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16.6.2022, 19 Uhr: Die Welt in der Schweiz

Ein Abend mit motivierenden Menschen und gleissenden Geschichten

Buchpräsentation

Das Buch «Projekt Schweiz» porträtiert 44 Persönlichkeiten aus der Schweiz, gesehen von 44 verschiedenen Autor:innen. Der reich illustrierte Band versammelt Personen, die etwas zu einer liberalen, weltoffenen, auch sozial besorgten Schweiz beigetragen haben. Die Schreibenden sind mit jeweils ganz eigenem Blick und ganz eigener Sprache an ihre Porträts herangetreten.

Jetzt werden sie live zu Wort kommen. Über fünfzehn Autor:innen illustrieren, was sie an den von ihnen Porträtierten fasziniert hat. Sichtbar wird eine Fülle von Bezügen der Schweiz in der Welt und eine Welt in der Schweiz. Erfahrbar wird eine Fülle von Annäherungen, vom persönlichen Bekenntnis bis zum historischen Essay.

Mit Caroline Arni, Jean-Martin Büttner, Sylviane Dupuis, Bettina Eichin, Köbi Gantenbein, Markus Hediger, Elisabeth Joris, Friederike Kretzen, Jo Lang, Lucien Leitess, Madeleine Marti, Pirmin Meier, Rolf Niederhauser, Michael Pfister, Isolde Schaad und Jakob Tanner. Durch den Abend führt Herausgeber Stefan Howald.

Donnerstag, 16. Juni 2022, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Theater Stadelhofen

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17.6.2022, 19 Uhr: «… dass wir beide borstige Einsiedler sind, die zueinander passen»

Aus dem Briefwechsel zwischen C. A. Loosli und Jonas Fränkel, 1905–1958

Der Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Carl Albert Loosli (1877–1959) und dem Literaturwissenschaftler Jonas Fränkel (1879–1965) umfasst mehr als 3’000 Dokumente aus den Jahren 1905 bis 1958 und gibt Einblick in ihre publizistischen Kämpfe und die gesellschafts- und literaturpolitischen Entwicklungen dieser Zeit in der Schweiz. Eindrücklich spiegelt der Band die Schwierigkeiten, die die Geistige Landesverteidigung intellektuellen Aussenseitern beim Versuch bereitet hat, sich öffentlich Gehör zu verschaffen.

Kulturpolitische Kontroversen stehen die unermüdlichen Briefschreiber in intensivem Austausch durch: Loosli etwa den Handel um sein Ferdinand-Hodler-Archiv; Fränkel die langjährigen Auseinandersetzungen um seine Gottfried-Keller-Edition und um den Nachlass seines Freundes Carl Spitteler.

Buchpräsentation und Lesung aus dem Briefwechsel durch Fredi Lerch und Jael Bollag.
Anschliessend Gelegenheit zum kurzen Gespräch mit den Herausgebern Fredi Lerch und Dominik Müller.

Freitag, 17. Juni 2022, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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(Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5025-Fa-323)
(Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5025-Fa-323)

6.5.2022, 18 Uhr: Verwaltete Familien

Vormundschaft und Fremdplatzierung in der Deutschschweiz, 1945 bis 1980

Buchpräsentation mit der Autorin Mirjam Janett

Tausende Kinder und Jugendliche wurden im 20. Jahrhundert in der Schweiz in Heimen, Pflegefamilien und psychiatrischen Kliniken untergebracht. Sie wurden Opfer einer repressiven Fürsorgepolitik, die vorab auf Eltern zielte, deren Lebensführung nicht den bürgerlichen Ordnungsvorstellungen entsprach. Die Studie konzentriert sich auf die Fremdplatzierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die medizinisch-sozialwissenschaftlichen Trends folgend präventiv ausgerichtet war.

Mirjam Janett beschreibt in ihrem Buch das Vormundschaftswesen und die Fremdplatzierung in der Deutschschweiz nach 1945. Am Beispiel der Kantone Basel-Stadt und Appenzell Innerrhoden zeigt sie, wie die Fremdplatzierung die Entwicklung des Sozialstaats prägte, von dieser geprägt wurde und so Normalität festlegte.

Einführung von Anne-Françoise Praz (Universität Fribourg) und Martin Lengwiler (Universität Basel)

Freitag, 6. Mai 2022, 18 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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(Foto: Hans Staub)
(Foto: Hans Staub)

20.5.2022, 19 Uhr: Aussersihl bewegt

Buchpräsentation mit dem Autor Hannes Lindenmeyer – aus aktuellem Anlass mit Fokus auf dem Kapitel «Krieg und Frieden»

Die arme Gemeinde Aussersihl gehörte zum letzten internationalen Kriegsschauplatz in der Schweiz: 1799 tränkte die «zweite Schlacht von Zürich» das Sihlfeld mit Blut. Ein halbes Jahrhundert später wurde hier eine der grössten Kasernenanlagen des Landes errichtet – ausgerechnet im klassenkämpferischen, militärkritischen Proletarierviertel. Hier fand und findet die Friedensbewegung fruchtbaren Boden. Vor vierzig Jahren sind die letzten Soldaten ausgezogen; im Zeughaushof haben Frauen direkt vor dem einstigen Waffensaal einen Labyrinthgarten angelegt. Sie schreiben: «Wir sehen uns nicht als Spielball der Verhältnisse, sondern als Akteurinnen, die gemeinsam mit andern die Welt gestalten.»

Anschliessend Diskussion zur Frage: Was haben friedensbewegte Frauen im Lauf der Geschichte für den Frieden getan und was können Menschen heute tun?

Mit Agnes Hohl (Historikerin, Vorstand Frauen für den Frieden) und Caroline Krüger (Philosophin, Labyrinthfrau)

Freitag, 20. Mai 2022, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Solidarität mit der Ukraine

Als Orte des Wissens und der umfassenden Information spielen Bibliotheken, Archive und Dokumentationsstellen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft. Im Lichte der Ereignisse in Osteuropa gilt dies umso mehr. Das Schweizerische Sozialarchiv verurteilt den verbrecherischen Überfall auf die Ukraine und zeigt sich solidarisch mit der ukrainischen Bevölkerung sowie der russischen Friedensbewegung. Das Sozialarchiv unterstützt die Statements
von Bibliosuisse,
des Vereins schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA),
der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA),
des International Council on Archives (ICA),
der International Association of Labour History Institutions (IALHI)
und des International Committee of Historical Sciences (ICHS).

Vor 50 Jahren: Die «Grenzen des Wachstums»

«Schon oft ist die menschliche Zivilisation mit der Perspektive eines bevorstehenden unausweichlichen Untergangs konfrontiert worden, aber noch selten sass der Schock so tief, denn noch nie war die Katastrophenthese mit so viel analytischem Aufwand untermauert worden wie diesmal durch das Weltmodell des MIT-Teams». Mit diesen dramatischen Worten leitete die «Neue Zürcher Zeitung» am 13. Oktober 1972 einen Artikel ein, der sich auf den wenige Monate zuvor erschienenen Bericht «Grenzen des Wachstums» bezog. Der Artikel mit dem Titel «Die Gefahren apokalyptischer Visionen» übte zwar heftige Kritik an der Studie, warf ihr die Ausblendung kontinuierlichen technischen Fortschritts vor und stellte in Aussicht, die Marktmechanismen würden durch Preisanstiege für sich verknappende Rohstoffe schon für wirtschaftliche Anpassungen sorgen, bevor die Grenzen erreicht sein würden. Das gewaltige Echo des ersten vom Club of Rome veranlassten Berichts, der als eines der einflussreichsten Bücher der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt, und die grundsätzliche Bedeutung des darin erörterten Umweltthemas stellte er aber nicht in Abrede.

Der erste Bericht des Club of Rome

Im März 1972 wurde auf zwei internationalen Konferenzen an der Smithsonian Institution in Washington und der Hochschule St. Gallen der Bericht «The Limits to Growth» der Weltöffentlichkeit vorgestellt. In Buchform avancierte die Studie zum Beststeller – bis heute sind 30 Millionen Exemplare in 30 Sprachen verkauft worden. Initiiert hatte den Bericht der Club of Rome, eine vier Jahre zuvor entstandene Vereinigung von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Diplomatie und Wissenschaft, die sich dem Studium der Zukunftsfragen der Menschheit und des Planeten aus holistischer, interdisziplinärer und langfristiger Perspektive verschrieb. Eigentliche Gründungsväter der Organisation waren der schottische Chemiker Alexander King, zu jener Zeit Generaldirektor für Bildung und Wissenschaft bei der OECD, und der italienische Industrielle Aurelio Peccei, zu jener Zeit tätig für FIAT, Olivetti und Italoconsult. Die Aktivmitgliedschaft des Club of Rome war auf 100 Personen beschränkt, hinzu kamen bald etliche nationale Sektionen.

Der erste und berühmteste Bericht des Club of Rome zur Zukunft der Menschheit und Weltwirtschaft wurde am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erstellt und von der Volkswagenstiftung mit einer Million D-Mark gefördert. Die Studie beruhte auf einer kybernetischen Computersimulation, die Donella und Dennis Meadows, Jørgen Randers und deren Mitarbeiter:innen am Jay Wright Forresters Institut für Systemdynamik durchgeführt hatten. In einem Weltmodell («World3-Modell») wurden fünf wesentliche Tendenzen mit globaler Wirkung simuliert: Industrielle Produktion, Bevölkerungswachstum, landwirtschaftliche Produktion, Ausbeutung von Rohstoff-Reserven und Zerstörung von Lebensraum. Dabei wurden unterschiedliche Szenarien berechnet, etwa mit verschieden gross angenommenen Rohstoffvorräten der Erde oder unterschiedlicher Effizienz der landwirtschaftlichen Produktion, von Geburtenkontrollen oder des Umweltschutzes. Aufgrund der Modellrechnungen gelangten die Wissenschaftler:innen zum Schluss, dass mit unveränderten Zuwachsraten bei Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Bevölkerungswachstum, Ausbeutung natürlicher Rohstoffe sowie Nahrungsmittelproduktion die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Lauf der nächsten hundert Jahre erreicht sein würden. Danach könnte es aufgrund der Erschöpfung der Rohstoffreserven und irreparablen Umweltschäden zu einem raschen und nicht aufzuhaltenden Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität kommen. Wesentliche Dynamiken, die die Entwicklung in Richtung der Wachstumsgrenzen trieben, ortete der Bericht einerseits in der Mathematik des exponentiellen Wachstums, andererseits in der Logik von Regelkreisen, mit denen sich die verschiedenen Komponenten des Weltmodells gegenseitig beeinflussten.

Der Bericht sah diese Entwicklung jedoch nicht als unabwendbar an. Eine Veränderung der Wachstumsvoraussetzungen in Richtung eines ökologischen und ökonomischen Gleichgewichtszustandes erschien möglich, allerdings sah der Bericht dazu rasches und global koordiniertes Handeln und den Mut zu innovativen Lösungsansätzen als Voraussetzungen. Dazu zählten die Autor:innen eine Kombination aus Massnahmen zum Umweltschutz, zur Geburtenkontrolle und zur Begrenzung des Kapitalwachstums sowie technologische Massnahmen (Wiederverwendung von Abfällen, verlängerte Nutzungsdauer von Investitionsgütern, langfristige Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit land- und forstwirtschaftlicher Betriebe). Die Modellrechnungen zeigten klar, dass technische Lösungen allein bei Weitem nicht ausreichend sein konnten. Selbst unter maximalen Modellannahmen wie einer Senkung des Rohstoffverbrauchs auf null durch vollständiges Recycling oder unbegrenzten Rohstoffvorräten wurden die Wachstumsgrenzen erreicht, sofern das Produktionskapital unbegrenzt weiterwuchs.

Die Autor:innen waren sich bewusst, dass ihre Szenarien teilweise auf ungenügender Datenbasis errechnet waren. Daher wurden die Modellrechnungen sowohl unter der Annahme gleichbleibender wie auch bis zu fünf Mal höherer Rohstoffreserven, als 1972 nachgewiesen waren, sowie mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Wachstumsraten durchgeführt. In den meisten Szenarien zeigte sich aber eine Erschöpfung der Rohstoffvorräte vor dem Ende des 21. Jahrhunderts. Die Autor:innen betonten gleichwohl, dass sie mit den Modellrechnungen keine Voraussagen machen würden, sondern lediglich «Hinweise auf die im Weltsystem charakteristischen Verhaltensweisen» gäben.

Reaktionen

Der Bericht erregte unmittelbar nach seiner Veröffentlichung grosses Aufsehen und rief kontroverse Reaktionen hervor. Kritische Stimmen hielten die Modellsimulationen trotz der Vielzahl an verwendeten Daten als zu simpel und bemängelten einen angeblich unzureichenden Einbezug technischen Fortschritts. In Anlehnung an den britischen Ökonomen Thomas Malthus, der im 18. Jahrhundert die These aufgestellt hatte, das exponentielle Bevölkerungswachstum führe angesichts des nur linearen Nahrungsmittelwachstums zwingend zu Armut und Mangel («Malthusianische Falle»), wurde die Studie auch als «Computer-Malthusianismus» abgetan. Anderen Kritiker:innen waren nicht die Diagnose, sondern die Überbringer:innen der Nachricht sowie die empfohlenen Abhilfemassnahmen ein Dorn im Auge. Der Politologe Philippe Braillard etwa sprach in einem Buch von Hochstapelei einer transnationalen Managerelite, die die Macht jenseits von politischen Aushandlungsprozessen und Ideologien anstrebe.

In der Folge wurde auch häufig kritisiert, das in einzelnen Szenarien modellierte Versiegen einzelner Rohstoffe zu bestimmten Zeitpunkten sei (noch) nicht eingetreten. Allerdings hatten die Autor:innen schon 1972 betont, dass sich einzelne Parameter durch Entdeckung und Erschliessung neuer Rohstoffvorkommen verändern könnten, und sie hatten deshalb verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen Rohstoffreserven durchgerechnet. Die Weltbevölkerung vermehrte sich in den Jahrzehnten nach 1972 ziemlich genau im Umfang wie im Standardszenario des Weltmodells angenommen. Im Jahr 2008 kam eine Studie der australischen «Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation» zum Schluss, dass die effektive Entwicklung der drei Jahrzehnte nach 1972 auch sonst grosse Übereinstimmung mit dem Standardszenario aufwies.

Seitens der Regierungen des Ostblocks stiess der Bericht auf Ablehnung. Auch eine Reihe von Wissenschaftler:innen des sowjetischen Einflussbereichs machten sich über «kleinbürgerliche» Ängste lustig und kritisierten «reaktionäre Machenschaften» des Club of Rome, dem mit dem polnischen marxistischen Philosophen Adam Schaff nur ein Mitglied aus dem Ostblock angehörte (nebst mehreren Wissenschaftlern aus dem kommunistischen, aber blockfreien Jugoslawien). DDR-Ökologe Hermann Ley etwa bediente sich einer Terminologie, die derjenigen westlicher Kritiker:innen stark ähnelte, und sprach von «Technikfeinden», «Naturaposteln» und «Propheten des Weltuntergangs». Einige sowjetische Natur- und Wirtschaftswissenschaftler:innen nahmen die im Bericht skizzierten Probleme dagegen ernster, ebenso der DDR-Philosoph Wolfgang Harich, welcher den Ausweg in einem asketischen Verteilungsstaat sah.

