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5.2.2025: Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken

Buchpräsentation

Die gemeinsame Geschichte von jüdischer Emanzipationsbewegung gegen Diskriminierung und Antisemitismus sowie der Arbeiter:innenbewegung mit ihren sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Strömungen und Organisationen ist lange, oft spannungsreich und widersprüchlich. Sie ist eine Globalgeschichte mit Schauplätzen in Europa, Nordamerika, dem russländischen Imperium, dem Nahen Osten, Südafrika und anderen Weltregionen sowie vielfältigen transnationalen und interkontinentalen Vernetzungen. Die von Riccardo Altieri, Bernd Hüttner und Florian Weis für die Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Reihe «Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken» möchte diese Geschichte mit Beiträgen zu markanten Persönlichkeiten, bedeutenden Organisationen sowie wichtigen Schauplätzen und Ereignissen wieder in Erinnerung rufen.

Präsentation der Buchreihe mit dem Herausgeber Bernd Hüttner sowie Inputs von Christina Späti (Universität Fribourg/FernUni Schweiz), Aline Masé (Universität Bern), Brigitte Walz-Richter (Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung) und Christian Koller (Schweizerisches Sozialarchiv).
Mit anschliessendem Apéro.

Mittwoch, 5. Februar 2025, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 319 KB)

Berufserkundungstage

Das Schweizerische Sozialarchiv bietet am Mittwoch, 19. März 2025, und am Donnerstag, 20. März 2025, je einen Berufserkundungstag an. An dem Tag geben wir Einblick in die Lehre als Fachmann/-frau Information und Dokumentation EFZ.

Die Teilnehmendenzahl ist begrenzt, die Anmeldefrist endet am 10. März 2025.

Anmeldungen bitte mit Geburtsdatum und Namen der aktuellen Schule.

Kontakt und Anmeldung: Andrea Schönholzer, Berufsbildnerin, schoenholzer@sozarch.uzh.ch

Plakat zur Abstimmung vom 4.12.1977 über die Eidgenössische Volksinitiative der SP «zur Steuerharmonisierung, zur stärkeren Besteuerung des Reichtums und zur Entlastung der unteren Einkommen (Reichtumssteuer-Initiative)», die mit 44.36% Ja-Stimmen abgelehnt wurde (Urheber: Bernard Schlup/SozArch F Pc-0135/Ausschnitt)
Plakat zur Abstimmung vom 4.12.1977 über die Eidgenössische Volksinitiative der SP «zur Steuerharmonisierung, zur stärkeren Besteuerung des Reichtums und zur Entlastung der unteren Einkommen (Reichtumssteuer-Initiative)», die mit 44.36% Ja-Stimmen abgelehnt wurde (Urheber: Bernard Schlup/SozArch F Pc-0135/Ausschnitt)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Ingrid Robeyns: Limitarismus. Warum Reichtum begrenzt werden muss. Frankfurt am Main, 2024

Die Ethikerin Ingrid Robeyns vertritt mit ihrem Konzept des «Limitarismus» den gut begründeten Anspruch, dass es eine Obergrenze des Reichtums für Einzelpersonen geben bzw. dass die Ungleichheit (= der Abstand zwischen Arm und Reich) begrenzt sein sollte. Niemand der Superreichen hat es «verdient», umgerechnet einen lebenslangen Lohn von 40’000 Dollar und mehr pro Stunde (!) zu verdienen. Extremen Reichtum infrage zu stellen, hat dabei nichts mit Neid zu tun, sondern mit einem Sinn für Gerechtigkeit.
Bei der Umsetzung in die Praxis stehen an erster Stelle strukturelle Massnahmen, welche die Ungleichheit eindämmen und die Chancengleichheit erhöhen. Als zweite Strategie dienen fiskalische Instrumente wie höhere und stärker progressive Vermögenssteuern. Doch erst ein allgemeines «ethisches Handeln» als dritte Komponente macht den Limitarismus komplett. Denn die Politik, die stark vom Lobbyismus der Superreichen beeinflusst wird, agiert nur zaghaft in die angezeigten Richtungen. Viele Menschen sehen aber sehr wohl die Gefahren, welche für Gesellschaft und Demokratie mit dem extremen Reichtum Einzelner verbunden sind, und die ökologischen Schäden, die dieser anrichtet.
Als Schwellenwert des Reichtums schlägt die Autorin eine doppelte Grenze vor: eine obere, politisch gesetzte, mit den oben erwähnten Massnahmen herbeigeführte und eine untere, persönliche, ethisch motivierte. In persönlichen Gesprächen mit Superreichen stellte Robeyns nämlich fest, dass zwar eine Mehrheit von ihnen das Thema vermeidet, eine Minderheit jedoch durchaus limitaristische Ansichten teilt, obwohl sie davon selber «negativ» betroffen wäre. Daran gilt es anzuknüpfen!

Stefan Berger/Christian Koller (Hg.): Memory and Social Movements in Modern and Contemporary History. Remembering Past Struggles and Resourcing Protest. Cham, 2024

Soziale Bewegungen beziehen sich in ihren Forderungen und Argumenten stets auch auf vergangene Erfahrungen und sind ihrerseits Gegenstände kollektiver Erinnerungsprozesse. Diese komplexe Beziehung wird von den Forschungsfeldern der «Memory Studies» und «Social Movement Studies» erst in jüngster Zeit detaillierter diskutiert. Der Band «Memory and Social Movements in Modern and Contemporary History» versammelt die Beiträge einer gemeinsamen Tagung des Instituts für Soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum und des Schweizerischen Sozialarchivs. Sie loten ein breites thematisches und geografisches Feld aus.
Fallstudien befassen sich mit dem Zusammenspiel von Antisklaverei-Bewegung und frühem Feminismus im 19. Jahrhundert, Bauern- und Arbeiteraufständen in Polen um die Jahrhundertwende, Stadtbewegungen in der Bundesrepublik in den 70er/80er Jahren, tolstojanischen Friedensbewegungen in der Sowjetunion und Russland, der Memorialisierung von homosexuellen KZ-Opfern, ökologischen Bewegungen in Indien um die Jahrtausendwende, der Memorialisierung von Protesttoten in der schweizerischen Arbeiter:innenbewegung, historischen Analogien in den Diskursen der Bewegung gegen den Bosnienkrieg, der kolonialen Erinnerung im Generalstreik von Guadeloupe und Martinique von 2009 sowie der Geschichtspolitik rechtsradikaler Parteien in der Bundesrepublik von der 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei bis zur AfD.

Samira Akbarian: Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams. München, 2024

Die Rechtswissenschaftlerin Samira Akbarian hinterfragt in ihrem Buch die Auffassung, ziviler Ungehorsam schade der Demokratie und dem Rechtsstaat. Dazu untersucht sie verschiedene Formen des zivilen Ungehorsams von Sokrates über H.D. Thoreau, Rosa Parks und Martin Luther King bis Greta Thunberg und die Klimakleber:innen.
Ein wichtiger Aspekt des zivilen Ungehorsams ist für die Autorin die Gewaltlosigkeit der Aktivist:innen und das Einsetzen der eigenen Verletzlichkeit. Die Demonstrierenden stehen unbewaffnet vor einem Panzer, die Klimaaktivist:innen sitzen auf einer stark befahrenen Strasse oder versuchen das Abbaggern eines ganzen Dorfes durch Besetzung desselben zu verhindern und Rosa Parks setzte sich auf einen Platz im Bus, der nicht für sie gedacht war.
Samira Akbarian beleuchtet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der aktivistischen Widerstandsformen und zeigt deren Potenzial für die Demokratie auf. Ziviler Ungehorsam wird von ihr als Protest, der von einer Richtigkeitsüberzeugung getragen wird und im Handeln mündet, definiert. In diesem Sinn weist er einen zivilen Charakter auf und sollte daher als Teil eines aktiven und lebendigen demokratischen Rechtsstaats begriffen werden. Mit ihrer Theorie entwickelt Akbarian ein Konzept, das demokratische Teilhabe durch ein inklusives und dynamisches Verfassungsverständnis fördert. Demokratie heisst auch die Möglichkeit zum Widerspruch und der Wunsch, in einer gerechten und guten Gesellschaft zu leben.

Luzia Tschirky: Live aus der Ukraine. Basel, 2024

«Vögel zwitschern vor meinem Hotel im Stadtzentrum von Kyjiw. Dazwischen aus der Ferne ein dumpfer Schall. Wumm. Wumm. Wumm.»
Der Beginn des Buches setzt direkt am 24. Februar 2022, am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, ein. Die Journalistin war an diesem Tag selbst in Kiew unterwegs und kommentierte anschliessend laufend das Kriegsgeschehen.
Luzia Tschirky berichtete ab 2019 während fünf Jahren für das Schweizer Fernsehen SRF aus Russland, der Ukraine, Belarus und dem Kaukasus. In dem Buch gibt sie Einblick in ihre Zeit als Korrespondentin. Sie erzählt von der Repression, welche sie in Russland vor dem Krieg erlebt hatte, und schildert eindrücklich ihre persönlichen Erfahrungen während dem Krieg. So bekommen die Lesenden auch den ersten Tag des russischen Grossangriffs hautnah mit und verstehen, warum die Autorin diesen als Zeitenwende empfand. Tschirky schreibt mitfühlend und authentisch von ihren Begegnungen mit Menschen im Kriegsgebiet der Ukraine und bringt den Lesenden so die Lebensrealität der Kriegsbetroffenen näher. Sie stellt die Menschen in den Mittelpunkt und dokumentiert anschaulich, was die erlittene Gewalt für diese bedeutet.

Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte. München, 2024

Die Frage, ob Krieg dem Menschen angeboren oder kulturell erworben ist, wird seit Langem diskutiert. Das Autorenteam aus einem Evolutionsbiologen, einem Archäologen und einem Historiker verortet sich auf der kulturalistischen Seite und lehnt simple biologistische, aber auch ökonomistische Erklärungen ab. Den Hinweis auf «Kriege» zwischen Schimpansengruppen kontern sie mit dem Gegenbeispiel der Bonobo mit ihrer Soziabilität des «make love not war» sowie dem Fakt, dass für die ersten 95% der Menschheitsgeschichte keine archäologischen Hinweise auf kriegerische Gewalt vorliegen. Erst mit dem allmählichen Übergang zur Sesshaftigkeit finden sich auf Gewalteinwirkung hindeutende Skelette, eindeutig dem Krieg und nicht der Jagd dienende Waffen sowie Befestigungsbauten. Jungsteinzeitliche Funde zeigen eigentliche Massaker. Die Herausbildung von Staatlichkeit mit autokratischer, religiös legitimierter Herrschaft, ungleicher Gesellschaft und verstärkt asymmetrischer Geschlechterordnung führte dann zur Entstehung organisierter Armeen und zum «Krieg als Lebensprinzip». Daran hat sich trotz steter Weiterentwicklung der Waffentechnologie in den letzten 5’000 Jahren nicht viel geändert. Die Reflexion über Einhegungen der «Bestie Krieg» habe in den letzten Jahrhunderten aber zugenommen und in Teilen der Welt zu kriegsvermindernden Praktiken und Strukturen wie Demokratie, Geschlechtergleichberechtigung und überstaatlichen Organisationen geführt, so das verhalten optimistische, ein kulturelles «Verlernen» des Krieges nicht ausschliessende Fazit der Autoren.

