Die «digitale Revolution» ist in aller Munde. Im vergangenen November hat in Biel die erste nationale Konferenz «Digitale Schweiz» stattgefunden, an der rund 700 Personen aus Politik (darunter zwei Mitglieder des Bundesrats), Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung einen Tag lang über digitale Zukunftsstrategien diskutierten. Gedächtnisinstitutionen wie das Schweizerische Sozialarchiv befassen sich schon seit einem Vierteljahrhundert mit dem digitalen Wandel. Bibliotheken, Archive und Dokumentationsstellen haben sich in den letzten Jahren zu hybriden Informationszentren entwickelt, die die Sammlung und Vermittlung digitaler Dokumente vorantreiben, ohne ihren Auftrag im Bereich der analogen Kulturgütererhaltung und -vermittlung zu vernachlässigen. Sowohl durch ihr Know-how als auch durch ihre Gegenposition zu Tendenzen des digitalen «Postfaktizismus» sind die Gedächtnisinstitutionen Vorreiter der digitalen demokratischen Gesellschaft. Nicht umsonst wurde jüngst konstatiert, die Bibliotheks- und Informationswissenschaft könne heute sowohl «als eine Art Meta-Wissenschaft ihre Erfahrung in puncto Digitalisierung von Kulturobjekten als auch ihre Expertise in der Elektronisierung von wissenschaftlichen Arbeitsabläufen einbringen» (Redaktion LIBREAS: Editorial #30: Post-Digital Humanities, in: LIBREAS. Library Ideas 30, 2016).
Um die digitalen Herausforderungen und unsere Antworten darauf besser zu vermitteln, eröffnen wir hier eine neue Rubrik, die Sie über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden hält. Zum Auftakt fassen wir das Viele zusammen, was bisher im Bereich des digitalen Sozialarchivs geschah. Die digitale Revolution betrifft Gedächtnisinstitutionen wie das Schweizerische Sozialarchiv in doppelter Weise: Zum einen unterliegen sie und ihre BenutzerInnenschaft selber einem Prozess der Digitalisierung, zum anderen gilt dies auch für die von ihnen gesammelten Dokumente beziehungsweise die als UrheberInnen dahinterstehenden Personen und Institutionen. Aus dieser verdoppelten Digitalisierung ergeben sich verschiedene Herausforderungen: Die Metadaten der Bestände, Kataloge und Findmittel müssen digitalisiert und online angeboten werden. Die Information von und Kommunikation mit den BenutzerInnen geschieht zunehmend elektronisch. Analoge Bestände werden retro-digitalisiert und online zur Verfügung gestellt. Und genuin digitale Bestände müssen übernommen, erschlossen, langfristig gesichert und der Benutzung zugänglich gemacht werden.
In all diesen vier Bereichen befindet sich das Schweizerische Sozialarchiv auf der Höhe der Zeit. Bereits 1992 ist es als erste geisteswissenschaftliche Institution dem damaligen Bibliothekskatalog der ETH Zürich beigetreten, aus dem im Laufe der Jahre durch das Hinzukommen immer neuer Institutionen, so der Zentralbibliothek Zürich, der Bibliotheken der Universität Zürich, aber auch zahlreicher Informationsstellen ausserhalb des Standortes Zürich, der heutige NEBIS-Verbund mit rund 140 Bibliotheken und Informationsstellen entstanden ist. Dessen gemeinsamer Katalog ging 1999 im World Wide Web online. Bald gilt es indessen von NEBIS Abschied zu nehmen: Für 2020/21 ist der Übergang zur «Swiss Libraries Service Platform» (SLSP) geplant, die sämtliche wissenschaftlichen Bibliotheken der Schweiz umfassen soll. Auch hier wird das Sozialarchiv selbstverständlich mit von der Partie sein – mehr dazu in einem der nächsten Beiträge.
Seit 1998 informiert das Sozialarchiv über seine Bestände und deren Benutzung auf einer eigenen Website (www.sozialarchiv.ch), die kontinuierlich mit Links zu den neuen digitalen Katalogen angereichert wurde. Die Kataloge und Findmittel des Papierarchivs (www.findmittel.ch), der Dokumentation (www.sachdokumentation.ch) und des audiovisuellen Archivs (www.bild-video-ton.ch) sowie den Zettelkatalog der Bibliothek von 1906 bis 1992 hat das Sozialarchiv in eigener Regie digitalisiert, so dass seit 2014 sämtliche Bestände im Netz recherchierbar sind und online bestellt werden können. Im laufenden Projekt «Unity» werden die verschiedenen Findmittel enger zusammengeführt, mit zusätzlichen Suchfunktionen ausgestattet und visuell ansprechender präsentiert. Dem 2011 gestarteten Facebook-Auftritt folgen knapp 800 Personen, der 2015 begonnene elektronische Newsletter ist von rund 2’000 Personen abonniert. Der Betrieb eines Instagram-Accounts ist zurzeit in der Versuchsphase.
Darüber hinaus hat sich das Sozialarchiv an mehreren nationalen und internationalen online-Archivportalen (Archives Online, Europeana, Social History Portal, Memobase, arbeiterbewegung.ch) beteiligt. Zudem werden seit 2015 die Artikel der Wikipedia systematisch mit Hinweisen auf Archivbestände des Sozialarchivs angereichert; dasselbe ist für die digitale Neuversion des Historischen Lexikons der Schweiz («Neues HLS») geplant. Das Sozialarchiv ist aktives Mitglied der Open-GLAM-Initiative und hat sich an verschiedenen Hackathons beteiligt. Dem kooperativen Ansatz beim Angebot digitaler Daten und Metadaten ist auch die Infostation im Lesesaal des Sozialarchivs verpflichtet, die den Zugriff auf digitale Sammlungen anderer Institutionen und Datenbanken gestattet, etwa auf die Zeitungsdatenbank PresseDox, die Sendungsdatenbank FARO von Schweizer Radio und Fernsehen oder Memobase+ des Vereins Memoriav.
