Die Schweiz war in den letzten drei Jahrhunderten Schauplatz zahlreicher internationaler Konferenzen, die sich um Krieg und Frieden drehten. Noch zur Zeit der Alten Eidgenossenschaft fand 1714 in Baden eine dreimonatige Friedenskonferenz statt, die den Spanischen Erbfolgekrieg beendete. Dieser hatte knapp 14 Jahre gedauert und trug mit Kriegsschauplätzen in Europa, Nordamerika, der Karibik und auf den Weltmeeren bereits Züge eines Weltkriegs. Der während der Französischen Revolution 1795 zwischen Frankreich, Preussen, Spanien und Hessen-Kassel abgeschlossene, wesentlich vom Basler Stadtschreiber und späteren Autor der ersten Verfassung der Helvetischen Republik Peter Ochs vermittelte Friede von Basel war lediglich eine vorübergehende Atempause in der Serie der Koalitionskriege von 1792 bis 1815, die mit ihren Kriegsschauplätzen in Europa, im Nahen Osten, Nordafrika, Nordamerika, in der Karibik und auf den Weltmeeren, der Vernetzung des allgemeinen europäischen Krieges mit Kolonialkriegen, europäischen und asiatischen Regionalkonflikten sowie neuen Formen des «Volkskrieges», nationalistischer Propaganda und des Wirtschaftskriegs im Rückblick als ein 13-jähriger Weltkrieg erscheint.
Ab dem 19. Jahrhundert fanden dann viele solche Konferenzen am Genfersee statt, aber auch Bern, Basel, Zürich, Luzern, Locarno oder der Bürgenstock wurden zu Kongressorten. Am Ende des Ersten Weltkrieges anerbot sich die Schweiz neben Frankreich und Belgien als Gastgeberin der anstehenden grossen Friedenskonferenz, die wie die Kongresse in Münster und Osnabrück von 1645 bis 1648 und in Wien 1814/15 nach einem katastrophalen Krieg mit Zerstörung des bisherigen internationalen Systems eine stabile Friedensordnung zu errichten versuchen sollte. US-Präsident Woodrow Wilson favorisierte zunächst einen Konferenzstandort ausserhalb der kriegführenden Länder und schlug Ende Oktober 1918 Lausanne vor. Auch Genf war, wie dann erneut nach dem Zweiten Weltkrieg, als potenzieller Schauplatz der Friedenskonferenz im Gespräch. Angesichts des zeitgleich mit dem Waffenstillstand und den Revolutionen in Deutschland und Österreich Anfang November 1918 stattfindenden Landesstreiks übertrieb die französische Diplomatie dann gezielt das Unruhepotenzial und die bolschewistische Gefahr in der Schweiz und konnte so Paris als Konferenzstandort sichern. Ein halbes Jahrzehnt später fand aber in der Schweiz ein weiterer internationaler Kongress statt, der von vielen Zeitgenoss:innen als eigentlicher Schlusspunkt hinter dem Ersten Weltkrieg betrachtet wurde: die Konferenz von Locarno.
Krieg und Frieden auf Konferenzen in der Schweiz
Die Locarno-Konferenz von 1925 reiht sich ein in eine grosse Zahl diplomatischer und zivilgesellschaftlicher Konferenzen in der Schweiz um Krieg und Frieden. Genf war als Sitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Unterzeichnungsort der ersten «Genfer Konvention» (1864) und dann Völkerbund- und UNO-Sitz Gastgeberin einer Serie von Konferenzen zur Begründung und Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts (1863/64, 1906, 1925, 1929, 1949, 1951, 1977, 1980, 1992, 2005) und von verschiedenen Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen zwischen Grossmächten (1927, 1932 bis 1934, 1958 bis 1962, 1962 bis 1968, 1977, 1979 ff., 1980 bis 1985). 1925 wurde das «Genfer Protokoll» unterzeichnet, das den Einsatz chemischer und biologischer Waffen verbietet. Im Kalten Krieg wurde Genf Sitz verschiedener UNO-Foren zur Abrüstung: des kurzlebigen «Ten Nation Committee on Disarmament» (1960), des «Eighteen Nation Committee on Disarmament» (1961 bis 1968), der «Conference of the Committee on Disarmament) (1969 bis 1978) und der «Conference on Disarmament» (seit 1979). Aus ihren Arbeiten gingen unter anderem der Atomwaffensperrvertrag (1968), die Biowaffenkonvention (1971), die Chemiewaffenkonvention (1992) und der (noch nicht in Kraft getretene) Atomwaffenteststoppvertrag (1996) hervor. Bereits 1958 hatten Atomexperten auf einer Konferenz in Genf ein Kontrollprogramm zur Überwachung eines zukünftigen Atombombentestabkommens entworfen. 1972 in Genf begonnene amerikanisch-sowjetische Verhandlungen mündeten 1979 in die Unterzeichnung des SALT II-Abkommens in Wien zur Begrenzung nuklear-strategischer Waffensysteme (s. SozialarchivInfo 3/2022). 1973 bis 1975 war Genf auch Schauplatz von Verhandlungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). 2016 und 2019 veranstalteten das UN-Büro zur Verhinderung von Völkermord und die «Internationale Vereinigung zur Verteidigung der Religionsfreiheit» in Genf zwei internationale Konferenzen zum Thema «Religion, Frieden und Sicherheit».
1872 verurteilte ein in Genf tagendes Schiedsgericht Grossbritannien zur Zahlung einer Entschädigung an die USA, weil es im Sezessionskrieg seinen internationalen Verpflichtungen zur Einhaltung der Neutralität nicht nachgekommen war. In Genf wurde beispielsweise auch 1922 das deutsch-polnische Abkommen über Oberschlesien unterzeichnet, 1952 gab es indisch-pakistanische Verhandlungen zum Kaschmirkonflikt, 1955 bis 1957 chinesisch-amerikanische Gespräche über den Status von Taiwan, 1957 im Nachgang zur Suezkrise französisch-ägyptische Diskussionen, 1962 eine Konferenz zur (freilich nicht nachhaltigen) Beendigung des Bürgerkriegs in Laos, 1963 und 1964 Gespräche zum Südtirolkonflikt, 1967 Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der jemenitischen Befreiungsfront über die beschleunigte Unabhängigkeit des von bürgerkriegsartigen Konflikten erschütterten Südjemen, 1973 nach dem Jom-Kippur-Krieg eine Nahostkonferenz (s. SozialarchivInfo 4/2023), 1974, 1988, 2000 und 2021 Verhandlungen zum Zypernkonflikt, 1976 zum Bürgerkrieg in Rhodesien/Zimbabwe, 1977, 1994 und 2000 zwischen den USA und Syrien zum Nahostkonflikt, 1981/82 zu Namibia, 1983 zum Bürgerkrieg im Libanon, 1983 und 1987 zu Palästina, 1985, 1987, 1988, 2018 und 2020 zum Afghanistankonflikt, 1988 zu den Kriegen im Südlichen Afrika und am Persischen Golf, 1990 zum Bürgerkrieg in El Salvador, 1991 im Vorfeld des zweiten Golfkrieges zur irakischen Besetzung Kuwaits, als vor dem Aussenministertreffen des Iraks und der USA in der Calvinstadt als vergebliche Friedensdemonstrationen die Kirchenglocken läuteten und aus vielen Fenstern weisse Fahnen gehisst wurden, 1992 bis 1995 zu den Zerfallskriegen Jugoslawiens, 1993 zum Bürgerkrieg in Liberia, 1994 und 2007 zum nordkoreanisch-amerikanischen Atomstreit, 1994 und 1997 zum Abchasienkonflikt, 1994, 2015 und 2018 zu den Kriegen im Jemen, 1997 und 1999 zu Korea, im Jahr 2000 zum Bürgerkrieg in Kolumbien, 2000 und möglicherweise 2007 im Geheimen zwischen Syrien und Israel, 2001 zum Konflikt um die separatistische indonesische Provinz Aceh, 2006 zum Bürgerkrieg in Sri Lanka, 2012 bis 2018 zum syrischen Bürgerkrieg, 2014 zur russländischen Aggression gegen die Ukraine, 2015 zum Bürgerkrieg in Libyen, 2022 zum Berg-Karabach-Konflikt und 2024 zum Bürgerkrieg im Sudan.
1937 fand angesichts der internationalen Dimensionen des spanischen Bürgerkriegs eine Konferenz in Nyon und Genf zum Schutz der Mittelmeerseefahrt vor U-Boot-Angriffen statt. 1954 tagte in Genf drei Monate lang eine Konferenz zur Beilegung der Konflikte in Indochina und Korea, an der neben den direkten Konfliktparteien Frankreich und Việt Minh bzw. Nord- und Südkorea auch die USA, die Sowjetunion, die Volksrepublik China und Grossbritannien beteiligt waren. Die Konferenz beendete den achtjährigen Indochinakrieg mit der französischen Anerkennung der Unabhängigkeit von Nord- und Südvietnam, Kambodscha und Laos. Die für 1955 festgelegten gesamtvietnamesischen Wahlen fanden dann aber nicht statt und die anhaltenden Spannungen eskalierten in der Folge in den bis 1975 dauernden Vietnamkrieg. Bezüglich Koreas, wo ein Jahr zuvor ein dreijähriger Krieg mit über 4 Millionen Toten durch einen Waffenstillstand beendet worden war, brachte die Genfer Konferenz keine Ergebnisse.
Im folgenden Jahr fand in Genf das erste Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der USA, der Sowjetunion, Grossbritanniens und Frankreichs seit der Potsdamer Konferenz unmittelbar zu Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Diskussionspunkte waren Fragen der europäischen Sicherheit und Abrüstung sowie die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Konferenz gilt als Höhepunkt einer Phase der «Entspannungspolitik» im frühen Kalten Krieg und es war sogar von einem «Geist von Genf» die Rede. Allerdings konnte in keinem der zentralen Diskussionspunkte eine Einigung erzielt werden und die zum Abschluss formulierte «Genfer Direktive» enthielt nur eine vage Formulierung, dass die deutsche Wiedervereinigung und die europäische Sicherheit einen unauflöslichen Zusammenhang bildeten. Ohne konkrete Resultate blieben auch die folgenden Aussenministertreffen in Genf 1955, 1959 und 1962. Während der von der Schweizer Diplomatie wesentlich unterstützten Verhandlungen zur Beendigung des Algerienkrieges im französischen Évian-les-Bains 1961/62 residierte die algerische Delegation in Genf und auf dem Signal de Bougy.
Während das Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow von 1985 in Genf inhaltlich zwar unmittelbar ergebnislos blieb, aber zu einer erheblichen atmosphärischen Verbesserung führte, vermochte 2021 das gleichenorts abgehaltene Treffen zwischen Joe Biden und Vladimir Putin die weitere Radikalisierung der russländischen Expansionspolitik nicht zu verhindern. Im Streit um das iranische Atomprogramm gab es 2008, 2009 und 2013 Verhandlungen in Genf, aus denen 2013 ein Übergangsabkommen hervorging. In der Folge wurden die Verhandlungen 2015 in Lausanne weitergeführt und mündeten im ab 2016 umgesetzten Wiener Atomabkommen zwischen dem Iran, den USA, China, Russland, Frankreich, Grossbritannien und Deutschland. Mit dem 2018 von Donald Trump angeordneten unilateralen Ausstieg der USA aus diesem Abkommen setzte aber eine neue Eskalationsspirale um das iranische Atomprogramm ein bis hin zum israelisch-iranischen Krieg von 2025, während dem dann wiederum in Genf Deeskalationsgespräche der EU, Grossbritanniens, Deutschlands und Frankreichs mit dem Iran stattfanden.
In Lausanne fand 1922/23 eine achtmonatige Konferenz zur Beendigung des aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen griechisch-türkischen Krieges statt, die den gegenseitigen «Bevölkerungsaustausch» (also die wechselseitige Vertreibung der Minderheiten) mitbeinhaltete und die Hoffnungen auf kurdische und armenische Eigenstaatlichkeit vernichtete. Weitere Konferenzen in Lausanne gab es 1932 zum Ende der deutschen Reparationen für den Ersten Weltkrieg und 1949 zum arabisch-israelischen Konflikt. In Montreux wurde 1936 das Meerengen-Abkommen unterzeichnet, das die türkische Souveränität über die Durchfahrt vom Mittelmeer ins Schwarze Meer wiederherstellte und im Zweiten Weltkrieg wie auch im Ukrainekrieg eine wichtige Rolle spielen sollte, 2008 dann die Grundsätze zum Umgang von Staaten mit privaten Sicherheits- und Militärunternehmen.
In Zürich wurde 1859 nach dem im Zusammenhang mit der italienischen Einigung stehenden Sardischen Krieg der Friedensvertrag zwischen Österreich, Frankreich und Sardinien-Piemont unterzeichnet, 1959 ein britisch-türkisch-griechisch-zypriotisches Abkommen zur Unabhängigkeit von Zypern und 2009 in der Aula der Universität ein postgenozidales Annäherungsabkommen zwischen der Türkei und Armenien. 1988 unterzeichneten Griechenland und die Türkei am World Economic Forum die «Davos Declaration» zur Normalisierung ihrer stark angespannten Beziehungen. 2022 tagte in Lugano die erste «Ukraine Recovery Conference». Auf dem Bürgenstock fanden ebenfalls wichtige Konferenzen statt: 2002 zum Sudan, 2004 zu Zypern und 2024 zur Ukraine. Hingegen lehnte der Bundesrat 2025 die Organisation eines von christlichen NGOs und vom Parlament geforderten «Internationalen Friedensforums» ab, das sich mit dem Schicksal der 2023 in einer aserbaidschanischen Militäraktion aus Berg-Karabach vertriebenen armenischen Bevölkerung beschäftigen sollte.
Darüber hinaus war die Schweiz auch Schauplatz wichtiger zivilgesellschaftlicher Konferenzen im Themenfeld von Krieg und Frieden. Eine der ersten pazifistischen Organisationen, die «Internationale Liga für Frieden und Freiheit», wurde 1867 an einer Konferenz in Genf unter dem Ehrenpräsidium von Giuseppe Garibaldi gegründet und hielt dann ihre Jahreskonferenzen 1868, 1884 und 1892 in Bern, 1869 und 1871 in Lausanne, 1870 in Basel, 1872 in Lugano, 1874, 1875, 1876, 1879, 1881, 1882, 1886, 1887 und 1893 in Genf und 1888 und 1894 in Neuchâtel ab. Der ab 1889 beinahe jährlich von verschiedenen Friedensorganisationen ausgerichtete «Congrès universel pour la paix» fand 1892 in Bern (das auch Sitz des Internationalen Friedensbüros wurde), 1905 in Luzern (das Standort eines Kriegs- und Friedensmuseums wurde), 1912 und 1926 in Genf, 1934 in Locarno und 1939, eine Woche vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, in Zürich statt. Die «Internationale Friedensvereinigung» als Dachverband pazifistischer Organisationen hielt ihre Konferenz 1897 und 1912 in Bern ab, 1920 erstmals nach dem Unterbruch des Ersten Weltkriegs in Basel (wobei unter den rund 70 Delegierten die noch vor kurzem verfeindeten Länder vertreten waren) und 1937 in Genf. Die 1889 zur Sicherung des Friedens, Förderung des Demokratieverständnisses und Wahrung der Menschenrechte ins Leben gerufene «Interparlamentarische Union» tagte mehrfach in Bern (1892, 1914, 1952, 2001) und Genf (1912, 1932, 1984, 2003, 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2013, 2014, 2015, 2016, 2018).
1911 fand in Bern eine internationale Konferenz der volkswirtschaftlichen und historischen Kommission der im Vorjahr gegründeten «Carnegie Endowment for International Peace» mit Teilnehmer:innen aus Grossbritannien, Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Italien, Belgien, der Schweiz, Dänemark, den Niederlanden, den USA und Japan zu den Fragen von Kriegsursachen und Kriegsfolgen statt. 1912 hielt die Zweite Internationale angesichts von Kriegen auf dem Balkan und der Gefahr eines grossen europäischen Krieges einen ausserordentlichen, der Friedenssicherung gewidmeten Kongress in Basel ab. 1913 fand in Bern unter der Leitung von SP-Nationalrat Robert Grimm eine «Verständigungskonferenz» von je etwa 50 deutschen und französischen Parlamentariern unterschiedlicher Parteien statt, die eine Friedensresolution verabschiedete und jeglichen Chauvinismus ablehnte. Noch zwei Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kamen zu einer kleinen Folgekonferenz 16 französische und 18 deutsche Parlamentarier in Basel zusammen.