Weitere Literatur zum Thema (Auswahl):

  • Philip Dwyer und Joy Damousi (Hg.): The Cambridge world history of violence. 4 Bde. Cambridge 2020, 153010
  • Daniel Gerster et al. (Hg.): Historische Friedens- und Konfliktforschung. Die Quadratur des Kreises? Frankfurt 2023, 151640
  • Christian Koller: Krieg und Frieden in der Geschichtswissenschaft. Neuere Perspektiven und Ansätze der Militär- und Gewaltgeschichte und der Historischen Friedensforschung, in: conexus 7 (2024). S. 8–28. URL: https://www.hope.uzh.ch/conexus/article/view/8798/7274
  • Karl Heinz Metz: Geschichte der Gewalt. Krieg, Revolution, Terror. Darmstadt 2010, 123513
  • Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt 2011, 128206

Michael Fischer: Atomfieber. Eine Geschichte der Atomenergie in der Schweiz. Baden, 2019

Die Debatte um die Atomenergie erlebt zurzeit in der Schweiz ein Revival. Zur historischen Einordnung bietet Michael Fischers Buch einen hervorragenden Einstieg. Den Auftakt machten ab 1945 Pläne für eine eigene Atombewaffnung, die ab den späten 50er Jahren zur ersten Antiatombewegung führten. Spätestens mit der Unterzeichnung des Atomsperrvertrags 1969 wurden diese Pläne Makulatur. Nun rückte die zivile Nutzung der Atomenergie ins Blickfeld. 1955 gründeten in Würenlingen 125 Firmen die vom Bund stark subventionierte Reaktor AG, die zwei Forschungsreaktoren testete. 1968 nahm in Lucens ein Versuchsreaktor den Betrieb auf, der aber schon nach wenigen Monaten durch eine Kernschmelze zerstört wurde. 1969 ging das AKW Beznau I ans Netz, es folgten Beznau II (1972), Mühleberg (1972), Gösgen (1979) und Leibstadt (1984). In den frühen 70er Jahren formierte sich eine neue Antiatombewegung, die ihren Höhepunkt in den Auseinandersetzungen um das geplante AKW Kaiseraugst erreichte. Im Nachgang zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) hiessen Volk und Stände 1990 die Initiative für ein zehnjähriges AKW-Bau-Moratorium gut. 2011 entschied sich dann der Bundesrat angesichts der Katastrophe von Fukushima für den langfristigen Atomausstieg, der 2017 mit dem Ja zur «Energiestrategie 2050» vom Volk unterstützt wurde. Als letztes Thema behandelt Fischer das «Strahlende Erbe», die anhaltenden Kontroversen um die Endlagerung der radioaktiven Abfälle.

Weitere Literatur zum Thema (Auswahl):

  • Marcos Buser: Wohin mit dem Atommüll? Das nukleare Abenteuer und seine Folgen. Ein Tatsachenbericht. Zürich 2019, 141216
  • Monika Gisler: Erzählte Physik. Paul Scherrer und die Anfänge der Kernforschung. Zürich 2023, Gr 15585
  • Patrick Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst. Zürich 2003, 111271
  • Sibylle Marti: Strahlen im Kalten Krieg. Nuklearer Alltag und atomarer Notfall in der Schweiz. Paderborn 2021, 144846
  • Albert Ulrich und René Baumann: Zur Frage der Atombewaffnung der Schweizer Armee in den fünfziger und sechziger Jahren. Zürich 1997, Gr 9275
  • Tobias Wildi: Der Traum vom eigenen Reaktor. Die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945–1969. Zürich 2003, 111207
  • Reto Wollenmann: Atomwaffe und Atomsperrvertrag. Die Schweiz auf dem Weg von der nuklearen Option zum Nonproliferationsvertrag (1958–1969). Zürich 2004, 117115

Vor 65 Jahren: Die Entstehung der Zauberformel

Auch nach den letzten Eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2023 gab es wieder Diskussionen über die parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates. Bei Überlegungen dazu standen in der Regel inhaltliche, programmatische Ideen hinter arithmetischen Argumenten zurück. Der dabei immer wieder angesprochene Grundgedanke, wie Parteistärken sich in Bundesratssitze transformieren sollten, greift auf ein Modell zurück, das vor 65 Jahren erstmals verwirklicht wurde: die sogenannte «Zauberformel». Dieser freiwillige Parteienproporz gilt als Kernelement der sogenannten Konkordanzdemokratie, die nicht wie die Konkurrenzdemokratie vom konfrontativen Wechselspiel zwischen Regierung und starker parlamentarischer Opposition lebt, sondern vom Einbezug aller wichtigen Kräfte in die Regierungsverantwortung und deren stetigem Aushandeln von Kompromissen.

Dieses System wurde durch verschiedene institutionelle Gegebenheiten begünstigt, bildete sich aber erst im Verlauf von 111 Jahren heraus. Gewisse Grundvoraussetzungen wurden bereits mit der Bundesstaatsgründung von 1848 geschaffen. Mit dem Direktorial- und Kollegialsystem ohne Regierungschef mit Richtlinienkompetenz oder einem institutionell über dem Regierungsgremium stehenden Staatsoberhaupt sowie der fehlenden Möglichkeit des parlamentarischen Misstrauensvotums waren wesentliche Elemente der Konkurrenzdemokratie nicht vorhanden. Hinzu kam die individualisierte Wahl der Mitglieder des Bundesrats anstelle eines kollektiven Vertrauensvotums durch das Parlament. Die Idee, statt der Einzelwahl das Gremium per Listenwahl in einem Durchgang zu wählen, taucht immer wieder auf und wurde bereits 1851 ein erstes Mal vom Parlament abgelehnt. Die Einführung eines kollektiven Vertrauens- oder Misstrauensvotums für die ganze Regierung wurde aber nie ernsthaft verfolgt.

Andere Reformideen tauchten sporadisch auf, setzten sich aber nie durch. Dazu gehörte die seit den 1870er Jahren diskutierte Volkswahl des Bundesrates, die 1900, 1942 und 2013 dreimal in Volksabstimmungen bachab geschickt wurde, die seit etwa 1900 immer wieder herumgeisternde Vergrösserung des Bundesrates auf neun Mitglieder oder in jüngerer Zeit die Einführung einer Geschlechterquote, die 2000 in einer Volksabstimmung deutlich verworfen wurde. Die einzige verwirklichte Reform zur Zusammensetzung der Regierung betraf 1998 die Lockerung der Kantonsklausel. Alle weiteren formalen Kriterien – Parteizugehörigkeit, Vertretung der Sprachregionen, in früheren Zeiten die Konfessionszugehörigkeit und seit der Jahrtausendwende das Geschlecht – sind ungeschriebene Gesetze.

Eine wesentliche Rolle auf dem Weg zum freiwilligen Parteienproporz in der Regierung spielte der Ausbau der direkten Demokratie. Mit der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums 1874 und der Volksinitiative 1891 erhielten nicht in der Regierung vertretene politische Kräfte starke ausserparlamentarische Oppositionsinstrumente (s. SozialarchivInfo 6/2021). Dadurch kam die Dynamik zur Einbindung der wichtigen politischen Kräfte in die Regierungsverantwortung in Gang, die erst nach Jahrzehnten zum Abschluss gelangte. Und dadurch kam auch die Vorstellung auf, in der Schweiz bilde nicht die parlamentarische Minderheit, sondern das «Volk» die Opposition zur Regierung.

Lange vor dem Bund gab es in verschiedenen Kantonsregierungen Modelle eines freiwilligen Parteienproporzes. Ein formalisierter Proporz nicht nur für die Parlamentswahl, sondern auch für die Regierung existierte im Kanton Tessin ab 1891. Er beseitigte die jahrzehntelange latente Bürgerkriegssituation zwischen Konservativen und Liberalen mit anhaltenden Wahlmanipulationen und sporadischen Gewaltausbrüchen und machte den Südkanton zu einem Laboratorium der Konkordanz. Der Wechsel vom Majorz- zum Proporzsystem für die Wahl des Nationalrats nach dem Ersten Weltkrieg intensivierte dann die Diskussionen über einen freiwilligen Proporz auch im Bundesrat (s. SozialarchivInfo 4/2019). Der Durchbruch dazu im und nach dem Zweiten Weltkrieg hing dann noch mit einem weiteren Faktor zusammen: Mit dem Übergang zur Sozialpartnerschaft und der Integration der Gewerkschaften in den auf verbandsstaatlichen Mechanismen beruhenden «Neo-Korporatismus» von den späten 30er bis in die frühen 50er Jahre (s. SozialarchivInfo 2/2017) erschien eine parallele Entwicklung auf der politischen Ebene und der Einbezug auch der SP in eine Regierung, die bereits alle wichtigen bürgerlichen Parteien umfasste, naheliegend.

Vom hegemonialen Pluralismus der Bundesstaatsgründer zum Bürgerblock

Die ersten Bundesratswahlen fanden am 16. November 1848 statt, ein Jahr nach dem Sonderbundskrieg. Alle sieben Sitze gingen dabei an Radikale und Liberale, die auch in beiden Parlamentskammern eine erdrückende Mehrheit hatten (s. SozialarchivInfo 2/2023). Diese absolute Dominanz der Sieger des Sonderbundskrieges im Bundesrat sollte bis 1891 anhalten. Trotzdem ist die traditionelle Vorstellung, diese Phase als Ära einer freisinnigen Einparteienregierung zu betrachten, zu stark vereinfacht. Urs Altermatt, der Doyen der Bundesratsgeschichtsforschung, spricht in seinen jüngsten Publikationen für die Zeit von 1848 bis 1891 sogar ausdrücklich von einer «Zweiparteienkoalition» zwischen Radikalen und gemässigt Liberalen und bezeichnet die Tendenz, alle Bundesräte bis 1891 unisono als «freisinnig» zu deklarieren, als «Geschichtskonstruktion» der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die FDP nach dem Verlust der Parlamentsmehrheit ihre starke Übervertretung im Bundesrat historisch zu begründen versuchte.

Vor der organisatorischen Verfestigung der Parteien im späten 19. Jahrhundert gab es bei den liberalen Kräften verschiedene Strömungen, die sich vor allem in den Kantonen teilweise heftig bekämpften, aber auch nicht eindeutig voneinander abgrenzen liessen. Die Geschichtsschreibung spricht in diesem Zusammenhang im Gefolge von Erich Gruner oft von der «freisinnigen Grossfamilie». Rechts von der radikal-liberalen «Linken», die in der Bundesversammlung stets die stärkste Gruppe stellte, gab es die gemässigt liberale und liberalkonservative «Mitte» (auch «Zentrum» genannt), links aussen die in den 1860er Jahren erstarkenden, auf direktdemokratische und sozialpolitische Reformen drängenden Demokraten, die auch einen Arbeiterflügel mit sozialistischen Tendenzen hatten (s. SozialarchivInfo 6/2018 und 2/2024). Die Radikal-Liberalen verloren 1863 erstmals die absolute Mehrheit im Nationalrat, während das Zentrum um wirtschaftsliberale «Bundesbarone» wie Alfred Escher vorübergehend stark zulegte. Erst 1881 eroberten die Radikal-Liberalen die absolute Parlamentsmehrheit zurück.

Dieser Pluralismus innerhalb des hegemonialen Liberalismus widerspielte sich auch in der Zusammensetzung des Bundesrats. Von den Bundesräten der ersten Stunde trat Ulrich Ochsenbein 1851 nicht mehr als Radikaler, sondern als gemässigt Liberaler zur «Komplimentswahl» in den Nationalrat an und wurde dann als Bundesrat bestätigt. Drei Jahre darauf schaffte er, politisch zwischen Stuhl und Bank, die «Komplimentswahl» nicht mehr und wurde dann auch aus dem Bundesrat abgewählt. Bis in die 1880er Jahre hielten sich im Bundesrat jeweils je drei bis vier Vertreter der Radikal-Liberalen und der liberalen Mitte in etwa die Waage – auch wenn die Zuordnung nicht immer eindeutig war. Hinzu kamen vereinzelte Bundesräte, die den Demokraten zugerechnet wurden.

Ausgeschlossen war in den ersten Jahrzehnten nach dem Sonderbundskrieg dagegen die Wahl von Katholisch-Konservativen, die im Parlament den rechten Flügel bildeten, in den Bundesrat. Ab den 1870er Jahren änderte sich die Situation aber allmählich. Mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 war das Instrument des fakultativen Gesetzesreferendums eingeführt worden, das die Katholisch-Konservativen, zum Teil im Verbund mit föderalistischen liberalen Kräften, geschickt dazu nutzten, um eine Reihe von Vorlagen zu Fall zu bringen. Zugleich verzeichneten sie in den Wahlen von 1875 und 1878 bedeutende Gewinne und wurden im Nationalrat bis zum Ende der Majorz-Ära dauerhaft zur zweitstärksten Fraktion. 1878 erhob das katholisch-konservative Parteiblatt «Vaterland» den arithmetischen Anspruch auf zwei Bundesratssitze. Ein Einbezug der Katholisch-Konservativen, die ab 1875 wiederholt Kampfkandidaturen für den Bundesrat aufstellten, in die Regierungsverantwortung erschien nun nur noch als Frage der Zeit. 1883 sprachen sich die Fraktionen der Demokraten und des liberalen Zentrums für einen Bundesrat der Katholisch-Konservativen aus, um deren Obstruktionspolitik zu beenden. Der Zeitpunkt dazu kam, als Emil Welti, letzter Bundesrat des liberalen Zentrums, 1891 nach einer Abstimmungsniederlage zurücktrat. Die liberalen Fraktionen boten nun den Katholisch-Konservativen einen Sitz im Bundesrat an und verhalfen dem Luzerner Josef Zemp zur Wahl.

