Mal zu Besuch – vorausgegangen war ein scheues Telefonat, das ich in meiner Funktion als Archivar des Sozialarchivs machte: ob sie sich vorstellen könnte, dereinst ihr fotografisches Werk im Sozialarchiv zu deponieren? Was bei anderen komplizierte Verhandlungen mit unwägbarem Ende zur Folge haben könnte, war bei Gertrud Vogler nach drei Zigaretten erledigt: Sie, die mich vorher nicht kannte, war nach dem Besuch einverstanden, ihr gesamtes Archiv dem Sozialarchiv zu schenken. Ein unschätzbarer Fundus für die Sozialgeschichte der Schweiz, Resultat von 25 Jahren aufmerksamem, kritischem und empathischem Schauen durch die Linse!

Gertrud Vogler begann Mitte der 1970er Jahre mit Fotografieren: Sie regte sich über die Qualität der Fotos auf, die in Publikationen der Frauenbewegung kursierten, und griff selbst zur Kamera. Ihr Augenmerk galt von Anfang an den sozialen Bewegungen, die sie dokumentieren wollte, «weil es sonst niemand macht». Als Auftragsfotografin arbeitete sie zuerst für verschiedene Publikationen, von der «Annabelle» bis zum «Vorwärts». Kurz nach der Gründung der WoZ kam die Anfrage, ob sie die Bildredaktion übernehmen wolle. Dort blieb sie bis zur Pensionierung 2003.

In diesen Jahren sind – teils im Auftrag der WoZ, teils aus ureigenem Interesse – eine Viertelmillion Fotos entstanden. Man kennt ihre Aufnahmen vom Platzspitz oder der Pariser Défense. Sie war in der Zürcher Jugendbewegung präsent und hat in besetzten Häusern fotografiert. Mit gleichem Engagement hat sie aber auch die Veränderungen des öffentlichen Raums durch penetrante Werbetafeln und die Vergitterung der Stadt dokumentiert. Und falls sie mal für einen Auftrag die Aktionärsversammlung einer grossen Bank fotografieren musste, hat sie neben Erwartbarem eben auch die Aushilfskräfte fotografiert, die mit den Stimmurnen durch die Massen eilten oder das Catering vorbereiteten.

Gertrud Vogler konnte Aufnahmen machen, wo den einen der Zutritt verwehrt war oder andere sich gar nicht mehr hin getrauten. In einer Zeit, in der Fotografen oft skeptisch beäugt oder als Spitzel verdächtigt wurden, genoss sie das Vertrauen der Szenen, die sie fotografierte – und die ihr am Herzen lagen.

Erschienen im P.S. vom 9. Feb. 2018

Plakat zum Ostermarsch 1966 Schaffhausen – Zürich (SozArch F Pe-0699)
Plakat zum Ostermarsch 1966 Schaffhausen – Zürich (SozArch F Pe-0699)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Regula Schmid, Gisela Hürlimann, Erika Hebeisen (Hrsg.): Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern. Zürich 2018

Anlässlich des «Jubiläums» von «1968» erschienen in den letzten Monaten zahlreiche Bücher, die das ereignisreiche Jahrzehnt thematisieren, darunter auch einige Schweizer Publikationen. Das Neujahrsblatt 2018 der Antiquarischen Gesellschaft beispielsweise widmet sich dem Schauplatz Zürich in jener Zeit. In dreizehn Beiträgen schauen Expertinnen und Experten auch auf die Jahre vor «68» und erzählen von Menschen und Organisationen in Stadt und Kanton Zürich, die in den «langen Sechzigern» Neues wagten und ihre Kräfte für nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen jenseits der Revolte einsetzten.

Einige Illustrationen stammen aus dem Bildarchiv des Sozialarchivs, so zum Beispiel im Beitrag von Elisabeth Joris, in dem einzelne Vertreterinnen der Frauenbewegung porträtiert werden, oder im Artikel von Jakob Tanner, der die Antiatombewegung der 1960er Jahre in den Blick nimmt.

Weitere kürzlich von der Bibliothek erworbene Bücher zum Thema «1968» (Auswahl):

Bestände im Sozialarchiv zum Thema (Auswahl):
Sachdokumentation:

  • QS 36.3 C Demonstrationen, Krawalle; Protest: Schweiz
  • KS 335/41a bis 41d Jugendunruhen; Studentenbewegung; 1968er Bewegung: Schweiz

Archiv:

  • Ar 40 Federazione Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS)
  • Ar 465 und F 5060 Frauenbefreiungsbewegung Zürich (FBB) / Autonomes Frauenzentrum Zürich

Archiv Bild + Ton:

  • F 5093 Zürcher Manifest


Georg Kreis: Einstehen für «entartete Kunst». Die Basler Ankäufe von 1939/40. Zürich 2017

1939/40 kaufte das Basler Kunstmuseum von den Nationalsozialisten 21 aus deutschen Museen geraubte Kunstwerke, darunter mehrere, die 1937 in der Münchner Ausstellung «Entartete Kunst» zu sehen gewesen waren. Der Historiker Georg Kreis hat dies schon 1990 in der Erstveröffentlichung seines Buchs «‹Entartete› Kunst für Basel» beschrieben.