Maidemonstration 1954 in Zürich während der Genfer Konferenz zu Indochina und Korea (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5045-Fb-058)

14. Weltfriedenskongress 1905 in Luzern (Urheber: Hans Beat Wieland/SozArch F 5068-Ka-2473)

19. Weltfriedenskongress 1912 in Genf (Urheber:in unbekannt/SozArch F 5068-Ka-2545)

Bändel des Basler Friedenskongresses der Zweiten Internationale (Urheber:in unbekannt/SozArch F 5008-Ox-010)

Delegierte des Friedenskongresses von 1912 im Hof der Burgvogtei Basel (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F Fc-0001-48)

Während des Kriegs tagte 1915 im Berner Volkshaus die Internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg mit 25 Teilnehmerinnen aus Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Russland, Polen, den Niederlanden, Italien und der Schweiz, gefolgt von den von Grimm organisierten linkssozialistischen Antikriegskongressen in Zimmerwald (1915, getarnt als vogelkundliche Konferenz) und Kiental (1916) (s. SozialarchivInfo 5/2015 und 2/2024). An diesen Konferenzen zeigten sich scharfe Differenzen zwischen der pazifistischen Mehrheit, die eine möglichst rasche Beendigung des Weltkriegs herbeiführen wollte, und der weltrevolutionären Minderheit um Lenin, die den Weltkrieg als Sprungbrett für einen revolutionären Weltbürgerkrieg zu benutzen trachtete. Hingegen konnten zu zwei in Bern geplanten, parteiübergreifenden internationalen Kongressen «zum Studium der Grundlagen eines dauerhaften Friedens» 1915 und 1917 jeweils nur wenige ausländische Delegierte anreisen.
1919 gründete die im Ersten Weltkrieg entstandene Frauenfriedensbewegung in Zürich im Haus Gartenhof (heute Sitz des Schweizerischen Friedensrates) die «Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit» (von der sich das Archiv der Schweizer Sektion im Sozialarchiv befindet). Diese trug später zwei weitere Kongresse in der Schweiz aus: 1934 erneut in Zürich und 2001 in Genf. Von einer Serie von «Internationalen demokratischen Friedenskongressen» in den 1920er Jahren fand die Auflage von 1928 in Genf statt. Der von der Union der amerikanischen Kirchen initiierte «Weltkongress für den Frieden durch Religion» hielt 1928 und 1937 Konferenzen in Genf ab, an denen Delegierte aus allen Kontinenten und von unterschiedlichen Religionen teilnahmen. Die «Vereinigung antimilitaristischer Pfarrer» (deren Archiv sich im Sozialarchiv befindet) organisierte 1931 einen internationalen Kongress in Zürich. Angesichts der vom Völkerbund initiierten Abrüstungskonferenz in Genf fand 1932 in Zürich im wenige Monate zuvor eingeweihten Limmathaus eine gemeinsame Konferenz der Sozialistischen Arbeiter-Internationale und des Internationalen Gewerkschaftsbundes zum Thema Abrüstung statt. Hingegen verbot die Genfer Kantonsregierung die Abhaltung einer im Ruch des Kommunismus stehenden Friedenstagung am 1. August 1932. Initiiert vom kommunistischen französischen Schriftsteller Henri Barbusse wurde sie von einem Komitee propagiert, dem unter anderen die Schriftsteller Maxim Gorki, Upton Sinclair, Romain Rolland und Heinrich Mann angehörten. Die 1935 unter dem Eindruck des Überfalls des faschistischen Italien auf Äthiopien vom britischen Konservativen Robert Cecil und dem französischen Sozialisten Pierre Cot gegründete «International Peace Campaign» hielt 1936 eine Konferenz in Genf mit Persönlichkeiten aus Frankreich, Grossbritannien, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, Spanien und der Schweiz ab. Der von dieser Kampagne ursprünglich ebenfalls in Genf geplante, mehrtausendköpfige «Congrès du rassemblement universel de la paix» fand dann aber in Brüssel statt. Im selben Jahr tagte in Genf ein von Vereinigungen zur Unterstützung des Völkerbundes organisierter «Friedenskongress der Jugend».
Auch die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangene und dann durch den Zweiten Weltkrieg verstärkte Bewegung für eine europäische Integration hielt wichtige Konferenzen in der Schweiz ab: 1932 fand in Basel der vierte Paneuropa-Kongress statt. 1944 trafen sich Vertreter:innen antifaschistischer Widerstands- und Exilorganisationen aus Frankreich, Italien, Deutschland, den Niederlanden, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Polen, Norwegen und Dänemark zu drei Konferenzen in Genf und erliessen eine Deklaration zugunsten einer europäischen Föderation. 1946 beherbergte Genf die ersten «Rencontres Internationales», an denen 50 führende Intellektuelle darüber diskutierten, wie das europäische Kulturerbe zur Erneuerung des kriegsversehrten Kontinents beitragen könnte. Im selben Jahr kamen in Bern und Hertenstein 78 Delegierte aus 13 europäischen Ländern sowie den USA zu einer Konferenz zusammen, die zeitgleich zu Winston Churchills berühmter Europa-Rede an der Universität Zürich stattfand und Anstoss zur Gründung der «Union Européenne des Fédéralistes» (UEF) gab. Das «Hertensteiner Programm» der UEF für eine europäische Gemeinschaft auf föderativer Grundlage als Teil einer friedenssichernden Weltunion wurde am 22. September 1946 der Öffentlichkeit auf dem Rütli vorgestellt. Der erste UEF-Kongress tagte 1947 in Montreux. Ebenfalls 1947 fand in Gstaad die Gründungsversammlung der «Europäischen Parlamentarier-Union» statt, die 1948 auf ihrem zweiten Kongress in Interlaken über die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa (über die beispielsweise bereits an der Jahreskonferenz 1869 der «Internationalen Liga für Frieden und Freiheit» in Lausanne diskutiert worden war) beriet. 1949 kam in Lausanne eine «Conférence européenne de la Culture» zusammen (s. SozialarchivInfo 4/2016 und 4/2022).
Neben den pro-europäischen Bestrebungen gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Konferenzen in der Schweiz, die sich mit dem Themenfeld Krieg und Frieden befassten. Der im Ersten Weltkrieg von kirchlichen Kreisen gegründete «Internationale Versöhnungsbund» (von dem sich das Archiv der Schweizer Sektion im Sozialarchiv befindet) hielt 1947 eine internationale Tagung im Château de Bossey im Waadtland ab. 1948 kam in Montreux, wenige Tage vor der am selben Ort abgehaltenen Konferenz der UEF, der erste Kongress für eine föderative Weltregierung zusammen. Die rund 300 Delegierten aus verschiedenen europäischen Ländern und den USA, unter denen Frauen und Studierende zahlreich vertreten waren, forderten vor dem Hintergrund des sich bereits abzeichnenden Ost-West-Konflikts einen friedenssichernden, über die Kompetenzen der neugeschaffenen UNO weit hinausreichenden Weltbundesstaat und gründeten das «World Federalist Movement». Sowohl die Welt- als auch die Europaföderalist:innen eröffneten 1948 ein Büro in Genf.
1946 organisierte der im Vorjahr als Dachverband schweizerischer Friedensorganisationen gegründete Schweizerische Friedensrat (dessen Archiv sich im Sozialarchiv befindet) im Berner Grossratssaal einen Anlass mit 23 in- und 15 ausländischen Organisationen, an dem auch Delegierte der gleichzeitigen Europakonferenz teilnahmen. Zur selben Zeit tagte in Genf eine internationale Konferenz der Leiter der Friedensbewegung zur Vorbereitung eines Weltkongresses der pazifistischen Organisationen. Dieser fand im folgenden Jahr in Saint-Cergue und Genf statt und mündete in die Gründung der «Union mondiale des organisations pour la paix». Sie vermochte sich aufgrund der Konkurrenz des drei Jahre darauf in Warschau auf Initiative der Kominform aus der Taufe gehobenen, pro-kommunistischen «Weltfriedensrats» (von dem sich Akten im Nachlass von Arthur Villard im Sozialarchiv befinden) aber nicht als internationale Dachorganisation zu etablieren. Für den Gründungskongress des «Weltfriedensrats» waren zunächst auch Basel, Zürich oder Genf zur Diskussion gestanden, nach einer ersten Fühlungnahme der Organisator:innen mit den Bundesbehörden sowie ähnlicher Skepsis der britischen Regierung gegenüber einer Austragung in London oder Sheffield war man aber ins kommunistische Polen ausgewichen. 1951 hielt das Büro des «Weltfriedensrats» seine erste Sitzung in Genf ab, dem dazu eingeladenen sowjetischen Schriftsteller und Propagandisten Ilja Ehrenburg wurde aber das Einreisevisum verweigert. Auch lehnten die Schweizer Behörden die Abhaltung des «Weltfriedensrat»-Kongresses 1951 in Genf ab. Der Kongress fand dann in Ostberlin statt.
Nach der Ausweisung des «Weltfriedensrats» aus Wien im Nachgang zum sowjetischen Einmarsch in Ungarn, der die Kontakte zu nichtkommunistischen Friedensorganisationen weitgehend zum Erliegen brachte, hielt dessen Exekutivkomitee 1957 eine Konferenz in Lausanne ab, dieses Mal unter dem Vorsitz von Ehrenburg. Ebenfalls als Ostblock-nahe kritisiert wurde 1964 die vom pazifistischen Pfarrer Willi Kobe (dessen Nachlass sich im Sozialarchiv befindet) im Kirchgemeindehaus Zürich-Oerlikon organisierte Konferenz «Friede und Abrüstung» mit Delegationen aus Polen, der DDR, der Tschechoslowakei, Grossbritannien und der Schweiz. Sie diente der Vorbereitung der zweiten «Allchristlichen Friedensversammlung» in Prag (deren Trägerorganisation «Christliche Friedenskonferenz» in jenen Jahren einseitig die Aufrüstung der NATO kritisierte, jene des Warschauer Pakts hingegen akzeptierte und 1968 dann die Niederschlagung des Prager Frühlings mehrheitlich begrüsste).
1966 fand in Genf ein Kongress des «Weltfriedensrats» mit mehreren Hundert Delegierten aus Ost und West statt, was Kritik in der Schweizer Presse und im Parlament hervorrief. Der Bundesrat sah danach die Auflage, sich Angriffen und beleidigenden Äusserungen gegen ausländische Regierungen zu enthalten, verletzt und kündigte an, solche Anlässe in Zukunft nicht mehr zu bewilligen. Der «Weltfriedensrat» konnte aber, trotz Kritik im Parlament, wenige Jahre darauf ein Büro in Genf eröffnen. 1978 initiierte er zusammen mit seiner Schweizer Sektion, der PdA-nahen «Schweizerischen Friedensbewegung» (die 1984 dann durch ihre Weigerung, Solidaritätsbekundungen für oppositionelle Friedensbewegungen im Ostblock zu tolerieren und den «Abbau des Blocksystems» in den Forderungskatalog aufzunehmen, die Schweizer Ostermarschbewegung vorübergehend spaltete) in Genf ein Treffen von Delegationen aus über 50 Ländern und von 15 internationalen Organisationen zum Start einer Kampagne gegen amerikanische Neutronenbombenpläne. 1979 und 1980 richteten der «Weltfriedensrat», die «Schweizerische Friedensbewegung» und die PLO in Basel internationale Konferenzen aus, an welchen das 1979 abgeschlossene Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten scharf verurteilt wurde. Dieses hatte den seit drei Jahrzehnten zwischen den beiden Ländern bestehenden, 1948/49, 1956, 1967 und 1973 in offene Kriege eskalierenden Kriegszustand beendet, führte zur Rückgabe der im Sechstagekrieg 1967 von Israel eroberten Sinai-Halbinsel an Ägypten und Abbau der dortigen israelischen Siedlungen und verstärkte die Abwendung Ägyptens vom Ostblock. Ebenfalls in Basel organisierte der «Weltfriedensrat» 1982 eine internationale Konferenz zur Verurteilung der israelischen Intervention in den libanesischen Bürgerkrieg, 1991 ein europäisches Regionaltreffen und 1993 seine Weltversammlung.