Trotz Kritik von verschiedenen Seiten trug der erste Bericht des Club of Rome in den 1970er Jahren wesentlich zur Verstärkung ökologischer Bestrebungen durch Behörden und Wissenschaft bei, die bereits zuvor eingesetzt hatten. Ebenso erlebten die Umweltbewegungen einen Aufschwung und es kam zur Formierung erster grüner Parteien. Neben die Forderung nach einem Übergang zu «qualitativem Wachstum», das durch die qualitative Verbesserung der erzeugten Güter und Dienstleistungen die Lebensqualität der Menschen steigern, Umweltbelastung und Energiekonsum verringern und dadurch die «Grenzen des Wachstums» gleichsam umgehen sollte, trat grundsätzliche Wachstumskritik, etwa in Gestalt der französischen «Décroissance»-Bewegung ab 1973. Im Juni 1972 fand in Stockholm die «United Nations Conference on the Human Environment» als erste UNO-Konferenz zum Thema Umwelt statt. Dabei wurde über die Lösung von Umweltproblemen unter Einbezug sozialer, wirtschaftlicher und entwicklungspolitischer Aspekte diskutiert. Die von der Konferenz verabschiedete Erklärung enthielt 26 Prinzipien für Umweltschutz und Entwicklung sowie Handlungsempfehlungen zu deren Umsetzung. Beeinflussungen durch die Studie des Club of Rome fanden sich dabei insbesondere bei der mehrfachen Betonung internationaler Kooperation im Umweltschutz, dem Hinweis auf nicht-erneuerbare Naturressourcen und der Erwähnung von Massnahmen zur Beschränkung des Bevölkerungswachstums. Als Folge wurde das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) gegründet, ebenso das Erdbeobachtungssystem «Earthwatch». Auch zahlreiche Umweltabkommen resultierten direkt oder indirekt aus der Konferenz von Stockholm.

In der Schweiz war 1971 der Umweltartikel in der Bundesverfassung mit 93 Prozent Ja-Stimmen angenommen und das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) geschaffen worden. Damit wurde der Umweltschutz Bundessache. Im Juni 1972 entstand die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Umweltforschung (SAGUF) als Zweiggesellschaft der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. Im selben Jahr startete das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Neue Analysen für Wachstum und Umwelt» (NAWU), das von Christoph Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen, und Theo Ginsburg, Privatdozent für numerische Mathematik an der ETH Zürich, geleitet wurde. Im Zentrum des Projekts stand die Frage nach einem geordneten, krisenfreien Übergang vom exponentiellen Wachstum zu einem ökonomisch-ökologischen Gleichgewicht. Der 1977 abgeschlossene Projektbericht sprach sich für das Modell einer qualitativen Wachstumsgesellschaft aus, wobei für den Übergang dahin sowohl Veränderungen des individuellen Verhaltens als auch gesellschaftliche Reformen nötig seien, die auf demokratischem Weg und durch Gewährung sozialer Freiräume und Experimente erlangt werden sollten. Diese Diskussionen der 1970er Jahre und ihre Verortung in der längerfristigen Geschichte von Wachstumsdebatten und Wachstumskritik in der Schweiz sind zurzeit Gegenstand eines Forschungsprojekts an der Universität Bern unter der Leitung von Roman Rossfeld, das vom Fonds «Forschung Ellen Rifkin Hill» des Schweizerischen Sozialarchivs unterstützt wird.

Zugleich wandelten sich die bestehenden Naturschutzorganisationen zu einer eigentlichen Umweltbewegung, zu der auch neue Gruppierungen stiessen. Die Akten einer ganzen Reihe dieser Organisationen befinden sich heute im Schweizerischen Sozialarchiv. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte es «präökologische» Organisationen und Schutzbemühungen gegeben, die sich auf ganz bestimmte Themen konzentrierten, so die Forstpolitik, den Arten-, Gewässer- oder Lärmschutz oder die Errichtung von Reservaten «ursprünglicher» Natur. In diesem Zusammenhang entstanden etwa 1909 der Schweizerische Bund für Naturschutz (SNB, heute Pro Natura) und 1914 der Schweizerische Nationalpark im Engadin. In den 1960er Jahren wurde der Umweltschutzgedanke teilweise von der Antiüberfremdungsbewegung aufgegriffen und auch bereits mit einer gewissen Wachstumskritik verknüpft, die sich allerdings nur auf das eigene Land bezog.

Ab den späten 1960er Jahren erweiterten sich solche Ansätze zu einer ganzheitlicheren und auch über die Landesgrenzen hinausblickenden Perspektive. Exemplarisch zeigte sich dies 1971 bei der Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Umweltschutz (SGU), deren Vorläuferorganisation, das «Aktionskomitee gegen den Überschallknall ziviler Luftfahrzeuge» noch auf ein ganz spezifisches Thema konzentriert gewesen war (s. SozialarchivInfo 4/2021). Auch die neuen Umweltbewegungen differenzierten sich thematisch aus. Eine breite Aufmerksamkeit erlangte in den 1970er Jahren die Antiatombewegung, die sich 1970 zuerst im Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke (NWA) organisierte (s. SozialarchivInfo 6/2016). Ebenfalls 1970 entstand der auf das Bevölkerungswachstum fokussierte Verein «Ecopop», der aber erst ab 2012 mit der Einreichung einer eidgenössischen Volksinitiative einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Im Bereich der Energiepolitik wurde 1976 die Schweizerische Energie-Stiftung (SES) gegründet, im Bereich der Verkehrspolitik 1979 der Verkehrsclub der Schweiz (VCS). Auch entstanden Schweizer Sektionen international tätiger Umweltorganisationen: Der 1960 gegründete WWF erhielt bereits 1961 eine Schweizer Sektion und erweiterte sich in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend von einer Artenschutz- zu einer Umweltorganisation. Greenpeace wurde 1971 gegründet und hatte ab 1984 eine Schweizer Sektion. Hinzu kamen erste grüne Parteien, zunächst vor allem in der Romandie, um 1980 dann auch in der Deutschschweiz. Auch die etablierten Parteien nahmen das Umweltthema zunehmend in ihre Programmatik auf, ebenso verschiedene Gruppierungen der post-68er «Neuen Linken».

Anderthalb Jahre nach der ersten Warnung vor den «Grenzen des Wachstums» kam es in der Tat zu einem massiven, durch Rohstoffmangel ausgelösten Wachstumseinbruch, der allerdings politische Hintergründe hatte. Während des arabisch-israelischen Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973 drosselte die Organisation der arabischen erdölexportierenden Staaten (OAPEC) ihre Fördermengen, um die westlichen Länder wegen ihrer Unterstützung Israels unter Druck zu setzen. Damit wurde die erste schwere Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst, die in den westlichen Industrieländern die «Trente Glorieuses» mit stetigem Wirtschaftswachstum, weitgehender Vollbeschäftigung, aber auch einer massiven Zunahme des Pro-Kopf-Energieverbrauchs beendeten. Das Resultat war überwiegend nicht ein Überdenken des Wachstumsparadigmas, sondern vielmehr die Bemühung, die Krise durch Wirtschaftswachstum im konventionellen Sinn zu überwinden, wobei häufig Umweltschutz und Arbeitsplätze als gegensätzliche Ziele betrachtet wurden. Wirtschaftspolitisch stürzte die Erdölkrise mit ihrer Gleichzeitigkeit von hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit den auf den Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre aufbauenden, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominanten Keynesianismus in die Krise und begünstigte den Übergang zu wirtschaftspolitischen Rezepten der neoklassischen Ökonomie, des Monetarismus, «Neoliberalismus», «Thatcherismus» und der «Reaganomics» mit einem oft schwach ausgebildeten ökologischen Bewusstsein, allerdings um 1980 auch einer Priorisierung der Inflationsbekämpfung über die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen.

Follow-Ups und Updates

Bereits 1974 erschien unter dem Titel «Menschheit am Wendepunkt» die zweite Studie des Club of Rome, verfasst von Mihailo Mesarović und Eduard Pestel. Sie lieferte im Unterschied zur Studie von 1972 differenzierte Berechnungen für die in zehn Regionen eingeteilte Welt. Dabei zeigte sich, dass die Menschheitsprobleme keinem der beiden im Kalten Krieg konkurrierenden Systeme allein zugeordnet werden konnten: Die «Grenzen des Wachstums» betrafen gleichermassen den westlichen Kapitalismus und den östlichen Realsozialismus. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten liess der Club of Rome zahlreiche weitere Studien anfertigen, die sich – immer vor dem angestrebten Ziel eines zukünftigen gesellschaftlich-wirtschaftlich-ökologischen Gleichgewichtszustandes – speziellen Themen annahmen, von der Zukunft der Weltmeere über die Landwirtschaft im Globalen Süden und die Arbeitsgesellschaft bis zur Digitalisierung.

Ebenso erschienen mehrere Updates der «Grenzen des Wachstums»: 1992 publizierte der Club of Rome «Die neuen Grenzen des Wachstums», das auf derselben Methode wie der Bericht von 1972 beruhte. In der Zwischenzeit hatte die Entwicklung neuer Technologien mit erhöhter Energieeffizienz zu einer gewissen Entkoppelung von Wirtschaftswachstum, Energieverbrauch und Umweltverschmutzung geführt. Auf der anderen Seite hatte sich das Wissen über den menschengemachten Klimawandel durch CO2-Ausstoss, der in seinen Grundzügen seit den 1950er Jahren bekannt war (s. SozialarchivInfo 6/2019), verbreitert. Nach der ersten Weltklimakonferenz von 1979 hatte sich die Klimaforschung intensiviert, und ab den 1980er Jahren bestätigten aktuelle Messungen der globalen Temperaturdaten, dass die prognostizierte Erderwärmung eingesetzt hatte. Im Jahr 1988 wurde zur Sammlung und Auswertung des Wissens in diesem Bereich das «Intergovernmental Panel on Climate Change» (IPCC) als UNO-Gremium eingerichtet, das 1990 den ersten Sachstandsbericht vorlegte.

Bereits 1987 hatte die von der UNO ins Leben gerufene «Weltkommission für Umwelt und Entwicklung» unter Leitung der norwegischen Spitzenpolitikerin Gro Harlem Brundtland den Bericht «Our Common Future» zu den Perspektiven einer langfristig angelegten umweltverträglichen globalen Entwicklung vorgelegt, der Ausgangspunkt der Diskussionen über das Konzept der «Nachhaltigkeit» bildete. Nach seiner Veröffentlichung erfolgte die Einberufung der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, die im Juni 1992 in Rio stattfand. Der «Erdgipfel» war seit der Stockholmer Konferenz die erste grössere Konferenz zu globalen Umweltfragen. Neben den offiziellen Delegationen nahmen daran 2’400 Vertreter:innen von nicht-staatlichen Organisationen teil, weitere 17’000 Menschen beteiligten sich am parallel stattfindenden NGO-Forum. Wichtigste Ergebnisse der Konferenz waren das Aktionsprogramm «Agenda 21», die Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, die UNO-Klimarahmenkonvention, die Biodiversitätskonvention, die «Forest Principles» und die Einsetzung der «Kommission der Vereinten Nationen für Nachhaltige Entwicklung».

Das im Jahr der Rio-Konferenz erscheinende Update der «Grenzen des Wachstums» bezog diese und andere Entwicklungen sowie neue Erkenntnisse – etwa grössere Rohstoffvorräte als 20 Jahre zuvor bekannt – in seine aktualisierten Simulationen ein. Dennoch blieben die Erkenntnisse in der Tendenz ähnlich wie schon 1972: Die meisten Szenarien führten im Verlauf des 21. Jahrhunderts an die Wachstumsgrenzen und zum nachfolgenden Zusammenbruch. Lediglich drei der im Bericht vorgestellten Szenarien mündeten in einen Gleichgewichtszustand. Sie setzten umfangreiche Massnahmen zur Produktions- und Geburtenbeschränkung, Emissionsbekämpfung, Erosionsverhütung und Ressourcenschonung voraus, wobei gemäss Simulation der in einem Gleichgewichtszustand erreichbare materielle Lebensstandard umso tiefer war, je später diese Massnahmen umgesetzt wurden.

Ein weiteres Update erschien 2004. Die Autor:innen nahmen darin leichte Veränderungen an ihrem Computermodell vor, aktualisierten die verwendeten Daten, hielten Rückschau auf die Entwicklung von 1972 bis 2002 und errechneten verschiedene Szenarien möglicher Entwicklung von 2002 bis 2100. Die Analyse der Entwicklung der vorangegangenen drei Jahrzehnte konstatierte eine Zunahme sozialer Ungleichheiten, eine Übernutzung der Böden und Gewässer sowie eine in wenigen Jahrzehnten bevorstehende Erschöpfung fossiler Rohstoffe. Die Kapazitäten der Erde, Rohstoffe nachhaltig zur Verfügung zu stellen und Schadstoffe zu absorbieren, seien um das Jahr 1980 erreicht worden und 2004 bereits um 20 Prozent überschritten («Overshoot»). In den meisten errechneten Zukunftsszenarien wurden die Wachstumsgrenzen bis spätestens 2100 überschritten und von einem Kollaps gefolgt, bei Fortführung des bisherigen «business as usual» bereits ab den 2030er Jahren. Nur die Simulation eines äusserst energischen Massnahmenkatalogs aus Konsumeinschränkungen, Reduktion des Schadstoffausstosses, Kontrolle des Bevölkerungswachstums und zahlreichen weiteren Massnahmen ergab eine nachhaltige Gesellschaft bei einer Weltbevölkerung von 8 Milliarden Menschen.

Das bislang letzte Update der «Grenzen des Wachstums», verfasst von Jørgen Randers, erfolgte 2012 unter dem Titel «2052: A Global Forecast for the Next Forty Years. Already Beyond? – 40 Years Limits to Growth». Randers skizzierte ein düsteres Bild der Zukunft. Zwar konstatierte er, dass der Anpassungsprozess der Menschheit an die Grenzen des Planeten begonnen habe und auch weitergehen werde, diese Reaktionen seien aber zu langsam. Den kritischsten Punkt stellten die Treibhausgasemissionen dar, die so hoch bleiben würden, dass sich in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts die Erderwärmung verstärke und unkontrollierbar werde. Die Weltbevölkerung werde bereits kurz nach 2040 ihren Höhepunkt erreichen und dann zurückgehen. Das globale Bruttoinlandsprodukt werde langsamer wachsen als erwartet und 2050 etwa 2,2mal so hoch sein wie 2012. Das verlangsamte Wachstum des Pro-Kopf-Verbrauchs in grossen Teilen der Welt und dessen Stagnation in reichen Weltregionen würden soziale Spannungen und Konflikte verschärfen und dies wiederum den systematischen Produktivitätsanstieg bremsen. Dieser werde sich gegenüber der Vergangenheit auch deshalb verlangsamen, weil das Entwicklungspotenzial vieler Volkswirtschaften zunehmend ausgeschöpft sei und extreme Wetterbedingungen dämpfend wirken. Der globale Konsum von Gütern und Dienstleistungen erreiche seinen Höhepunkt um 2045 und gehe dann zurück, da ein zunehmender Anteil des Bruttoinlandsprodukts für Investitionen zur Bekämpfung ökologischer und sozialer Probleme werde aufgewendet werden müssen.