Nun ist das Buch neu aufgelegt worden: In den letzten Jahren haben sich nicht nur die Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft geändert und wurde weitere Forschung betrieben – durch den Fund der «Sammlung Gurlitt» wurde das Thema auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Weitere aktuelle Bücher zum Thema in der Bibliothek:


Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. München 2018

Als der Erste Weltkrieg zu Ende ging, forderte eine andere Katastrophe weltweit zwischen 20 und 50 Millionen Tote: die Spanische Grippe. Binnen weniger Wochen erkrankte ein Drittel der Weltbevölkerung. Ob in Europa, Asien oder Afrika, an vielen Orten brachte die Grippe die Machtverhältnisse ins Wanken, und da die Herkunft des Influenzavirus unbekannt war, gaben sich diverse Staaten gegenseitig die Schuld am Auftreten der Grippe. In Spanien trat sie auf jeden Fall nicht zuerst auf. Ihren Namen erhielt die Krankheit, weil es im neutralen Spanien – im Gegensatz zu anderen Ländern – keine Nachrichtensperre während des Weltkriegs gab und die spanische Presse über die Krankheit berichtete.

Das nun auf Deutsch übersetzte Buch von Laura Spinney fasst die damaligen Ereignisse in einem globalen Kontext zusammen und zeigt auf, wie die Pandemie den Krieg beziehungsweise dessen Ende weltweit beeinflusste.

1. Februar 2018, 19 Uhr: Buchpräsentation

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Bewegung

Präsentation der beiden Neuerscheinungen
Alles wird teurer! Wucher! Brot! und
Schweizer Wirtschaftseliten, 1910–2010

Es diskutieren André Mach, Thomas David, Stéphanie Ginalski, Felix Bühlmann, Tina Asmussen, Pierre Eichenberger, Gisela Hürlimann, Michael Jucker und Hans-Ulrich Schiedt

Donnerstag, 1. Februar 2018, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

Tina Asmussen, Pierre Eichenberger, Gisela Hürlimann, Michael Jucker, Hans-Ulrich Schiedt (Hg.):
Alles wird teurer! Wucher! Brot! (Traverse 2017/3)

Phänomene der Teuerung zeigen sich offen oder verdeckt und sie haben unterschiedliche Gründe: von Naturkatastrophen und Missernten über Kriege, fiskal- oder konjunkturpolitische Massnahmen bis zu Güter- und Transportengpässen. Das Heft behandelt die kollektive, individuelle, allgemeine und schichtspezifische Wahrnehmung steigender Preise für Waren, des fallenden Werts des Gelds und sinkender Löhne.
Mit Teuerungsschüben sind meistens Veränderungen in der Einkommensverteilung, Preisspekulationen, Vermögensumschichtungen und die Entwertung von bestehenden finanziellen Verbindlichkeiten wie Schulden oder Guthaben verbunden. All das macht die Teuerung stets zu einem sozialen Prozess, der oft auch erhebliche wirtschaftliche, soziale und politische Folgen zeitigt.

André Mach, Thomas David, Stéphanie Ginalski, Felix Bühlmann:
Schweizer Wirtschaftseliten, 1910–2010 (2017)

Männlich, Akademiker, Armeeoffizier, freisinnig: Schweizer Wirtschaftsführer bildeten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine exklusive Gruppe. Ab den 1990er Jahren internationalisierten sich die Konzernspitzen, die nationalen Seilschaften verloren an Bedeutung. Die bis dahin für die Schweiz typische Kohärenz von wirtschaftlichen, politischen und administrativen Eliten wurde brüchig.
Basierend auf biografischen Daten zu über 20’000 Personen zeichnet das Buch das Bild einer Wirtschaftselite im Umbruch. Die systematische Analyse der Herkunft, Ausbildung und Netzwerke von Spitzenmanagern schliesst eine Lücke der Schweizer Wirtschaftsgeschichte.

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 178 KB)

»Auf! Zur Urne!» (1901)
"Auf! Zur Urne!" (1901)

15. Februar 2018, 18 Uhr: «Auf! Zur Urne!»

Ein Streifzug durch 125 Jahre Gemeindewahlkämpfe in der Stadt Zürich

Wahlkämpfe bilden seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiges Element der demokratischen politischen Kultur. Ihre Formen und Mittel haben sich über die Zeit gewandelt, es finden sich aber auch erstaunliche Konstanten.

Die Veranstaltung präsentiert Dokumente und audiovisuelle Quellen aus den Beständen des Schweizerischen Sozialarchivs zu Zürcher Gemeindewahlkämpfen von der ersten Eingemeindung 1893 bis in die Gegenwart.

Donnerstag, 15. Februar 2018, 18 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 253 KB)

Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht nötig.
Alle Interessierten sind herzlich willkommen!