Die katholische Friedensorganisation «Pax Christi» hielt ihre internationalen Kongresse 1954 in Einsiedeln, 1960 in Genf sowie 1969 und 1983 in Fribourg ab, ebenso 1970 eine internationale Jugendkonferenz. Die «Kampagne für nukleare Abrüstung», die in den späten 1950er Jahren ausgehend von Grossbritannien die Ostermarschbewegung initiiert und das Friedenslogo kreiert hatte (s. SozialarchivInfo 3/2022), plante 1958 ihren ersten internationalen Kongress in Basel. Der Bundesrat, der zu jener Zeit selbst Atomwaffenpläne hegte, verbot aber die Abhaltung des Kongresses, was einen offenen Brief des an der Spitze der Bewegung stehenden Philosophen, Mathematikers und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell an Bundespräsident Thomas Holenstein und einiges Echo in der internationalen Presse nach sich zog. Der Kongress tagte schliesslich 1959 mit rund 250 Delegierten aus Grossbritannien, der Bundesrepublik, Österreich, Schweden, Norwegen, Italien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz in London.
1960 kamen im Freidorf Muttenz Delegierte des «Internationalen Verbindungskomitees für Friedensorganisationen» aus Grossbritannien, den Niederlanden, Schweden, Norwegen, der Bundesrepublik, Frankreich und der Schweiz zu einer Konferenz über Abrüstungsfragen zusammen. 1967 fand in Genf die zweite «Pacem in Terris»-Konferenz statt, organisiert vom amerikanischen «Zentrum zum Studium der demokratischen Institutionen». Die nach der päpstlichen Friedensenzyklika von 1963 benannte Konferenz, an der etwa 350 Intellektuelle und Politiker:innen aus der ganzen Welt teilnahmen, unter ihnen der im Folgejahr von einem Rassisten ermordete Friedensnobelpreisträger Martin Luther King sowie aus der Schweiz etwa alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen und der Künstler Hans Erni, der das Kongressplakat gestaltet hatte, befasste sich vor allem mit dem Vietnamkrieg und den Spannungen zwischen Ost und West. Allerdings wurde die Konferenz von der Sowjetunion, China und Nordvietnam boykottiert.
Aus Anlass des 70. Jahrestags des Basler Friedenskongresses der Zweiten Internationale organisierten 1982 die Sozialdemokratische Partei der Schweiz, der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die Sozialistische Internationale in Basel eine «Friedenswoche» (deren Organisationsakten sich teilweise im SP-Archiv im Sozialarchiv befinden) mit Referaten unter anderem von Bundesrat Willi Ritschard, dem deutschen Altbundeskanzler Willy Brandt, dem Schriftsteller und ehemaligen senegalesischen Staatspräsidenten Léopold Sédar Senghor, dem ehemaligen portugiesischen Ministerpräsidenten Mário Soares sowie Vertreter:innen von Kirchen, Frauen- und Friedensorganisationen und der Wissenschaft (darunter Karl Lang vom Sozialarchiv). Der 100. Jahrestag war dann 2012 Anlass für eine internationale wissenschaftliche Konferenz zu Krieg und Frieden an der Universität Basel, deren Akten vom Sozialarchiv publiziert wurden.
1991 kamen in Genf auf Initiative der «Frauen für den Frieden» (von denen sich das Archiv der Schweizer Sektion im Sozialarchiv befindet) etwa 70 Vertreterinnen von Friedens- und Frauenorganisationen zu einer Nahostkonferenz zusammen, unter ihnen zehn Israelinnen (u.a. ein Mitglied der Knesset) und acht Palästinenserinnen (u.a. Delegierte der PLO). Im selben Jahr fand in Caux ob Montreux eine von der «Moralischen Aufrüstung» organisierte Konferenz zum Thema «Frau und Frieden» statt, an der 700 Delegierte aus 60 Ländern teilnahmen. 2003 unterzeichneten je ein israelischer und palästinensischer Ex-Minister einen privat initiierten und in Genf finalisierten Friedensplan zur Beilegung des Nahostkonflikts mit einer Zwei-Staaten-Lösung. Die Unterstützung dieser «Genfer Initiative» durch den Bundesrat wurde 2023, noch vor den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober, eingestellt. 2004 fand in Genf eine dreitägige Frauenfriedenskonferenz mit 400 Teilnehmerinnen aus der ganzen Welt unter dem Vorsitz von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und der ägyptischen First Lady Suzanne Mubarak statt, an der ein Aktionsplan zum Einbezug von Frauen in die Friedensförderung verabschiedet und eine globale «Koalition der Frauen zur Verteidigung des Friedens» gegründet wurde. Und 2010 hielten die «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges» (von denen sich das Archiv der Schweizer Sektion im Sozialarchiv befindet) ihren 19. Weltkongress in Basel ab.
Versailles und die Folgen
Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von Versailles zwischen dem Deutschen Reich einerseits sowie Frankreich, Grossbritannien, den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten andererseits beendete formal den Ersten Weltkrieg an der Westfront, nachdem bereits seit dem 11. November 1918 ein Waffenstillstand geherrscht hatte. Die Vertragsunterzeichnung begründete zugleich den Völkerbund als System kollektiver Sicherheit, zu dem indessen Deutschland zunächst nicht zugelassen war, und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) – beide mit Sitz in Genf (s. SozialarchivInfo 2/2019 und 6/2019). Der Vertrag hielt die deutsche Kriegsschuld fest und auferlegte dem Deutschen Reich, das sich inzwischen vom Kaiserstaat zu einer parlamentarisch-demokratischen Republik gewandelt hatte, harte Friedensbedingungen. Diese kamen für die deutsche Öffentlichkeit als ein Schock und das Parlament ratifizierte den Vertrag nur unter dem Druck der fortbestehenden britischen Seeblockade, die nach der Hungerkatastrophe der zweiten Kriegshälfte einen erneuten Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung befürchten liess. Die Revision der Versailler Vertragsbestimmungen war in der Folgezeit aber ein Grundkonsens aller politischen Richtungen Deutschlands, die sich freilich hinsichtlich des Ausmasses und der dabei anzuwendenden Mittel unterschieden.
Deutschland verlor nicht nur alle seine Kolonien in Afrika, Ostasien und im Pazifik, sondern musste auch umfangreiche Territorien in Europa abtreten. Im Westen gingen Eupen-Malmedy an Belgien und das 1870/71 eroberte Elsass-Lothringen wieder an Frankreich. Im Osten gingen umfangreiche Teile Posens sowie weitere Gebiete an Polen, wodurch Ostpreussen durch den «polnischen Korridor» vom Reich abgetrennt wurde. Ein kleineres Gebiet ging an die Tschechoslowakei. Danzig und das Memelland wurden unter Völkerbundverwaltung gestellt. Für verschiedene Gebiete im Osten und Norden sollten Volksabstimmungen über die zukünftige staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Das Saarland wurde für 15 Jahre vom Völkerbund verwaltet und in den französischen Wirtschaftsraum eingegliedert, dann sollte ein Referendum über die staatliche Zugehörigkeit abgehalten werden. Deutschland verlor damit 13% seines europäischen Territoriums, auf denen sich 80% der Eisenerzvorkommen, 63% der Zinklager, 40% der Hochöfen und 28% der Steinkohleförderung befanden, ebenso 17% der Kartoffel- und 13% der Weizenernte.
Im Weiteren musste das Heer massiv auf 115’000 Berufssoldaten verkleinert, die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und die Marine stark reduziert werden. Schwere Waffen, der Wiederaufbau der Luftwaffe und der Festungsbau an der Grenze waren verboten. Darüber hinaus wurden die linksrheinischen Gebiete sowie alle rechtsrheinischen Gebiete mit bis zu 50 km Abstand zum Rhein zur entmilitarisierten Zone erklärt, in der sich keine deutschen Truppen aufhalten durften. Die Abrüstung Deutschlands sollte durch interalliierte Überwachungsausschüsse kontrolliert werden.
Abgeleitet aus dem Kriegsschuldartikel wurde Deutschland zu Reparationen durch Geld- und Sachleistungen in durch eine Reparationskommission zu bestimmender Höhe verpflichtet. Dieser Punkt spielte in der französischen Innenpolitik eine wichtige Rolle. Im November 1919 errang der rechtsrepublikanische «Bloc national» mit dem Slogan «L’Allemagne paiera!» einen deutlichen Wahlsieg. Das Insistieren auf hohen Reparationsleistungen war einerseits durch die gewaltigen Kriegsschäden der zu einem grossen Teil auf französischem Territorium ausgetragenen Kämpfe der Westfront, denen auch ein bedeutender Teil der Industrie zum Opfer gefallen war, und die kriegsbedingten Staatsschulden bedingt, andererseits durch die Enttäuschung über den Umstand, dass gegenüber den anderen Siegermächten eine französische Annexion von Rhein- und Saarland oder gar eine territoriale Zerstückelung Deutschlands nicht hatte durchgesetzt werden können.
Als Druckmittel zur Durchsetzung der Reparationsforderungen wurden das linksrheinische Deutschland und einige rechtsrheinische Brückenköpfe unter Besatzung durch Frankreich, Belgien, Grossbritannien und die USA gestellt, die stufenweise auf fünf, zehn und fünfzehn Jahre befristet war. Die französische Besetzung stach dabei durch eine besonders hohe Truppenzahl hervor. Ende 1921 waren in der französischen Besatzungszone, in der etwa 3 Millionen Menschen lebten, 93’000 Soldaten stationiert (d.h. 1 Soldat auf 32 Einwohner:innen), in der belgischen mit 1,4 Millionen Einwohner:innen 25’000 (1 Soldat auf 56 Einwohner:innen), in der britischen mit 1,1 Millionen Einwohner:innen knapp 8’000 (1 Soldat auf 137 Einwohner:innen) und in der amerikanischen mit 470’000 Einwohner:innen rund 12’000 (1 Soldat auf 39 Einwohner:innen). Dasselbe Bild zeigte sich bei der Grösse der Verwaltungsapparate. Die französischen Besatzungsbehörden griffen auch viel direkter in die lokalen Verhältnisse ein und schwächten zugleich den bestehenden preussischen Verwaltungs- und Polizeiapparat, während die Briten stärker auf Methoden der in den Kolonien erprobten «indirect rule» zurückgriffen, die von der Bevölkerung als weniger belastend empfunden wurden.