Drei Jahre darauf erfolgte die Gründung der Freisinnig-Demokratischen Partei, die die Radikal-Liberalen, deren Parlamentsfraktion sich seit 1878 «radikal-demokratisch» nannte, sowie Teile des liberalen Zentrums und der Demokraten unter ein Dach brachte. Durch den Zuzug von gemässigt Liberalen erhielt die FDP einen starken Wirtschaftsflügel und rückte insgesamt nach rechts. Die parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates bis zum Ersten Weltkrieg lautete damit sechs Freisinnige und ein Katholisch-Konservativer.

Die ausserhalb der FDP verbliebenen Reste des ehemaligen Zentrums gründeten die liberal-demokratische Fraktion und 1913 dann die Liberale Partei, die aber nur in wenigen Kantonen Bestand hatte und nach erfolglosen Bundesratskandidaturen 1897 und 1902 mit Gustav Ador von 1917 bis 1919 nur noch einmal für kurze Zeit einen Bundesrat stellte. Diejenigen Kantonalparteien der Demokraten, die nicht der FDP beitraten, bildeten im Parlament ab 1896 die «Äusserste Linke» bzw. «Sozialpolitische Gruppe», der bis 1911 auch die zunächst noch wenigen sozialdemokratischen Nationalräte angehörten. Aus dieser Fraktion ging nie ein Bundesrat hervor. Bei einer Ersatzwahl 1897 schickten die Liberalen und die Demokraten je einen Kandidaten ins Rennen, im vierten Wahlgang setzte sich aber der offizielle FDP-Kandidat durch. Hingegen wurde 1902 mit Ludwig Forrer ein prominenter Vertreter der Zürcher Demokraten, die sich auf Bundesebene der FDP angeschlossen hatten, aber im Kanton weiterhin als eigenständige Partei links von den Freisinnigen politisierten, in den Bundesrat gewählt.

Die Dominanz der FDP, die von 1896 bis zum Ersten Weltkrieg mit Wähleranteilen zwischen 40 und 50% dank des Majorzwahlrechts eine komfortable absolute Mehrheit im Nationalrat hatte und im Bundesrat sechs Sitze beanspruchte, führte um die Jahrhundertwende zu gemeinsamen Aktionen der weltanschaulich stark verschiedenen «Minderheitsparteien». Ein heterogenes Bündnis aus Sozialdemokraten und Katholisch-Konservativen sowie vereinzelten Demokraten, Liberalen und Reformiert-Konservativen lancierte zwei Volksinitiativen, die sich gegen die Dominanz des Freisinns in den Bundesbehörden richteten und die Proporzwahl des Nationalrates sowie die Volkswahl des auf neun Mitglieder zu erweiternden Bundesrates forderten. Die beiden Vorlagen kamen 1900 vors Volk. Nach einem leidenschaftlichen Abstimmungskampf wurde die Proporzinitiative mit 59,1% und die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates mit 65% Nein-Stimmen abgelehnt. Immerhin 9,5 Stände stimmten der Proporzinitiative aber zu und die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates erreichte Ja-Mehrheiten in den Kantonen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Fribourg, Glarus, Zug, Tessin und Wallis. Ebenso spannte das Bündnis 1902 bei einer Bundesratsergänzungswahl zusammen. Gegen den von der FDP portierten Zürcher Demokraten Forrer nominierte die Sozialpolitische Gruppe den Glarner Landammann und Nationalrat Eduard Blumer, dessen Glarner Demokraten ausserhalb der FDP standen. Die Katholisch-Konservativen stellten keinen eigenen Kandidaten auf, sondern votierten zusammen mit der sozialpolitischen Linken und den Sozialdemokraten für Blumer, der dadurch mit 70 gegen 113 Stimmen nur relativ knapp gegen Forrer unterlag.

Mit den Erschütterungen um das Ende des Ersten Weltkriegs herum wurde die Zusammensetzung des Bundesrats erneut zum Thema. Bei den Nationalratswahlen 1917 hatte die FDP mit einem Stimmenanteil von 40,8% erneut die absolute Sitzmehrheit im Nationalrat gewonnen, während die SP zwar auf ein Rekordresultat von 30,8% kam, aber aufgrund des Majorzsystems fünfmal weniger Mandate als der Freisinn erhielt. Die Katholisch-Konservativen kamen auf 16,4%, die Liberalen und die Demokraten hatten mit 4,9 bzw. 3,3% nur noch den Status von Kleinparteien. Ein Jahr darauf stand die Abstimmung über die dritte Volksinitiative zur Einführung der Proporzwahl an. Entsprechende Initiativen waren 1900 und, nur noch knapp, 1910 abgelehnt worden. Das politisch heterogene «Aktionskomitee für den Nationalratsproporz» lancierte bereits 1913 die nächste Proporzinitiative, die nach wenigen Monaten eingereicht wurde. In den Beratungen im Frühjahr 1914 lehnten Bundesrat und Parlament auch diesen Vorstoss ab. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wurde die Vorlage dann für vier Jahre auf Eis gelegt und die Volksabstimmung fand erst am 13. Oktober 1918 statt. Das Ergebnis war eine schallende Ohrfeige für Bundesrat und Parlament: 66,8% der Stimmenden und 19,5 Stände stimmten der Vorlage zu. Damit war absehbar, dass die freisinnige Dominanz im Parlament mit den nächsten Wahlen enden würde. Dies verlieh auch den Diskussionen über die Zusammensetzung des Bundesrates Auftrieb, zumal der liberale Genfer Nationalrat Horace Micheli 1916 eine Motion für die Erhöhung der Zahl der Bundesräte auf neun eingereicht hatte.

Wenige Wochen nach der Proporzabstimmung erschütterte die schwerste innenpolitische Krise seit 1848 die Schweiz: der Landesstreik. Der Streikaufruf des Oltener Aktionskomitees nahm ausdrücklich auf die «denkwürdige Abstimmung vom 13. Oktober» Bezug, in der «Demokratie und Volk […] den gegenwärtigen verantwortlichen Behörden des Landes das Vertrauen entzogen» hätten, und forderte die «ungesäumte Umbildung der bestehenden Landesregierung unter Anpassung an den vorhandenen Volkswillen». In der ausserordentlichen Session der eidgenössischen Räte während des Landesstreiks stellte der freisinnige Bundespräsident Felix Calonder eine Regierungsbeteiligung der SP in Aussicht: «Die möglichst rasche Umgestaltung des Bundesrates in einer Weise, dass auch die sozialdemokratische Partei darin eine ihrer Bedeutung entsprechende Vertretung erhält, entspricht durchaus unserer Auffassung. Im Interesse des gesamten Staates und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft sollten die Führer dieser Partei an der Arbeit und an der Verantwortlichkeit der Landesregierung sich beteiligen. Nach der Auffassung des Bundesrates sollte die Mitgliederzahl der eidgenössischen Exekutive so rasch als möglich auf neun erhöht werden.» Einen sozialdemokratischen Antrag auf Einsetzung einer Kommission zur Vorbereitung dieser «Umwandlung des Bundesrates» lehnte das Parlament aber deutlich ab.

Die vorgezogenen Nationalratswahlen vom Oktober 1919 brachten aufgrund der erstmaligen Anwendung des Proporzsystems das erwartete Ende der freisinnigen Mehrheit. Von den bisherigen Regierungsparteien kamen die Freisinnigen auf 28,9% der Stimmen, die Katholisch-Konservativen auf 20,9% und die Liberalen auf 3,8%. Bei den nicht im Bundesrat vertretenen Parteien erhielt die SP 23,5%, die neu entstandenen Bauern- und Bürgerparteien 15,3%, die von der SP abgespaltenen Grütlianer 2,8%, die Demokraten 2% und die EVP 0,8%. Bei den darauffolgenden Bundesratswahlen waren aufgrund der Rücktritte von zwei freisinnigen und des einzigen liberalen Bundesrates drei Sitze neu zu besetzen. Die Sozialdemokraten, in deren Reihen die Ansichten über eine Regierungsbeteiligung gespalten waren, stellten keine eigenen Kandidaten auf. Freisinnige, Katholisch-Konservative und Bauern- und Bürgerparteien einigten sich auf eine gemeinsame Kandidatenliste.

Alle bisherigen Bundesräte wurden wiedergewählt und die beiden bisher freisinnigen vakanten Sitze verblieben bei der FDP – in einem Fall wurde allerdings nicht der parteioffizielle Kandidat gewählt. Der bisherige liberale Sitz ging an die Katholisch-Konservativen – nach dem Verlust der absoluten Mehrheit sahen sich die Freisinnigen gezwungen, den Juniorpartner stärker zu beteiligen. Aus Genfer Kreisen war eine Kampfkandidatur des parteilosen Wirtschaftshistorikers und Diplomaten William Rappard lanciert worden, insbesondere gegen die Kandidatur des weit rechts stehenden Katholisch-Konservativen Jean-Marie Musy. Rappard erhielt bei den Ersatzwahlen für die beiden Westschweizer Sitze die Stimmen der Sozialdemokraten und einiger Linksfreisinniger, blieb aber chancenlos. Für die nächsten zehn Jahre setzte sich somit der Bundesrat aus fünf Freisinnigen und zwei Katholisch-Konservativen zusammen. Die Katholisch-Konservativen gaben ihre antiliberalen Ressentiments aus dem 19. Jahrhundert zwar nicht völlig auf, profilierten sich nun aber in erster Linie als antisozialistisches Bollwerk. Aus der freisinnigen Hegemonie mit katholisch-konservativer Juniorbeteiligung wurde damit mehr und mehr eine Regierung des Bürgerblocks.

Demgegenüber blieb ein als «Linksblock» bezeichnetes potenzielles Bündnis zwischen FDP und SP, über das nach dem Wahlsieg des «Cartel des gauches» aus Radikalen (einer linksliberalen Partei) und Sozialisten in Frankreich 1924 bis Ende der 20er Jahre immer wieder spekuliert wurde, eine Schimäre und hatte keinen Einfluss auf die Bundesratswahlen. Das 1924 beschlossene Arbeitsprogramm der SP forderte die Wahl aller gesetzgebenden und Exekutivbehörden in Bund, Kantonen und Gemeinden, und damit auch des Bundesrates, «durch das Volk, unter Anwendung des Proporzes». Bei den Nationalratswahlen 1928 zog die SP wählermässig erstmals mit der FDP gleich, drei Jahre darauf wurde sie stärkste Partei und sollte diesen Rang bis 1979 ununterbrochen behaupten. Für die Gesamterneuerungswahl des Bundesrates 1928 stellte sie keine eigenen Kandidaten auf, unterstützte aber die Kandidatur des parteilosen Genfer Nationalrats und Rechtsprofessors Paul Logoz für einen vakant gewordenen freisinnigen Sitz. Ab 1929 meldete die SP bei Ersatz- und Gesamterneuerungswahlen dann regelmässig eigene Sitzansprüche an und nominierte teilweise auch Kampfkandidaturen gegen bisherige Bundesräte.

Einen Richtungsentscheid hatte die Bundesversammlung 1929 zu fällen, als zwei der fünf freisinnigen Bundesräte ihre Rücktritte erklärten. Angesichts der massiven arithmetischen Übervertretung des Freisinns meldeten die SP als wählerstärkste Partei wie auch die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerparteien als viertstärkste Kraft Ansprüche an. Der katholisch-konservative Fraktionschef Heinrich Walther, der in jenen Jahren als «Königsmacher» galt, erreichte mit formalen Argumenten, dass zuerst über den «Berner Sitz» abgestimmt wurde. Dieser ging weitgehend unbestritten von der FDP auf die BGB mit Rudolf Minger über. Bei der folgenden Ausmarchung über den «Zürcher» Sitz kam es zum Dreikampf zwischen dem von der FDP portierten demokratischen Regierungsrat und Ständerat Oskar Wettstein, dem sozialdemokratischen Zürcher Stadtpräsidenten und Nationalrat Emil Klöti sowie dem nicht nominierten Nationalrat, FDP-Präsidenten und NZZ-Chefredaktor Albert Meyer. Wettstein lag im ersten Wahlgang in Führung, wurde dann aber von Meyer überholt, der schliesslich im vierten Wahlgang das absolute Mehr erreichte. Anstatt einer Integration der Sozialdemokratie in die Regierungsverantwortung bedeutete diese Wahl also eine Erweiterung und Verfestigung des Bürgerblocks sowie Rechtsverschiebung des Bundesrats. Die Zusammensetzung des Bundesrats für die nächsten anderthalb Jahrzehnte lautete damit vier Freisinnige, zwei Katholisch-Konservative und ein Bauernparteiler.