Vor 85 Jahren: Die «Wahlschlacht» um «Gross-Zürich»

Für die bevorstehenden Zürcher Gemeindewahlen ist zwar ein Lagerwahlkampf affichiert, dessen Intensität hat sich bisher indessen in Grenzen gehalten. Im frühen 20. Jahrhundert war dies oft ganz anders. Der am heftigsten geführte Wahlkampf der Stadtzürcher Geschichte fand im Herbst 1933 im Vorfeld der zweiten Eingemeindung statt. Der SP-Politiker Ernst Nobs bezeichnete ihn im Rückblick sogar als «Wahlschlacht». Tatsächlich wurden politische Gegensätze damals nicht nur mit äusserst gehässigen verbalen Polemiken, sondern teilweise auch mit den Fäusten ausgetragen. Die Intensität dieses Wahlkampfs widerspiegelt sich in der Sachdokumentation des Sozialarchivs, dessen Sammlung an Propagandamaterial der verschiedenen Parteien für 1933 etwa doppelt so umfangreich ist wie für die Gemeindewahlen vorher und nachher. Es ging dabei um die Kommunalpolitik des künftigen «Gross-Zürich», die Parteien stilisierten die Ausmarchung an der Urne aber auch zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung, die vor dem Hintergrund dramatischer Entwicklungen auf der weltpolitischen Bühne zu sehen ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Landesstreik hatte sich die politische Situation in der Stadt Zürich polarisiert. Bürgerliche und Linke hielten sich in den folgenden Jahren wählermässig in etwa die Waage. 1919 verloren die Bürgerlichen die Mehrheit im Stadtparlament, das Zünglein an der Waage zwischen 60 Sozialdemokraten und 57 Bürgerlichen spielten acht Grütlianer, die sich als «Sozialdemokratische Volkspartei» von der stark nach links gerückten SP abgespalten hatten. 1922 errangen die Bürgerlichen eine hauchdünne Mehrheit von einem Sitz, die sie drei Jahre später wieder verloren. Nun sassen den 60 Bürgerlichen 55 Sozialdemokraten, neun Kommunisten und ein Grütlianer gegenüber. In der Exekutive war die SP aber nur mit zwei von neun Sitzen vertreten. Die Wahlen von 1928 markierten dann den Beginn des «Roten Zürich»: Die mit einer Fünferliste angetretene SP errang die Mehrheit im Stadtrat sowie das Stadtpräsidium; im Parlament blieb das bisherige Kräfteverhältnis gewahrt. Drei Jahre darauf bestätigten die Wähler diese Zusammensetzung des Stadtrats, während im Parlament die SP mit einem Wähleranteil von 47.4 Prozent nun eine eigene, hauchdünne Mehrheit von 63 Sitzen errang.

Das «Rote Zürich» orientierte sich zwar am Konzept des «Gemeindesozialismus», war aber auch auf Ausgleich bedacht. Nach dem starken Linksdrall der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten in der Zürcher SP inzwischen wieder gemässigte Kräfte wie der neue Stadtpräsident Emil Klöti die Oberhand. Als kurz nach den Wahlen von 1928 ein bürgerlicher Stadtrat verstarb, verzichtete die SP bei der Ersatzwahl auf eine eigene Kandidatur oder die Unterstützung des kommunistischen Bewerbers und ermöglichte damit die Wahl eines Freisinnigen. Bei zwei weiteren Nachwahlen wurde diese Politik fortgesetzt. Auch auf der symbolischen Ebene widerspiegelte sich diese Grundhaltung: Am 1. Mai 1928 wurden zwar erstmals die städtischen Amtsgebäude beflaggt, allerdings nicht mit roten, sondern mit Schweizer und Zürcher Fahnen. Die Stadtratsmehrheit verstand das «Rote Zürich» nicht als ein revolutionäres Experimentierfeld, sondern strebte eine reformistische Verwaltungsarbeit an – auch unter Inkaufnahme von Konflikten mit Teilen der eigenen Basis.

Das grösste Projekt, die zweite Eingemeindung, erfolgte denn auch in enger Kooperation mit dem bürgerlich regierten Kanton. Zahlreiche Vorortsgemeinden gehörten wirtschaftlich längst zur Stadt, die sich 1894 ein erstes Mal vergrössert hatte. Manche von ihnen hatten grosse Haushaltsprobleme. Namentlich die Glatttalgemeinde Affoltern drohte finanziell zusammenzubrechen. Durch die Schaffung von «Gross-Zürich» sollten die Planbarkeit der Wirtschaftsregion Zürich vergrössert und ein finanzieller Ausgleich zwischen den Quartieren geschaffen werden. Die Gegnerschaft befürchtete dagegen eine noch stärkere Dominanz der Stadt im Kanton Zürich, wobei auch die unterschiedlichen politischen Mehrheiten in Stadt und Kanton thematisiert wurden. Nachdem ein erster Vorstoss 1929 noch in der kantonalen Volksabstimmung gescheitert war, wurde 1931 eine neue Vorlage gutgeheissen, die die wohlhabenden Gemeinden Kilchberg und Zollikon sowie Schlieren und Oberengstringen von der Eingemeindung ausnahm und zugleich einen kantonalen Finanzausgleich einführte. Durch die Eingliederung der Gemeinden Albisrieden, Altstetten, Höngg, Affoltern, Seebach, Oerlikon, Schwamendingen und Witikon verdoppelte sich die Stadtfläche und die EinwohnerInnenzahl stieg von 250’000 auf 320’000. Aufgrund der Vereinigung auf das Kalenderjahr 1934 hin wurden die Stadt- und Gemeinderatswahlen, an denen sich nun auch die zukünftigen Stadtkreise 9 bis 11 beteiligten, um ein halbes Jahr auf den September 1933 vorgezogen.