Delegierte des Gründungskongresses der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit 1919 beim Haus Gartenhof in Zürich (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5068-Fc-0266)

Die Schweizer Stimmberechtigten hiessen im Mai 1920 den Beitritt zum Völkerbund gut (Urheber: Emile Cardinaux/SozArch F Ka-0001-480)

Die Flaggen der alliierten Kriegsgewinner bei der Beerdigung des Weltkriegsgenerals Ferdinand Foch im März 1929 (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F Ka-0001-933)

Zerstörungen durch Artilleriebeschuss von Paris im Sommer 1918 (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F Ka-0001-942)

Kriegsruinen im nordfranzösischen Berry-au-Bac an der Westfront (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F Ka-0001-944)

Der deutsche Überfall auf das neutrale Belgien ab August 1914 wurde in der alliierten Propaganda oft mit der Metaphorik der «Vergewaltigung» dargestellt (Urheber:in unbekannt/SozArch F 5068-Ka-3134)
Zudem duldeten die französischen und belgischen Besatzungsbehörden wohlwollend und teilweise sogar unterstützend die Aktivitäten rheinischer Separatist:innen. Diese erreichten nach ersten Putschversuchen im Sommer 1919 ihren Höhepunkt im Herbst 1923 mit der Proklamation einer «Rheinischen Republik» mit Regierungssitz in Koblenz, die sich aber nur für etwa einen Monat halten konnte. Die innenpolitische Situation der Weimarer Republik blieb aber auch im unbesetzten Deutschland bis 1923 sehr instabil mit einer grossen Zahl politischer Morde, paramilitärischen Gruppierungen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung (s. SozialarchivInfo 3/2019) und mehreren Umsturzversuchen von rechts aussen (Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920, Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923) und links aussen (Spartakusaufstand im Januar 1919, Bremer Räterepublik im Januar/Februar 1919, Münchner Räterepublik im April 1919, Ruhraufstand im März/April 1920, Mitteldeutscher Aufstand im März 1921, «Deutscher Oktober» und Hamburger Aufstand im Oktober 1923).
Die labile innenpolitische und auch wirtschaftliche Lage Deutschlands und der anhaltend scharfe deutsch-französische Gegensatz verstärkten sich dabei wechselseitig. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch von Teilen der Reichswehr und rechten Kreisen gegen die Reichsregierung der Weimarer Mitte-links-Koalition, aber auch gegen die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags ab dem 13. März 1920 brach angesichts eines Generalstreiks zur Unterstützung der legalen Regierung nach wenigen Tagen zusammen. Aus dem Abwehrkampf gegen die Putschisten entstand im Ruhrgebiet eine Rote Armee mit mehr als 50’000 Bewaffneten aus einem breiten Spektrum linker und linksradikaler Gruppierungen, die über das Ende des Putsches hinaus die Städte kontrollierte und teilweise lokale Räteherrschaften errichtete. Die blutige Niederschlagung dieser als Aufstand wahrgenommenen Bewegung durch regierungsloyale Reichswehrtruppen und rechte Freikorps beinhaltete auch die Verletzung des Entmilitarisierungsgebots im Rheinland.
Darauf reagierte Frankreich Anfang April 1920 mit der Besetzung weiterer Gebiete, unter anderem dem Einmarsch in Darmstadt, Hanau, Dietburg, Homburg und Frankfurt am Main, wo es zu einem Zwischenfall mit marokkanischen Soldaten und mehreren Toten kam. Dies wiederum gab Anlass für den Beginn einer jahrelangen deutschen Propagandakampagne gegen die Verwendung afrikanischer Kolonialsoldaten in den französischen Besatzungstruppen. Die hochgradig rassistische Kampagne mit dem Slogan «Schwarze Schmach» wurde mit einer aussenpolitischen Stossrichtung von den Behörden und allen politischen Kräften ausser der äusseren Linken mitgetragen und stiess insbesondere im angelsächsischen Raum auf die gewünschte Resonanz. Zusätzlich benutzten rechtsradikale Kräfte das Thema aber auch, um neben Frankreich und Afrikanern gegen die eigene Regierung, die Weimarer Demokratie, Juden und Freimaurer Stimmung zu machen. Unter anderem formulierte Adolf Hitler in «Mein Kampf» dazu eine Passage, die die heutige rechtsextreme Verschwörungstheorie vom «Grossen Bevölkerungsaustausch» vorwegnahm.
Nachdem Deutschland die sehr hohen französischen Reparationsforderungen abgelehnt hatte, besetzten französische und belgische Truppen Anfang März 1921 Duisburg und Düsseldorf und erhoben Zölle zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet. Auf britische Vermittlung wurden die jährlichen Reparationsforderungen dann um mehr als die Hälfte reduziert. Aus der ansonsten ergebnislosen Konferenz von Cannes vom Januar 1922, an der Frankreich ein deutsches Begehren auf Zahlungsaufschub zurückwies, ging im April und Mai gleichen Jahres die von Grossbritannien eingefädelte Wirtschafts- und Finanzkonferenz von Genua hervor, an der die meisten Staaten teilnahmen, die aktiv in den Weltkrieg verwickelt gewesen waren – inklusive die internationalen Parias Deutschland und Sowjetrussland. Die beiden schlossen am Rand der Konferenz überraschend den Vertrag von Rapallo, der ihre diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen normalisierte. Deutschland konnte sich dadurch nicht nur von seiner Anhängigkeit von den Westmächten lösen, sondern ab 1924 durch eine zunächst geheime, 1926 vom «Manchester Guardian» aufgedeckte Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee auch gewisse Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages umgehen, indem nun in verschiedenen Orten der Sowjetunion deutsches Militär an Panzern, Flugzeugen und in der chemischen Kriegführung ausgebildet wurde.
Ende 1922 stellte die alliierte Reparationskommission Rückstände fest und führte diese nicht auf die wirtschaftliche Schwäche Deutschlands zurück, sondern auf absichtliches Zurückhalten. Im Januar 1923 marschierten französische und belgische Truppen mit bis zu 100’000 Mann im Ruhrgebiet ein und stiessen bis über Dortmund hinaus vor. Die Regierungen des Vereinigten Königreichs und der USA lehnten die Besetzung des Ruhrgebiets ab. Die Vereinigten Staaten zogen sogar ihre Besatzungstruppen aus dem Rheinland ab, worauf die bisherige amerikanische Zone von Frankreich übernommen wurde. Das ohne parlamentarische Mehrheit regierende Mitte-rechts-Kabinett des parteilosen Reichskanzlers Wilhelm Cuno rief die Bevölkerung in den besetzten Gebieten am 13. Januar zu passivem Widerstand auf. Die Reparationsleistungen wurden ganz eingestellt, die regionalen Behörden verweigerten die Zusammenarbeit mit den Besatzungstruppen, Industrie und Verkehr wurden mit Generalstreiks teilweise lahmgelegt und die Angestellten der Deutschen Reichsbahn sabotierten den Betrieb mit vielfältigen Mitteln. Sowohl rechtsradikale als auch kommunistische Kreise begingen Sabotageakte und Anschläge gegen die Besatzungstruppen. Auf Anordnung aus Moskau arbeitete die Kommunistische Partei im Sommer 1923 beim Widerstand gegen die Ruhrbesetzung kurzfristig mit den Nazis zusammen (sog. «Schlageter-Kurs»). Die französisch-deutsche Konfrontation von 1923 bewegte sich knapp unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges. Im Kontext der «Democratic peace theory», die den Umstand betont, dass Demokratien praktisch nie Krieg gegen andere Demokratien führen, ist der Ruhrkonflikt somit ein Sonderfall.
Die Reichsregierung finanzierte den passiven Widerstand, unter anderem den Lohnausfall streikender Arbeiter:innen, wie schon vorher viele Kriegsausgaben und dann die Reparationsleistungen mit der Notendruckerpresse. Die dadurch verursachte gewaltige Ausweitung der Geldmenge hatte für die deutsche Währung katastrophale Folgen. Die seit Kriegsbeginn 1914 bereits sehr hohe Teuerung, die sich 1922 massiv beschleunigt hatte, entwickelte sich während des Ruhrkampfes zur Hyperinflation. 1914 hatte 1 US-Dollar noch 4,2 Mark gekostet, 1918 dann 13 Mark und 1921 56 Mark. Anfang 1923 kostete 1 Dollar bereits 7’200 Mark, am 9. Juni 100’000 Mark, Ende November 1923 dann nicht weniger als 4’200 Milliarden Mark! Der Preis für ein Ei in Berlin stieg vom 9. Juni bis 2. Dezember 1923 von 800 Mark auf 320 Milliarden Mark. Im August 2023 entbrannte in den unbesetzten Teilen Deutschlands eine Streikwelle gegen die Regierung Cuno. Am 12. August trat Cuno nach neunmonatiger Amtszeit zurück.