Die Folgen dieser Entwicklungen, so der Bericht weiter, würden ungleich über die Welt verteilt sein: Verlierer seien die heute reichen Industriestaaten, insbesondere die USA, Gewinner China und in bescheidenerem Ausmass die Schwellenländer (inklusive Russland), während der Rest der Welt arm bleibe. Alle Gesellschaften, insbesondere aber diejenigen in den armen Weltregionen, würden in einer Welt leben, die zunehmend von Chaos und Klimaschäden geprägt sein würde. Die Ressourcen- und Klimaprobleme nähmen bis 2052 noch keine katastrophalen Ausmasse an, jedoch sei bis dann bereits unnötiges Leiden wegen unverminderter Klimaschäden zu verzeichnen. In der zweiten Jahrhunderthälfte befinde sich die Menschheit dann auf einem gefährlichen Pfad sich selbst verschärfender globaler Erwärmung. Hinzu komme ein bedeutender Verlust an Biodiversität. Der verengte Blick auf kurzfristige Erfolge, so Randers, führe weiterhin dazu, dass Entscheide für langfristiges Wohlergehen nicht rechtzeitig getroffen werden.

Ein weiterer Bericht des Club of Rome im Jahr 2016, verfasst von Jørgen Randers und Graeme Maxton, trug den englischen Titel «Reinventing prosperity», die deutsche Übersetzung war überschrieben mit «Ein Prozent ist genug – Mit wenig Wachstum soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Klimawandel bekämpfen». Das Buch propagierte einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel, weg vom im Bericht als «marktradikales Denken» kritisierten Fokus auf individuelle Konsumsteigerung, Wettbewerb und Freihandel, hin zu einer «modifizierten Marktwirtschaft». Als Massnahmen zur Verminderung von Erderwärmung, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Ungleichheit vorgeschlagen wurden Arbeitszeitverkürzungen, die Anhebung des Renteneintrittsalters, eine Neudefinition der bezahlten Arbeit unter Einbezug familiärer Care-Arbeit, Erhöhung von Arbeitslosengeldern, Erhöhung der Besteuerung von Unternehmen sowie hoher Vermögen und insbesondere von Gewinnen aus der Automatisierung, «grüne» Konjunkturpakete, Lenkungsabgaben auf fossilen Brennstoffen und deren Rückverteilung an die Bevölkerung, Verlagerung von der Einkommens- auf die Emissionsbesteuerung, Erhöhung der Erbschaftssteuern, Förderung gewerkschaftlicher Organisation, Beschränkung des Aussenhandels, Förderung kleinerer Familien zwecks Geburtenkontrolle sowie die Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens «für diejenigen, die es am dringendsten brauchen».

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

Ar 160.50.11 Meier, Max (17.4.1917–17.3.2008): Grenzen des Wachstums 1991–2000
Ar 201.130 Dokumentation Anti-AKW-Bewegung
Ar 507 Greenpeace Schweiz
Ar 510 Schweizerische Energie-Stiftung
Ar 692 Burgdorfer Initiative (Eidgenössische Volksinitiative für 12 motorfahrzeugfreie Sonntage pro Jahr)
Ar 1013 Wiederkehr, Roland (*1943)
Ar W 68 Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz SGU
Ar WWF World Wide Fund for Nature Schweiz

Sachdokumentation

QS 02.0 Demografie; Bevölkerungsstatistik; Bevölkerungspolitik
ZA 19.0 *1 Ökologie; Umweltschutz: Allg.
ZA 19.0 *3 Umweltschutzpolitik; Nachhaltige Entwicklung

Bibliothek

Aegerter, Simon: Das Wachstum der Grenzen: Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen. Zürich 2020, 144871
AK Postwachstum (Hg.): Wachstum – Krise und Kritik: Die Grenzen der kapitalistisch-industriellen Lebensweise. Frankfurt/New York 2016, 135455
Albrecht, Christian et al. (Red.): Das Klima ändert – auch in der Schweiz: Die wichtigsten Ergebnisse des dritten Wissensstandsberichts des IPCC aus der Sicht der Schweiz. Bern 2002, Gr 10660
Binswanger, Hans Christoph et al. (Hg.): Der NAWU-Report: Wege aus der Wohlstandsfalle: Strategien gegen Arbeitslosigkeit und Umweltkrise. Frankfurt 1978, 62071
Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.): Unsere letzte Chance: Der Reader zur Klimakrise. Berlin 2019, 143347
Blühdorn, Ingolfur: Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit: Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. Bielefeld 2020, 143276
Bombach, Gottfried: Planspiele zum Überleben: Prophezeiungen des «Club of Rome». o. O. 1973, K 695:111
Borgese, Elisabetz Mann: Die Zukunft der Weltmeere: Ein Bericht an den Club of Rome. Wien etc. 1985, 79827
Bossert, Leonie et al. (Hg.): Damit gutes Leben mit der Natur einfacher wird: Suffizienzpolitik für Naturbewahrung. Marburg 2020, 143444
Braillard, Philippe: L’imposture du Club de Rome. Paris 1982, 72698
Brüggemeier, Franz-Josef und Jens Ivo Engels (Hg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945: Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt 2005, 114266
Caradonna, Jeremy L. (Hg.): Routledge handbook of the history of sustainability. London/New York 2018, Gr 14823
Cebrián, Juan Luis: Im Netz – die hypnotisierte Gesellschaft: Der neue Bericht an den Club of Rome. Stuttgart 1999, 105462
Club of Rome (Hg.): Die Herausforderung des Wachstums: Globale Industrialisierung: Hoffnung oder Gefahr? Zur Lage der Menschheit am Ende des Jahrtausends: Berichte internationaler Experten an den Club of Rome. Bern etc. 1990, 90327
Cole, H. S. D.: Die Zukunft aus dem Computer? Eine Antwort auf Die Grenzen des Wachstums. Neuwied/Berlin 1973, 51640
Comité exécutif du Club de Rome (Hg.): Rapport de Tokyo: Symposium technique du Club de Rome sur le thème: Vers une vision globale des problèmes humains. Paris 1974, 52796
Cortekar, Jörg et al.: Die Umwelt in der Geschichte des ökonomischen Denkens. Marburg 2006, 116836
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Von der Impfkuh zum mRNA-Booster: Impfgeschichte als Gesellschaftsgeschichte

«Impfen, impfen, impfen – boostern, boostern, boostern» – diese Botschaften waren in den letzten Monaten in Aufrufen von Behörden, Wissenschaft und Medien allgegenwärtig. Anfang 2022 meinte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in einem Interview gar: «Eh bien, là, les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder.» Zugleich tobte auf Telegram- und Facebook-Kanälen eine gewaltige Propagandakampagne gegen die Covid-Impfungen, in der immer wieder auch «Fake News» verbreitet wurden und sich sogar Aufrufe zur Gewalt fanden. Anfang November 2021 sprach Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Rates des Weltärztebundes, in einer Fernsehtalkshow zum Thema Impfpflicht von einer «Tyrannei der Ungeimpften, die über das zwei Drittel der Geimpften bestimmen und uns diese ganzen Massnahmen aufoktroyieren». Der Umstand, dass das Impfen über die Präventivmedizin und Gesundheitspolitik weit hinaus ein auch emotional und weltanschaulich aufgeladenes Thema darstellt, ist indessen keineswegs ein Novum der Corona-Zeit. Vielmehr zeigt ein Blick zurück diesbezüglich bemerkenswerte Kontinuitäten in den letzten 200 Jahren Impfgeschichte. Die gesellschaftshistorische und politische Relevanz des Impfthemas bringt es mit sich, dass dieses auch in den umfangreichen Beständen des Schweizerischen Sozialarchivs zu Gesundheitswesen und Gesundheitspolitik gut vertreten ist (s. SozialarchivInfo 2/2020 und 3/2020).

Entwicklung des Impfwesens

Als erste wirksame Impfung stand ab dem späten 18. Jahrhundert die Pocken-Vakzination zur Verfügung. Bis zum 19. Jahrhundert forderten die Pocken auch in der Schweiz zyklisch zahlreiche Tote, insbesondere unter Kleinkindern. Noch im 17. Jahrhundert starb eines von zehn Kindern vor dem 10. Geburtstag an dieser Krankheit. In den Epidemiewellen vor dem Aufkommen der Impfung betrug die Sterblichkeit bei Infizierten jeweils 10 bis 30 Prozent und viele Überlebende trugen lebenslange Behinderungen, Erblindungen und Entstellungen davon. Nach mehreren Vorläufern setzte sich ab den 1790er Jahren die vom britischen Landarzt Edward Jenner entwickelte Immunisierung durch Infizierung mit für Menschen harmlosen Kuhpocken durch. Vom lateinischen Begriff «vacca» für Kuh leitete sich in der Folge denn auch in verschiedenen Sprachen die Impfterminologie («vaccination») ab. Allerdings führte die Verabreichung tierischer Stoffe in der Bevölkerung auch zu Ängsten, etwa vor Menschen mit Kuhköpfen, Hörnern oder Kuheutern.

Bereits 1798 publizierte der Genfer Arzt Louis Odier eine kommentierte Übersetzung von Jenners Werk und nach einer heftigen Pockenepidemie 1800, die allein in Genf 265 Tote forderte, wurden europaweit grosse Impfkampagnen durchgeführt, die zu einem raschen Rückgang der Sterberaten an Pocken führten. Im Kanton Zürich war die Pockenimpfung für Kinder bedürftiger Eltern ab 1811 kostenlos. 1819 wurde die Regel eingeführt, dass bei Pockenausbrüchen das ganze betroffene Haus unter Quarantäne gestellt und die entstehenden Kosten den darin wohnhaften Ungeimpften überbürdet wurden. Allerdings gab es schon früh auch Widerstände: Der Tiroler Aufstand von 1809 richtete sich nicht zuletzt gegen die von den bayerischen Besatzern eingeführte Pockenimpfung, mit der nach landläufiger Meinung den Tirolern «bayrisches Denken» eingeimpft werden sollte. Rebellenführer Andreas Hofer setzte während der kurzen Zeit des Aufstandes die Pockenimpfungen aus. Einer der ersten Politiker, die den Nutzen der Pockenimpfung sahen, war dagegen Napoleon Bonaparte, der seine Soldaten konsequent durchimpfen liess.

Unter Napoleons Nachfolgern wurde diese Praxis aber sehr large gehandhabt, was sich dann 1870/71 im Deutsch-Französischen Krieg rächen sollte. Parallel zum Krieg breitete sich eine Pockenpandemie aus, die allein in Europa eine halbe Million Todesopfer forderte und auch Nord- und Südamerika, Japan und Indien erreichte. Die meisten deutschen Truppen hatten eine zweimalige Pockenimpfung erhalten, demgegenüber war auf französischer Seite, wo die Impfpflicht für Soldaten 1868 abgeschafft worden war, nur knapp die Hälfte der Soldaten wenigstens einmal geimpft. Während die französischen Truppen 125’000 Infizierte und 23’500 Pockentote verzeichneten, waren es auf deutscher Seite lediglich 8’500 Infizierte und 450 Tote. Anschliessend verbreiteten sich die Pocken unter den französischen Soldaten in den Kriegsgefangenenlagern in Deutschland und bei der in der Schweiz internierten Bourbaki-Armee weiter und griffen auch auf die lokale Zivilbevölkerung über.

Auch in den folgenden Kriegen war die Pockenimpfung in den Armeen ein Thema. In den kürzlich vom Sozialarchiv übernommenen Archivbeständen von «Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte» findet sich etwa das folgende, handschriftlich überlieferte Lied über Impfbeschwerden im Schweizer Aktivdienst des Ersten Weltkriegs, das auf die Melodie von «O alte Burschen Herrlichkeit» gedichtet war:

«1. Ein Seufzen geht durchs Regiment, man sieht gedrückte Mienen,
und mancher nennt sich jetzt Patient, der sonst zum Dienst erschienen
man greift zum Oberarm, und schimpft, warum? man
wurde frisch geimpft, der Oberfeldarzt wollte,
dass dies geschehen sollte.

2. Von Anfang an ist man noch gesund,
doch kaum nach wenig Tagen,
tut sich der Impfung Wirkung kund,
mit allen seinen Plagen.
Es zuckt der Arm, die Muskel schwillt,
man heult und schreit, und fiebert wild
und liegt in seiner Kammer,
gleich als ein Haufen Jammer.

3. Ein Trost ist dennoch auch dabei,
und zwar ist’s kein geringer,
denn wer es auch noch immer sei,
dem Arzt fiel in die Finger,
denn auch den Vorgesetzten juckts,
und im gestrengen Antlitz zuckt’s,
man sieht auch er hat Schmerzen,
und gönnt sie Ihm von Herzen.»

Bei der letzten Pockenepidemie in der Schweiz zwischen 1921 und 1925 starben aufgrund der hohen Durchimpfung der Bevölkerung von den 5’463 Erkrankten dann nur noch deren 14. Seit 1933 wurde in der Schweiz kein Pockenfall mehr gemeldet. Für mehrere Jahrzehnte blieb die Pockenimpfung die einzige wirksame Vakzination. Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelten Bakteriolog:innen und Immunolog:innen dann Impfungen gegen eine Reihe weiterer Krankheiten, so gegen Tollwut (1885), Cholera (1884, 1892), Typhus (1896), Diphtherie (1923), Tetanus (1926), Keuchhusten (1926), Tuberkulose (1927), Gelbfieber (1935), Grippe (1942), Kinderlähmung (1956, 1960), Masern (1964), Mumps (1967), Röteln (1970), Hepatitis B (1969, 1981) und Hepatitis A (1991, 1995).

Die Einführung der Tuberkulose-Impfung verzögerte sich um zwei Jahrzehnte wegen eines Unfalls in Lübeck im Jahr 1930, bei dem eine Verunreinigung des Impfstoffs zum Tod von 77 Kindern führte. Dieses grösste Impfunglück des 20. Jahrhunderts gab in Deutschland den Impfgegner:innen Aufschwung und verhinderte die grossflächige Anwendung der Tuberkulose-Impfung bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach 1945 gingen dann dank der Impfung, dem Einsatz von Antibiotika und einer generellen Verbesserung der Lebensverhältnisse in Europa die Zahlen der Tuberkulosetoten massiv zurück – in der Schweiz etwa von 3’055 im Jahr 1947 auf 20 im Jahr 2008. Die Kinderlähmung, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert massiv ausgebreitet hatte und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA alle fünf bis sechs Jahre als Epidemie wütete, konnte ab den 1960er Jahren durch grossangelegte Impfkampagnen weltweit stark zurückgedrängt werden. Die Pocken befanden sich dank weltweiter Impfanstrengungen bereits seit dem 19. Jahrhundert auf dem Rückzug. 1980 konnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Krankheit für ausgerottet erklären und in vielen Ländern wurden bestehende Obligatorien der Pockenimpfung für Kinder aufgehoben.