Der Wahlkampf fiel in eine politisch und wirtschaftlich dramatische Zeit. Die seit bald vier Jahren anhaltende Weltwirtschaftskrise hatte zu einem markanten Einbruch von Welthandel und Industrieproduktion sowie Massenarbeitslosigkeit und politischer Radikalisierung geführt. In Deutschland mit einer Arbeitslosenquote von rund 30 Prozent war Ende Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. In den folgenden Wochen und Monaten trieben die Nazis den Umbau des Staates in eine Diktatur voran. Bis im Sommer waren sämtliche politischen Parteien ausser der NSDAP ausgeschaltet, erste antisemitische Regelungen in Kraft gesetzt und bereits Zehntausende Regimegegner in Konzentrationslagern inhaftiert. In Österreich nutzte Reichskanzler Engelbert Dollfuss im März 1933 eine parlamentarische Geschäftsordnungskrise zur Ausschaltung des Nationalrats und der Errichtung eines autoritären Regimes, das sich in den folgenden Monaten mit dem sukzessiven Verbot der politischen Parteien und, nach blutigen Unruhen im Februar 1934, einer oktroyierten «ständestaatlichen» Verfassung konsolidierte und in der Folge stark an das faschistische Italien anlehnte. Damit endete auch die Phase des «Roten Wien», das von den Exponenten des «Roten Zürich» häufig als Vorbild betrachtet worden war.

Es gab auf der Weltbühne aber nicht nur diese Tendenz nach rechts aussen. In den Vereinigten Staaten war im November 1932 der bisherige republikanische Präsident Herbert Hoover, der die Wirtschaftskrise passiv aussitzen wollte, abgewählt worden. Sein Nachfolger, der Demokrat Franklin D. Roosevelt, propagierte mit dem «New Deal» eine interventionistische Politik der Krisenbekämpfung, die staatlich finanzierte Bauprogramme, Unterstützungen für die Landwirtschaft, einen freiwilligen Arbeitsdienst, eine staatliche Börsenaufsicht sowie sozialpolitische Massnahmen umfasste. In Schweden hatten im September 1932 die Sozialdemokraten die Wahlen gewonnen, versuchten nun ebenfalls, die Auswirkungen der Krise mit Beschäftigungsprogrammen und Agrarsubventionen zu bekämpfen, und legten die Grundlagen für das «nordische Modell». Das britische Mehrparteienkabinett des «National Government» war wirtschaftspolitisch gespalten, Frankreich taumelte von einer Regierungskrise in die nächste.

Die Kommunisten betrachteten die Weltwirtschaftskrise als die von Marx prognostizierte Endkrise des Kapitalismus und verwiesen auf den ganz anderen Wirtschaftsverlauf in der Sowjetunion, wo der erste Fünfjahresplan 1928 bis 1932 den Aufbau der Schwerindustrie vorantrieb. Die Produktionsziffern mancher industrieller Güter verdoppelten oder gar vervierfachten sich in wenigen Jahren und es entstanden zahlreiche neue Industriezentren. Während im Westen Massenarbeitslosigkeit herrschte, kämpfte die sowjetische Industrie mit Arbeitskräftemangel. Das rasche Wachstum beruhte aber auf der gnadenlosen Ausbeutung der Industriearbeiterschaft mit überlangen Arbeitszeiten und einem Rückgang der Reallöhne. Katastrophale Folgen hatte die parallel vollzogene Kollektivierung der Landwirtschaft. Widerstände der Bauern gegen die erzwungene Eingliederung in Kolchosen und Sowchosen, die Deportation mehrerer Millionen als «Kulaken» (Grossbauern) diffamierter Menschen nach Sibirien, administrative Inkompetenz und wetterbedingte Ernteausfälle führten zu einem massiven Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, der 1932/33 in eine grosse Hungersnot mündete, welcher mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen. Trotzdem erschien die Sowjetunion als «Land ohne Arbeitslosigkeit» im Westen manchen als ein attraktives Modell und hatten die Kommunisten in der Endphase der Weimarer Republik als einzige Partei neben den Nazis einen Wähler- und Mitgliederzuwachs erlebt.

Auch in der Stadt Zürich war die Weltwirtschaftskrise spürbar. Die Zahl der Arbeitslosen sprang von 1930 bis 1934 von 1’795 auf 12’415. Die Stadtregierung reagierte mit verschiedenen sozialpolitischen und interventionistischen Massnahmen. 1929/30 wurden kommunale Altersbeihilfen eingeführt, 1931 eine obligatorische, von der Stadtkasse subventionierte Arbeitslosenversicherung. Ab 1933 gewährte die Stadt (wie auch der Kanton) Exportrisikogarantien. Als die Firma Escher Wyss nahe am Konkurs stand, kaufte die Stadt 1935 ihre Liegenschaft und vermietete sie ihr zu günstigen Konditionen. Als Arbeitsbeschaffungsmassnahme wurden Renovationsarbeiten städtisch unterstützt, und der Bau des Hallenstadions durch eine private Aktiengesellschaft erfolgte zu einem grossen Teil mit Geldern aus den Arbeitsbeschaffungsfonds von Bund, Stadt und Kanton Zürich in der Höhe von insgesamt 1.2 Millionen Franken.