Blechmedaille mit rassistischer Propaganda gegen koloniale Besatzungstruppen im Rheinland (Urheber: Karl Goetz/SozArch F Ob-0005-156)

Die an einen stahlbehelmten Phallus gefesselte deutsche Frau verweist auf angebliche Massenvergewaltigungen als Hauptmotiv der Kampagne (Urheber: Karl Goetz/SozArch F Ob-0005-156)

Banknote mit überstempeltem Nennwert während der Hyperinflation von 1923 (Urheberin: Deutsche Reichsbank/SozArch F 5068-Pa-0070)
Sein Nachfolger wurde Gustav Stresemann von der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei, der eine grosse Koalition der Mitte-rechts-Parteien mit der SPD formte. Stresemann hatte als Nationalliberaler während des Ersten Weltkriegs zu den «Annexionisten» gehört, die auf einen «Siegfrieden» hofften, während der Novemberrevolution die Bildung einer einheitlichen liberalen Partei zusammen mit den Linksliberalen abgelehnt und war ein entschiedener Gegner des Versailler Vertrages. In der Folge wurde er aber ein pragmatischer «Vernunftrepublikaner», der den neuen Staat als – wenn auch ungeliebte –Tatsache akzeptierte und auf dessen Grundlage Realpolitik betreiben wollte. Aussenpolitisch machte ihn das zu einem Vertreter der «Erfüllungspolitik»: Der Kampf gegen die Versailler Vertragsbestimmungen und insbesondere die Reparationen sollte nicht konfrontativ geführt, sondern es sollte durch Kooperation die Unmöglichkeit der Erfüllung der französischen Forderungen nachgewiesen und eine schrittweise Revision der Vertragsbedingungen erlangt werden. Dies sollte in der Folge bezüglich der Reparationen und der Besetzung gelingen, nicht aber bezüglich territorialer Veränderungswünsche.
Am 26. September 1923 verkündete Stresemann offiziell den Abbruch des passiven Widerstands im Ruhrgebiet, der zu mehreren Hundert Toten und einem Zusammenbruch der Wirtschaft geführt, aber seinen Zweck nicht erreicht hatte. Mitte November stoppte er mit einer Währungsreform die Hyperinflation: Eine Billion Papiermark wurde gegen eine durch Grundschuldverschreibungen gedeckte «Rentenmark» getauscht, die zum Dollar wieder im gleichen Verhältnis stand wie die Mark 1914. In einem zweiten Schritt wurde ab August 1924 die stabile Rentenmark in die neue Reichsmark umgetauscht. Damit einher ging eine Konsolidierung des Staatshaushalts durch drastische Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen.
Die Hyperinflation entschuldete den Staat und Hausbesitzer:innen mit Hypotheken, ruinierte aber breite Mittelschichten mit Barvermögen und Staatsanleihen, deren Kauf während des Krieges als patriotische Tat propagiert worden war. Das Vertrauen in den demokratischen Staat und die politischen Eliten wurde durch dieses Trauma nachhaltig beschädigt, was den nachfolgenden Aufstieg radikaler, antidemokratischer Kräfte begünstigte. Unmittelbar führte die Krisensituation im Oktober und November 1923 in verschiedenen Teilen Deutschlands zu kommunistischen, rechtsradikalen und separatistischen Aufständen und Putschversuchen. In diesem Zusammenhang stürzte Stresemann bereits Ende November über ein Misstrauensvotum des Reichstags. Im nachfolgenden Kabinett unter dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx und den folgenden Regierungen amtierte er als Aussenminister.
Im Lauf des Jahres 1924 fanden sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Wahlen statt. In Frankreich kam es bei den Parlamentswahlen im März zu einem Umschwung. Die seit 1922 vom antideutschen Hardliner Raymond Poincaré geführte rechtsrepublikanische Regierung erhielt die Quittung für die verheerenden Auswirkungen der Ruhrbesetzung. Statt der erhofften Reparationseinnahmen hatte die Militäraktion das französische Haushaltsdefizit noch vergrössert und den Franc geschwächt. Die französische Regierung musste beim amerikanischen Bankhaus J. P. Morgan um einen Stabilisierungskredit nachsuchen, der nur gegen die Zusage von Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und Kooperation mit den angelsächsischen Mächten in der Reparationenfrage gewährt wurde. Vor diesem Hintergrund siegte bei den Parlamentswahlen das «Cartel des gauches», ein Bündnis aus linksbürgerlichen Radikalen und Sozialisten, dessen Regierung in der Folge eine weit weniger konfrontative Deutschlandpolitik betrieb.
Die Reichstagswahlen im Mai standen unter dem Eindruck des politischen und wirtschaftlichen Chaos des Vorjahres und der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und stärkten die politischen Extreme. Die Kommunistische Partei gewann etwa 11% dazu, ebenso auf der äusseren Rechten zusammengenommen die konservativ-ultranationalistische Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die (als Ersatz für die nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch vorübergehend verbotene NSDAP gebildete) Nationalsozialistische Freiheitspartei. Da keine stabile Regierungsbildung möglich war, kam es bereits im Dezember zu Neuwahlen. Sie standen im Zeichen eines einsetzenden Wirtschaftsaufschwungs. Die politischen Extreme gaben wieder Stimmen ab und die SPD verbuchte grosse Zugewinne. Die regierenden Mitte-rechts-Parteien erhielten geringfügige Zuwächse und gingen nach der Wahl erstmals eine Koalition mit der DNVP ein. Am 28. Februar 1925 verstarb überraschend der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert. Bei der Wahl seiner Nachfolge gewann im zweiten Durchgang der vom «Reichsblock» der Rechtsparteien portierte monarchistische Weltkriegsgeneral Paul von Hindenburg mit nur relativem Mehr gegen Wilhelm Marx, den Kandidaten des republiktreuen «Volksblocks» aus Zentrumspartei, SPD und Linksliberalen. Ermöglicht wurde dieser als Rechtsrutsch der Weimarer Republik interpretierte Sieg durch die chancenlose Zählkandidatur des Kommunisten Ernst Thälmann.
Im Anschluss an die politische und ökonomische Krise des Ruhrkampfs bildete die alliierte Reparationskommission am 30. November 1923 eine Expertengruppe unter dem Vorsitz des amerikanischen Finanzspezialisten und nachmaligen Vizepräsidenten Charles Gates Dawes für die Ausarbeitung eines realistischeren Reparationszahlungsplanes für die Postinflationsära. Dieser wurde am 9. April 1924 vorgelegt, am 16. August in London unterzeichnet und trat am 1. September in Kraft. Gleichzeitig zogen die Besatzungstruppen aus dem Ruhrgebiet ab. Der Dawes-Plan ermöglichte durch Anpassung der jährlichen Reparationszahlungen an die Wirtschaftskraft die Stabilisierung Deutschlands und bedeutete einen ersten aussenpolitischen Erfolg Stresemanns.
Die Konferenz von Locarno und ihre Resultate
Bereits vor der Ruhrkrise hatte die Regierung Cuno Ende 1922 die Absicherung der Rheingrenze durch internationale Garantien vorgeschlagen. Die Regierung Poincaré hatte aber abgelehnt. Im Oktober 1924 beschloss der Völkerbund das sogenannte «Genfer Friedensprotokoll», das jeden Angriffskrieg zwischen zwei Vertragsstaaten verbieten wollte und Sanktionen gegen Staaten vorsah, die sich weigerten, Streitfälle schlichten zu lassen. Aufgrund des Widerstands der konservativen britischen Regierung trat das Friedensprotokoll aber nicht in Kraft. Hingegen schlug der britische Botschafter in Berlin Anfang 1925 vor, den Grenzgarantieansatz noch einmal zu prüfen. Daraufhin sandte der neue Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Carl von Schubert, ein Memorandum an die Regierungen des Vereinigten Königreichs und Frankreichs, das sich zur Lösung der Probleme auf friedlichem Wege bekannte und die Idee von 1922 präzisierte. Vorgeschlagen wurde ein Pakt aller am Rhein interessierten Staaten (einschliesslich der USA), der den Kriegsverzicht und die Anerkennung des gegenwärtigen Gebietsstandes sowie Schiedsverträge und die Bekräftigung des Verbots, deutsche Truppen im Rheinland zu stationieren, beinhalten sollte. Die Initiative blieb zunächst geheim, da Obstruktion seitens der mitregierenden DNVP befürchtet wurde. Im Frühjahr 1925 begrüssten aber nacheinander der konservative britische Aussenminister Austen Chamberlain und der reformsozialistische französische Aussenminister Aristide Briand den Vorschlag öffentlich. Daraufhin gab es während des Sommers 1925 lange Verhandlungen und Vorbereitungsgespräche auf Botschafterebene.
Vom 5. bis 16. Oktober traf in Locarno eine hochkarätige Konferenz zusammen. Die deutsche Delegation wurde vom parteilosen Reichskanzler Hans Luther und Aussenminister Stresemann angeführt, die französische von Briand, die britische von Chamberlain und die belgische vom sozialdemokratischen Aussenminister Emile Vandervelde, der vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender der Zweiten Internationale gewesen war. Die Anreise der Deutschen wurde durch Hinweise auf einen rechtsradikalen Attentatsplan gegen Stresemann erschwert, die nach den Morden an Aussen- und Finanzpolitiker Matthias Erzberger (1921) und Aussenminister Walther Rathenau (1922) durch Rechtsterroristen ernst genommen werden mussten. In der von Italiens Vertreter beim Völkerbund Vittorio Scialoja geleiteten italienischen Delegation war am 15./16. Oktober der faschistische Regierungschef Benito Mussolini, der seit seinem letzten diplomatischen Auftritt in der Schweiz an der Konferenz von Lausanne den Umbau seines Landes in eine totalitäre Diktatur entschieden vorangetrieben hatte, kurzzeitig persönlich anwesend, um sich zum Konferenzschluss im medialen Ruhm zu sonnen. Der «Duce» erhielt für seine Teilnahme vom katholisch-konservativen Schweizer Aussenminister Giuseppe Motta ein überschwängliches Dankestelegramm. Allerdings wurde seine Pressekonferenz von den meisten Journalisten boykottiert und gelang es ihm auch nicht, die wegen der Südtirolfrage umstrittene italienisch-österreichische Grenze zum Gegenstand eines Garantieabkommens zu machen. Ebenso waren eine polnische Delegation unter dem konservativen Aussenminister Aleksander Skrzyński und eine tschechoslowakische Delegation unter dem reformsozialistischen Aussenminister Edvard Beneš präsent, die sich aber nur an Verhandlungen beteiligten, die ihre mit Frankreich verbündeten Länder unmittelbar betrafen. Die Delegationen logierten im Grand Hotel von Locarno und im Esplanade von Minusio. Nicht vertreten waren die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion.
Die Konferenzvorbereitungen liefen weitgehend im Geheimen. So erfuhr der Stadtpräsident von Locarno, der Linksfreisinnige Giovan Battista Rusca, angeblich erst am 25. September von der bevorstehenden Konferenz in seiner Stadt. Allerdings war er mit Briand befreundet und Befürworter einer europäischen Integration. Die Schweiz war als Konferenzstandort naheliegend, wobei aber der Völkerbundsitz Genf nicht infrage kam, da Deutschland noch nicht Völkerbundmitglied war. Bereits bei der Konferenz zur Beendigung des griechisch-türkischen Kriegs 1922 war Genf ausser Betracht gefallen, weil die Türkei und das mit ihr verbündete Sowjetrussland ausserhalb des Völkerbundes standen. Konferenzstandort wurde deshalb Lausanne. Dass 1925 die Wahl auf Locarno fiel, hing möglicherweise mit der Nähe zu Italien zusammen, da Mussolini sein Land nicht gerne verliess. Frankreich hatte einen indirekten Bezug zu Locarno infolge der Finanzierung der 1923 eröffneten Centovalli-Bahn durch die französische «Banque Franco-Américaine».
Zur Konferenz im Justizgebäude von Locarno reisten auch über 200 Journalist:innen aus dem In- und Ausland an. Die Schweizer Zeitungen berichteten intensiv über das Ereignis. Ein informelles Vorbereitungsgespräch zwischen Luther und Briand am 7. Oktober im Hotelrestaurant «Albergo Elvezia» in Ascona brach das Eis. In den folgenden Tagen wurde eine Serie völkerrechtlicher Verträge ausgehandelt, welche ein europäisches Sicherheits- und Friedenssystem begründen sollten. Im sogenannten «Westpakt» verzichteten Deutschland, Frankreich und Belgien auf eine gewaltsame Veränderung der im Versailler Vertrag gezogenen Grenze. Ebenso bestätigte Deutschland die Entmilitarisierung des Rheinlandes. Grossbritannien und Italien übernahmen die Garantie, bei einer vom Völkerbundrat (Vorläufer des UNO-Sicherheitsrates) festgestellten Vertragsverletzung der jeweils geschädigten Seite zu Hilfe zu kommen.
Hingegen kam ein «Ostpakt» mit Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze nicht zustande. Deutschland behielt sich ausdrücklich die Möglichkeit einer Revision seiner neuen Ostgrenze offen. Während Frankreich seine Verteidigungsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei bekräftigte, garantierte Grossbritannien die Grenzen der ostmitteleuropäischen Staaten im Gegensatz zu den westeuropäischen Grenzen nicht. Zudem verminderte sich aufgrund des deutsch-französischen Ausgleichs die strategische Bedeutung dieser Länder als Bündnispartner Frankreichs. Insbesondere die Position Polens, das sich sowohl von Deutschland als auch der Sowjetunion bedroht sah, wurde durch die Annäherungen Deutschlands zunächst an die Sowjetunion und nun an Frankreich geschwächt. Das Ungleichgewicht zwischen der vertraglichen Absicherung und Garantie der Grenzen zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn und der Regelungen bezüglich der ostmitteleuropäischen Grenzen liess schon bald Rufe nach einem ergänzenden «Ost-Locarno» laut werden.
Hinzu kamen Schiedsverträge Deutschlands mit Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei. Alle aufkommenden Streitfragen zwischen den Vertragspartnern sollten durch mehrstufige Schiedsverfahren geklärt werden. Als erste Instanz wurden ständige internationale «Vergleichskommissionen» eingerichtet, die dem Modell des 1921 abgeschlossenen Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrags zwischen Deutschland und der Schweiz folgten und in die unter anderem der liberale Waadtländer Nationalrat und Rechtsanwalt Aloïs de Meuron als Präsident der Kommission Deutschland-Belgien sowie Mitglied der Kommissionen Deutschland-Polen und Deutschland-Tschechoslowakei sowie der Genfer Rechtsprofessor und ehemalige Sekretär der Schweizer Delegation an der Pariser Friedenskonferenz Paul Logoz als Mitglied der Kommission Deutschland-Frankreich gewählt wurden. Übergeordnete Instanzen waren ein Schiedsgericht gemäss Haager Abkommen von 1907 und der Ständige Internationale Gerichtshof.