Impfpflicht und Impfgegnerschaft im 19. Jahrhundert

Der Erfolg der Pockenimpfung führte rasch zu Diskussionen über gesetzliche Impfobligatorien. Das Königreich Bayern erliess schon 1807 eine entsprechende Impfpflicht, 1818 folgte Württemberg und danach verschiedene kleinere deutsche Staaten. 1816 wurde in Schweden die Impfpflicht für Kleinkinder eingeführt. In Grossbritannien wurde ein Impfobligatorium zuerst 1853 für England und Wales erlassen, in den 1860er Jahren auch in Schottland und Irland. Aufgrund religiöser Widerstände wurde die Impfpflicht in Grossbritannien dann 1898 durch eine «Gewissensklausel» abgeschwächt, worauf die Impfquote bis 1910 wieder auf 64 Prozent fiel. 1867 folgte die Pocken-Impfpflicht in Japan. In den Niederlanden wurde nach der grossen Pockenepidemie der frühen 1870er Jahre eine Impfpflicht für Lehrer:innen und Schüler:innen erlassen. In anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Preussen, Österreich-Ungarn und Italien bestanden keine direkte Impfpflicht, sondern nur Empfehlungen und teilweise selektive und unterschiedlich strikt umgesetzte Obligatorien in der Volksschule und der Armee. 1873 forderte der Internationale Medizinische Kongress in Wien die Regierungen zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht auf.

Das neugegründete Deutsche Reich erliess nach der schweren Pockenepidemie zwischen 1870 und 1873, die 180’000 Todesopfer forderte, 1874 ein allgemeines Pocken-Impfobligatorium. Es umfasste eine Impfpflicht für Kinder, die nicht bereits an den Pocken erkrankt waren, im zweiten Lebensjahr und eine verpflichtende Wiederholungsimpfung mit zwölf Jahren. Die Impfung war kostenlos. Die Erfüllung der Impfpflicht wurde in einem persönlichen Impfschein bestätigt, der beispielsweise bei der Einschulung vorgezeigt werden musste. Bis zur Jahrhundertwende führten auch 11 US-Bundesstaaten Impfobligatorien ein, die 1905 und 1922 in zwei Grundsatzentscheiden vom Supreme Court gestützt wurden. In Rio de Janeiro führte im November 1904 ein im Zuge eines allgemeinen Modernisierungsprogramms erlassener rabiater Impfzwang, der Impfbrigaden das Eindringen in Wohnungen und die gewaltsame Verabreichung von Pockenimpfungen erlaubte, zur «Revolta da Vacina», mehrtägigen Krawallen, die 30 Todesopfer forderten. Die Impfpflicht wurde daraufhin für mehrere Jahre ausgesetzt. Nach einer grossen Pockenepidemie in Rio, die 9’000 Todesfälle verursachte, wurde sie 1909 in gemässigter Form wieder aufgenommen.

Auch die meisten Schweizer Kantone führten ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Impfobligatorien ein. Den Anfang machte 1806 der Kanton Thurgau. Nach dem liberalen Umschwung erliess der Kanton Zürich in den 1830er Jahren die Pflicht, dass alle Einwohner:innen des Kantons in der Regel im ersten Lebensjahr der Pockenimpfung zu unterziehen seien «und zwar nöthigenfalls wiederholt bis nämlich dieselbe einen vollkommenen Erfolg gehabt hat». Für Personen, die sich neu im Kanton Zürich niederlassen wollten, galt eine «1G»-Regel: Waren sie ungeimpft, so hatten sie die Pflicht, «der ersten Aufforderung, sich impfen zu lassen, Folge zu leisten». Impfungen durften nur von Ärzten vorgenommen werden und hatten von Amtes wegen in jeder Gemeinde mindestens einmal pro Jahr stattzufinden. Zu diesen amtlichen Impfterminen wurden alle ungeimpften Kinder, die älter als ein Jahr waren, aufgeboten. Die nach der Impfung ausgestellten amtlichen Impfscheine waren beim Eintritt in die obligatorische Volksschule oder die Aufnahme in eine Waisen- oder Armenanstalt vorzulegen. Die Bundesverfassung von 1848 übertrug die Kompetenz zum Erlass gesundheitspolizeilicher Verfügungen bei Epidemien zwar dem Bund, die Durchführung von Impfkampagnen oblag aber weiterhin den Kantonen. Bis in die 1870er Jahre führten mit Ausnahme von Uri und Genf sämtliche Kantone Impfobligatorien ein, die sich in ihren Modalitäten aber unterschieden und häufig nicht konsequent umgesetzt werden konnten. 1870 forderte der «Verein für natürliche Lebens- und Heilweise» vergeblich ein «Impfzwangverbot» in der Bundesverfassung und im folgenden Jahr verfügte der Bundesrat nach den Erfahrungen des Deutsch-Französischen Krieges die Revakzination («Booster») in den Rekrutenschulen.

1882 sah das von den eidgenössischen Räten mit grosser Mehrheit verabschiedete «Bundesgesetz betreffend Massnahmen gegen gemeingefährliche Epidemien» unter anderem ein Obligatorium der Pockenimpfung vor. Die im «Schweizerischen Verein gegen Impfzwang» zusammengeschlossenen Impfgegner:innen liefen daraufhin Sturm, zogen die Wirksamkeit der Pockenimpfung in Zweifel und stellten diese gar als grosses Gesundheitsrisiko dar. Dabei wurden gesundheitspolitische Argumente mit religiösen und patriotischen Phrasen angereichert: «Erinnert Euch daran, dass die Osterfeier ja die Befreiung vom theologischen Pharisäertum bedeutet; heute gilt es die Befreiung vom medizinischen Pharisäertum. – Wie ehemals steht die Schweiz im Kampfe um ihre Freiheit gegen die Anmassungen einer Anzahl Herrschsüchtiger, die mit dem höchsten Gut – dem Leben und der Gesundheit des Bürgers – ihr Spiel treiben wollen! Sehen wir zurück auf die Männer im Grütli; sie duldeten keine Landvögte; – wir wollen keine Medizinalvögte; sie beugten sich nicht vor dem Gesslerhut; – sollten wir uns vor der Impfkuh verbeugen? Nimmermehr!»

Demgegenüber gelangte die schweizerische Sanitätskommission in einem Bericht an den Bundesrat zum Schluss: «Der Entscheid ist verantwortlich nach beiden Seiten. Wer vor den möglichen Schädigungen zurückschrickt, welche die Vaccination ausnahmsweise für den Einzelnen im Gefolge haben kann, wer aus diesem Grunde die Verantwortlichkeit für obligatorische Durchführung der Impfung von der Hand weist, übernimmt damit die schwere Verantwortlichkeit für all’ den Schaden, welchem facultatives Gehenlassen Thür und Thor öffnet. Welche Verhältnisse diese Schädigung durch Pocken annimmt bei mangelhafter Vaccination – und facultative wird stets mangelhaft sein – wie theuer ein solches Experiment von einem ganzen Volke bezahlt wird, das hat die Erfahrung zur Genüge gelehrt. Caveant consules, ne quid detrimenti capiat respublica! [Die höchsten Amtsträger mögen aufpassen, dass das Gemeinwesen keinen Schaden nimmt!]»

Das vorgesehene bundesgesetzliche Impfobligatorium führte zu einem Referendum von Gegnern des Impfens und der modernen Medizin sowie föderalistisch motivierten Konservativen, die in jenen Jahren das neue Instrument des Referendums regelmässig nutzten, um gegen die freisinnige Vorherrschaft im Bund Stimmung zu machen. Verschiedene Gesetze fielen dieser oppositionellen Bewegung zum Opfer, so auch das Epidemiengesetz, das von über 78 Prozent der Stimmenden abgelehnt wurde. Ausser dem Kanton Neuchâtel schickten sämtliche Stände die Vorlage bachab (s. SozialarchivInfo 1/2020). Das Epidemiengesetz von 1886 beliess daraufhin die Durchführung von Impfkampagnen und den Erlass eventueller Impfobligatorien weiterhin bei den Kantonen. Beflügelt durch den Erfolg von 1882 setzten die Impfgegner:innen in der Folge aber in mehreren Deutschschweizer Kantonen die Abschaffung bestehender Impfobligatorien durch. Im Kanton Zürich war 1880 eine Volksinitiative für die Aufhebung der Impfpflicht noch von 55,5 Prozent der Stimmenden abgelehnt worden, bereits drei Jahre darauf wurde aber eine weitere Initiative gleichen Inhalts von 61,2 Prozent angenommen. 1895 stimmte auch im Kanton Bern eine knappe Mehrheit für die Aufhebung der Impfpflicht.

Die Impfgegnerschaft hatte sich in verschiedenen Ländern um 1870 organisiert. Vordergründig wandte sie sich lediglich gegen Impfobligatorien, einem grossen Teil davon ging es aber darum, das Impfen grundsätzlich sowie die beteiligten Mediziner:innen und Behörden zu diskreditieren. Typische Muster waren dabei die Bezeichnung der Impfung als gegen den Willen Gottes oder der Natur, die Anzweiflung ihrer Wirksamkeit, die drastische Darstellung einzelner Fälle von Impfschädigungen und die Unterstellung von Geldgier an die Impfärzt:innen. In England erschien 1869 mit dem «Anti-Vaccinator» die erste impfgegnerische Zeitschrift. Die gerichtliche Verfolgung von impfpflichtverweigernden Eltern führte dann 1876 in Yorkshire und 1885 in Leicester zu Massenprotesten. In den 1870er Jahren entstanden in mehreren deutschen Städten Impfgegnervereine. 1879 wurde die «Anti-Vaccination Society of America» gegründet, drei Jahre darauf entstand in Paris der «Internationale Verband der Impfgegner». In der Folgezeit fanden mehrere internationale Impfgegner-Kongresse statt. Als im Deutschen Reich 1911 der «Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung» als Dachverband aus der Taufe gehoben wurde, traten ihm über 40 Impfgegnerorganisationen bei. Neben volkstümlichen Ängsten und religiös motivierten Abwehrhaltungen flossen in die Bewegungen der Impfgegner:innen generelle Modernitätskritik sowie vor allem im deutschsprachigen Raum eine aus der Romantik stammende Mystifizierung der Natur ein. Hinzu kamen ab dem späten 19. Jahrhundert Einflüsse aus der Naturheilkunde, Lebensreformbewegung und nach der Jahrhundertwende dann der Anthroposophie.

Frühzeitig nahm sich auch der in verschiedenen europäischen Ländern in den 1870er Jahren entstehende moderne Antisemitismus, der mit stärker rassistischen als religiösen Parolen gegen die Gleichberechtigung der jüdischen Minderheiten agitierte und den Judenhass zum politischen Programm erhob, des Impfthemas an. So behauptete der deutsche Philosoph Eugen Dühring, einer der Begründer des Rassenantisemitismus, 1881 in seinem Buch «Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage mit einer weltgeschichtlichen Antwort», das Impfobligatorium gehe auf die Machenschaften geldgieriger jüdischer Ärzte zurück: «Der ärztliche Beruf ist wohl unter allen gelehrten Geschäftszweigen nächst dem Literaten am stärksten von Juden besetzt. Die künstliche Beschaffung einer Menge von Nachfragen nach ärztlichen Diensten ist ein Gesichtspunkt, dessen Bethätigung immer ungenirter geworden ist. Socialökonomisch betrachtet, also auch von dem Impfaberglauben selbst abgesehen, ist der Impfzwang immer ein Mittel, durch welches dem ärztlichen Gewerbe eine unfreiwillige Kundschaft zugeführt wird. […] Die Juden sind es auch hier gewesen, die durch die gesamte Presse und durch ihre Leute und Genossen im Reichstage das Zwangsrecht als selbstverständlich befürwortet, dem Streben der Aerzte überall den Stempel blosser Geschäftlichkeit aufgedrückt und die Besteuerung der Gesellschaft durch Aufnöthigung ärztlicher Dienste zum Princip gemacht haben». Paul Förster, 1880 Mitinitiator einer Petition, die die rechtliche Gleichstellung der Juden im Deutschen Reich rückgängig machen wollte, und von 1893 bis 1898 Abgeordneter der antisemitischen «Deutschsozialen Partei», beantragte 1896 im Reichstag erfolglos die Abschaffung der Impfpflicht und wurde dann 1899 Vorsitzender des «Deutschen Bundes der Impfgegner».

Aus verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lagern kam anders begründete Skepsis an der Forcierung des Impfwesens, die aber keine grundsätzliche Impfgegnerschaft bedeutete. Gewisse liberale Kreise lehnten Impfobligatorien als staatlichen Eingriff in die persönliche Freiheit ab. Aus den Reihen der Sozialmedizin und Sozialhygiene wurde die – politisch teilweise von der Arbeiterbewegung unterstützte – Befürchtung geäussert, das Impfwesen könnte die gesundheitspolitisch notwendigen Verbesserungen der Lebens- und Hygieneverhältnisse in den Hintergrund drängen. Insgesamt widerspiegelten die impfpolitischen Debatten des späten 19. Jahrhunderts also ein weites Spektrum weltanschaulicher Konfliktlinien und gesellschaftlicher Problemfelder der Zeit. Daran sollte sich auch im 20. Jahrhundert nichts ändern.

Impfen als weltanschaulicher und politischer Zankapfel im 20. und frühen 21. Jahrhundert

Nach der Erfahrung der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920, die in der Schweiz als grösster demografischer Einbruch der Moderne etwa 25’000 Todesopfer forderte und bei der die Behörden der unterschiedlichen Staatsebenen ziemlich planlos und unkoordiniert agiert hatten, erhielt der Bundesrat 1921 durch einen neuen Artikel im Epidemiengesetz die Kompetenz, besondere Massnahmen gegen die Verbreitung einer Epidemie zu ergreifen, «wenn ausserordentliche Umstände es erfordern». Gestützt auf diesen Artikel erliess die Landesregierung während der letzten Pockenepidemie in der Schweiz 1923 ein Impfobligatorium. Dieses wurde von der «Vereinigung schweizerischer Impfzwanggegner» als illegal angeprangert, 1924 nach dem Rekurs eines Impfpflichtverweigerers aber vom Bundesgericht als rechtmässig anerkannt. Eine Volksinitiative für die Aufhebung des Impfobligatoriums im Kanton Graubünden wurde 1921 von den Stimmberechtigten mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt.