Vor diesem Hintergrund vermischten sich bei den Gemeindewahlen 1933 Kommunalpolitik und weltanschauliche Grundsatzfragen. Befeuert wurden sie durch das Auftreten einer neuen politischen Kraft: den Fronten. 1930 waren in Zürich gleich zwei rechtsextreme Organisationen entstanden. Die Mitglieder der Neuen Front, die sich als Kaderorganisation verstand, stammten zumeist aus ursprünglich freisinnigen Jungakademikerkreisen, die den Liberalismus als Auslaufmodell betrachteten und zu neuen Ufern aufbrechen wollten. Demgegenüber rekrutierte sich die Nationale Front zum grössten Teil aus dem Kleinbürgertum. Mit ihrer Zeitung «Der Eiserne Besen» und einem offen zur Schau getragenen Antisemitismus versuchte die Nationale Front die Massen zu mobilisieren. Im folgenden Jahr wurde nach deutschem Vorbild die Nationalsozialistische Eidgenössische Arbeiterpartei (NSEAP) gegründet. Im April 1933 vereinigte sich die Neue mit der Nationalen Front und auch viele Mitglieder der NSEAP traten zur Nationalen Front über. Im August verübten drei Frontisten einen Bombenanschlag auf die Redaktion des sozialdemokratischen Parteiblatts «Volksrecht». Ideologie und politischer Stil der Fronten waren Kopien ihrer ausländischen Vorbilder: Antisemitismus, Antisozialismus, Antiliberalismus und Demokratiefeindlichkeit verbanden sich mit einem irrationalen Führerkult, Fahnen- und Uniformfetischismus und einem autoritären Imponiergehabe an Massenaufmärschen und Versammlungen. Der Führergruss der Frontisten bestand im Recken des rechten Armes nach deutschem Vorbild, dazu wurde «Harus!» gebrüllt.

Das Aufkommen der Fronten sorgte bei den demokratischen Parteien für Aufsehen. Bei den Bürgerlichen waren die Meinungen zunächst gespalten. Auf der einen Seite waren die antidemokratischen und antiliberalen Töne der Frontisten unüberhörbar und lehnte die Nationale Front zunächst auch jegliches Zusammengehen mit den traditionellen Parteien ab. Der «Eiserne Besen» etwa hatte es am 2. Juni 1933 als Ziel formuliert, «die historischen Parteien zu zertrümmern», und die «Neue Zürcher Zeitung» als «Judenblättlein» tituliert. Auf der anderen Seite schien es aber auch, dass die Fronten der Linken Wähler aus den Unterschichten abspenstig machen und die Bürgerlichen als lachende Dritte dastehen könnten. Im Mai 1933 widmeten die Zürcher Freisinnigen ihren Kantonaltag der Frage des Verhältnisses zu den Fronten. Parteipräsident Heinrich Weisflog meinte dabei, der Freisinn begrüsse «von ganzem Herzen den Grundton der neuen Bewegungen ‚Alles für das Vaterland’ und ist mit ihnen einverstanden, wenn sie es unternehmen, unsere Ratssäle vom russischen Ungeziefer zu säubern». Ein gemeinsames Handeln sei möglich «schon mit Rücksicht auf das nächste Kriegsziel, die Befreiung der Stadt Zürich von der roten Herrschaft» (NZZ, 29.5.1933).

Tatsächlich wurde für die Zürcher Gemeindewahlen eine Allianz zwischen den meisten bürgerlichen Parteien und der Nationalen Front und weiteren frontistischen Gruppierungen geschmiedet, der «Vaterländische Block». Für die Gemeinderatswahlen gab es eine Listenverbindung, auf dem bürgerlichen Sechserticket für den Stadtrat figurierte auch der Rechtsanwalt Robert Tobler von der Nationalen Front. Dieses Zusammengehen war indessen auf beiden Seiten sehr umstritten. Manche Frontisten empfanden den Schulterschluss mit traditionellen Parteien als Verrat am eigenen Antiparlamentarismus. Auf der bürgerlichen Seite scherte nach einem deutlich ablehnenden Votum der Mitgliederversammlung die Demokratische Partei aus dem Bündnis aus und verweigerte Tobler die Unterstützung als Stadtratskandidat. Auch im Freisinn ausserhalb der Stadt Zürich gab es stark ablehnende Stimmen. So schrieb die Basler «National-Zeitung» am Vorabend der Wahlen: «Das Bürgertum wittert Morgenluft, glaubt den Tag der Abrechnung mit den ‹Marxisten› für gekommen und nimmt den Kampf um die politische Vormachtstellung mit der Linken auf. Aber um welchen Preis! Der Liberalismus verleugnet seine Ideen und paktiert mit seinem hasserfüllten Gegner. Er kämpft mit den Waffen aus dem Schlagwortarsenal einer ausländischen Waffenfabrik.»