Ebenso bereitete die Konferenz von Locarno den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund vor, den zuvor vor allem Frankreich aktiv behindert hatte. Ein vorzeitiges Ende der Rheinlandbesetzung stand dagegen nicht zur Debatte. Erst mit dem Young-Plan, der 1930 den Dawes-Plan ablöste, war dann der – in Frankreich durchaus umstrittene – Abzug der Besatzungstruppen verbunden. Bei Konferenzende läutete die Wallfahrtskirche Madonna del Sasso ob Locarno, deren Fassade mit der Leuchtinschrift «Pax» geschmückt war, die Glocken und stieg am Ufer des Lago Maggiore ein Friedensfeuerwerk auf.
Noch vor dem Vollzug des deutschen Völkerbundbeitritts wurde wenige Tage nach Abschluss der Konferenz von Locarno die Zusammenarbeit in einer griechisch-bulgarischen Krise auf die Probe gestellt. Aufgrund eines Missverständnisses, angeblich wegen eines entlaufenen Hundes, kam es am 19. Oktober 1925 bei der Grenzstadt Petritsch zu einem Schusswechsel zwischen Soldaten der beiden Länder, worauf griechische Truppen auf bulgarisches Territorium vorrückten. Das aufgrund des Friedensvertrags von 1919 weitgehend entwaffnete Bulgarien rief daraufhin den Völkerbundrat an, der am 23. Oktober eine unverzügliche Einstellung der Feindseligkeiten forderte. Nach einem Ultimatum des Völkerbundes zogen sich die Griechen am 28. Oktober zurück. Chamberlain lobte daraufhin den Beitrag der deutschen Gesandten in Athen und Sofia zur Beilegung der Krise und Briand betonte die «Atmosphäre von Locarno».
Die in Locarno ausgehandelten Verträge wurden nach Genehmigung durch die Parlamente am 1. Dezember 1925 in London unterzeichnet. Am 10. September 1926 beschloss die Völkerbundversammlung die Aufnahme Deutschlands. Deutschland erhielt dabei – neben Grossbritannien, Frankreich, Italien und Japan – auch gleich einen ständigen Sitz im Völkerbundrat. In seiner Antrittsrede vor der Völkerbundversammlung betonte Stresemann die Vereinbarkeit von nationaler Souveränität, gegenseitiger Achtung und friedlicher Zusammenarbeit: «Die einen vertreten das Prinzip der nationalen Geschlossenheit und verwerfen die internationale Verständigung, weil sie das national Gewordene nicht durch den allgemeinen Begriff der Menschheit ersetzen wollen. Ich bin der Meinung, dass keine Nation, die dem Völkerbund angehört, dadurch ihr nationales Eigenleben irgendwie aufgibt.» Es könne «nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, dass die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinander kehren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zurückwerfen. Der wird der Menschheit am meisten dienen, der, wurzelnd im eigenen Volke, das ihm seelisch und geistig Gegebene zur höchsten Bedeutung entwickelt und damit, über die Grenzen des eigenen Volkes hinauswachsend, der gesamten Menschheit etwas zu geben vermag, wie es die Großen aller Nationen getan haben, deren Namen in der Menschheitsgeschichte niedergeschrieben sind.»
Für und wider den «Geist von Locarno»
Das Resultat der Konferenz von Locarno rief grosse Hoffnungen hervor und liess sofort die Redeweise vom «Geist von Locarno» aufkommen. NZZ-Auslandsredaktor Hans Kloetzli als Augenzeuge der Konferenz lobte in einem Referat vor der «Zürcher Vereinigung für den Völkerbund» am 2. Dezember 1925 die «neue geistige Einstellung, in der die beteiligten Staaten an den Verhandlungstisch traten», als Erfolgsrezept: «Wir wollen nicht in blinden Enthusiasmus verfallen und vom ewigen Frieden reden, der nun gesichert wäre. Aber des Glaubens darf man sein, dass Locarno eine neue Epoche einleitet, in der den Kräften der Gewalt und des Krieges stärkere und besser organisierte Kräfte der Versöhnung und des Friedens entgegenstehen als es vor 1914 der Fall war. Die Lehren, die der Weltkrieg gegeben hat, sie wurden nicht in Versailles, sie wurden erst in Locarno beherzigt.» Der pazifistische Theologe Leonhard Ragaz (dessen Frau Clara Vizepräsidentin der «Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit» und Präsidentin von deren Schweizer Sektion war) schrieb in der religiös-sozialistischen Zeitschrift «Neue Wege» wenige Tage nach Konferenzende sogar vom «Wunder von Locarno». Wichtiger als die einzelnen Abmachungen sei dabei «die Ersetzung des Prinzips der Gewalt durch das Prinzip des Rechtes und damit die Preisgabe des Krieges». Auch sei der Locarno-Pakt «etwas wie ein Statut des einheitlichen Europa. Er schafft auch direkt Organe dieser neuen Einheit Europas, z. B. gewisse ständige schiedsgerichtliche Instanzen. Wenn nun noch eine europäische Zollunion dazu käme – und jetzt sind ihr die Wege geöffnet – und vielleicht noch einige andere freiwillige oder offizielle Zentralinstanzen, so hätten wir so ziemlich das, was man vernünftigerweise unter den ‘Vereinigten Staaten von Europa’ verstehen muss, alles freilich noch in mehr embryonaler Gestalt.» Und schliesslich sei auch die seit den Friedensverträgen von 1919 drohende Gefahr gebannt, «dass Europa durch eine Trennung von Westen und Osten, wobei Russland mit Deutschland verbunden den Osten gebildet hätten, zerrissen, vergiftet und zuletzt zerstört werde». Auch Ruggero Dollfus, katholisch-konservativer Nationalrat und Zentralpräsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft, schrieb Anfang 1926, die Welt habe «auf dem Wege zum Frieden gewaltige Fortschritte gemacht», meinte aber, es sei noch zu früh zum Abrüsten (ASMZ, 15.4.1926).
Der deutsche Völkerrechtler Hans Wehberg, nachmaliger Professor am Genfer Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, meinte im November 1925 in der von ihm herausgegebenen pazifistischen Zeitschrift «Die Friedens-Warte», «derjenige, der in dem Zeitalter der Haager Friedenskonferenzen mit frohen Hoffnungen auf die kommende Entwicklung sah, dann den entsetzlichen Zusammenbruch des Weltkrieges und die Schwere der Nachkriegszeit miterlebte», könne den Pakt von Locarno «nur mit tiefer Ergriffenheit» betrachten: «An dem Tage, an dem er in Kraft tritt, beginnt eine neue Epoche, das Zeitalter der friedlichen Verständigung aller Völker. Die Kraft der Edelsten Deutschlands und Frankreichs, die hingebende Arbeit aller Europäer werden zusammenwirken, um den Weltfrieden in den Herzen der Völker zu verankern.» 1926 erhielten dann Austen Chamberlain rückwirkend für 1925 sowie Aristide Briand und Gustav Stresemann gemeinsam für 1926 den Friedensnobelpreis «for their crucial role in bringing about the Locarno Treaty». Auch die «Internationale Konferenz der Kriegsverstümmelten- und Frontkämpferverbände» begrüsste 1926 an ihrem Kongress in Genf die Locarno-Verträge.
Die Verträge waren indessen keineswegs unumstritten, insbesondere in Deutschland nicht. Noch im Oktober 1925 verliess die DNVP deswegen die Regierung, die dadurch ihre parlamentarische Mehrheit verlor. Mitte November beschloss ein DNVP-Parteitag den «rücksichtlosen Kampf gegen das Werk von Locarno». Von nationalsozialistischer und völkischer Seite wurden die Locarno-Verträge als Machwerk eines angeblich jüdischen «internationalen Finanzgeistes» denunziert und die Reichsregierung des Landesverrats bezichtigt. In der Reichstagsdebatte über die Verträge und den Völkerbundbeitritt am 24. November 1925 sprach der deutschnationale Fraktionsvorsitzende Kuno Graf von Westarp von einer «Locarnopsychose» und kritisierte scharf die erneute deutsche Anerkennung des Versailler Vertrages sowie die angebliche Einschränkung der Souveränität durch den Völkerbundbeitritt.
Ablehnend äusserten sich in der Reichstagsdebatte aber auch die Sprecher:innen der Kommunistischen Partei, die im Einklang mit der sowjetischen Diplomatie die Locarno-Verträge als Versuch des «englischen Imperialismus» zur Bildung einer Front gegen die Sowjetunion und mithin als «Kriegspakt» denunzierten und stattdessen zu einer prosowjetischen proletarischen «Einheitsfront» aufriefen. Gegen die unheilige Allianz der Parteien vom rechten und linken Rand setzten sich in der Abstimmung die liberalen und katholischen Regierungsparteien nur dank Unterstützung der oppositionellen SPD mit 291 gegen 174 Stimmen durch. NZZ-Korrespondent Willy Bretscher meldete aus Berlin eine «deutschnational-kommunistische Waffenbrüderschaft» und schlussfolgerte: «Wollte man auf Grund dieser Aeusserung den Kampf gegen Locarno summarisch etikettieren, so wäre das passende Wort gegeben: Nationalbolschewismus» (NZZ, 19.11.1925). Der Begriff «Nationalbolschewismus» bezeichnete in der Weimarer Republik Überlegungen und Bestrebungen in Teilen der Kommunistischen Partei, «nationalrevolutionären» Kreisen und Teilen des «linken», antikapitalistisch-antisemitischen Flügels der NSDAP zu einer Zusammenarbeit von extremen Linken und Rechten beim Sturz der Demokratie unter aussenpolitischer Anlehnung an die Sowjetunion. Sie gelten als Vorläufer und Inspiration für «Querfront»-Strategien, wie sie ab etwa 1970 wieder aufkamen und in der Gegenwart im Zeichen von Putinismus und Covid-Krise fröhliche Urstände feiern.
Aristide Briand wurde bei seiner Rückkehr aus Locarno in Paris ein triumphaler Empfang zuteil. In Frankreich wertete man die Verträge von Locarno überwiegend als erfolgreiche Abkehr von Poincarés Sicherheitspolitik der Stärke, deren Nachhaltigkeit angesichts eines erwarteten Wiederaufschwungs der deutschen Wirtschaft, der für Frankreich ungünstigen demografischen Entwicklung der beiden Länder sowie der deutsch-sowjetischen Annäherungstendenzen zweifelhaft schien. An die Stelle der deutsch-französischen «Erbfeindschaft» sollte eine in die umfassenden Strukturen des Völkerbundes eingebettete und von Grossbritannien unterstützte Zusammenarbeit treten. Auch in Grossbritannien stiessen die Locarno-Verträge auf ein sehr positives Echo.
Harsche Kritik kam dagegen aus Moskau. Die sowjetische Aussenpolitik befürchtete die Festlegung Deutschlands auf einen antisowjetischen Westkurs. Sie versuchte, Deutschland vom Abschluss des «Westpaktes» und Völkerbundbeitritt abzuschrecken, und drohte mit einer Anerkennung der polnischen Grenzen sowie einem sowjetisch-polnischen Bündnis. Ebenso versuchte sie, parallel mit Frankreich und Deutschland zu einer Verständigung zu gelangen. Im April 1926 wurde ein deutsch-sowjetischer Freundschafts- und Neutralitätsvertrag unterzeichnet, der Deutschland neben der Locarno-Politik als Rückversicherung die Fortsetzung der Rapallo-Politik gestattete. Der Vertrag bestimmte, dass, wenn eines der Länder angegriffen würde, das andere neutral bleiben sollte und keiner der Vertragspartner sich an einem wirtschaftlichen oder finanziellen Boykott gegen den anderen beteiligen sollte. Dies schwächte für den Fall eines sowjetisch-polnischen Krieges die Wirksamkeit des polnisch-französischen Verteidigungsbündnisses.
Im Zuge der Feierlichkeiten zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund kamen Briand und Stresemann am 17. September 1926 im französischen Dorf Thoiry zu einem Treffen zusammen, das häufig als Höhepunkt der Locarno-Politik betrachtet wird. Dabei diskutierten sie die gegenseitige Unterstützung bei wichtigen aussenpolitischen Zielen. Stresemann sicherte materielle Unterstützung Deutschlands zur Stabilisierung des französischen Franc zu, Briand stimmte der vorzeitigen Rückgabe des Saargebiets, dem vorzeitigen Ende der alliierten Militärkontrolle und Rheinlandbesetzung sowie einer deutsch-belgischen Vereinbarung zur Rückgabe Eupen-Malmedys zu. Nicht alle Punkte wurden in der Folge von den beiden Regierungen gutgeheissen und umgesetzt. Die Überwachung der deutschen Abrüstung wurde aber zunehmend laxer und 1927 durch eine mehr fiktive Völkerbundkontrolle ersetzt.
Über die diplomatischen und sicherheitspolitischen Aspekte hinaus führte der «Geist von Locarno» auch zur Reintegration Deutschlands in die internationale Kultur- und Sportwelt, von der es trotz der Demokratisierung bei Kriegsende in den frühen 1920er Jahren weitgehend ausgeschlossen blieb. Ausstellungen deutscher Malerei und Graphik auf Initiative der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes gab es zunächst fast ausschliesslich in den neutralen Ländern Europas sowie in Ostasien und Lateinamerika. Erst nach der Konferenz von Locarno kamen vermehrt Ausstellungen in den ehemaligen europäischen Feindstaaten zustande.
Auch hatten die Vertretungen der Siegermächte im Internationalen Olympischen Komitee und den meisten internationalen Verbänden des «bürgerlichen» Sports die Mitgliedschaften der Kriegsverlierer suspendiert und Sportkontakte zu ihnen untersagt. Bei den Olympischen Spielen von 1920 waren Deutschland, Österreich und Ungarn ausgeschlossen, Deutschland auch noch 1924. Hingegen vergab die Sozialistische Arbeitersport-Internationale die Ausrichtung der ersten Arbeiterolympiade 1925 nach Frankfurt am Main. Die sportpolitische Isolation führte 1922 aber auch zur Entstehung der «Deutschen Kampfspiele» als nationalistische Gegen-Olympiaden. Vor allem auf Druck neutraler Länder wie der Schweiz und Schwedens bröckelte die Boykottfront dann zunehmend. Ein frühes Beispiel des Versuchs der Völkerversöhnung durch Sport war der erste Spengler-Cup, der Ende 1923 in Davos unter Beteiligung je eines Teams aus Deutschland, Grossbritannien und Österreich ausgespielt wurde. Bereits 1923 wurde Deutschland auch wieder Vollmitglied im Weltfussballverband FIFA, aber erst nach Locarno beispielsweise 1926 wieder im internationalen Eishockeyverband, und 1928 erfolgte das olympische Comeback bei den Winterspielen in St. Moritz.
«Locarno» als Vorbild für Europa und die Welt?