Auch in anderen Ländern waren Impfobligatorien und auch das Impfen an und für sich weiterhin ein Politikum. In Deutschland lebte in der Zwischenkriegszeit in Teilen der nationalsozialistischen Bewegung die seit dem späten 19. Jahrhundert bestehende Verbindung von Impfgegnerschaft und Antisemitismus weiter. Zu den Impfgegnern zählten führende Nazis wie SS-Reichsführer Heinrich Himmler und Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess. Ein weiteres prominentes Beispiel war Julius Streicher, Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes «Stürmer», der 1935 das Impfen als «Rassenschande» bezeichnete. Zwei Jahre zuvor hatte der «Stürmer» eine Illustration abgedruckt mit einem diabolisch lächelnden Arzt mit Hakennase und Impfspritze und einer Mutter mit Kind und dem Slogan: «Es ist mir sonderbar zu Mut, denn Gift und Jud tut selten gut.» 1934 behauptete der «Deutsche Impfgegner-Ärztebund», das aus dem Kaiserreich stammende Impfobligatorium sei vor allem von jüdischen Abgeordneten erarbeitet worden. Nationalsozialistische Impfgegner:innen sahen in der Vakzine gar ein Mittel, um durch «Einimpfen von Krankheiten» eine jüdische Herrschaft im Sinne der gefälschten «Protokolle der Weisen von Zion» zu errichten (s. SozialarchivInfo 1/2021). Hinzu kam, dass der Gedanke der Immunisierung der Massen der nationalsozialistischen Ideologie von Auslese, Abhärtung und «Ausmerzung» von Schwachen widersprach, die ab 1934 in verschiedene Eugenik- und Euthanasieprogramme mit Zehntausenden von Opfern mündete.

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde das bestehende Obligatorium der Pockenimpfung zunächst etwas gelockert. Die Diphtherie-Impfung blieb im «Dritten Reich» freiwillig. Schliesslich setzten sich aber doch die militärischen Kreise durch, die zur Stärkung der Wehrkraft auf eine konsequente Durchimpfung gegen die Pocken pochten. Während des Zweiten Weltkriegs spielte das Impfen sowohl in der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen eine Rolle als auch beim Widerstand dagegen. In verschiedenen Konzentrationslagern und NS-Forschungsinstitutionen wurde das Blut von Häftlingen zur Herstellung von Fleckfieber-Impfstoff mittels Läusen nach einer vom polnischen Arzt Rudolf Weigl entwickelten Methode verwendet. Ebenso wurden in mehreren Konzentrationslagern bei Häftlingen absichtliche Infektionen herbeigeführt, um an ihnen neue Fleckfieber-Impfstoffe zu testen. An den künstlichen Infektionen starben mehrere hundert Menschen, die nichtgeimpften Kontrollgruppen angehörten oder mit untauglichen Impfstoffkandidaten behandelt wurden. Diese Verbrechen, die im Gesamtrahmen der nationalsozialistischen Medizinalverbrechen angesichts der Euthanasieaktion «T4», bei der 1940/41 über 70’000 Behinderte ermordet wurden, oder der sadistischen Menschenversuche Josef Mengeles und anderer KZ-Ärzte in Auschwitz ein Nebenkapitel darstellen, werden von Impfgegner:innen bis heute als Argument verwendet – aktuell teilweise durch deren Gleichsetzung mit der raschen Entwicklung der Covid-Impfstoffe.

Weniger bekannt ist die Rolle des Impfens im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Im KZ Buchenwald gelang 1944/45 dem polnisch-jüdischen Mikrobiologen und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck, ehemaligem Assistenten des Fleckfieberexperten Weigl, zusammen mit anderen in der Impfstoffproduktion eingesetzten Häftlingen eine Sabotageaktion: Die Gruppe produzierte gezielt unwirksamen Impfstoff, der an die Waffen-SS geliefert wurde. Zuvor hatte Fleck 1941/42 im Ghetto Lemberg unter widrigsten Bedingungen ein Herstellungsverfahren von Fleckfieber-Impfstoff aus dem Urin Infizierter für die Ghetto-Bewohner:innen entwickelt. Rudolf Weigl selber führte nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs seine Impfstoffproduktion in Lemberg weiter, das 1939 von der Roten Armee, 1941 dann von der Wehrmacht besetzt wurde. Nach dem deutschen Einmarsch erklärte er sich zur Zusammenarbeit mit den Besatzern bereit, nutzte seine Position aber dazu, mehrere Tausend Menschen, darunter Jüdinnen und Juden, zu retten, deren Blut bei der Impfstoffproduktion benötigt wurde und die als kriegswichtige Mitarbeiter:innen («Läusefütterer») einen privilegierten Status erhielten. 2003 wurde Weigl deshalb von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem posthum als «Gerechter unter den Völkern» geehrt. Basierend auf Weigls Forschungen gelang es den Ärzten Stanisław Matulewicz und Eugeniusz Łazowski über Jahre, in zwei polnischen Ortschaften durch Injektionen von Antigenen eine Fleckfieber-Epidemie vorzutäuschen und dadurch zahlreichen in der von den deutschen Besatzern verhängten Sperrzone anwesenden Jüdinnen und Juden sowie Widerstandskämpfer:innen das Leben zu retten. Im Warschauer Ghetto hielt der Mediziner Ludwik Hirszfeld, ehemaliger Privatdozent der Universität Zürich und bis zur deutschen Invasion 1939 Professor in Warschau, 1941/42 heimlich medizinische Vorlesungen und führte auch Impfkampagnen durch, bevor er in den Untergrund abtauchten musste und den Krieg unter falschem Namen überlebte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Diskussionen um Impfobligatorien weiter. In Grossbritannien wurde 1948 das seit Jahrzehnten durch Ausnahmeklauseln abgeschwächte Obligatorium der Pockenimpfung ganz abgeschafft. In der Bundesrepublik Deutschland blieb die Pocken-Impfpflicht bis 1976 bestehen und bis 1954 war auch die Impfung gegen Diphtherie und in einigen Bundesländern gegen Scharlach obligatorisch, während die DDR ab 1953 ein umfassendes Impfprogramm mit verpflichtendem Charakter aufbaute, das eine ganze Reihe von Krankheiten umfasste und beispielsweise 1961 auch die Impfung gegen die Kinderlähmung obligatorisch machte. In der Schweiz hatte der Bundesrat 1940 und 1944 erneute Obligatorien für die Pockenimpfung erlassen. Diese beiden Beschlüsse, die abermals auf Widerstände organisierter Impfgegner:innen stiessen, wurden 1948 wieder aufgehoben. 1975 kannten nur noch fünf Kantone die obligatorische Pockenimpfung. Zwei Jahre zuvor hatte das Bundesgericht im Zusammenhang mit einer Klage gegen die Diphtherie-Impfpflicht im Kanton Waadt Impfobligatorien als verfassungsgemäss bezeichnet. 1982 bestätigte das Gericht dieses Urteil in einem weiteren Fall. 1970 erfolgte eine Totalrevision des eidgenössischen Epidemiengesetzes und 1976 wurde die Verordnung für kostenlose Impfungen erlassen. Dadurch wurden die Kantone zur kostenlosen Impfung gegen gemeingefährliche ansteckende Krankheiten verpflichtet und dazu ermächtigt, diese für obligatorisch zu erklären. In der Gegenwart existieren in den Kantonen Genf und Freiburg (allerdings nicht konsequent umgesetzte) Impfobligatorien gegen die Diphtherie.

Eine weitere Totalrevision des Epidemiengesetzes fand 2012/13 statt. Sie führte neu zwischen der «normalen» und der «ausserordentlichen» noch die «besondere Lage» ein, die dann im Frühjahr 2020 erstmals ausgerufen werden musste. Im Bereich des Impfwesens verpflichtet das Gesetz das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, Empfehlungen in Form eines nationalen Impfplans auszusprechen. Die Kantone haben die von diesen Empfehlungen betroffenen Personen zu informieren, den Impfstatus von Schulpflichtigen regelmässig zu überprüfen und «dafür [zu] sorgen, dass die von den Impfempfehlungen betroffenen Personen vollständig geimpft sind». Ebenso haben sie die Kompetenz, Impfungen «von gefährdeten Bevölkerungsgruppen, von besonders exponierten Personen und von Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch [zu] erklären, sofern eine erhebliche Gefahr besteht». In der «besonderen Lage» erhält auch der Bund die Kompetenz zur Anordnung solcher Impfobligatorien.

Gegen das Gesetz ergriffen das 2011 gegründete «Netzwerk Impfentscheid» um den Naturheilpraktiker Daniel Trappitsch, die Junge SVP, die EDU und weitere Gruppen das Referendum. Kritikpunkte waren neben den vorgesehenen Impfobligatorien – obgleich deren potenzieller Geltungsbereich gegenüber dem Vorgängergesetz eingeschränkt wurde – föderalistische und religiöse Bedenken. Das Referendumskomitee sprach im Bundesbüchlein von einem «Impfobligatorium durch Bund und WHO», einer «Gesundheitsdiktatur» sowie einer «Zwangssexualisierung unserer Kinder». Das Gesetz wurde 2013 in der Volksabstimmung aber mit 60 Prozent klar angenommen. Verwerfende Mehrheiten gab es lediglich in den Kantonen Schwyz, Uri und beiden Appenzell. Ende 2021 reichte dann die «Freiheitliche Bewegung Schweiz» um Trappitsch die Volksinitiative «Stopp Impfflicht» ein, die nicht nur Impfobligatorien, sondern jegliche gesellschaftlichen Einschränkungen für Ungeimpfte verbieten möchte.

War gemäss Impfstatistiken und Meinungsumfragen der harte Kern von grundsätzlichen Impfgegner:innen im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert in westlichen Gesellschaften mit deutlich unter 10 Prozent gering, so setzten sich in diesen Kreisen die seit dem späten 19. Jahrhundert dominanten, sehr heterogenen Einflüsse aus alternativmedizinischen, lebensreformerischen, esoterischen, anthroposophischen, antimodernistischen und rechtsextremen Kreisen bis in die Gegenwart fort. Neben die seit der Frühzeit der Impfkritik vorgebrachten Standardargumente traten ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene «Fake News», bei denen weltanschauliche, kommerzielle und geostrategische Interessen ineinanderflossen. Von den 1950er bis in die 1980er Jahre behauptete die amerikanische Impfgegnerin Eleanor McBean in mehreren Büchern Zusammenhänge zwischen der Pockenimpfung und späteren Tuberkuloseerkrankungen sowie zwischen Impfungen und Krebs. Auch leugnete sie die Pandemie der Spanischen Grippe, der 1918 bis 1920 weltweit 20 bis 50 Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren, und führte die Toten auf angebliche Impfschäden zurück – obwohl zu jener Zeit eine Grippeimpfung noch gar nicht existierte. Diese Behauptung begann dann in den 2010er Jahren auch im Internet zu zirkulieren und verbreitete sich während der Corona-Pandemie rasant auf den Social-Media-Kanälen von «Querdenker:innen».

1998 publizierte die angesehene medizinische Zeitschrift «The Lancet» einen Text des britischen Arztes Andrew Wakefield, der einen Zusammenhang zwischen der Masern-Mumps-Röteln-Impfung und Autismus suggerierte. Die Arbeit, für die Wakefield von geschäftlich an einer Sammelklage interessierten Anwälten Geld erhalten hatte, wurde Jahre später als Betrug entlarvt und 2010 von «The Lancet» zurückgezogen. Im selben Jahr verlor Wakefield seine Zulassung als Arzt. Obwohl zahlreiche nachfolgende Studien keinen Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus zeigten, beziehen sich Impfgegner:innen bis in die Gegenwart auf die Wakefield-Arbeit. 2014 twitterte Donald Trump Wakefields Thesen und 2016 produzierte Wakefield, der sich als Opfer stilisierte und mit Behandlungszentren und dem Verkauf von Pseudo-Medikamenten gegen Masern in den USA ein Riesenvermögen machte, auf Basis seiner Thesen den Antiimpffilm «Vaxxed: From Cover-Up to Catastrophe». 2019 erhielt der Film mit dem von Robert F. Kennedy Jr. produzierten Streifen «Vaxxed II: The People’s Truth» eine Fortsetzung. Im selben Jahr offenbarte eine Studie der britischen «Royal Society for Public Health», dass rund die Hälfte aller Eltern von Kindern unter 5 Jahren über Social Media regelmässig mit Desinformation zu Impfungen konfrontiert wurden.

Aufgrund der Aktivitäten Wakefields, der zuweilen als «Vater» und wesentlicher Ideengeber der gegenwärtigen, stark internetbasierten Antiimpf-Bewegungen gesehen wird, ging die Quote der Masern-Mumps-Röteln-Impfung zurück; in Grossbritannien etwa von 92 Prozent im Jahr 1996 auf 80 Prozent im Jahr 2004. Im Gegenzug stieg die Zahl der Masern-Toten an – allein von 2016 bis 2019 um 50 Prozent auf weltweit über 200’000. Die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb in diesem Zusammenhang von einem «Seuchenherd Internet», der auch auf die Schweiz ausstrahle (NZZ, 20.4.2019). Um dieser Tendenz entgegenzusteuern, führten ab 2015 eine Reihe von Ländern Masern-Impfobligatorien ein. Dazu zählten Frankreich und Italien, die beide auch andere Impfobligatorien für Kinder kennen, und Teile der USA (u.a. Kalifornien). In Australien begann 2015 die Politik von «No Jab No Pay», die staatliche Kinderzulagen an den Impfstatus knüpft, und von «No Jab No Play», die ungeimpfte Kinder von Vorschul- und Tagesbetreuungszentren ausschliesst. Der Deutsche Bundestag beschloss 2019 ein Masernschutzgesetz, das eine Pflichtimpfung für Schulkinder sowie das Personal in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen vorschreibt. In der Schweiz fand bereits 2009 eine Diskussion über ein von den Kantonen zu verfügendes Masern-Impfobligatorium statt, das sich aber nicht konkretisierte.

2018 zeigte eine Studie im «American Journal of Public Health», dass kontroverse Impfdebatten auf Twitter nebst der organisierten Impfgegnerschaft auch stark von Trollen und Bots der russischen Cyberpropaganda angeheizt werden. Aus einem Sample von 1,8 Millionen Tweets über das Impfen aus den Jahren 2014 bis 2017 stammten 93 Prozent von propagandistischen Konten. Sie verbanden das Impfthema oft mit kontroversen gesellschaftlichen und religiösen Themen und neigten häufig zu Verschwörungsphantasien. Die Studie gelangte deshalb zum Schluss, das Impfthema werde seitens der russischen Undercover-Propaganda bei ihren Bemühungen zur Destabilisierung westlicher Gesellschaften gezielt zu instrumentalisieren versucht.