Auf der Linken attackierten die Kommunisten mit einer eigenen Stadtratsliste mit neun Kandidaten die sozialdemokratischen Amtsinhaber. In den Parteizeitungen und Flugblättern beschimpften sich SP und KPS in der Folge gegenseitig als Wegbereiter der «Reaktion». Seit der Parteispaltung von 1921 war die Bedeutung der Kommunistischen Partei in der Stadt Zürich kontinuierlich zurückgegangen. Ihr Wähleranteil, der 1922 noch 10.9 Prozent betragen hatte, war bis 1931 auf 5.8 Prozent gesunken, während die SP in derselben Zeit ihre Wählerschaft von 31.2 auf 47.4 Prozent gesteigert hatte. In den Arbeiterquartieren waren die Verschiebungen weg von der KPS und hin zur SP noch markanter. Die KPS folgte treu der Sozialfaschismusthese der Kommunistischen Internationale, gemäss welcher die Sozialdemokratie den linken Flügel des Faschismus und Hauptstütze der Bourgeoisie darstellte und von den Kommunisten vorrangig zu bekämpfen war. Eine Gelegenheit dazu hatte sich im Sommer 1932 bei einem wilden Streik der Zürcher Heizungsmonteure ergeben, die einen von der Gewerkschaft SMUV mit den Arbeitgebern ausgehandelten Nominallohnabbau ablehnten. Der mehrwöchige Streik gipfelte am 15. Juni in Strassenschlachten zwischen Demonstranten und der Polizei, bei der ein Kommunist getötet und mehrere Dutzend schwer verletzt wurden. Am folgenden Tag verprügelten Demonstranten am Rande einer unbewilligten kommunistischen Kundgebung einen Kleingewerbler und Gewerkschafter so brutal, dass er wenige Tage darauf verstarb. Die kommunistische Hoffnung und sozialdemokratische Befürchtung nach der «Blutnacht», dass sich nun sozialdemokratische Arbeiter in Massen der KPS zuwenden würden, trat nicht ein. Jedoch übte die Sozialistische Arbeiterjugend immer stärkere Kritik an der Stadtregierung und näherte sich der KPS an. Im Dezember 1934 sollten ihre Organisationen dann von der SP aufgelöst werden.

Im Wahlkampf 1933 vermischten sich kommunalpolitische Themen mit grundsätzlichen Fragen. Die SP verteidigte nicht nur die Bilanz der vergangenen fünf Jahre Regierungspolitik, sondern stellte sich auch als Bollwerk gegen Frontisten und Nationalsozialismus dar. Die Freisinnigen versuchten einen Balanceakt zwischen Zusammenarbeit und Distanzierung von den Fronten und rückten den Kampf gegen die SP und die Kosten von deren Sozialpolitik ganz ins Zentrum ihres Wahlkampfes. Die Reaktion auf die sozialdemokratische «Misswirtschaft» müsse kommen, und der «Systemwechsel» könne nun noch «auf legale Weise» erfolgen; ob dies in einem Jahr noch möglich sei, wisse kein Mensch: «Wehe, Bürger, wenn Du schläfst! Dann werden die Fronten mit eisernem Besen kehren und was dann an Freiheiten noch übrig bleibt, das siehst Du am heutigen Hitler-Deutschland: Nichts!» Die Fronten agitierten «gegen den antireligiösen, bolschewistischen und jüdischen Zersetzungsgeist» sowie «gegen den Parteienstaat und gegen den unverantwortlichen Parlamentarismus». Und die Kommunisten attackierten Sozialdemokratie, Bürgerliche und Fronten gleichermassen, denn sie seien «alle einig im Kampfe gegen die Arbeiterklasse, für Lohnraub und faschistischen Terror».

Die Wahlkampfmittel beinhalteten Plakate und Flugblätter ebenso wie die Präsenz auf der Strasse und zahlreiche Versammlungen. Letztere dienten alleine der Mobilisierung der sich feindselig gegenüberstehenden Wahlblöcke. Kontradiktorische Veranstaltungen, wie sie heute zum Kernbestand des Meinungsbildungsprozesses im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen gehören, fanden keine statt und wären wohl in Tumulte ausgeartet. Modern mutet hingegen die Verwendung von Wahlkampf-Giveaways an: Die Sozialdemokraten produzierten Zündholzschächtelchen, auf dass den Wählern ein Licht aufgehe, die Freisinnigen verteilten Jasskarten mit der Mahnung, die bevorstehenden Wahlen seien mehr als nur ein Spiel. Auch Tonaufnahmen spielten im Wahlkampf eine Rolle: Im Archiv des VPOD Zürich sind fünf Azetatplatten mit kurzen Wahlkampfreden der SP-Stadträte Briner, Baumann, Kaufmann und Gschwend sowie von Volksrecht-Redaktor Nobs überliefert. Wie diese erst kürzlich entdeckten und nun in der Datenbank Bild + Ton des Sozialarchivs online abhörbaren Aufnahmen genau im Wahlkampf eingesetzt wurden, ist noch unklar.

Am Vorabend der Wahlen eskalierte die bereits seit Wochen latent vorhandene Gewaltbereitschaft verschiedener Akteursgruppen in einer wüsten Schlägerei rund um den Stauffacher. Ein von der «Neuen Zürcher Zeitung» als «Weiheakt der vaterländischen Aktion» angekündigter Fackelzug des «Vaterländischen Blocks», in dem Mitglieder der frontistischen Parteimiliz «Harst» dominierten, hatte mit der Sihl die Demarkationslinie zwischen bürgerlichen und Arbeiterquartieren überschritten und wollte weiter durch Aussersihl marschieren. Bereits nach wenigen Metern wurde er aber von Arbeitern abgefangen und es entfaltete sich eine Keilerei, die von Extrablättern der Parteizeitungen je nach Blickwinkel als von den Fröntlern provozierte «Katastrophe» oder als «marxistischer Ueberfall» rapportiert wurde.