Die mit dem «Geist von Locarno» verbundenen Hoffnungen auf eine Überwindung der Ressentiments aus dem Ersten Weltkrieg liessen «Locarno» zu einer Chiffre für eine friedlichere, auf internationaler Kooperation statt Konfrontation beruhende Welt werden. Sie wurde auch von der Bewegung für eine europäische Integration aufgegriffen. Die bereits im 19. Jahrhundert herumgeisternde Idee hatte während der Katastrophe des Ersten Weltkriegs Auftrieb erhalten. Führende Figur dieser Bewegung in der Zwischenkriegszeit war der österreichisch-japanische Philosoph und Historiker Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, der 1923 in seinem «Pan-Europäischen Manifest» geradezu prophetisch vor einem neuen Krieg warnte, der die Grauen des Ersten Weltkrieges noch weit übertreffen würde: «Sein Element wird die Luft sein […] – sein Ziel die Ausrottung der feindlichen Nation. Der Hauptkampf wird sich gegen die Städte des Hinterlandes richten, gegen Frauen und Kinder.» Zur Abwendung einer solchen Katastrophe propagierte Coudenhove, der ab 1931 dann während mehrerer längerer Perioden in der Schweiz lebte, den politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss aller Staaten von Polen bis Portugal zu einer Föderation mit gemeinsamem Parlament und gemeinsamer Exekutive, zu deren Kompetenzen die Aussenpolitik und die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes gehören sollten.
Die von Coudenhove ins Leben gerufene Paneuropa-Union wuchs in den folgenden Jahren zu einer eindrucksvollen Organisation mit Sektionen in den meisten europäischen Ländern (ab 1927 auch in der Schweiz) und zahlreichen prominenten Mitgliedern heran. Anders als dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie in Abgrenzung zu anderen pro-europäischen Bewegungen zunehmend ein christlich-konservatives Profil annahm, deckte sie in der Zwischenkriegszeit ein breites politisches Spektrum von gemässigt Konservativen bis zur Sozialdemokratie ab. Neben promintenten Politikern – darunter mit Aristide Briand (als Ehrenpräsident), Gustav Stresemann und Edvard Beneš drei wichtigen Teilnehmern der Konferenz von Locarno und in der Schweiz etwa dem demokratischen Zürcher Regierungsrat Oskar Wettstein, dem sozialdemokratischen Zürcher Stadtpräsidenten Emil Klöti oder dem freisinnigen Präsidenten des Schweizerischen Handels- und Industrievereins John Syz – gehörten ihr auch Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Thomas Mann an.
1925 nahm mit der SPD die wählerstärkste deutsche Partei einen Artikel in ihr Programm auf, dass sie sich für eine «Europäische Wirtschaftsunion» als Weg in die Vereinigten Staaten von Europa einsetze. Zu den erbittertsten Gegnern der paneuropäischen Bestrebungen zählte dagegen die NSDAP. Adolf Hitler lehnte in einem 1928 verfassten Manuskript über aussenpolitische Fragen die Paneuropa-Idee dezidiert ab und forderte stattdessen «ein Europa mit freien und unabhängigen Nationalstaaten, deren Interessengebiete auseinandergehalten und genau begrenzt sind». Die paneuropäische Bewegung entspreche «der Sinnlosigkeit unserer westlichen Demokratie ebenso sehr wie dem feigen Pazifismus unserer Überwirtschaftskreise. Dass sie das Ideal aller minderwertigen oder halbrassischen Bastarde ist, liegt auf der Hand. Ebenso, dass der Jude eine solche Auffassung besonders begrüsst, führt sie doch in ihrer konsequenten Befolgung zu einem Rassenchaos und Durcheinander, zu einer Verbastardung und Verniggerung der Kulturmenschheit und endlich damit zu einer solchen Senkung ihres rassischen Wertes, dass der sich davon freihaltende Hebräer langsam zum Weltherren aufzusteigen vermag.» Eine Verschwörungstheorie dieses Inhalts zirkuliert in rechtsextremen Kreisen wieder seit 2005 unter dem Titel «Kalergi-Plan».
1927 führte die Paneuropa-Union mit der Parole «Paneuropäisches Locarno» eine Kampagne für eine zweite Locarno-Konferenz. Diese sollte weit über ein «Ost-Locarno» hinausgehend das Friedenssystem von 1925 auf ganz Europa ausweiten. Im Herbst 1927 erschien am Tag vor Eröffnung der Völkerbundversammlung ein entsprechender Aufruf in mehr als hundert europäischen Zeitungen, der aber ohne Folgen blieb. Die europäische Integration kam dann aber zwei Jahre darauf auf die Agenda des Völkerbundes. Aristide Briand wurde im Juli 1929 zusätzlich zu seiner Funktion als Aussenminister auch französischer Ministerpräsident. Am 5. September 1929 schlug er in einer Rede vor der Völkerbundversammlung den Aufbau einer föderalen «europäischen Union» vor, um Solidarität und Zusammenarbeit als Ausgleich zur nationalen Zerstückelung zu schaffen. Auch Stresemann sprach sich für die Einigung Europas aus, betonte aber stärker die wirtschaftliche Integration. Der Völkerbund beauftragte daraufhin Briand mit der Ausarbeitung einer Denkschrift über seine Einigungsidee. Das im Mai 1930 vorgelegte «Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung» präsentierte in vier Abschnitten einen ausführlichen Organisationsplan sowie einen Katalog von Zielen und Aufgaben eines «Bundes auf der Grundlage des Gedankens der Einigung» als System kollektiver Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes. Ebenso skizzierte es die Schaffung eines gemeinsamen Marktes im Sinne der Vereinfachung des Güter-, Kapital- und Personenverkehrs. Die «Bundesordnung» sollte eine «Europäische Konferenz» aus Repräsentanten der nationalen Regierungen als leitendes Organ erhalten, einen «Ständigen Politischen Ausschuss» als Exekutivorgan und ein Sekretariat.
Die Reaktionen der anderen Regierungen fielen zurückhaltend aus. In Deutschland, wo Aussenminister Stresemann im Oktober 1929 verstorben war, sahen viele im Briand-Plan einen Versuch zur Aufrechterhaltung der französischen Hegemonialstellung. Besonders missfiel der deutschen Regierung die im Briand-Plan vorgesehene Ausdehnung der existierenden Grenzgarantien von Locarno auf Osteuropa, die deutschen Revisionswünschen einen Riegel geschoben hätten. Ebenso wurde der Ausschluss der nicht dem Völkerbund angehörenden Sowjetunion und Türkei bemängelt. Deutlich zeigte sich in der Antwort der Reichsregierung der Druck der Rechtsopposition, die den Briand-Plan strikte ablehnte und ihn etwa als «Rattenfänger-Denkschrift» (so das Nazi-Blatt «Völkischer Beobachter» am 20. Mai 1930) verhöhnte. Als Gegenprojekt startete der neue deutsche Aussenminister Julius Curtius, der Stresemanns Verständigungspolitik grundsätzlich ablehnte, den auch von der NSDAP als Vorstufe zu einem «Anschluss» geforderten Versuch einer deutsch-österreichischen Zollunion, der 1931 aber an einem Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs scheiterte. Die britische Regierung sah in einer europäischen Regionalorganisation eine Beeinträchtigung ihrer Beziehungen zum Commonwealth und zu den USA und setzte stattdessen auf den Völkerbund. Die faschistische Regierung Italiens machte ein halbes Dutzend grundsätzlicher Einwände.
Im September 1930 setzte die Völkerbundversammlung eine «Studienkommission für die Europäische Union» ein, die keine weiterführenden Resultate hervorbrachte und 1932 ihre Arbeit einstellte. Im selben Jahr verstarb Aristide Briand. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg diente sein Plan wieder als Vorbild für neue Integrationsbestrebungen, die zuerst 1951 in die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mündeten. An den «Geist von Locarno» knüpfte nach dem Zweiten Weltkrieg auch die deutsch-französische Versöhnung an, welche die von nationalistischen Propagandisten beider Länder seit dem 19. Jahrhundert beschworene «Erbfeindschaft» beendete, die etwa in den «Freiheitskriegen» von 1813 bis 1815, der Rheinkrise von 1840, dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, den beiden Marokko-Krisen von 1905/06 und 1911, dem Ersten Weltkrieg, der Ruhrbesetzung und dann nochmals dem Zweiten Weltkrieg eskaliert war und infolge derer Elsass-Lothringen zwischen 1870 und 1945 viermal die Staatszugehörigkeit wechselte.
«Locarno» wurde aber auch zur Chiffre über die europäische Integration hinausreichender Friedensbemühungen. Seit dem Ersten Weltkrieg gab es Bestrebungen, Krieg als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen völkerrechtlich zu verbieten. 1927 gelangte Briand mit dem Vorschlag eines bilateralen Kriegsverzichtsabkommens an die US-Regierung. Diese sah darin eine zu starke bündnispolitische Bindung an Frankreich, wollte zugleich aber die Friedensbewegung nicht verprellen und spielte zunächst auf Zeit. Schliesslich legte US-Aussenminister Frank B. Kellogg Ende 1927 den Gegenvorschlag vor, möglichst alle Staaten vertraglich zu verpflichten, auf Krieg als Mittel nationaler Politik zu verzichten. Stresemann stimmte dieser Idee, die eine Verbesserung der deutsch-amerikanischen Beziehungen und eine allgemeine Abrüstung (und damit relative Stärkung des abgerüsteten Deutschland) versprach, sofort zu. Am 27. August 1928 wurde der Vertrag zur Ächtung des Krieges (sogenannter «Briand-Kellogg-Pakt») in Paris unterzeichnet. Er verbot Angriffskriege, sah aber keine Sanktionen gegen Verstösse vor. Der Vertrag stand ausserhalb des Völkerbundsystems, dem die USA nicht angehörten. Er wurde zunächst von elf Staaten unterzeichnet und trat am 24. Juli 1929 in Kraft. Bis 1939 ratifizierten ihn 63 Staaten. Kellogg erhielt 1929 den Friedensnobelpreis.
Im Völkerbund war nach der Konferenz von Locarno eine «Vorbereitende Abrüstungskonferenz» eingerichtet worden, die ein erneutes Wettrüsten wie vor dem Ersten Weltkrieg verhindern sollte, aber jahrelang an Gegensätzen zwischen den westlichen Grossmächten scheiterte. Schliesslich berief sie auf Februar 1932 die Hauptkonferenz nach Genf ein. Daran nahmen 64 Länder teil (darunter die Nichtmitglieder Ägypten, Saudi-Arabien, Brasilien, Costa Rica und USA). Den Vorsitz hatte der britische Oppositionsführer und Labour-Präsident Arthur Henderson, Ehrenpräsident war der Schweizer Aussenminister Motta. Die Schweizer Delegation leitete der Diplomat und Rechtsprofessor Max Huber. Obwohl die Grossmächte im Dezember 1932 die grundsätzliche militärische Gleichberechtigung Deutschlands anerkannten und damit die Versailler Rüstungsbeschränkungen aufhoben, verliess im Oktober 1933 das nunmehr von Hitler regierte Deutschland, das zugleich aus dem Völkerbund austrat, die Konferenz. Diese tagte noch bis Juni 1934 und endete weitgehend ergebnislos. Henderson erhielt den Friedensnobelpreis 1934.
Ende der Locarno-Politik und Weg in die Katastrophe
Mit dem Tod der beiden Protagonisten Stresemann – dessen Ableben in Frankreich grosse Trauer hervorrief und dem rückblickend die Fähigkeit zugebilligt wurde, er hätte Hitler eventuell stoppen können – und Briand, der anbrechenden, den Wirtschaftsnationalismus verstärkenden Weltwirtschaftskrise und vor allem dem Untergang der Weimarer Demokratie kam die Locarno-Politik an ein Ende. Das Nazi-Regime demontierte Schritt für Schritt die im Zeichen des «Geistes von Locarno» getroffenen Vereinbarungen und Kooperationen. Im Oktober 1933 verkündete Hitler den Austritt aus dem Völkerbund. Da dafür eine zweijährige Kündigungsfrist bestand, war Deutschland de iure noch bis 1935 Mitglied, beteiligte sich aber nicht mehr an der Gremienarbeit. Als im September 1934 in Locarno der 30. «Congrès universel pour la paix» der pazifistischen Organisationen von Stadtpräsident Rusca eröffnet wurde, gehörten zum Tagungsprogramm zwar auch der Stand der Umsetzung der Vereinbarungen von 1925 und der Abrüstungsverhandlungen, in erster Linie aber die stark veränderte geopolitische Lage. Im selben Monat schlossen in Genf Estland, Lettland und Litauen angesichts der Bedrohung durch die grossen Nachbarstaaten die «Baltische Entente» zur gegenseitigen diplomatischen Unterstützung auf dem internationalen Parkett ab.
1936 stellte sich Hitler nach der Ratifikation eines französisch-sowjetischen Beistandspakts auf den Standpunkt, dadurch sei der Vertrag von Locarno gebrochen worden, und nahm dies als Vorwand, die Wehrmacht in die entmilitarisierte Zone im Rheinland einmarschieren zu lassen und die Kündigung des Vertrages von Locarno bekanntzugeben. Die Westmächte, die die damalige militärische Stärke Deutschlands überschätzten, begnügten sich mit verbalen Protesten gegen diesen flagranten Bruch des Versailler Vertrages. Dadurch ermutigten sie Hitler, in Ostmitteleuropa, dessen Grenzen infolge des fehlenden «Ost-Locarno» bündnispolitisch noch weniger gut abgesichert waren, territoriale Veränderungen herbeizuführen.
Im März 1938 erfolgte der deutsche Einmarsch in Österreich und der gemäss den Friedensverträgen von 1919 verbotene «Anschluss». Wenige Monate darauf inszenierte Hitler eine Propagandakampagne gegen die angebliche Verfolgung der deutschsprachigen Minderheit in der Tschechoslowakei und erhob Anspruch auf die Sudetengebiete, die auch vor 1919 nicht zu Deutschland gehört hatten. Ein sehr ähnliches Drehbuch benutzten dann später Saddam Hussein in Bezug auf Chuzestan im Vorfeld des irakischen Angriffs auf den Iran von 1980, der den achtjährigen ersten Golfkrieg auslöste, und Putin ab 2014 in Bezug auf den Donbass. Zur Verhütung eines Krieges, auf den Hitler aktiv hinarbeitete, unterzeichneten Ende September 1938 Grossbritannien, Frankreich und Italien mit dem Deutschen Reich das Münchner Abkommen, das die an den Verhandlungen nicht beteiligte Tschechoslowakei zur Abtretung der gewünschten Gebiete (und damit eines grossen Teils ihrer Grenzbefestigungen) an Deutschland zwang. Bei der Rückkehr nach London verkündete der konservative britische Premierminister Neville Chamberlain (Halbbruder des Aussenministers und Friedensnobelpreisträgers von 1925) «peace for our time». Bereits im März 1939 zeigte Hitler aber den Appeasement-Politikern die lange Nase mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag, Anerkennung eines stark von Deutschland abhängigen slowakischen Staates unter faschistischer Herrschaft, «Zerschlagung der Rest-Tschechei», Errichtung des «Reichsprotektorats Böhmen-Mähren» und Übernahme der starken tschechischen Rüstungsindustrie. Im selben Monat annektierte Deutschland nach einem Ultimatum an Litauen das Memelland.