Die Covid-Impfung als jüngstes Kapitel impfpolitischer Auseinandersetzungen

Mit der Corona-Pandemie traten verschiedene Debatten um das Impfen ins Zentrum des öffentlichen Interesses. In der ersten Phase der Pandemie entbrannten 2020 zunächst Diskussionen um die möglichst rasche Verfügbarkeit der noch zu entwickelnden Impfstoffe. Neben die «impfnationalistische» Konkurrenz der Industrieländer traten Grundsatzdebatten um in- oder ausländische, privatwirtschaftlich organisierte oder staatlich gelenkte Impfstoffproduktion, ebenso Forderungen, Patentrechte temporär auszusetzen, um die Impfkampagne weltweit vorantreiben zu können. Mit dem Anlaufen der Impfkampagne Ende 2020 kamen verschiedene organisatorische Fragen dazu, ebenso die Problematik der Mobilisierung für die freiwillige Impfung. Die ab Mitte 2021 in zahlreichen Ländern eingeführten Zertifikats-Regelungen («3G», «2G», «2G+», «1G») für verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens wurden weitherum nicht nur als unmittelbare Schutzmassnahmen, sondern auch als Anreiz zur Impfung empfunden – und von Impfgegner:innen als indirekte Impfpflicht kritisiert. In der Schweiz standen sie etwa im Zentrum des zweiten Referendums gegen das Covid-Gesetz, über das Ende November 2021 abgestimmt wurde.

Schliesslich begannen auch Debatten um selektive oder allgemeine Impfobligatorien. Im Verlauf des Jahres 2021 führten verschiedene Länder (z.B. Frankreich, Deutschland, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Neuseeland und Russland) die Impfpflicht für Mitarbeitende in Gesundheits- und Care-Berufen ein, teilweise auch für andere Berufsgruppen. So wurde im August 2021 die Impfung für Angehörige der US Army obligatorisch, erliess Kanada im Oktober 2021 ein Obligatorium für den öffentlichen Dienst auf Bundesebene und ergänzte Deutschland die bestehende Impfpflicht für Soldat:innen gegen eine ganze Reihe von Krankheiten im November 2021 um die Covid-Impfung. Der Staat der Vatikanstadt verfügte bereits per Februar 2021 eine allgemeine Impfpflicht für alle Bewohner:innen und Mitarbeitenden. Im November nahm Costa Rica die Covid-Impfung in die Liste der für Kinder und Jugendliche obligatorischen Impfungen auf. Die Stadt New York machte per Ende Dezember 2021 sämtlichen Unternehmen in ihrem Gebiet die Impfung ihrer Belegschaft zur Pflicht. Allgemeine Impfobligatorien führten per Februar 2022 Österreich für alle Über-18-Jährigen und Italien für alle Über-50-Jährigen ein. Auch in der Schweiz und in Deutschland wurden ab Ende 2021 Rufe nach Impfobligatorien lauter und in beiden Ländern wie auch in Österreich zeigten repräsentative Umfragen Mehrheiten für ein allgemeines Covid-Impfobligatorium. Ende Januar 2022 trat der Deutsche Bundestag in die Debatte zur Einführung einer Covid-Impfpflicht ein.

All diese Entwicklungen stiessen auf erbittertsten Widerstand von radikalen Impfgegner:innen, der sich in den Social Media und an Anti-Schutzmassnahmen-Demonstrationen Luft machte. Dabei wurden etwa (wie in den USA bereits bei «Anti-Vax»-Demonstrationen vor der Corona-Pandemie) den «Judensternen» der Nazi-Zeit nachempfundene Abzeichen mit der Aufschrift «ungeimpft» gezeigt oder in Abwandlung des an den Eingangspforten verschiedener nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager angebrachten Slogans die Parole «Impfen macht frei». Eine im Auftrag des «Combat Antisemitism Movement» angefertigte Studie zur Holocaustverharmlosung im Internet zeigte für die Jahre 2020 und 2021 in Social Media, auf Foren, Blogs und Websites in sechs Sprachen (darunter Englisch) über 1,2 Millionen Diskussionen und über 63 Millionen individuelle Interaktionen, in denen holocaustverharmlosende Vergleiche zwischen den nationalsozialistischen Verbrechen und Covid-Schutzmassnahmen angestellt wurden. Davon bezog sich ein bedeutender Teil auf die Impfthematik. Ende September 2021 erfolgte in Berlin in diesem Zusammenhang die erste Verurteilung wegen Volksverhetzung.

Bereits im Sommer 2021 deutete eine Studie des «Institute for Strategic Dialogue» auf eine massive Online-Propagandakampagne von Impfgegner:innen hin, in der führende Epidemiolog:innen und Gesundheitspolitiker:innen sowie Institutionen wie die WHO und das Robert-Koch-Institut angefeindet wurden. Neben die «klassischen» Muster – von der Anzweiflung der Wirksamkeit der Impfung und Lobpreisung «natürlicher» Immunisierung via Durchseuchung der Gesellschaft über die Dramatisierung von Impfbeschwerden bis hin zur Behauptung massenhafter durch die Impfung verursachter Todesfälle, die von Behörden und «Mainstream-Medien» verheimlicht würden – traten spezifische Einwände gegen die mRNA-Technologie, der etwa eine Veränderung der menschlichen DNA angedichtet wurde. In den Social Media zirkulierte sogar die Behauptung, mRNAs könnten durch Geschlechtsverkehr auf Ungeimpfte übertragen werden und deren Erbgut ebenfalls verändern.

Hinzu kamen Behauptungen wie die angebliche Unfruchtbarkeit durch die Covid-Impfung, die Beimischung von Kontroll-Mikrochips in den Impfstoff oder dessen Durchsetzung mit der Substanz Graphen und ihren Derivaten, die einige Geimpfte magnetisch machen und im menschlichen Organismus wie «molekulare Rasiermesser» wirken würden. Ab dem Frühjahr 2021 verbreitete ein selbsternannter «Corona-Ausschuss» aus Deutschland im Internet Videos, in denen behauptet wurde, 25 Prozent der Geimpften würden umgehend sterben, weitere 36 Prozent hätten lebensgefährliche Nebenwirkungen, und von einer «organisierten Massentötung» die Rede war. Ende 2021 setzte ein angeblicher südafrikanischer Arzt über Youtube die in den Social Media vielfach geteilte Behauptung in Umlauf, die Corona-Impfungen hätten das Ziel, die Weltbevölkerung zu vergiften und um mehrere Milliarden zu reduzieren. Diese Phantasmagorien passten sich nahtlos in aktuelle Verschwörungstheorien ein, die etwa unter den Codeworten «Plandemie», «Great Reset» oder «New World Order» zirkulierten.

In verschiedenen Ländern kam es zu Demonstrationen vor und Attacken auf Impf- und Testzentren, Schulen, Spitäler und Medienhäuser. Anfang November 2021 etwa unterband die Polizei einen unbewilligten Marsch auf das Impfdorf im Hauptbahnhof Zürich, und in verschiedenen Teilen der Schweiz kam es zu Störaktionen und Bespitzelungsaktivitäten durch Impfgegner:innen bei mobilen Impfzentren und Schulen. Bereits ab September marschierte an Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmassnahmen die Neonazi-Gruppe «Junge Tat» unter dem Tarnnamen «Jugend gegen Impfzwang» mit. Bei einem Besuch des österreichischen Bundeskanzlers Karl Nehammer in der Schweiz Mitte Februar 2022 kam es zu (wenig befolgten) Protestaufrufen vonseiten Impfgegner:innen. Auf den Social-Media-Kanälen der Corona-Schutzmassnahmengegnerorganisation «Mass-Voll!» – die zuvor etwa am Marsch auf das Impfdorf im Zürcher Hauptbahnhof beteiligt gewesen war, die Legitimität der zweiten Abstimmung über das Covid-Gesetz bestritt und zustimmend ein Statement des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko gegen die «internationalen Betrüger» verbreitet hatte («Mass-Voll!» auf Facebook, 24.1.2022) – wurde Nehammer als «Impfzwang-Kanzler», «Despot» und «Menschenrechtsleugner» bezeichnet. «Mass-Voll!»-Präsident Nicolas Rimoldi behauptete gar, Österreich verübe «derzeit die schlimmsten Menschenrechtsverbrechen seit dem zweiten Weltkrieg» («Mass-Voll!» auf Telegram, 14.2.2022; «Mass-Voll!» auf Facebook, 14.2.2022).

In anderen Ländern radikalisierten sich Teile der Szene noch stärker: In Grossbritannien stürmten Ende August 2021 «Anti-Vaxxers» das Hauptquartier von ITV News und Channel 4 News in London, im Dezember dann ein Covid-Testzentrum in Milton Keynes sowie ein Krankenhaus in Liverpool, und im Januar 2022 wurden systematische Rekrutierungsbemühungen und paramilitärische Übungen der radikalen Antiimpforganisation «Alpha Men Assemble» publik. Anfang September 2021 erfolgten in Rom und fünf norditalienischen Städten Razzien der Anti-Terror-Behörden gegen Mitglieder der Impfgegner:innen-Telegram-Gruppe «Die Krieger» mit Verdacht auf Planung von Sprengstoffanschlägen. In Deutschland stellten die Behörden im Dezember 2021 nach Morddrohungen gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer in mehreren Razzien bei Mitgliedern der Telegram-Gruppe «Dresden Offlinevernetzung» Waffen sicher. In Bulgarien versuchten radikale Impfgegner:innen Mitte Januar 2022, im Verbund mit Rechtsextremen das Parlamentsgebäude zu stürmen. Und in Kanada blockierten Impfgegner:innen ab Ende Januar 2022 mit unablässig hupenden Lastwagen zentrale Verkehrsachsen der Hauptstadt Ottawa und provozierten damit Mitte Februar die erstmalige Aktivierung des Notstandsgesetzes.

Wiederum flossen auch weltanschauliche Impfgegnerschaft und Propaganda aus dem Feld der internationalen Politik zusammen: Die Auslandsprogramme des russischen Regierungssenders «RT» in deutscher, französischer und englischer Sprache berichteten ausführlich und tendenziell zustimmend über Proteste gegen die Covid-Schutzmassnahmen sowie Impfskepsis in westlichen Ländern (inklusive der Schweiz), veröffentlichten kritisch-polemische Meinungsartikel zur Corona-Politik (verfasst etwa vom ehemaligen Stasi-Topspion Rainer Rupp alias «Topas»), widmeten den Aktivitäten des deutschen «Corona-Ausschusses» sogar eine eigene Serie sehr ausführlicher Artikel und brachten auch zahlreiche Meldungen über die angeblich fehlende Wirksamkeit oder gar Schädlichkeit westlicher Covid-Impfstoffe (jeweils mit dem Disclaimer, «Sicherheit und Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe» seien «umstrittene Themen»). Diese Artikel und Videos wurden in Facebook- und Telegram-Gruppen von Impfgegner:innen intensiv geteilt und kommentiert. Zur Orientierungsdebatte im Bundestag über eine eventuelle Covid-Impfpflicht publizierte «RT» – sinnigerweise am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz – einen Meinungsartikel mit dem Titel «Impfen macht frei?» (RT DE, 27.1.2022). Hingegen stellte sich «RT» deutlich hinter die Covid-Massnahmen und Impfbemühungen der eigenen Regierung.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

Ar 573.12.1 Konsumentenforum Sektion Zürich: Eigene Broschüren bzw. Mitherausgeberschaft
Ar 685.10.55 Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte: Archivalien: Lied über das Geimpftwerden, um 1918
Ar SAH 20.973.62 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Türkei, 1970-1971

Sachdokumentation

KS 610/12 Präventivmedizin & Gesundheitserziehung; Erste Hilfe
KS 610/29 Ansteckende Krankheiten, Seuchenbekämpfung: Allgemein
KS 610/31 Ansteckende Krankheiten, Seuchenbekämpfung: Pocken, Impfzwang
ZA 64.0 *7 Präventivmedizin & Gesundheitserziehung
DS 3048 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Was muss ich alles über die Impfung wissen?
DS 3049 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Was muss ich alles über die Impfung wissen?
DS 3050 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Ich werde mich impfen lassen
DS 3051 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Ich werde mich impfen lassen
DS 3052 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Ich werde mich impfen lassen
DS 3053 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Ich werde mich impfen lassen
DS 3054 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Allgemeine Informationen zur Covid-19-Impfung
DS 3056 Bundesamt für Gesundheit (BAG): COVID-19-Impfung: Informationen für Erwachsene mit einer chronischen Krankheit und Personen ab 65 Jahre
DS 3148 Public Eye et al.: Für einen nichtdiskriminierenden Zugang zu COVID-19-Behandlungen und -Impfungen: Es braucht eine Ausnahmeregelung zum TRIPS-Abkommen
DS 3173 Public Eye: Big Pharma: Profit um jeden Preis
DS 3252 Schweizer Tourismus-Verband (STV): Impf- und Teststrategie sowie Covid-Free-Nachweis
DS 3289 Freiheitsboten Stadt Zürich: Besonderer Schutz – Vor! Oder für?
DS 3398 Freunde der Verfassung: Das Covid-Gesetz beendet die freie Schweiz
DS 3413 Aktionsbündnis Urkantone für eine vernünftige Corona-Politik: Referendum 2 gegen das COVID-19-Gesetz – Verschärfungen vom 19. März 2021
DS 3415 Aktionsbündnis Urkantone für eine vernünftige Corona-Politik et al.: Neues Referendum gegen die Covid-Gesetz-Verschärfungen vom 19. März 2021
DS 3418 Junge SVP: Referendum 2 / Covid-19-Gesetz
DS 3472 Schweizerzeit: Auf dem Weg zum Impfzwang
DS 3504 ANIMAP: Wollen wir das wirklich?
DS 3552 Schweizerzeit: Landesweite Einführung der Zertifikatspflicht – Eklatanter Verstoss gegen elementare Rechte
DS 3581 Freunde und Freundinnen der Verfassung: Menschen diskriminieren? Gefährliche Covid-Verschärfung Nein
DS 3610 Schweizerische Eidgenossenschaft: Gemeinsam aus der Pandemie
DS 3611 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Gute Gründe, sich gegen Covid-19 zu impfen
DS 3612 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Jetzt auch für Jugendliche ab 12 Jahren empfohlen: Die Covid-19-Impfung
DS 3623 Wir Für Euch: Covid-Zertifikatspflicht in der Schweiz – eine rechtliche Analyse
DS 3633 Impfaufruf der Parteipräsidien / Appel à la vaccination des président-es de parti
DS 3646 Schweizerzeit: Impfwoche – Geldverschwendung für nichts
DS 3648 28 Minuten für die Schweiz
DS 3657 Ja-Kampagne der Zivilgesellschaft für das Covid-Gesetz: Freiheitsimpfler, Freiheitsimpflerin
DS 3679 Freunde und Freundinnen der Verfassung: Impfzwang für alle?
DS 3680 Freunde und Freundinnen der Verfassung: Zertifikat nur mit Dauerimpfen! Gefährliche Covid-Verschärfung Nein
DS 3688 Mass-Voll!: Die Jagd ist eröffnet
DS 3691 Mass-Voll!: Die Zweiklassengesellschaft ist in der Schweiz angelangt
DS 3693 Mass-Voll!: Die neue Normalität heisst Diskriminierung
DS 3694 Mass-Voll!: Zweiklassengesellschaft, vorwärts, marsch!
DS 3697 Freunde und Freundinnen der Verfassung; Aktionsbündnis Urkantone für eine vernünftige Corona-Politik; Netzwerk Impfentscheid: Das Referendum II gegen das Covid-Gesetz wird zustandekommen
DS 3700 Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS): Position der SP Schweiz zur Corona-Situation
DS 3705 Mass-Voll!: Verfassungswidrige Zwangsmassnahmen – wir werden energisch Widerstand leisten!
DS 3748 Schweizerische Volkspartei (SVP): Grundsätze zur Corona-Politik und die Haltung der SVP
DS 3780 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Jetzt unbedingt beachten: Impfen lassen
DS 3781 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Auffrischimpfung mit einem mRNA-Impfstoff (Pfizer/BioNTech, Moderna)
DS 3782 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Covid-19-Impfung für Kinder von 5-11 Jahren
DS 3783 Bundesamt für Gesundheit (BAG): Informationen zur Covid-19-Impfung für Jugendliche ab 12 Jahren