Wenige Jahre darauf kam es angesichts der internationalen wirtschaftlichen und politischen Krisenakkumulation zu grundlegenderen Umgestaltungsüberlegungen zur schweizerischen Verfassung, die auch den Bundesrat bzw. eine neu zu gestaltende Exekutive miteinbezogen. Mit dem Aufkommen der Fronten, die sich teils am italienischen Faschismus, teils am deutschen Nationalsozialismus, teils an eigenständigen helvetischen Faschismusmodellen orientierten, und der Bewunderung vieler Katholisch-Konservativer für die in den frühen 30er Jahren errichteten korporatistischen Diktaturen in Portugal und Österreich erhielten rechte Fantasien über eine Liberalismus, Parlamentarismus und Parteienpluralismus überwindende autoritäre Neuordnung der Schweiz Auftrieb. Verhandelt wurden solche Ideen unter Schlagworten wie «autoritäre Demokratie» oder «berufsständische Ordnung». Da die Parteien in einem solchen System ohnehin stark an Bedeutung verlieren oder ganz beseitigt und durch berufliche Körperschaften ersetzt werden sollten, spielten Überlegungen zur parteimässigen Zusammensetzung der Regierung darin keine Rolle.

Die Exekutive in einem solchen System sollte von einer starken Führerfigur («Landammann») geleitet werden, der dem Bundesrat (sofern ein solcher überhaupt noch vorgesehen war) vorstehen und direkt vom Volk oder durch die Kantone für längere Zeit gewählt werden sollte. Demgegenüber sollte das Bundesparlament durch berufsständische Strukturen angereichert oder ersetzt oder aber gänzlich abgeschafft werden. Bei rechtskatholischen Planüberlegungen kamen noch theokratische Elemente dazu. So forderte Philipp Etter kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat 1934 den Einbau von «Autoritätskörpern» in die Staatsordnung: «Wenn wir eine ‹autoritäre Demokratie› an die Stelle der liberalen Demokratie setzen […] wollen, dann müssen wir den ersten und letzten, stärksten und mächtigsten Träger der Autorität, den Herrgott, wieder einbauen in den Staat!»

1934 lancierte die Nationale Front eine Volksinitiative für die Totalrevision der Bundesverfassung. Sie verlangte eine Neuwahl des Parlaments sowie die Erarbeitung einer neuen Bundesverfassung. Die Initianten erhofften sich dabei einen Rechtsrutsch bei den Wahlen und eine neue Verfassung im Sinne eines autoritären «Ständestaates». Bei der Abstimmung im folgenden Jahr empfahlen nebst den Initianten, zu denen ausser frontistischen Gruppierungen die rechtskatholisch-korporatistische Aufgebotsbewegung und die Jungkonservativen gehörten, auch die Katholisch-Konservativen und kleinere rechte Gruppierungen Zustimmung. Die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei des Kantons Bern gab Stimmfreigabe. Bundesrat und Parlament sowie FDP und SP gaben die Nein-Parole heraus. Im September 1935 wurde die Revisionsvorlage mit 72,3% Nein deutlich verworfen (s. SozialarchivInfo 5/2020).

Keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundesrates zeitigte andererseits auch die bis 1940 aktive «Richtlinienbewegung». Angesichts der antidemokratischen Umtriebe von Frontist:innen, autoritär gesinnten Rechtsbürgerlichen und Kommunist:innen initiierten Gewerkschaften und Angestelltenverbände 1936 ein Programm zur Verteidigung der Demokratie, Überwindung der Wirtschaftskrise und Schaffung einer neuen Mitte-Links-Mehrheit mit dem Titel «Richtlinien für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Sicherung der Demokratie». Von den Parteien schlossen sich der Richtlinienbewegung die SP, die Demokratischen Parteien verschiedener Kantone, die Jungbauernbewegung, der Freiwirtschaftsbund und die Schaffhauser Bauernpartei an, während die angefragte FDP eine Mitwirkung ablehnte und die Kommunistische Partei abgewiesen wurde. So blieb es während der 30er und frühen 40er Jahre bei weiteren Versuchen der SP, ohne ein lagerübergreifendes Bündnis in den Bundesrat einzuziehen.

Zangengeburt und Gehversuche der Allparteienregierung

Nach dem Scheitern von 1929 trat Emil Klöti noch zwei weitere Male erfolglos als Kampfkandidat für den Bundesrat an, bei einer Ergänzungswahl 1938 und bei der Gesamterneuerungswahl 1939. Weitere SP-Kampfkandidaten dieser Phase waren Henri Perret (Gesamterneuerungswahlen 1931, 1935 und 1943, Ergänzungswahlen 1935 und 1944), Johannes Huber (Ergänzungswahlen 1934 und 1940, Gesamterneuerungswahlen 1935 und 1939), Guglielmo Canevascini (Ergänzungswahl 1940), Gustav Wenk (Ergänzungswahl 1940) und Robert Bratschi (Ergänzungswahl 1940). Bei den Gesamterneuerungswahlen 1935 traten SP-Kampfkandidaten gegen alle sieben bisherigen Bundesräte an, vier Jahre darauf in gedanklicher Vorwegnahme der Zauberformel nur gegen zwei der vier bisherigen Freisinnigen. Als im Verlauf des Jahres 1940 vier Bundesräte zurücktraten, kam es jedes Mal zu einer Kampfwahl, bei der ein SP-Kandidat unterlag.

Bereits nachdem 1938 bei einer Ergänzungswahl das Parlament mit 117 gegen 98 Stimmen relativ knapp dem Freisinnigen Ernst Wetter gegenüber Klöti den Vorzug gegeben hatte, lancierte die SP eine zweite Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates und für die Erhöhung von dessen Mitgliederzahl auf neun. Bei der parlamentarischen Beratung sprach sich der Nationalrat mehrheitlich dafür aus, die Zahl der Bundesräte auf neun zu erhöhen, um ohne Sitzverlust für die anderen Parteien zwei Sozialdemokraten wählen zu können, der Ständerat lehnte dieses Ansinnen aber ab, so dass die Vorlage ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung gelangte. Ausser der SP sprachen sich sämtliche Parteien gegen die Initiative aus. Während Rechtsfreisinnige und Katholisch-Konservative darüber hinaus eine Einbindung der SP in den Bundesrat auch grundsätzlich ablehnten, sprachen sich Jungliberale und viele Freisinnige sowie die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei und der Landesring für eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung aus. Die Initiative, über die mitten im Krieg im Januar 1942 abgestimmt wurde, scheiterte mit 67,5% Nein und Ablehnung in sämtlichen Kantonen deutlich. Sie ebnete aber letztlich doch den Weg für die Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundesrats im folgenden Jahr.

Bei den Parlamentswahlen 1943 war die SP mit 28,6% klar wählerstärkste Partei und gewann elf Mandate im Nationalrat und zwei im Ständerat dazu. Die FDP verlor mit einem Wähleranteil von 22,5% in beiden Kammern je zwei Sitze und stellte in der Bundesversammlung hinter den Katholisch-Konservativen und der SP erstmals nur noch die drittstärkste Fraktion. Dieses Resultat sowie die Kriegssituation ermöglichten nun eine Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates.

Für die Nachfolge des zurücktretenden FDP-Bundesrates Wetter meldeten die Freisinnigen keine Kandidatur an und machten damit den Weg für den ersten sozialdemokratischen Bundesrat frei. Die SP, in deren Führungsgremien der Eintritt in den Bundesrat mit nur einem einzigen Vertreter durchaus kontrovers diskutiert wurde, nominierte für den «Zürcher» Sitz Ernst Nobs, der nach dem Landesstreik noch zu einer vierwöchigen Haftstrafe verurteilt worden war, dann aber als Regierungsrat des Kantons Zürich und Zürcher Stadtpräsident Exekutiverfahrung gesammelt hatte. Zudem trat mit Henri Perret ein weiterer Sozialdemokrat gegen den wegen seiner von vielen als anpasserisch empfundenen Rede nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich vom Sommer 1940 immer noch umstrittenen FDP-Magistraten Marcel Pilet-Golaz an, machte über seine Partei hinaus aber kaum Stimmen. Hingegen schaffte der ehemalige Bürgerschreck Nobs die Wahl gleich im ersten Wahlgang, obwohl zahlreiche Deutschschweizer Freisinnige die Stimme für ihren Parteikollegen Theodor Gut (senior) einlegten. Der Bundesrat setzte sich damit neu aus drei Freisinnigen, zwei Katholisch-Konservativen und je einem Vertreter von BGB und SP zusammen, womit die FDP im Gremium erstmals die absolute Mehrheit verlor.

Das «Volksrecht» bezeichnete anderntags den 15. Dezember 1943 als Tag, «der einen neuen Abschnitt unserer politischen Geschichte einleitet»: «Heute zieht nun ein Sozialist in den Bundesrat ein mit grundsätzlich andern Konzeptionen von Staat und Wirtschaft und ihrer gegenseitigen Abgrenzung. Bisher waren ausschliesslich Anhänger der bürgerlichen Ordnung im Bundesrat, jetzt sitzt in seiner Mitte ein grundsätzlicher Gegner» (Volksrecht, 16.12.1943). Zugleich betonte das Parteiblatt aber, dass der Anspruch der SP auf zwei Bundesratssitze nach wie vor nicht erfüllt sei.

Als ein Jahr später Pilet-Golaz seinen Rücktritt einreichte, nachdem er als Aussenminister mit dem Versuch der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion kläglich gescheitert war, trat die SP erneut mit Perret an. Weitere Kampfkandidaturen kamen von den Liberalen sowie vom Landesring, für den William Rappard nach einem Vierteljahrhundert zum zweiten Mal als Bundesratskandidat ins Rennen ging. Gewählt wurde aber mit den meisten Stimmen der bürgerlichen Regierungsparteien bereits im ersten Wahlgang der FDP-Kandidat Max Petitpierre. Im selben Jahr reichte der demokratische Nationalrat Albert Maag eine Motion für die Erhöhung der Mitgliederzahl des Bundesrats auf neun ein. Bei den Gesamterneuerungswahlen 1947 erhob die SP bei der Ersatzwahl für den zurückgetretenen Bundesrat Walther Stampfli erneut mit einer Kampfkandidatur Anspruch auf den dritten FDP-Sitz, scheiterte jedoch abermals.

Als am Ende der folgenden Legislaturperiode Ernst Nobs seinen Rücktritt erklärte, war der einzige SP-Sitz unbestritten. Bereits im ersten Wahlgang wurde der offizielle Kandidat, der Wirtschaftsprofessor und ehemalige Gewerkschaftsfunktionär Max Weber, dessen Nachlass sich heute im Sozialarchiv befindet, zum Bundesrat gewählt. Relativ viele Stimmen gingen indessen an den späteren SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi. Webers Stigma war seine Dienstverweigerung, zu der sich der Aktivdienstler des Ersten Weltkriegs 1930 unter dem Eindruck einer Besichtigung immer noch völlig verwüsteter ehemaliger Schlachtfelder in Frankreich entschlossen hatte. Sein Gesuch um Wiedereingliederung in die Armee wurde 1940 von General Guisan abgewiesen und in der Folge tat er mit einem selbstgekauften Karabiner in der Ortswehr Aktivdienst. Im Vorfeld der Bundesratswahl wurde Webers alte Dienstverweigerung von bürgerlichen Gegnern als Argument gegen ihn ins Feld geführt.

Nachdem Weber am Morgen des 13. Dezember 1951 in den Bundesrat gewählt worden war, hielt er am Nachmittag regulär seine Vorlesung an der Uni Bern. Mit dem Finanzdepartement übernahm er ein Schlüsselressort. 1953 legte er den Entwurf für eine kompliziert austarierte und von Kompromisslösungen geprägte Bundesfinanzreform vor, die trotz bürgerlicher Vorbehalte gegen die Verstetigung der direkten Bundessteuer das Parlament passierte. In der von Vorort und Gewerbeverband herbeigeführten Referendumsabstimmung kam das Reformwerk aber zu Fall. Daraufhin reichte Weber den Rücktritt ein.