Der faustische Pakt mit den Fronten zahlte sich für die bürgerlichen Parteien nicht aus: Zwar erreichte die Nationale Front einen Wähleranteil von 7.8 Prozent und gewann im Gemeinderat aus dem Stand zehn Sitze. Diese Gewinne gingen indessen weitgehend zulasten der Freisinnigen, deren Wähleranteil um 8.1 auf 16.9 Prozent zurückgegangen war. Die Sozialdemokraten verteidigten mit einem Stimmenanteil von 47.8 Prozent ihre Einstimmenmehrheit im Gemeinderat, die Kommunisten gingen von 5.8 auf 4.7 Prozent zurück und verloren vier ihrer bisherigen sechs Mandate. Geringere Verschiebungen zwischen den kleineren bürgerlichen Parteien hielten sich in etwa die Waage.

Bei den Stadtratswahlen stand Stadtpräsident Klöti an der Spitze, gefolgt von den vier anderen sozialdemokratischen Kandidaten. Danach folgten die fünf bürgerlichen Kandidaten, mit einigem Abstand der Frontist Tobler und weit abgeschlagen die neun Kommunisten. Die meisten Wähler hatten en bloc für die Kandidaten eines Wahlbündnisses gestimmt, wobei etwa ein Viertel der bürgerlichen Wähler aber Tobler die Unterstützung verweigerte. An der parteipolitischen Zusammensetzung der Stadtregierung änderte sich damit wenig. Den fünf Sozialdemokraten standen weiterhin vier Bürgerliche gegenüber, wobei ein Sitz von den Christlichsozialen auf die Demokraten übergegangen war. Die Wahlbeteiligung war gegenüber 1931 um fast zehn Prozent auf 85 Prozent angestiegen – der intensive Wahlkampf aller Parteien hatte also Wirkung gezeigt.

Die Zürcher Gemeindewahlen waren nicht der einzige Urnengang, in dem sich der «Frontenfrühling» von 1933 manifestierte. Bei einer Ständeratsersatzwahl in Schaffhausen im selben Monat erhielt der Kandidat der Nationalen Front einen Stimmenanteil von 26.7 Prozent und im November kam die Union Nationale bei den Genfer Grossratswahlen auf 9 Prozent sowie zehn der 100 Mandate. Bei den Nationalratswahlen von 1935, den einzigen, an denen sich die Frontisten beteiligten, flachte die Erfolgskurve aber bereits wieder ab. Die Nationale Front gewann ein Mandat in Zürich und die Union Nationale eines in Genf; in vier weiteren Kantonen gingen die Fronten leer aus. Einige Wochen zuvor war die «Fronten-Initiative» für eine Totalrevision der Bundesverfassung mit 72.3 Prozent Neinstimmen wuchtig verworfen worden. Zwei Jahre darauf scheiterte auch die zweite frontistische Volksinitiative, die ein Verbot der Freimaurerei forderte, mit einem Neinstimmen-Anteil von 68.7 Prozent. 1937 inszenierten der Chef der Union Nationale Georges Oltramare und der Zürcher Frontenführer Rolf Henne einen «Marsch auf Bern» – eine Hommage an Mussolinis «Marsch auf Rom» von 1922. Am Morgen des 23. Mai 1937 fuhren etwa 200 Autos mit Frontisten von Genf, Zürich, Basel, Schaffhausen und aus dem Aargau in die Bundesstadt. Gegen zehn Uhr marschierten etwa 1’000 Frontisten auf den Bundesplatz, wo Oltramare und Henne von einem Auto herab gegen «das System» wetterten und den Ausschluss von Juden und Freimauern aus dem öffentlichen Leben forderten. Bei einem anschliessenden Umzug durch Bern kam es zu Scharmützeln mit der Polizei. Zum Abschluss nahmen die beiden Frontenführer von ihren vorbeidefilierenden Anhängern den Faschistengruss entgegen. Die Aktion erzielte allerdings nicht die erhoffte Massenwirkung.

Bei den nächsten Zürcher Gemeindewahlen im März 1938 hatte sich die politische Grosswetterlage markant geändert. Wenige Tage vor den Wahlen war Nazi-Deutschland in Österreich einmarschiert und hatte den «Anschluss» vollzogen, was in der Schweiz Ängste vor einem ähnlichen Schicksal weckte. Die aufkommende Geistige Landesverteidigung führte tendenziell zu einem Zusammenrücken der demokratischen Kräfte, wenn auch die inhaltlichen Gegensätze fortbestanden und im Wahlkampf 1938 teilweise weiterhin gehässige Töne angeschlagen wurden. 1935 hatte die SP erstmals seit 1917 wieder die militärische Landesverteidigung anerkannt. Dass für 1939 die Schweizerische Landesausstellung in Zürich geplant war, das zwei Jahrzehnte zuvor noch Brennpunkt des Landesstreiks gewesen war und seit 1928 von einem links dominierten Stadtrat regiert wurde, war von symbolischer Bedeutung.