Bibliothek

Arnim, Uta von: Das Institut in Riga: Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner Forschung. Zürich 2021, 147123
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Biss, Eula: Immun: Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung. München 2016, 133185
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Brunner, Alfred: Die Pocken im Kanton Zürich: Statistische und klinische Bearbeitung der Epidemie von 1870-72. Zürich 1873, 85405
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Fangerau, Heiner und Alfons Labisch: Pest und Corona: Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Freiburg/Br. 2020, 155157
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Klefner, Heike und Matthias Meisner (Hg.): Fehlender Mindestabstand: Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde. Freiburg/Br. 2021, 145404
Kupferschmidt, Kai: Seuchen: 100 Seiten. Stuttgart 2020, 144265
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Miller, Joe et al.: Projekt Lightspeed: Der Weg zum BioNTech-Impfstoff – und zu einer Medizin von morgen. Hamburg 2021, in Bearbeitung
Reichardt, Sven (Hg.): Die Misstrauensgemeinschaft der «Querdenker»: Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Frankfurt/New York 2021, 146159
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Schiwy, Peter: Impfung und Aufopferungsentschädigung. Berlin 1974, 81705
Speit, Andreas: Verqueres Denken: Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus. Berlin 2021, 146218
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Thiessen, Malte: Immunisierte Gesellschaft: Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2017, 140085
Thiessen, Malte: Auf Abstand: Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Frankfurt/New York 2021, 146360
Vogt, Adolf: Für und wider die Kuhpockenimpfung und den Impfzwang: oder: Polemische, kritische und statistische Beiträge zur Pocken- und Impffrage mit zahlreichen statistischen Tabellen. Bern 1879, A 3260
Weindling, Paul: Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890–1945, Oxford 2000, 106316
Zimmer, Thomas: Welt ohne Krankheit: Geschichte der internationalen Gesundheitspolitik 1940-1970. Göttingen 2017, 137318

Für die Konsultation von Archivalien, Dokumentationen und Altbeständen im Lesesaal muss nach erfolgter Online-Bestellung telefonisch ein Termin vereinbart werden.
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Ihr Sozialarchiv-Team

Vor 130 Jahren: Die Volksinitiative dynamisiert die Schweizer Demokratie

Im abgelaufenen Jahr 2021 sind gleich zwei eidgenössische Volksinitiativen von Volk und Ständen gutgeheissen worden: die Burkainitiative im März und die Pflegeinitiative im November. In der 130-jährigen Geschichte der Volksinitiative ist dies ein Novum. Seit seiner Einführung im Jahre 1891 hat das Instrument der Volksinitiative die Bundespolitik indessen stark geprägt – nicht nur direkt durch die relativ wenigen erfolgreichen Volksbegehren, sondern vor allem auch indirekt als ein Instrument, um neue Themen auf die politische Agenda zu setzen, Regierung, Parlament und Verwaltung zum Handeln in eine bestimmte Richtung zu veranlassen und politische Gefolgschaft zu mobilisieren.

Die wichtige Rolle der Volksinitiative im politischen System der Schweiz widerspiegelt sich eindrücklich in den Beständen des Schweizerischen Sozialarchivs. Praktisch sämtliche Körperschaftsarchive national tätiger Parteien, Verbände und Bewegungen enthalten auch Unterlagen zu selber lancierten, unterstützten oder bekämpften eidgenössischen Volksinitiativen. Einige Organisationen, deren Akten im Sozialarchiv lagern, sind gar direkt im Zusammenhang mit der Lancierung einer Volksinitiative entstanden und haben sich über die Abstimmung hinaus verstetigt. Dazu zählen die Schweizerische Republikanische Bewegung von James Schwarzenbach, die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), der Verein umverkehR und der Verein Alpen-Initiative. In der Sachdokumentation des Sozialarchivs findet sich in den entsprechenden Themendossiers umfangreiches Material (analoge und digitale Kleinschriften, Flugblätter, Zeitungsartikel) zu den meisten Volksinitiativen, die zur Abstimmung gelangten. Das audiovisuelle Archiv enthält zahlreiche Poster, Flyer und Objekte aus Abstimmungskämpfen über Volksinitiativen, in einigen Fällen zusätzlich auch Fotos politischer Aktionen in diesem Zusammenhang.

Aufgrund dieser umfangreichen und einmaligen Sammlungen ist das Sozialarchiv letztes Jahr eine Kooperation mit «Swissvotes» eingegangen. «Swissvotes» ist eine Dienstleistung von «Année Politique Suisse» am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und betreibt unter anderem eine Online-Plattform mit Informationen und Dokumenten zu sämtlichen eidgenössischen Volksabstimmungen seit 1848 (swissvotes.ch). Zahlreiche Abstimmungsporträts wurden in den letzten Monaten mit Plakaten aus dem Sozialarchiv angereichert.

Entstehung der Volksinitiative auf Bundesebene

Die moderne Volksinitiative ist im internationalen Vergleich in der Schweiz bei Weitem am bedeutsamsten, verfassungsgeschichtlich geht sie aber auf die erste republikanische Verfassung Frankreichs von 1793 zurück. Diese sah vor, dass eine bestimmte Anzahl von Wähler-Urversammlungen eine Verfassungsrevision einleiten konnte. Aufgrund der Kurzlebigkeit der revolutionären Verfassung von 1793 blieb dies toter Buchstabe. Schon die nächste französische Verfassung von 1795 sah dieses Volksrecht nicht mehr vor. Diese sogenannte Direktorialverfassung diente dann 1798 auch als Vorbild der ersten Verfassung der Helvetischen Republik, die ebenfalls ein rein repräsentatives System festsetzte. Es waren in der Schweiz, die bereits vormoderne Formen der direkten Demokratie (Landsgemeinden, Gemeindeversammlungen, Petitionen) gekannt hatte, dann einzelne Kantone (Aargau, Basel-Landschaft, Thurgau, Schaffhausen, Luzern, St. Gallen), die in den 1830er Jahren während der Ära der Regeneration verschiedene Formen der Volksinitiative schufen. In der Regel wurde dabei nicht ausdrücklich zwischen Teil- und Totalrevision der Verfassung unterschieden, die entsprechenden Verfassungsartikel bezogen sich aber hauptsächlich auf Totalrevisionen. 1845 führte der Kanton Waadt jedoch explizit auch die Möglichkeit der themenbezogenen Volksinitiative ein.

Es waren dabei unterschiedliche politische Kräfte, die sich für einen Ausbau der Volksrechte stark machten. Die ab 1830 in zahlreichen Kantonen an die Macht gelangenden Liberalen favorisierten überwiegend ein repräsentatives System, sahen sich aber mit direktdemokratischen Forderungen oppositioneller Kräfte von links und rechts konfrontiert. Diese reichten von populistischen Konservativen über Vorläufer der Demokratischen Bewegungen der 1860er Jahre bis hin zu Frühsozialisten wie dem Zürcher Karl Bürkli. Die radikal-liberal geprägte Bundesverfassung von 1848 sah lediglich die Volksinitiative für eine Totalrevision vor, für die 50’000 Unterschriften nötig war. Zwei entsprechende Anläufe scheiterten 1851 und 1865/66 bereits in der Phase der Unterschriftensammlung. Darüber hinaus unterlagen Verfassungsrevisionen dem obligatorischen Referendum.

In den 1860er Jahren führten die Demokratischen Bewegungen in verschiedenen Kantonen die Volksinitiative für Teilrevisionen der Kantonsverfassung, die Gesetzesinitiative und weitere direktdemokratische Instrumente ein (1863 Basel-Landschaft, 1869 Zürich, Thurgau und Solothurn) (s. SozialarchivInfo 6/2018). Auf Bundesebene war der Weg zur Volksinitiative länger. 1872 scheiterte ein stark von der Demokratischen Bewegung geprägter Verfassungsentwurf, der die Einführung der Volksinitiative für Teilrevisionen der Verfassung wie auch der Gesetzesinitiative vorgesehen hätte, in der Volksabstimmung knapp. Die zwei Jahre darauf vom Souverän gutgeheissene revidierte Verfassung führte zwar das fakultative Gesetzesreferendum ein, beliess es bei den Initiativmöglichkeiten aber beim Stand von 1848. Als 1880 dennoch eine Volksinitiative für ein Banknotenmonopol eingereicht wurde, interpretierten die eidgenössischen Räte diese als Begehren für eine Totalrevision der Verfassung und brachten sie vors Volk, wo sie deutlich scheiterte.

Ende der 1880er Jahre setzte sich der Grütliverein als mitgliederstärkste Organisation der Arbeiterbewegung für die Einführung der Volksinitiative ein. Bereits 1884 hatten zudem der nachmalige Bundesrat Josef Zemp und zwei weitere Politiker der Katholisch-Konservativen eine Motion zur Einführung der Volksinitiative eingereicht. Die Katholisch-Konservativen, die zu jenem Zeitpunkt noch nicht in der Regierung vertreten waren, hatten zunächst die Erweiterung der Volksrechte auf Bundesebene bekämpft, dann aber das fakultative Referendum als effektives Oppositionsinstrument zu nutzen gelernt. Kritisch gegenüber der Volksinitiative eingestellt waren Teile des dominanten Freisinns und der ihm nahestehenden Presse, insbesondere die «Neue Zürcher Zeitung».

Die Motion Zemp mündete 1891 in eine Revision der Verfassungsbestimmungen zur Volksinitiative. Diese sahen nun neben dem Begehren auf Totalrevision der Verfassung auch die Volksinitiative zur Teilrevision in Form einer allgemeinen Anregung (wozu nur ein Volksmehr nötig war) oder eines ausgearbeiteten Entwurfs (wozu Volks- und Ständemehr nötig waren) vor. Eine Volksinitiative erforderte für ihr Zustandekommen weiterhin 50’000 Unterschriften, was 1891 7,6 Prozent der Stimmberechtigten entsprach. Stellten die eidgenössischen Räte einer Volksinitiative einen direkten Gegenvorschlag gegenüber, sollte es in der Volksabstimmung nicht möglich sein, beiden Vorlagen zuzustimmen. Am 5. Juli 1891 nahm das Stimmvolk den neuen Verfassungsartikel mit 60,3 Prozent an. Weiterhin nicht vorgesehen war die Gesetzesinitiative. Verschiedene Anläufe zu ihrer Einführung (Standesinitiativen der Kantone Solothurn und Zürich von 1904, Motionen von 1918 und 1930, Volksinitiative von 1958, parlamentarische Initiative von 1986) scheiterten. 2003 wurde dann die allgemeine Volksinitiative eingeführt, die in Form einer allgemeinen Anregung die Annahme, Änderung oder Aufhebung von Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen verlangen konnte, aber bereits 2009 wieder abgeschafft wurde.

Volksinitiativen in der Frühphase

Bereits 1892 wurde die erste Volksinitiative für eine Teilrevision der Bundesverfassung eingereicht. Dabei handelte es sich um das Begehren «für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung». Das von Tierschutzvereinen der Kantone Aargau und Bern lancierte Begehren stand mit seiner Forderung nach einem Verbot des rituellen jüdischen Schächtens im Spannungsfeld zwischen Tierschutz und Religionsfreiheit und bestätigte gewisse Befürchtungen der Gegner des neuen Volksrechts. Der Bundesrat verzichtete auf eine Stellungnahme, im Parlament beschloss der Nationalrat relativ knapp, der Ständerat einstimmig die Nein-Empfehlung. Ein Gegenvorschlag in Gestalt eines allgemeinen, nicht-diskriminatorischen Tierschutzartikels kam aber nicht zustande. Die grossen Parteien lehnten die Initiative ab, wobei die Katholisch-Konservativen nach der eigenen Erfahrung des Kulturkampfes besonders darauf bedacht waren, religiöse Grundfreiheiten nicht in Frage zu stellen. Die befürwortenden Tierschutzorganisationen betonten, ihnen liege jegliche Diskriminierung der jüdischen Minderheit fern, im Verlauf des Abstimmungskampfs mischten sich aber dennoch auch antisemitische Stimmen in die Debatte. Sie lagen in einem internationalen Trend, erlebten doch vor dem Hintergrund der langanhaltenden wirtschaftlichen «Gründerkrise» ab 1873 antisemitische Verschwörungstheorien einen Hype und entstanden etwa in Deutschland, Frankreich und Österreich verschiedene neue Parteien und Organisationen, die den Antisemitismus zum politischen Programm erhoben.

Am 20. August 1893 wurde die Initiative «für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung» von 60,1 Prozent der Stimmenden und 11,5 Ständen angenommen. Dabei zeigten die grossen kantonalen Unterschiede in Stimmbeteiligung und Ergebnis die Komplexität der Vorlage: Am deutlichsten angenommen wurde die Initiative mit über 90 Prozent im Kanton Aargau, wo bis 1874 die Gemeinden Lengnau und Endingen die einzigen Ortschaften der Schweiz waren, in denen sich Jüdinnen und Juden niederlassen durften. Deutliche Ja-Mehrheiten gab es auch in den meisten reformierten Kantonen der Deutschschweiz. In der Mehrheit der katholischen Kantone der Zentralschweiz resultierten knappe Ja-Mehrheiten. Hier lag die Stimmbeteiligung teilweise über 25 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. Grosse Teile der katholisch-konservativen Basis mochten offenbar der verwerfenden Parteiparole nicht folgen und blieben zu Hause. Deutliche Nein-Mehrheiten von über 75 Prozent resultierten in den Kantonen der lateinischen Schweiz, unabhängig von ihren konfessionellen Verhältnissen. Hier waren sowohl die Tierschutzorganisationen als auch der Einfluss des deutschsprachigen Antisemitismus schwächer als in der Deutschschweiz. Am massivsten lehnte der Kanton Wallis mit fast 97 Prozent Nein ab.