Nach der überraschenden Demission des Finanzministers ging die SP freiwillig in die als «Jungbrunnen» bezeichnete Opposition und gab dann die Devise «zwei Sitze oder keinen» aus. Bei der Wahl von Webers Nachfolge besiegte der Freisinnige Hans Streuli im zweiten Wahlgang den Christlichsozialen Emil Duft, womit die Freisinnigen wieder die absolute Mehrheit im Bundesrat und doppelt so viele Bundesräte wie die Katholisch-Konservativen hatten – dies, obwohl die Sozialdemokraten wählerstärkste Partei waren und die Katholisch-Konservativen dank ihrer starken Vertretung im Ständerat die grösste Fraktion in der Vereinigten Bundesversammlung stellten. Die Kluft zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen, die sich bereits bei der Wahl eines freisinnigen Bundeskanzlers 1951 aufgetan hatte, vergrösserte sich dadurch noch mehr.

Es war nun vor allem Martin Rosenberg, der Generalsekretär der Katholisch-Konservativen und langjährige Bundeshausredaktor des Parteiblatts «Vaterland», der eine wahltaktische Annäherung seiner Partei an die SP zwecks Beendigung der freisinnigen Übermacht herbeiführte. In einem ersten Schritt und gemäss einer Absprache zwischen Katholisch-Konservativen und Sozialdemokraten ausdrücklich nur als Übergangsphase sollte im Bundesrat die Parität zwischen den beiden grossen bürgerlichen Parteien herbeigeführt werden. Dies gelang 1954, als zwei freisinnige und ein katholisch-konservativer Bundesrat vorzeitig zurücktraten. In der Ersatzwahl für den einen vakanten Sitz der Freisinnigen setzte sich der Katholisch-Konservative Giuseppe Lepori im zweiten Wahlgang mit SP-Unterstützung gegen den Freisinnigen Alfred Schaller durch. Damit setzte sich der Bundesrat neu aus je drei Freisinnigen und Katholisch-Konservativen und einem Vertreter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei zusammen.

Der magische Moment

Die Gelegenheit für eine Neuordnung der parteimässigen Zusammensetzung des Bundesrates ergab sich bei den Gesamterneuerungswahlen 1959, als sich alle drei katholisch-konservativen Bundesräte sowie der Freisinnige Streuli nicht zur Wiederwahl stellten. Aus den vorangegangenen Parlamentswahlen waren erneut die Sozialdemokraten als wählerstärkste Partei hervorgegangen, während in der Bundesversammlung die Fraktionen der Freisinnigen und der Katholisch-Konservativen, die sich im Zeichen einer gewissen Öffnung zur Mitte hin nun Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei nannten, mit je 64 Vertretern am stärksten waren. Nach den Diskussionen der vorangegangenen Jahre war in der Presse zum Teil bereits von der «bekannten Formel 2 : 2 : 2 : 1» die Rede. Die NZZ erwähnte drei Wochen vor der Wahl sogar eher spöttisch «die seit Jahren herumgebotene magische Formel 2 : 2 : 2 : 1» (NZZ, 26.11.1959). Gegner dieser Zusammensetzung des Bundesrates schrieben über eine Woche vor den Wahlen noch in Anführungszeichen von der «Zauberformel» (NZZ, 7.12.1959), wobei die Anführungszeichen kurz vor dem Wahltag teilweise bereits verschwanden (Die Tat, 15.12.1959).

Die SP nominierte den Zürcher Stadtrat und Ständerat Willy Spühler sowie den Schaffhauser Stadtpräsidenten und Nationalrat Walther Bringolf. Aus Kreisen des Rechtsfreisinns und des Vororts wurde der freisinnige Chefbeamte Hans Schaffner, der in den Vormonaten eine wesentliche Rolle in den Vorverhandlungen zur Errichtung der Europäischen Freihandelszone EFTA gespielt hatte, als «überparteiliche» Kandidatur lanciert, wobei das geplante Überraschungsmanöver bereits geraume Zeit vor dem Wahltag publik wurde. Während Spühler in bürgerlichen Kreisen guten Rückhalt besass, war Bringolf als ehemaliger Kommunist auch für viele Bürgerliche, die den Zweieranspruch der SP grundsätzlich anerkannten, unwählbar.

Bringolf war kurz nach dem Landesstreik der SP beigetreten und in Schaffhausen rasch zu deren Wortführer aufgestiegen. Bei der Parteispaltung 1921 trat unter seinem Einfluss als schweizerisches Unikum der grösste Teil der Schaffhauser SP in die Kommunistische Partei über. 1925 wurde Bringolf erstmals in den Nationalrat gewählt. Hier erregte er 1930 Aufsehen, als er den katholisch-konservativen Ratskollegen Ruggero Dollfus während einer Debatte zum Drogenhandel als Lügner titulierte und daraufhin von diesem eine Ohrfeige empfing. Ruggero beschimpfte Bringolf dann auch noch als «Tier», dieser seinen Kontrahenten als «Feigling» und revanchierte sich in der folgenden Sitzungspause ebenfalls mit einer Ohrfeige. Es war dies der wohl grösste Zusammenstoss zwischen zwei Parlamentariern, seit sich Ende 1848 der liberale Zürcher Nationalrat Rudolf Benz und sein radikaler Tessiner Ratskollege Giacomo Luvini im Anschluss an eine asylpolitische Debatte mit Säbeln duelliert hatten.

Ebenfalls 1930 entfremdete sich Bringolf zunehmend vom parteioffiziellen Kommunismus sowjetischer Prägung. Die von der Kommunistischen Internationale proklamierte «Sozialfaschismus»-These, gemäss der die Sozialdemokratie als angebliche «Hauptstütze» der Bourgeoisie von den Kommunisten trotz der faschistischen Gefahr vordringlich zu bekämpfen sei, lehnte er ab und wurde deswegen von Stalin nach Moskau zitiert und gerüffelt (s. SozialarchivInfo 2/2024). Nach seiner Rückkehr schloss er sich der antistalinistischen «Kommunistischen Partei-Opposition» an, die nun die stärkste linke Kraft in Schaffhausen wurde und 1935 in die SP zurückkehrte. Bringolf wurde 1932 Schaffhauser Stadtpräsident (bis 1968!), 1952 Präsident der SP Schweiz und entschiedener Gegner jeglicher totalitären Einflüsse von aussen. Im Zweiten Weltkrieg gehörte er der antidefätistischen Geheimorganisation «Aktion nationaler Widerstand» an, im frühen Kalten Krieg befürwortete er eine atomare Bewaffnung der Schweizer Armee (s. SozialarchivInfo 3/2022).

Die Bundesratswahl vom 17. Dezember 1959 vollzog sich unter Hochspannung. Diese widerspiegelt sich auch in der Zeitungsausschnittsammlung des Sozialarchivs. An den Vortagen hatte die Presse immer wieder über Strategiediskussionen in den Fraktionen, historische Präzedenzen und Winkelzüge hinter den Kulissen berichtet und ihre Artikel mit süffigen Schlagzeilen versehen: «Kritische Verwirrung um die Bundesratswahlen» (Neue Zürcher Nachrichten, 8.12.1959), «Schwierigkeiten» (National-Zeitung, 9.12.1959), «Wahlen mit Qualen…» (Berner Tagwacht, 11.12.1959), «Lage weiterhin ungeklärt – Die grosse Konfusion im Vorbereitungsstadium der Bundesratswahlen» (Tages-Anzeiger, 12.12.1959), «Bundesratswahl im Zwielicht» (National-Zeitung, 12./13.12.1959), «Zum Nervenkrieg rund um die Bundesratswahlen» (Volksrecht, 15.12.1959). Einen gewissen Kontrapunkt setzte die «Weltwoche», die unter dem Titel «Möchtest Du Bundesrat sein?…» die massive Arbeitsüberlastung der Bundesräte thematisierte (Weltwoche, 11.12.1959).

Vom Beginn des Wahltages berichtete die NZZ: «In herrlicher Klarheit hebt sich die silbergraue Silhouette der Berner Alpen vom blauen Morgenhimmel ab und präsentiert sich den Parlamentariern, die frühzeitig zum Bundeshaus streben, in strahlender Schönheit. Vor den Eingängen zur Publikumstribüne drängt sich eine Menschenmasse, die nur durch ein grosses Polizeiaufgebot davon überzeugt werden kann, dass die Tribünen für einen solchen Tag viel zu klein sind und dass sich die Besucher mit Vorteil in eines der öffentlichen Lokale der Stadt begeben, wo Fernsehübertragungen auch den Abwesenden Gelegenheit zum Miterleben dieses politischen Staatsaktes bieten» (NZZ, 17.12.1959). Tatsächlich wurde die Bundesratswahl 1959 erstmals live in Radio und Fernsehen übertragen. In Zürich gab es sogar ein «Public Viewing», das vom Publikum regelrecht überrannt wurde. Die Fernsehübertragung konnte im Kongresshaus mittels Grossbildprojektion des Schweizer «Eidophor»-Systems verfolgt werden. Rund 2’000 Personen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, wobei dem «Volksrecht»-Reporter die «Anwesenheit vieler fraulicher Elemente» auffiel, «die sich ebenfalls für die Vorgänge interessierten» (Volksrecht, 18.12.1959). Zahlreiche weitere Interessierte, darunter ganze Schulklassen, mussten wegen Überfüllung an den Pforten abgewiesen werden.

Nach Eröffnung des Wahlprozederes wurden zunächst die drei Bisherigen Max Petitpierre (FDP), Paul Chaudet (FDP) und Friedrich Traugott Wahlen (BGB) mit Glanzresultaten bestätigt. Bei der Ersatzwahl für den Katholisch-Konservativen Philipp Etter setzte sich dessen Parteikollege Jean Bourgknecht bereits im ersten Wahlgang gegen zwei starke Parteirivalen durch. Der fünfte, bisher vom Freisinnigen Streuli gehaltene Sitz ging ebenfalls bereits im ersten Wahlgang an Willy Spühler, der sich mit 149 von 226 gültigen Stimmen deutlich gegen verschiedene Sprengkandidaturen durchsetzte. Bei der Ersatzwahl für den sechsten, bisher vom Katholisch-Konservativen Thomas Holenstein gehaltenen Sitz reüssierte dessen Parteikollege Ludwig von Moos im ersten Wahlgang gegen dieselben Parteirivalen, die bereits bei der Wahl Bourgknechts viele Stimmen erhalten hatten.

Damit kam es bei der Ersatzwahl für den siebten, bisher vom Katholisch-Konservativen Giuseppe Lepori gehaltenen Sitz zum Showdown. Entsprechend den Absprachen von 1954 gaben die Katholisch-Konservativen diesen Sitz kampflos ab und unterstützten den Anspruch der SP, hatten aber zugleich grosse Mühe mit der Kandidatur Bringolf. Die Freisinnigen hatten sich zum Zweieranspruch der SP nicht eindeutig geäussert. Die BGB-Fraktion beschloss vorgängig Unterstützung von Spühler und Stimmfreigabe in Bezug auf die Kandidatur Bringolf.

Im ersten Wahlgang lag der freisinnige Sprengkandidat Hans Schaffner mit 84 Stimmen an der Spitze, hinter ihm folgte der sozialdemokratische Basler Regierungsrat und Ständerat Hans-Peter Tschudi mit 73 Stimmen und erst an dritter Stelle der offizielle SP-Kandidat Bringolf mit 66 Stimmen. Auch der zweite Wahlgang brachte noch keine Entscheidung, es schwenkte nun aber ein beträchtlicher Teil der SP-Fraktion von Bringolf auf Tschudi um. Nun stand Tschudi mit 107 Stimmen an der Spitze. Schaffner erhielt 91 und Bringolf nur noch 34 Stimmen. Bringolf gab daraufhin eine Verzichtserklärung ab. Im dritten Wahlgang setzte sich Tschudi mit 129 Stimmen gegen Schaffner mit 97 Stimmen durch, womit die von Rosenberg angestrebte Parität der drei grossen Parteien und die von der SP geforderte Zweiervertretung Realität wurden. Schaffner sollte dann bereits im Juni 1961 als offizieller FDP-Kandidat bei einer Ersatzwahl in den Bundesrat gewählt werden.

Die NZZ bedauerte Schaffners Nichtwahl und lamentierte, die «Zauberformel» sei «von der konservativen und der sozialdemokratischen Gruppe dekretiert und diktiert» worden, «und die übrigen Fraktionen konnten sich lediglich darüber schlüssig werden, ob sie Dekret und Diktat annehmen oder verwerfen wollten» (NZZ, 19.12.1959). Das «Volksrecht» begrüsste dagegen, dass «das freisinnig-liberalkonservativ-landesringliche Sprengmanöver mit der Kandidatur Schaffner» gescheitert war und jubelte: «Wieder einmal mehr hat sich der Freisinn durch seinen Sesselhunger zu einem Manöver verleiten lassen, das ihn in die politische Niederlage führen musste» (Volksrecht, 18.12.1959). Bringolfs Nichtwahl und das Wahlverhalten der SP-Fraktion gaben parteiintern allerdings unmittelbar nach dem Wahltag einiges zu reden und Bringolf kündigte zunächst sogar seinen unverzüglichen Rücktritt als Parteipräsident an, machte dann aber bis 1962 weiter. Der Begriff «Zauberformel» bzw. «formule magique» wurde nun rasch zu einem Schlüsselwort im helvetischen Politvokabular.