Bei der Retro-Digitalisierung analoger Bestände konzentriert sich das Sozialarchiv auf zwei unter den Aspekten der Kulturgütererhaltung und Forschungsrelevanz besonders zentrale Bereiche: die audiovisuellen Quellen und die historischen Zeitungs- und Zeitschriftenbestände. Die seit über einem Jahrzehnt aufgebaute Datenbank Bild + Ton enthält zurzeit knapp 107’000 audiovisuelle Quellen (Fotografien, Grafiken, Filme, Videos, Tonaufnahmen und Tonbildschauen) aus rund 200 Beständen, von denen etwa 70’000 online konsultiert werden können. Damit verfügt das Sozialarchiv über ein einmaliges audiovisuelles online-Angebot, das von Wissenschaft und Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Medien intensiv genutzt wird.
Von seinen umfangreichen historischen Zeitungs- und Zeitschriftenbeständen hat das Sozialarchiv ausgewählte Titel retro-digitalisiert. Seit 2014 läuft in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Nationalbibliothek ein grosses Projekt zur Retro-Digitalisierung der historischen Schweizer Gewerkschaftspresse, das mehrere 100’000 Seiten von Publikationen ehemaliger und noch bestehender Verbände sozialistischer, christlichsozialer, liberaler und evangelischer Ausrichtung in unterschiedlichen Wirtschaftsbranchen umfasst. Die erste von zwei Hauptetappen des Projekts ist beinahe abgeschlossen. Die Retro-Digitalisierung historischer Zeitungsbestände, die zurzeit von zahlreichen Gedächtnisinstitutionen vorangetrieben wird, generiert für die historische Forschung einen kaum zu überschätzenden Nutzen: Die früher übliche wochenlange Sichtung von Originalzeitungen oder Mikrofilmen (die den Schreibenden bei der Abfassung seiner Doktorarbeit seinerzeit zwei Dioptrien gekostet hat) wird dank der Möglichkeit der Stichwortsuche im Volltext massiv rationalisiert und präzisiert. Aber auch andere Disziplinen interessieren sich für retro-digitalisierte Zeitungen: Im Rahmen des laufenden interdisziplinären SNF-Sinergia-Projekts «impresso – Media Monitoring of the Past», das getragen wird vom Digital Humanities Laboratory der EPFL Lausanne, dem Institut für Computerlinguistik der Universität Zürich und dem Luxemburg Centre for Contemporary and Digital History, dienen die retro-digitalisierten Gewerkschaftszeitungen des Sozialarchivs zusammen mit anderen Beständen als Basis zur Entwicklung von Werkzeugen des historischen «text mining».
Die Sammlung und Langzeitsicherung genuin digitaler Quellen ist ein junger, aber immer wichtiger werdender Zweig der Kulturgütererhaltung. Auch in diesem Bereich befindet sich das Schweizerische Sozialarchiv auf der Höhe der Zeit. Seit 2007 beteiligt es sich am «Webarchiv Schweiz«, einem von der Schweizerischen Nationalbibliothek geleiteten Projekt zur Archivierung landeskundlich wichtiger Websites. Die Sachdokumentation des Sozialarchivs wurde 2016 um die Sammlung von «Digitalen Schriften» (DS) erweitert. Nur noch im Web publizierte «graue» Dokumente zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen in der Schweiz werden seither als PDF archiviert und im Katalog der Sachdokumentation den entsprechenden Themen zugeordnet, wo sie online konsultiert werden können. Bereits jedoch werden von zahlreichen Organisationen viele Inhalte nicht mehr als Textdateien aufbereitet und zur Verfügung gestellt, sondern als html-Webseiten, Videoaufzeichnungen und Social-Media-Inhalte, was die Sammeltätigkeit vor neue Herausforderungen stellt.
Im laufenden Jahr durchläuft das neu konzipierte e-Archiv seine Versuchsphase. Damit wird es nun möglich, elektronische Archivablieferungen zu übernehmen und erschliessen, langfristig zu archivieren und der Benutzung zugänglich zu machen. Aufgrund der sehr eingeschränkten Möglichkeiten des vorarchivischen Records Management bei privaten Ablieferern wurde in Zusammenarbeit mit der Firma Docuteam eine pragmatische Lösung zur Strukturierung und Erschliessung dieser Bestände entwickelt. Machen heute bei Archivablieferungen Papierbestände noch die Mehrheit des Materials aus, so ist absehbar, dass sich in den kommenden Jahren das Schwergewicht immer mehr zu den elektronischen Beständen verschieben wird. Das Schweizerische Sozialarchiv ist nun gut gerüstet, auch diese Herausforderung anzunehmen.
Die Entwicklung des digitalen Sozialarchivs widerspiegelt sich spektakulär in den Statistiken des Medienangebots wie auch der Benutzung: 2010 wurden im Gesamtmedienangebot erst 1’725 digitalisierte Verzeichnungseinheiten ausgewiesen – sieben Jahre später sind es 69’580 Einheiten mit 378’917 dazu gehörigen Datensätzen. Im selben Zeitraum hat die Zahl der abonnierten elektronischen Zeitungen von 151 auf 689 Titel beziehungsweise einem Zehntel auf knapp die Hälfte der laufenden Periodika zugenommen. Und gab es im Betriebsjahr 1999 knapp 90’000 Hits auf die Website des Sozialarchivs, so verzeichnet die Web-Statistik heute, obwohl sie inzwischen um maschinengenerierte Hits bereinigt wird, jährlich rund 1,7 Millionen Zugriffe auf unsere vier URLs!