Bei den Gemeindewahlen 1938 behauptete die SP ein weiteres Mal die Mehrheit im Stadtrat. Im Gemeinderat fiel sie aber mit einem Wähleranteil von 41.6 Prozent von 63 auf 60 Mandate zurück, womit erstmals seit 1925 keine linke Mehrheit mehr bestand. Auf der anderen Seite verloren aber auch die bürgerlichen Parteien sieben Sitze. Die Nationale Front, deren Wähleranteil von 7.7 auf 2.4 Prozent fiel, ging sämtlicher zehn Mandate verlustig und die Kommunisten stagnierten auf tiefem Niveau. Grosser Gewinner war der vom Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler initiierte Landesring der Unabhängigen, der auf Anhieb auf 16 Prozent kam und 20 Sitze gewann. Mit dem Auftauchen dieser Gruppierung stand Protestwählern nun eine Alternative zur Verfügung, die nicht an den antidemokratischen Extremen des politischen Spektrums angesiedelt war und gleichermassen im sozialdemokratischen und im bürgerlichen Lager graste. Bei den nächsten Wahlen 1942 mitten im Krieg sollte sich dieser Trend dann noch verstärken.

Materialien zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 2.50.12 Gewerkschaftskartell Zürich: Wahlen 1933–1938
  • Ar 27.60.2 Sozialdemokratische Partei des Kantons Zürich: Wahlen 1933–1934

Archiv Bild + Ton

  • F Ka-0001-666 Postkarte
  • F Ka-0001-679 Postkarte
  • F Pe-0413 Wahlplakat
  • F Pe-0420 Wahlplakat
  • F Pe-0491 Wahlplakat
  • F Pe-0910 Wahlplakat
  • F Pe-0268 Wahlplakat
  • F 1002-001a Rede von Stadtrat Jakob Gschwend
  • F 1002-001b Rede von Stadtrat Jakob Gschwend
  • F 1002-002a Rede von Ernst Nobs
  • F 1002-003a Rede von Stadtrat Bernhard Kaufmann
  • F 1002-003b Rede von Stadtrat Bernhard Kaufmann
  • F 1002-006a Rede von Stadtrat Jean Briner
  • F 1002-006b Rede von Stadtrat Jean Briner
  • F 1002-007b Rede von Ernst Nobs
  • F 1002-008a Rede von Stadtrat Jakob Baumann
  • F 1002-009b Rede von Stadtrat Jakob Baumann
  • F Ob-0001-483 Streichholzbriefchen

Sachdokumentation

  • KS 32/114a Kommunale Wahlen: Stadt Zürich 1914–1928
  • KS 32/115 Kommunale Wahlen: Stadt Zürich 1931
  • KS 32/116:1 Kommunale Wahlen: Stadt Zürich 1932–1937
  • KS 32/116:2 Kommunale Wahlen: Stadt Zürich 1932–1937
  • KS 32/117 Kommunale Wahlen: Stadt Zürich 1938
  • KS 32/117a Kommunale Wahlen: Stadt Zürich 1942
  • KS 32/222:1 Frontenbewegung: Schweiz; Nationale Front
  • KS 32/222:2 Frontenbewegung: Schweiz; Nationale Front
  • KS 32/223 Frontenbewegung: Schweiz
  • KS 35/13 Kommunale Politik: Stadt Zürich: Eingemeindung 1934
  • KS 335/8b Kommunalsozialismus; sozialistische Kommunalpolitik

Bibliothek

  • Walter Akeret: Die Zweite Zürcher Eingemeindung von 1934. Bern 1977, 59719
  • Beat Glaus: Die Nationale Front: Eine Schweizer faschistische Bewegung, 1930–1940. Zürich 1969, 40724
  • Peter Huber: Kommunisten und Sozialdemokraten in der Schweiz 1918–1935: Der Streit um die Einheitsfront in der Zürcher und Basler Arbeiterschaft. Zürich 1986, 80949
  • Emil Klöti: Zürichs 2. Eingemeindung vom Jahre 1934. Zürich 1956, 46179
  • Mario König et al.: Klassenkämpfe, Krisen und ein neuer Konsens – Der Kanton Zürich 1918–1945, in: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3. Zürich 1997. S. 250-349, GR 8215: 3
  • Steffen Lindig: „Der Entscheid fällt an den Urnen“: Sozialdemokratie und Arbeiter im Roten Zürich 1928 bis 1938. Zürich 1979, 65768
  • Ernst Nobs: Die Zürcher Wahlschlacht, in: Rote Revue 13 (1933), S. 37, N 11
  • Paul Schmid-Ammann: Emil Klöti: Stadtpräsident von Zürich: Ein schweizerischer Staatsmann. Zürich 1965, 34409
  • Ernst Schürch: Der Freisinn und die Fronten: Nach dem Referat vom 13. Mai 1933 vor dem Zentralvorstand der freisinnig-demokratischen Partei der Schweiz in Olten. Bern 1933, 32/218-3
  • Robert Tobler: Vom Ständestaat der Gegenwart. Zürich 1932, 32/70-12
  • Walter Wolf: Faschismus in der Schweiz: Die Geschichte der Frontenbewegungen in der deutschen Schweiz, 1930–1945. Zürich 1969, 39590
  • Klaus-Dieter Zöberlein: Die Anfänge des deutschschweizerischen Frontismus: Die Entwicklung der politischen Vereinigungen Neue Front und Nationale Front bis zu ihrem Zusammenschluss im Frühjahr 1933. Meisenheim am Glan 1970, 42035
  • Konrad Zollinger: Frischer Wind oder faschistische Reaktion? Die Haltung der Schweizer Presse zum Frontismus 1933. Zürich 1991, 91777