Entwicklung, Erschütterungen und Neujustierung der Zauberformel

Bis in die 90er Jahre blieb die Zauberformel von 1959 weitgehend unbestritten und entsprach den Stimmenanteilen der Parteien bei den Nationalratswahlen, wo jeweils SP, FDP und KCVPS (ab 1970: CVP) auf je rund 20% und die BGB (ab 1971: SVP) auf rund 10% kamen. Kritik am «Machtkartell» der vier Grossen gab es indessen immer wieder. So nahm der parteilose Nationalrat und streitbare Geschichtsprofessor Marcel Beck 1965 eine Ersatzwahl zum Anlass einer Fundamentalkritik am Wahlsystem. Zwei Kampfkandidaturen der Liberalen Partei bei Ersatzwahlen 1962 und 1965 blieben chancenlos. Beim Landesring, der bei den Wahlen 1967 mit einem Stimmenanteil von 9,1% in Greifnähe zur BGB (11%) aufrückte, war eine Regierungsbeteiligung sporadisch ein Thema. So warb Nationalrat Franz Jaeger in den 70er Jahren zuweilen für eine Mitte-Links-Koalition aus SP, CVP und Landesring, die zu jener Zeit eine knappe Parlamentsmehrheit gehabt hätte, und die Verbannung von FDP und SVP in die Opposition. Nach 1944 lancierte der Landesring aber erst 1989, als die Partei stimmenmässig schon seit geraumer Zeit auf dem absteigenden Ast war und aufgrund ihres ökoliberalen Kurses von der sie finanzierenden Migros zunehmend weniger Geld erhielt, wieder eine erfolglose Kampfkandidatur.

Zwar scheiterten mehrfach offizielle Kandidaturen der Bundesratsparteien. Das Parlament wählte in solchen Fällen aber andere Personen aus der innerhalb der Logik der Zauberformel anspruchsberechtigten Partei. Dies war etwa 1973 bei den Ergänzungswahlen für gleich drei Sitze der Fall, als je ein offizieller Kandidat der SP, FDP und CVP gegenüber nicht nominierten Parteikollegen das Nachsehen hatten. In den meisten Fällen führte dies zu keinen Erschütterungen der Zauberformel, wohl aber zum allmählichen Übergang von den bis in die 80er Jahre üblichen Einer- zu Zweier- oder Dreiertickets.

Dynamik in die Nichtwahl offizieller Kandidaturen und Erschütterungen der Zauberformel brachte dann ab den 80er Jahren zunächst deren Verknüpfung mit der Geschlechterfrage. Im Jahr 1983 wählte die Vereinigte Bundesversammlung nach einer konspirativen «Nacht der langen Messer» statt der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen, die die erste Frau im Bundesrat gewesen wäre, Otto Stich. Dies führte bei der SP zu einer heftigen Debatte über die eigene Bundesratsbeteiligung. Ein ausserordentlicher Parteitag beschloss im Februar 1984 schliesslich mit 773 gegen 511 Stimmen den Verbleib im Bundesrat, verbunden allerdings mit der Ankündigung von Parteipräsident Helmut Hubacher, die SP werde in Zukunft «schampar unbequem» sein.

1984 wurde dann mit der Freisinnigen Elisabeth Kopp die erste Frau in den Bundesrat gewählt. Nach deren skandalbehaftetem Rücktritt 1989 standen für die Nachfolge bei den Freisinnigen ausschliesslich Männer zur Debatte. Dies führte ausserhalb der Logik der Zauberformel zur Kandidatur der Landesring-Ständerätin Monika Weber, die aber keine Chance hatte.

1993 wählte die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat, der seit 1989 wieder ein reines Männergremium war, anstelle der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner Francis Matthey, der aber auf Druck seiner Partei und einer grossen ausserparlamentarischen Mobilisierung verzichtete. Die Wahlwiederholung mit dem SP-Zweierticket Christiane Brunner und Ruth Dreifuss nahm eine starke Minderheit bürgerlicher Parlamentarier:innen zum Anlass der Lancierung einer Sprengkandidatur der freisinnigen Nationalrätin Vreni Spoerry, die im ersten Wahlgang 54 Stimmen erhielt, dann aber erklärte, nicht zur Verfügung zu stehen. Unmittelbar danach reichte SP-Nationalrat Andrea Hämmerle einen Vorstoss für die Volkswahl des Bundesrates nach dem Proporzsystem mit Frauenquote und Minderheitenschutz ein. Die Nichtwahl von Christiane Brunner zog auch eine Volksinitiative nach sich, die unter anderem auf die Zusammensetzung des Bundesrats abzielte. Die von einem überparteilichen Komitee lancierte Initiative «für eine gerechte Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden (Initiative 3. März)», die dann als «Quoteninitiative» diskutiert wurde, forderte Frauenquoten für Regierung, Parlament und Bundesgericht. Für den Bundesrat wollte sie ein Minimum von drei Frauen vorschreiben. Bei der Abstimmung im Jahr 2000 erlebte diese Vorlage mit 82% Nein-Stimmen ein Fiasko.

Ab den 90er Jahren wurde das Phänomen koordinierter Proteststimmen für Personen in- oder ausserhalb der in der Logik der Zauberformel anspruchsberechtigten Partei häufiger. Diese in der Regel 10 bis 20 Stimmen gingen oft an Personen, die es entweder nicht aufs Ticket ihrer Partei geschafft hatten oder bereits bei früheren Bundesratswahlen einmal im Gespräch gewesen waren. Parallel zu Attacken gegen die Sozialpartnerschaft im Bereich der Arbeitsbeziehungen gab es seitens rechtsbürgerlicher Kreise nun aber auch Versuche, die Zauberformel zu Lasten der SP zu knacken. 1995 lancierte der Zürcher Freisinn für die Nachfolge von Otto Stich die Kandidatur von Vreni Spoerry, unterlag damit in der eigenen Fraktion aber knapp und erhielt von den anderen bürgerlichen Bundesratsparteien offiziell keine Unterstützung. Dennoch machte Spoerry im ersten Wahlgang 65 Stimmen und landete auf dem zweiten Platz, noch vor einem der zwei offiziellen SP-Kandidaten. Erst nach dem dritten Wahlgang schied sie aus dem Rennen aus.

Nachhaltig erschüttert wurde die 1959er Zauberformel durch Veränderungen der Stimmenstärken während der 90er Jahre, die sich erst nach der Jahrtausendwende in einer neuen Proportion wieder etwas stabilisierten. Bis 1999 stieg die SVP von 10% auf über 20% an, während die CVP auf unter 15% abstürzte. Als die SVP 1999 erstmals knapp vor der SP wählerstärkste Partei wurde, erhob sie mit Berufung auf die Zauberformel Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz, attackierte dann aber bei den Gesamterneuerungswahlen entgegen der Logik der Zauberformel mit ihrem Kampfkandidaten Christoph Blocher nicht einen der beiden CVP-Sitze, sondern erfolglos die beiden bisherigen SP-Bundesrät:innen. Ein weiterer SVP-Versuch, die Zauberformel zu knacken, erfolgte 2002 bei der Ersatzwahl für Ruth Dreifuss, als SVP-Kampfkandidat Toni Bortoluzzi gegen die beiden SP-Kandidatinnen über vier Wahlgänge im Rennen blieb.

Eine Neukalibrierung der Zauberformel erfolgte nach den eidgenössischen Wahlen 2003, die die Tendenz der vorangegangenen zwei Wahlen bestätigten. Entsprechend der Zauberformel-Logik, dass den drei wählerstärksten Parteien zwei und der viertstärksten Partei ein Bundesratssitz zustehe, wählte das Parlament die bisherige CVP-Bundesrätin Ruth Metzler ab und ersetzte sie durch den SVP-Vertreter Christoph Blocher. Diese neue Zauberformel hielt aber zunächst nur für vier Jahre und vermochte fortgesetzte Turbulenzen um die Verteilung der Bundesratssitze nicht nachhaltig zu beruhigen.

Nach den eidgenössischen Wahlen 2007, bei der die SVP einen stark auf Bundesrat Blocher personalisierten Wahlkampf geführt hatte, landete bei der Gesamterneuerungswahl des Bundesrates eine konspirative Mitte-Links-Allianz einen Überraschungscoup und wählte für den zweiten SVP-Sitz statt Blocher die Bündner SVP-Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf, die nach einem Tag Bedenkzeit die Wahl annahm. Dieser formal in der Logik der Zauberformel-Arithmetik verlaufende, aber dennoch einmalige Vorgang führte zum vorläufigen Ende der neuen Zauberformel. Die SVP hatte zuvor Mitgliedern, die eine Wahl ohne Nomination durch die Partei annähmen, den «Ausschluss» aus der Fraktion angedroht. Dieses Verdikt traf nun nicht nur Widmer-Schlumpf, sondern auch den vor ihr gewählten Samuel Schmid, der gegen den Willen der Partei die Wiederwahl annahm. Schmid war im Jahr 2000 ohne Nomination durch seine Partei gegen das offizielle SVP-Zweierticket gewählt und dann zunächst aus Kreisen seiner Partei als «halber» SVP-Bundesrat geschmäht worden. Nach der Wahl Blochers 2003 erfolgte seine semantische Aufwertung zum «ganzen» Bundesrat, unmittelbar nach der Bundesratswahl 2007 bezeichnete ihn die Parteileitung dann als «fraktionslosen» Bundesrat und einige Wochen darauf als «so gut wie klinisch tot».

Die Turbulenzen um die Blocher-Abwahl hatten Weiterungen. So wurde unter anderem die SVP Graubünden wegen ihrer Weigerung, Widmer-Schlumpf auszuschliessen, ihrerseits aus der SVP Schweiz ausgeschlossen. 2008 nahm die SVP Schweiz eine umstrittene Klausel in ihre Statuten auf, wonach nicht von der Fraktion nominierte Kandidat:innen bei einer Wahlannahme automatisch aus der Partei ausgeschlossen werden. Auch entstand mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei eine neue politische Kraft, der sich Widmer-Schlumpf und Schmid anschlossen. Zum ersten Mal seit 1959 war damit die wählerstärkste Partei nicht mehr im Bundesrat vertreten, dafür eine Kleinpartei gleich mit zwei Personen und die Zauberformel ausser Kraft gesetzt.

Bei der folgenden Serie von Bundesratswahlen versuchte die SVP den Wiedereinzug in die Regierung. Bereits 2008 trat Samuel Schmid zurück. In der Ersatzwahl war der Anspruch der SVP ausser seitens der mit einem eigenen Kandidaten antretenden Grünen unbestritten, das aus Christoph Blocher und Ueli Maurer bestehende Zweierticket stiess bei vielen Parlamentsmitgliedern aber auf wenig Begeisterung und Maurer setzte sich im dritten Wahlgang nur mit einer Stimme Vorsprung gegen den nicht nominierten Bauernverbandspräsidenten Hansjörg Walter durch, der in den ersten beiden Wahlgängen in Führung lag, aber auf Druck seiner Partei vorgängig erklärt hatte, eine eventuelle Wahl abzulehnen.

Bei der nächsten Ergänzungswahl 2009 für die Nachfolge des freisinnigen Pascal Couchepin entbrannte die Interpretationsfrage, ob bei der für die Zauberformel massgeblichen Parteistärke der Stimmenanteil oder die Fraktionsgrösse entscheidend seien. Die FDP hatte bei der vorangegangenen Wahl 2007 mit 15,8% gegen 14,5% zwar leicht vor der CVP gelegen, beide hatten aber 31 Nationalratssitze erhalten und im Ständerat war die CVP um einen Sitz stärker. Ebenso war die Fraktion von CVP-EVP-GLP grösser als diejenige von FDP-LPS, und die Rückeroberung des 2003 verlorenen zweiten Bundesratssitzes war 2007 erklärtes CVP-Wahlziel gewesen. Beide Fraktionen nominierten offizielle Kandidaturen. Bei der Wahl setzte sich der freisinnige Didier Burkhalter durch, der vom dritten Platz im ersten Wahlgang zur absoluten Mehrheit im vierten Wahlgang aufstieg und den CVP-Kandidaten Urs Schwaller, der in den ersten drei Wahlgängen an der Spitze lag, auf der Zielgerade überholte.