Emile Vandervelde führte in Locarno die belgische Delegation an (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5068-Ka-3647)

Zum Konferenzabschluss läuteten die Glocken von Madonna del Sasso (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5068-Ka-2425)

Aus kommunistischer Sicht waren die Verträge von Locarno ein «Kriegspakt» gegen die Sowjetunion (SozArch KS 32/160-2)

Die Paneuropa-Bewegung agitierte 1927 für eine zweite Locarno-Konferenz zur Einleitung der europäischen Integration (SozArch N 227)

Postkarte zur Münchner Konferenz 1938: Die Appeasement-Politiker der westlichen Demokratien legen die Karten auf den Tisch, während Hitler alle Asse in der Hand behält (Urheber:in unbekannt/SozArch F 5068-Ka-3256)
Im August gleichen Jahres, genau gleichzeitig mit dem letzten «Congrès universel pour la paix» im Zürcher Rathaus, erfolgte im Moskauer Kreml die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts mit einem geheimen Zusatzprotokoll zur Aufteilung Ostmitteleuropas zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Eine Woche später eröffnete der Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg.
Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)
Archiv
- Ar 1.260.1 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Friedenskongress Basel 1912; Internationale Korrespondenz 1914–1921; Gremienbeschlüsse 1915–1923
- Ar 45 Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF)
- Ar 201.280.1 Dokumentation Erster Weltkrieg: Friedensbemühungen, Pazifismus
Sachdokumentation
- KS 32/137 Europäische Politik
- KS 32/140 Deutschland: Geschichte 1918–1933: Ruhrbesetzung 1923
- KS 32/153 Europäische Einigung
- KS 32/160 Friedensbewegung, Pazifismus
- KS 32/170 Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit
- KS 32/200 Erster Weltkrieg: Nachkriegsordnung: Vorschläge für Friedensverträge
- KS 32/201 Erster Weltkrieg: Nachkriegsordnung: Friedensverträge
- KS 32/202 Erster Weltkrieg: Nachkriegsordnung: Reparationen
- KS 34/15 Völkerbund: Idee, Projekte
- KS 34/16, a-e Völkerbund
- KS 34/17, a-d Völkerbund: Wirtschaftsfragen
- KS 335/19 Sozialismus und Krieg
- ZA 04.9 Brem-Bri Biografien: einzelne Personen: Brem–Bri
- ZA 04.9 Stp-Stz Biografien: einzelne Personen: Stp–Stz
Bibliothek
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- Bader-Zaar, Brigitta et al. (Hg.): Friedenskonzepte im Wandel: Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016. Innsbruck 2018, 137780
- Bariéty, Jacques und Antoine Fleury (Hg.): Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867–1928: Actes du colloque tenu à Stuttgart, 29-30 août 1985. Bern 1987, 86220
- Bauer, Heinrich: Stresemann: Ein deutscher Staatsmann. 2. Aufl. Berlin 1930, 25300
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