In den folgenden Jahren versuchte die SVP den zweiten Bundesratssitz mit Kampfkandidaturen zurückzuholen. Bei der Ersatzwahl für den Sozialdemokraten Moritz Leuenberger und den Freisinnigen Hans-Rudolf Merz griff sie 2010 beide Sitze erfolglos mit Jean-François Rime an. Aus dieser Wahl ging erstmals eine Frauenmehrheit im Bundesrat hervor. Rime war im folgenden Jahr auch SVP-Kampfkandidat bei den Gesamterneuerungswahlen und griff sämtliche Sitze von SP, FDP und BDP an. Gegen BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf trat zudem mit Hansjörg Walter noch ein zweiter SVP-Kampfkandidat an. Als 2015 Eveline Widmer-Schlumpf zurücktrat, war der SVP-Anspruch auf diesen Sitz unbestritten. Mit der Wahl von Guy Parmelin wurde die modifizierte Zauberformel von 2003 mit je zwei Sitzen für SVP, SP und FDP und einem für die CVP wiederhergestellt.

Als Reaktion auf die Abwahl Blochers lancierte die SVP 2009 auch die Initiative «Volkswahl des Bundesrates», die 2011 eingereicht wurde und 2013 zur Abstimmung gelangte. Mit 76,3% Nein-Stimmen und Ablehnung in sämtlichen Kantonen scheiterte die Initiative deutlicher als ihre Vorgängerinnen von 1900 und 1942. Als weitere Reformideen tauchten in jenen Jahren die Listenwahl des Bundesrats, eine offene Bundesratswahl mit qualifiziertem Mehr, das Vertrauensvotum durch das Volk, das «Bravo-Sympa-Verfahren» (Volk bestimmt parteimässige Zusammensetzung des Bundesrats, Parlament wählt die Personen) oder das Volksveto (50’000 Stimmberechtigte können gegen das Ergebnis der Bundesratswahl das Referendum ergreifen) auf.

Ab der Jahrtausendwende brachten sich auch mehrfach die Grünen aktiv in die Bundesratswahlen ein. Seit den späten 80er Jahren hatten sie sich mit einem Stimmenanteil von um die 5% im Nationalrat etabliert, nach der Jahrtausendwende nahm dieser trotz der Abspaltung der Grünliberalen im Jahr 2004 auf 7 bis 13% zu und die Grünen gewannen nun auch vereinzelte Ständeratsmandate. Bei der turbulenten Ersatzwahl für SVP-Bundesrat Adolf Ogi stellten die Grünen im Jahr 2000 mit Cécile Bühlmann erstmals eine Kampfkandidatin auf, die bei einem breiten Bewerberfeld mit einem offiziellen SVP-Zweierticket und drei aussichtsreichen inoffiziellen SVP-Kandidaturen im ersten Wahlgang auf beachtliche 54 Stimmen und den zweiten Platz kam und erst nach dem vierten Wahlgang ausschied.

Für die Gesamterneuerungswahl 2007 nominierten die Grünen Ständerat Luc Recordon als Kampfkandidaten gegen Blocher, zogen ihn jedoch zugunsten des Überraschungscoups mit der Wahl Widmer-Schlumpfs zurück. Im folgenden Jahr ging Recordon auch ins Rennen um die Nachfolge von Samuel Schmid gegen das SVP-Zweierticket Blocher/Maurer, machte im ersten Wahlgang aber wenig Stimmen und zog sich dann zugunsten der Sprengkandidatur Walter zurück. 2010 griffen die Grünen bei der Ersatzwahl für Hans-Rudolf Merz den auch von der SVP attackierten zweiten FDP-Sitz mit Brigit Wyss an. Diese machte im ersten Wahlgang mit 57 Stimmen hinter dem SVP-Kampfkandidaten das zweitbeste Resultat und schied dann nach dem dritten Wahlgang aus, nachdem viele linke Stimmen auf die offiziellen FDP-Kandidaturen übergegangen waren.

Eine Intensivierung erlebten die Diskussionen um eine grüne Regierungsbeteiligung durch die Nationalratswahlen 2019, als die Grünen mit einem Stimmenanteil von 13,2% die Einbundesratspartei CVP (11,4%) überholten und nur knapp hinter der Zweibundesratspartei FDP (15,1%) lagen. Hinzu kamen noch 7,8% für die anderthalb Jahrzehnte zuvor abgespaltene GLP sowie der Umstand, dass SVP und FDP, die im Bundesrat die absolute Mehrheit stellten, nur auf einen kombinierten Stimmenanteil von knapp 42% gekommen waren. Das Wahlresultat führte zu angeregten Debatten, bei denen verschiedene originelle Vorschläge für eine neue Zauberformel eingebracht wurden. Je nach Belieben wurden dabei auch unterschiedliche Parteien zusammengezählt, um die arithmetischen Ansprüche einzelner «Lager» zu berechnen. Auch die uralte Idee einer Aufstockung des Bundesrats auf neun Mitglieder zwecks Gewinnung zusätzlicher Manövriermasse tauchte wieder auf, ebenso aber das Argument, dass eine Veränderung der parteimässigen Zusammensetzung des Bundesrats nicht aufgrund eines einmaligen Wahlresultats vorgenommen werden sollte. Die Grünen griffen bei der Gesamterneuerungswahl 2019 mit Regula Rytz den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis an, wurden dabei von der SP unterstützt, unterlagen aber mit 82 gegen 145 Stimmen.

Bei den nächsten Nationalratswahlen fielen die Grünen mit 9,8% der Stimmen wieder auf den fünften Platz zurück, hatten arithmetisch aber damit immer noch den grösseren Anspruch auf einen Bundesratssitz als die FDP auf ihre zwei. Kompliziert wurde die Lage noch durch die Unklarheit, wer als drittstärkste Partei zu gelten habe. Die aus der Fusion von CVP und BDP hervorgegangene Mitte gewann im Nationalrat 29 Mandate gegenüber 28 der FDP. Auch beim Stimmenanteil lag sie mit 14,1% nach dem vorläufigen Endergebnis knapp vorne, bevor derjenige der FDP nachträglich auf 14,3% korrigiert wurde. Im Ständerat lag die Mitte mit 15 gegenüber 11 freisinnigen Mandaten neu deutlich vorne. Vor diesem Hintergrund stellte die Mitte für die Gesamterneuerungswahlen, bei denen nur ein unbestrittener SP-Sitz neu zu besetzen war, keine Kampfkandidaturen auf. Hingegen griffen die Grünen mit Gerhard Andrey beide FDP-Sitze an. Andrey machte gegen Ignazio Cassis beachtliche 59 Stimmen, hingegen nur 15 gegen Karin Keller-Sutter und erhielt zudem im ersten Wahlgang für die Nachfolge von SP-Bundesrat Alain Berset 30 Stimmen.

Die Diskussionen über die zukünftige parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates gingen danach weiter. Ihr Ausgangspunkt blieb aber weiterhin die Zauberformel, die mit Erreichen des Rentenalters von 65 immer noch eine gewisse Magie auszustrahlen scheint.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.140.2 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesrats-Ersatzwahlen 1929–1940
  • Ar 1.140.3 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesrat 1931–1966
  • Ar 1.230.10 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesratswahlen 1983
  • Ar 1.230.13+14 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesratswahlen 1993
  • Ar 1.240.1-3 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Volkswahl des Bundesrates
  • Ar 1.734.4 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: SPS Fraktion, Bundesratswahl 2010 (Rücktritt Leuenberger/Wahl Sommaruga)
  • Ar 103.70.2 Weber, Max (1897–1974): Bundesratswahl und Rücktritt, Tod
  • Ar 1038.13.2 Hubacher, Helmut (1926–2020): Bundesratsbeteiligungs-Debatte

Sachdokumentation

  • KS 32/66 Schweizerischer Bundesrat
  • KS 32/67 Schweizerischer Bundesrat
  • KS 34/73 Proporzwahl des Nationalrates; Volkswahl des Bundesrates
  • QS 31.2 Schweizerischer Bundesrat
  • ZA 31.2 Schweizerischer Bundesrat
  • DS 655 Junge Grüne Schweiz: Offener Brief: Kandidatur für den Bundesrat

Bibliothek

  • Altermatt, Urs (Hg.): Die Schweizer Bundesräte: Ein biographisches Lexikon. Zürich/München 1991, Gr 7499
  • Altermatt, Urs (Hg.): Das Bundesratslexikon. Basel 2019, 140755
  • Altermatt, Urs: Vom Unruheherd zur stabilen Republik: Der schweizerische Bundesrat 1848–1875: Teamplayer, Schattenkönige und Sesselkleber. Basel 2020, 144782
  • Altermatt, Urs: Der lange Weg zum historischen Kompromiss: Der schweizerische Bundesrat 1874–1900: Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle. Basel 2021, 146852
  • Altermatt, Urs: Von der freisinnigen Vorherrschaft zum Proporz: Der schweizerische Bundesrat 1900–1919: Bundespräsident als Primus inter Pares und Departementalisierung. Basel 2023, 152587
  • Bircher, Silvio: Wahlkarussell Bundeshaus: Umstrittene Bundesratswahlen und Schweizer Politik. Baden 2007, 118681
  • Böschenstein, Hermann (Hg.): Buch der Freunde: alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen zum 80. Geburtstag am 10. April 1979. Zürich 1979, 64337
  • Brassel, Ruedi et al. (Hg.): Zauberformel: Fauler Zauber? SP-Bundesratsbeteiligung und Opposition in der Schweiz. Basel 1984, 75349
  • Bringolf, Walther: Der Bundesrat ohne Sozialdemokraten. Zürich o. J., Hf 4738
  • Burgos, Elie et al.: La formule magique: Conflits et consensus dans l’élection du Conseil fédéral. Lausanne 2011, 126144
  • Comina, Marc: Macht und Zwietracht im Bundeshaus: Die Hintergründe der Abwahl von Ruth Metzler. Zürich 2004, 113000
  • De Pretto, Renato: Bundesrat und Bundespräsident: Das kollegiale Regierungssystem schweizerischer Prägung. Grüsch 1988, 87942
  • Duttweiler, Catherine: Adieu, Monsieur: Chronologie einer turbulenten Bundesratswahl. Zürich 1993, 95379
  • Ebnöther, Christoph: Leitfaden durch das politische System der Schweiz. Zürich 2017, 137803
  • Festschrift Bundesrat H.P. Tschudi: Zum 60. Geburtstag am 22. Oktober 1973. Bern 1973, 51343
  • Fisch, Arnold: Meine Bundesräte: Von Etter bis Aubert. Stäfa 1989, 89043
  • Furrer, Christian: Bundesrat und Bundesverwaltung: Ihre Organisation und Geschäftsführung nach dem Verwaltungsorganisationsgesetz: Bundesgesetz vom 19. September 1978 über die Organisation und die Geschäftsführung des Bundesrates und der Bundesverwaltung: Textausgabe mit Erläuterungen. Bern 1986, 81165
  • Grisel, Etienne: Gouvernement suisse: Le Conseil fédéral. Bern 2010, 123219
  • Gross, Andreas und Fredi Krebs (Hg.): Élections au Consel Fédéral: … pas un show électoral! St-Ursanne 2009, D 6212:6
  • Gross, Andreas et al.: Nur scheinbar demokratisch: Die Wahl des Bundesrates durch das Volk ist ein Rückschritt für die Demokratie. St-Ursanne 2013, D 6212:11
  • Gysin, Nicole: Angst vor Frauenquoten? Die Geschichte der Quoteninitiative 1993–2000. Bern 2007, 118226
  • Hämmerle, Andrea: Die Abwahl: Fakten & Figuren. 2. Aufl. Glarus 2011, 125665
  • Kästli, Tobias: Ernst Nobs: Vom Bürgerschreck zum Bundesrat: Ein politisches Leben. Zürich 1995, 97953
  • Keller, Willy (Hg.): Alt Bundesrat Prof. Dr. Max Weber zum 60. Geburtstag am 2. August 1957: Biographische Daten und bibliographisches Verzeichnis seiner wichtigsten Publikationen. Bern 1957, Hf 2357
  • Krebs, Ernst: Die Volkswahl des Bundesrates, mit besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Volkswahl der Exekutive in Stadt und Kanton Zürich: Eine geschichtliche und staatsrechtlich-politische Untersuchung. Zürich 1968, 39296
  • Linder, Wolf: Schweizerische Demokratie: Institutionen, Prozesse, Perspektiven. Bern 1999, 104179
  • Linder, Wolf und Sean Mueller: Schweizerische Demokratie: Institutionen – Prozesse –Perspektiven. 4. akt. Aufl. Bern 2017, 138093
  • Menz, Peter: Der «Königsmacher» Heinrich Walther: Zur Wahl von vierzehn Bundesräten 1917–1940. Fribourg 1976, 58540
  • Metzler-Arnold, Ruth: Grissini & Alpenbitter: Meine Jahre als Bundesrätin. Herisau 2004, 113627
  • Moeckli, Silvano: Der Bundesrat: Das politische System der Schweiz, in Romanform spannend erklärt. Mörschwil 2014, 131472
  • Reber, Arthur Fritz: Der Weg zur Zauberformel: Die Bundesratswahlen der Vereinigten Bundesversammlung seit der Wahl des Nationalrates nach dem Verhältniswahlrecht 1919 bis zur Verwirklichung eines «freien Proporzes» für die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung 1959. Bern/Frankfurt 1979, 65772
  • Rhinow, René: Wie weiter mit dem Bundesrat? Zürich 2011, 124770
  • Richoz, Claude: Paul Chaudet …que nous aimions. Vulliens 1982, Gr 4478
  • Ritz, Adrian et al. (Hg.): Blackbox Exekutive: Regierungslehre in der Schweiz. Basel 2019, 141938
  • Rosenberg, Martin: Sinn und Zweck der «Zauberformel», in: Hartmann, Alois (Hg.): Im Spannungsfeld der Politik: Festgabe für Dr. Martin Rosenberg, Generalsekretär der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei der Schweiz, zu seinem 60. Geburtstag. Luzern 1968. S. 158-162, 38592
  • Schiller, Felix: Die Volkswahl des Bundesrates seit 1848: Ein staatsrechtliches Problem zwischen direkter Demokratie, Parlamentarismus, Föderalismus und dem Schutz von Minderheiten. Zürich 2021, 146238
  • Senti, Martin (Hg.): Konkordanz: Zwischen Arithmetik und Verantwortung. Zürich 2011, N 4376:48
  • Trachsler, Daniel: Bundesrat Max Petitpierre: Schweizerische Aussenpolitik im Kalten Krieg 1945–1961. Zürich 2011, 124599
  • Tschudi, Hans Peter: Im Dienste des Sozialstaates: Politische Erinnerungen. Basel 1993, 95836
  • Tschudi, Hans Peter: Soziale Demokratie: Reden und Aufsätze. Hg. Alfred A. Häsler. Basel 1975, 55398
  • Ueberwasser, Heinrich: Das Kollegialprinzip: Seine Grundsätze und Konkretisierungen im Bereiche von Regierung und Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung des schweizerischen Bundesrates. Basel/Frankfurt 1989, 88413
  • Vatter, Adrian: Der Bundesrat: Die Schweizer Regierung. Basel 2020, 144906
  • Wahlen, Friedrich Traugott: Dem Gewissen verpflichtet: Zeugnisse aus den Jahren 1940 bis 1965. Hg. Alfred A. Häsler. Zürich 1966, 34657
  • Wolf, Walter: Walther Bringolf: Eine Biografie – Sozialist, Patriot, Patriarch. Schaffhausen 1995, 98612 Ex.2
  • Zumstein, Hansjürg: Die Abwahl: Die Geheimoperation gegen Christoph Blocher. Zürich 2008, DVD 55
Still aus «LIBERTY, LOVE AND LONELINESS II», Philip Ortelli, 2024
Still aus «LIBERTY, LOVE AND LONELINESS II», Philip Ortelli, 2024

25.11.2024, 18.30 Uhr: Le Foyer – In Process

Artist-Archivist-Artist

Philip Ortelli & Philipp Gufler

Philip Ortelli nutzt Archive, um die Geschichte von LGBTQIA+-Gemeinschaften zu rekonstruieren. Er entnimmt öffentlichen Archiven Material, führt ihnen aber auch neues zu – so auch im Fall des schwulenarchivs, das im Schweizerischen Sozialarchiv untergebracht ist. Darin fand Ortelli Konvolute mit Geschichten queeren Lebens, denen er seine eigene sammelnde Arbeit in den Sozialen Medien gegenüberstellt.

Im Zentrum von Philipp Guflers künstlerischer Arbeit stehen Bilder und Geschichte(n) queeren Lebens. Historische Persönlichkeiten, Entwicklungen und einschneidende Ereignisse aus unterschiedlichen Zeitspannen treten in einen Dialog und erzählen eine intersektionale queere Geschichte. Seit zehn Jahren ist Gufler aktives Mitglied des selbstorganisierten Forums Queeres Archiv München, das er ebenso mit Material speist wie für seine Arbeiten anzapft.

Gezielt verwischen Ortelli (*1991 in Bern) und Gufler (*1989 in Augsburg) die Grenzen zwischen archivarisch-dokumentierender und künstlerisch-produzierender Praxis. Beide stellen sich in die Tradition privater Archivar:innen, die unabhängig von vorherrschenden Geschichtsordnungen sammelten, was sie wichtig fanden, und damit marginalisierte Vergangenheit in die Zukunft retteten.

Gespräch mit Philip Ortelli, Philipp Gufler und Stefan Länzlinger (Leiter der Abteilung Archiv im Schweizerischen Sozialarchiv), moderiert von Yasmin Afschar.
Anschliessend Apéro.

In Zusammenarbeit mit «Le Foyer – In Process» (www.lefoyer-lefoyer.ch).

Montag, 25. November 2024, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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zVg Hansueli Trachsel
zVg Hansueli Trachsel

2.12.2024, 18.30 Uhr: Die Welt ist mein Haus – Das Leben der Anny Klawa-Morf

Sie war engagiert, charismatisch und liebenswert. Anny Klawa-Morf (1894-1993) kämpfte ein Leben lang für die Idee einer gerechteren Gesellschaft und für die Gleichstellung der Frauen. Hautnah erlebte sie die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg und kam um ein Haar ums Leben. Bittere Erfahrungen in der Familie machten sie misstrauisch gegenüber Männern, bis sie im lettischen Revolutionär Janis Klawa ihre grosse Liebe fand. Mit ihrem unbeirrbaren Glauben an das Gute beeindruckte sie viele Menschen und zeigte unzähligen Kindern den Weg zu einer besseren Welt. Rückblickend auf ihr fast hundertjähriges Leben erklärte sie: «Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis einmal der Gedanke der Gleichberechtigung Wirklichkeit wird. Dazu braucht es viel Kleinarbeit, aber diese Kleinarbeit lohnt sich.»

Zum 130. Geburtstag von Anny Klawa-Morf wurde ihre Lebensgeschichte von der Anny-Klawa-Morf-Stiftung neu herausgegeben.
Der Nachlass von Anny Klawa-Morf mit Dokumenten und einer reichen Fotosammlung befindet sich im Schweizerischen Sozialarchiv.

Begrüssung durch Jakob Tanner (Stiftungsrat Anny-Klawa-Morf-Stiftung), Buchpräsentation mit der Autorin Annette Frei Berthoud und Vorführung des Films «Anna Klawa-Morf – Nachdenken über eine Arbeiterfrau» (1993) von Hans-Dieter Rutsch.
Anschliessend Apéro.

Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Anny-Klawa-Morf-Stiftung (anny-klawa-morf.ch).

Montag, 2. Dezember 2024, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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5.12.2024, 18 Uhr: «Schandfleck» oder «Ruhmesblatt»?

Der schweizerische Landesstreik in der Erinnerungskultur, 1918–1968

Die Schockwellen des Landesstreiks von 1918 waren jahrzehntelang spürbar. Die klassenkämpferische Konfrontation prägte die politische Kultur der Schweiz während der Zwischenkriegszeit, dem Zweiten Weltkrieg und der frühen Nachkriegszeit entscheidend mit. Erst in den 1960er Jahren setzte eine quellenbasierte Aufarbeitung des Ereignisses durch die Geschichtswissenschaft ein.
Daniel Arthos Buch geht der Frage nach, wann und in welchen Formen der Generalstreik nach 1918 thematisiert, zum Gegenstand politischer Debatten erhoben und politisch nutzbar gemacht wurde. Dabei identifiziert er die Deutungsmuster, Wendepunkte und Zäsuren, welche die Erinnerungskultur des Landesstreiks besonders geprägt haben. Die Studie ist das erste umfassende erinnerungskulturelle Panorama des Landesstreiks von 1918 bis 1968 und darüber hinaus.

Buchvernissage mit dem Autor Daniel Artho sowie Brigitte Studer (Universität Bern), Roman Rossfeld (Universität Bern) und Christian Koller (Schweizerisches Sozialarchiv).
Anschliessend Apéro.

Donnerstag, 5. Dezember 2024, 18 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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6.11.2024, 18 Uhr: Vergiftete Schweiz

Eine andere Geschichte der Industrialisierung

Die Geschichte der Industrialisierung wird in der Regel als Geschichte von Pionieren und Unternehmen erzählt. Es ist bekannt, dass Uhren und Textilien zu den Schweizer Exportschlagern des 19. Jahrhunderts gehörten und sich aus der Textilindustrie die Maschinen-, dann die Farben- und die chemische Industrie entwickelten. Fabriken siedelten sich mit Vorliebe an Flüssen an, die Energie lieferten sowie als Transportweg und Abfallgrube dienten. Hingegen wissen wir erstaunlich wenig darüber, wie sich die Industrialisierung vor Ort konkret auf die Menschen und ihre Umwelt ausgewirkt hat.
Claudia Aufdermauers Buch beleuchtet diese Schattenseiten der Industrialisierung. Es schreibt eine Umweltgeschichte der Industrialisierung mit Fokus auf dem 19. und frühen 20. Jahrhundert – und ihren Auswirkungen bis heute.

Buchvernissage mit der Autorin Claudia Aufdermauer.
Anschliessend Apéro.

Mittwoch, 6. November 2024, 18 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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23.10.2024, 18.30 Uhr: Mein Bruder Marco – eine Annäherung

Buchpräsentation mit Gespräch im Rahmen des Literaturfestivals «Zürich liest»

«Lieber Marco. Du verfehltest deinen 66. Geburtstag nur knapp. Wer hätte das gedacht. Du wurdest trotz ruinösem Lebenswandel ziemlich alt. Und starbst doch viel zu früh.» Mit diesen Worten beginnt Ueli Mäder einen rund zweihundertseitigen Brief an seinen Bruder Marco, der nach langer Alkoholsucht vor rund zehn Jahren verstorben ist.

Ueli Mäder ist Soziologe und verknüpft nicht zuletzt deshalb die Lebensstationen von Marco mit den Weltereignissen und dem sozialen Wandel der Zeit. Welche gesellschaftlichen Umstände, unter denen sein Bruder häufig litt, prägten dessen Weg? Was machen wir aus dem, was unsere Umwelt mit uns macht? Diese Fragen sollen anhand des Buches über Marco Mäder aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.

Mit Ueli Mäder und Susanne Brügger (Schweizerisches Sozialarchiv).
Anschliessend Apéro.

Mittwoch, 23. Oktober 2024, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Die Veranstaltung ist ausverkauft!

9.10.2024, 19.30 Uhr: Die andere Schweiz. Asyl und Aktivismus 1973–2000

Buchvernissage

Jonathan Pärlis Buch schreibt erstmals die Geschichte der Schweizer Asylbewegung im späten 20. Jahrhundert. Angesichts der «neuen Flüchtlinge» aus dem Globalen Süden setzte in den westlichen Ländern seit den 1970er Jahren eine restriktive Wende in der Asylpolitik ein. Als Reaktion darauf entstand eine international vernetzte Solidaritäts- und Protestbewegung, die sich auch in der Schweiz entfaltete. Hierzulande waren es insbesondere die Geflüchteten aus Zaïre, Chile, der Türkei oder Sri Lanka, die Impulse für den neuen asylpolitischen Aktivismus gaben. In kollektiven Protesten und individuellen Wortergreifungen bis hin zu zivilem Ungehorsam mass die Asylbewegung die Schweiz an ihrem Ruf als traditionellem Asylland.
Jonathan Pärli analysiert den Asylaktivismus in seiner demokratiepolitischen Bedeutung und rekonstruiert seine facettenreiche und vielstimmige Geschichte zwischen Politik, Humanitarismus und enttäuschten Hoffnungen.

Buchvernissage mit dem Autor Jonathan Pärli und Damir Skenderovic (Universität Fribourg).
Anschliessend Apéro.

Mittwoch, 9. Oktober 2024, 19.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 238 KB)