Weniger Erfolg war weiteren frühen Volksinitiativen beschieden. So scheiterten die Initiativen «Gewährleistung des Rechts auf Arbeit» und «Abgabe eines Teils der Zolleinnahmen an die Kantone» 1894 beide deutlich in der Volksabstimmung. Die etwa zur gleichen Zeit lancierte Initiative «für unentgeltliche Krankenpflege und ein Tabakmonopol» kam nicht zustande. Nach der Jahrhundertwende befasste sich eine Reihe von Volksinitiativen mit dem Wahlmodus des Nationalrats: 1903 lehnten die Stimmberechtigten die Initiative «für die Wahl des Nationalrates aufgrund der Schweizer Wohnbevölkerung» ab. Gar drei Volksinitiativen forderten den Übergang vom Mehrheits- zum Verhältniswahlrecht. Die erste scheiterte 1900 in der Volksabstimmung zusammen mit einer Schwesterinitiative für die Volkswahl des Bundesrates und die Vermehrung von dessen Mitgliederzahl. Auch die zweite Proporzinitiative blieb 1910 erfolglos, schaffte aber immerhin das Ständemehr und erreichte über 47 Prozent Zustimmung. Bereits 1913 wurde eine weitere Proporzinitiative eingereicht, die aber erst im Oktober 1918 vors Volk kam und mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen wurde (s. SozialarchivInfo 4/2019). Diese Vorlage, die gravierende Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat nach sich zog, war erst die dritte erfolgreiche Volksinitiative. Nach der Annahme des Schächtverbots hatte der Souverän 1908 die Initiative «für ein Absinthverbot» deutlich gutgeheissen.

Bedeutung und Wirksamkeit von Volksinitiativen

In den folgenden Jahrzehnten nahmen die Zahlen der lancierten und zustande gekommenen Volksinitiativen tendenziell zu: Bis in die Gegenwart wurden 489 Volksinitiativen lanciert, von denen 347 zustande kamen. Auf den ersten Blick gering blieb die Erfolgsquote: Nach den drei genannten Initiativen der Frühzeit fanden im 20. Jahrhundert lediglich die folgenden Vorlagen die doppelte Gnade von Volk und Ständen: Spielbankenverbot (1920), Staatsvertragsreferendum (1921), Erhaltung der Kursäle (1928), Rückkehr zur direkten Demokratie (1949), Preisüberwachung (1982), Schutz der Moore (1987), Atomkraftwerkbau-Moratorium (1990), arbeitsfreier Bundesfeiertag (1993) und Schutz der Alpen (1994). Zu intensiven innenpolitischen Debatten führten aber auch manche Initiativen, die abgelehnt wurden, beispielsweise die Kriseninitiative und die Fronteninitiative von 1935 (s. SozialarchivInfo 5/2020), die Schwarzenbach-Initiative von 1970 (s. SozialarchivInfo 2/2020) oder die Armeeabschaffungsinitiative von 1989 (s. SozialarchivInfo 5/2019). Nach der Jahrtausendwende nahm die Zahl erfolgreicher Volksbegehren tendenziell zu. Bis dato haben Volk und Stände im 21. Jahrhundert folgende Initiativen angenommen: UNO-Beitritt (2002), Lebenslange Verwahrung von Straftätern (2004), Gentechanbau-Moratorium (2005), Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern (2008), Minarett-Verbot (2009), Ausschaffungsinitiative (2010), Zweitwohnungsinitiative (2012), Abzockerinitiative (2013), Masseneinwanderungsinitiative (2014), Verhüllungsverbot (2021) und Pflegeinitiative (2021). Insgesamt sind damit in 130 Jahren lediglich 24 Volksinitiativen von Volk und Ständen gutgeheissen worden, 11 davon in den letzten zwei Jahrzehnten.

Die Wirkung von Volksinitiativen erschöpft sich damit aber nicht. Während die Entwicklung hin zur Konkordanzdemokratie mit Einbindung der wesentlichen politischen Kräfte in die Regierungsverantwortung stärker mit dem Referendum als Verhinderungs- denn mit der Volksinitiative als Antriebsinstrument zusammenhängt, haben zahlreiche Volksinitiativen auf indirektem Weg zu Änderungen der Rechtsordnung geführt. In etwa der Hälfte aller Fälle haben die eidgenössischen Räte den Volksinitiativen direkte oder indirekte Gegenvorschläge entgegengestellt, die in der Regel in eine ähnliche Richtung wie die Initiative, aber weniger weit gingen. Der Umstand, dass bis 1987 das doppelte Ja zu Initiative und direktem Gegenvorschlag in der Volksabstimmung nicht möglich war, trug stark dazu bei, dass fast ein Drittel der zustande gekommenen Initiativen vor der Abstimmung zurückgezogen wurde, um nicht den Gegenvorschlag zu gefährden. Wie die Rechtswissenschafterin Gabriela Rohner gezeigt hat, wurden 47 Prozent der 262 eingereichten Initiativen zwischen 1891 und 2010 entweder angenommen oder führten durch Gegenvorschlag zu einer Änderung der Rechtsordnung. Rohner wertete dabei 13 Prozent der Initiativen als grosse Erfolge bis Vollerfolge der InitiantInnen, 19 Prozent als Teilerfolge und 16 Prozent als kleine Erfolge, während 53 Prozent der Initiativen erfolglos blieben. Darüber hinaus sind Volksinitiativen auch immer wieder ein Mobilisierungsinstrument einzelner politischer Kräfte, dessen Wirksamkeit sich dann etwa auch in Wahlergebnissen niederschlägt. Und manche politische Laufbahn, die in höchste Ämter führte, hat mit dem Unterschriftensammeln für eine Volksinitiative begonnen.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.112.4 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Initiative «Recht auf Arbeit»
  • Ar 108 Schwarzenbach, James (1911-1994)
  • Ar 452 Gruppe für eine Schweiz ohne Armee
  • Ar 542 Verein umverkehR
  • Ar 610 Verein Alpen-Initiative

Sachdokumentation

  • KS 32/103 Eidgenössische Abstimmungen
  • KS 32/103a:1 Eidgenössische Abstimmungen
  • KS 32/103a:2 Eidgenössische Abstimmungen
  • KS 34/36 Initiative, Referendum; Petition: Schweiz
  • KS 34/37 Initiative, Referendum; Petition: Schweiz
  • KS 178/13 Alkoholgesetzgebung; Alkoholbesteuerung
  • KS 331/272 Recht auf Arbeit vor 1914
  • QS 21.3 Initiative, Referendum; Petition; Motion, Postulat
  • QS 37.1 Eidgenössische Abstimmungen
  • ZA 21.3 *1 Initiative
  • ZA 37.0 *1 Abstimmungen & Wahlen: Allg.
  • ZA 37.0 *2 Abstimmungen & Wahlen: Stimm- & Wahlbeteiligung

Bibliothek

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  • Bütikofer-Johanni, Karl: Die Initiative im Kanton Zürich 1869–1969: Entstehung, Funktion und Wirkung. Bern 1982, 73814
  • Decurtins, Daniela: Auf der „Bahn der Freiheit, des Fortschritts und der Volkssouveränität“: Zur Einführung der direkten Demokratie in Zürich um 1869, in: Ernst, Andreas et al. (Hg.): Revolution und Innovation: Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848. Zürich 1998. S. 293-305, 102938:1
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  • Kreis, Georg (Hg.): Reformbedürftige Verfassungsinitiative: Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente. Zürich 2016, 133362
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  • Linder, Wolf et al. (Hg.): Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern 2010, Gr 12542
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  • Sommer, Hermann: Die Demokratische Bewegung im Kanton Solothurn von 1856 bis 1872. Solothurn 1945, 14519
  • Werder, Hans: Die Bedeutung der Volksinitiative in der Nachkriegszeit. Bern 1978, 63489
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  • Wüthrich, Werner: Charles Fourier, Victor Considerant und Karl Bürkli als Wegbereiter der direkten Demokratie und des Genossenschaftswesens in der Schweiz, in: Roca, René (Hg.): Frühsozialismus und moderne Schweiz. Muttenz/Basel 2018. S. 41-70, 139808

Vor 75 Jahren: Die «200» im Kreuzfeuer der Kritik

«Doktoren und Professoren aller Fakultäten, Direktoren und Generaldirektoren, Stabsoffiziere und Obersten, Industrielle aller Kaliber und Grosskopfete der Politik und Wirtschaft, Aristokraten und Halbaristokraten und Fastaristokraten, eine ordentliche Schaumkelle von der crème de la crème aus unserem helvetischen Milchbücki, zieren mit Titeln und klangvollen Namen die ominöse Liste der Zweihundert, die uns in allerschwerster Stunde den Dolch in den Rücken stossen wollten, als wir allein im weiten Europa, einer gegen fünfzig, seinen siebenhundert Divisionen trotzten und das gewöhnliche Volk der Hirten staunt und wundert sich über den illustren Misthaufen, der da abgedeckt wird à la vue de tout le monde.» Dieser Text in der antifaschistischen Zeitung «Die Nation» von Anfang Februar 1946 war nur einer von unzähligen Artikeln, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem fünf Jahre zurückliegenden Vorgang befassten: Der «Eingabe der 200» an den Bundesrat vom November 1940.

Die französische Niederlage gegen Nazi-Deutschland im Sommer 1940 war für die Schweiz, die sich nun vollständig von den Achsenmächten und ihren Verbündeten umgeben sah, ein Schock. Dieser zog ganz verschiedene Reaktionen nach sich: Der freisinnige Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz sprach am 25. Juni in einer Radioansprache diffus von einer notwendigen «renaissance intérieure» und «adaptation […] aux circonstances nouvelles», liess dagegen Schlüsselbegriffe wie Freiheit und Demokratie vermissen. Rechte Gruppierungen sahen den Zeitpunkt gekommen, die Schweizer Demokratie durch ein autoritäres System zu ersetzen unter einer starken Führerfigur («Landammann der Schweiz») und basierend auf einer berufsständischen Ordnung statt parteipolitischem Pluralismus. Zweifel am Widerstandswillen des Bundesrates führten zur Entstehung eines verschwörerischen Offiziersbundes. General Henri Guisan versammelte dann am 25. Juli die Kommandanten aller Heereseinheiten auf dem Rütli und verurteilte jeglichen Defätismus, was manche als Antwort auf die weiterherum als anpasserisch betrachtete Rede Pilet-Golaz’ sahen. Am 7. September entstand die geheime «Aktion Nationaler Widerstand», die demokratische Bürgerliche und Sozialdemokraten zusammenführte im Bestreben, Defaitismus und Anpassertum zu bekämpfen. Drei Tage später empfing Pilet-Golaz Vertreter der faschistischen «Nationalen Bewegung der Schweiz», was weitherum auf Kritik stiess.

Am 15. November 1940 schliesslich wurde die seit Monaten vorbereitete «Eingabe der 200» dem Bundesrat eingereicht. Darin forderten 173 rechtsbürgerliche Unterzeichner aus akademischen, politischen, wirtschaftlichen und Offiziers-Kreisen eine stärkere Kontrolle der Presse und liessen starke Sympathien für Deutschland erkennen. Einflussreiche Zeitungen würden, so die Klage der «200», «beherrscht von der nebelhaften Vorstellung einer internationalen Weltdemokratie, deren Kreise unsere Eidgenossenschaft ihrem Wesen nach zugehören soll», und liessen sich zu «Verunglimpfungen und feindseligen Handlungen» gegenüber Nachbarstaaten hinreissen. Als Beispiel nannte die Eingabe den sozialdemokratischen Nationalrat und Berner Regierungspräsidenten Robert Grimm, der die faschistischen Diktaturen in einer Broschüre im Sommer 1940 als «Rückfall in die Barbarei» charakterisiert hatte. Die «200» verlangten «in Erfüllung unserer Pflichten», dass «den Urhebern von notorischen und andauernden Vergiftungen unserer Beziehungen zu Nachbarstaaten in kürzester Frist das Handwerk gelegt wird», so etwa die «Ausschaltung jener an verantwortlichen Pressestellen wirkenden Personen, die einen für das Wohl und das Ansehen des Landes verhängnisvollen Kurs gesteuert haben», die «Ausmerzung jener Presseorgane, die ausgesprochen im Dienste fremder politischer Gedanken standen und ihnen ihre aussenpolitische Stellungnahme unterordneten», oder die «Entfernung jener Personen aus verantwortlichen Stellen des Staates, deren politische Tätigkeit sich offenkundig für das Land als nachteilig erwiesen hat». In einem Papier «Grundlinien eines aussenpolitischen Sofortprogramms» waren die Hauptinitianten der Eingabe Ende August 1940 noch deutlicher geworden und hatten unter anderem den sofortigen Austritt der Schweiz aus dem Völkerbund, die «Ausschaltung» der Chefredaktoren «der führenden Blätter wie Neue Zürcher Zeitung, Basler Nachrichten und Bund», die «Ausmerzung» von Publikationen wie der «National-Zeitung», der «Weltwoche», der «Nation» oder dem «Beobachter» sowie «Entfernung jener Personen aus verantwortlichen Stellen, deren Tätigkeit sich bisher deutlich als für das Land nachteilig erwiesen hat», ins Auge gefasst.

Die Erstunterzeichner der Eingabe stammten aus dem Umfeld des germanophilen «Volksbundes für die Unabhängigkeit der Schweiz» (VUS), der sich 1921 anlässlich der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund aus rechten Völkerbundgegnern gebildet hatte (s. SozialarchivInfo 6/2019). Zu den Hauptinitianten der Eingabe zählte der Historiker Hektor Ammann. Bereits 1920 hatte Ammann mehrere politische Privatgespräche mit Hitler geführt. 1929 wurde er Staatsarchivar und Kantonsbibliothekar des Kantons Aargau und betätigte sich politisch, publizistisch und wissenschaftlich unter anderem als Präsident des VUS, Redaktor der «Zeitschrift für schweizerische Geschichte» sowie regelmässiger Autor in den «Schweizerischen Monatsheften» und ab 1935 bis zu deren Verbot 1939 in der nazifreundlichen «Neuen Basler Zeitung», deren Verwaltungsrat er angehörte. Ab 1934 hielt er Vorträge im direkt dem Goebbels’schen Propagandaministerium unterstellten deutschen Rundfunk sowie Vorlesungen an der Universität Freiburg im Breisgau, was 1938/39 zu kritischen Tönen im Aargauer Grossen Rat führte. 1936 trat er nach langjähriger Mitgliedschaft aus der FDP aus. Kurz vor der Lancierung der «Eingabe der 200» führte Ammann zusammen mit anderen VUS-Mitgliedern 1940 Gespräche mit Klaus Hügel, SS-Hauptsturmführer und Chef des SD-Auslandnachrichtendienstes in Stuttgart.

Eine weitere wichtige Figur war der Zürcher Rechtsanwalt Wilhelm Frick. Frick hatte 1931 erfolgreich das erste AHV-Gesetz bekämpft (s. SozialarchivInfo 3/2017) und zwei Jahre darauf während des «Frontenfrühlings» die Eidgenössische Front gegründet, die bis 1939 existierte. Zudem gab er mehrere rechte Zeitschriften heraus. 1940 besorgte er die Endredaktion der «Eingabe der 200». Anfang 1941 wandte sich Frick unter dem Label «Aktion zur Wahrung der Unabhängigkeit» an die Chefredaktionen zahlreicher Zeitungen, um für die Anliegen der «200» zu werben. In der Folge bestand bis 1944 ein Vertrauensverhältnis zwischen Fricks Anwaltsbüro und reichsdeutschen Stellen. In den 1980er Jahren sollte die Aufarbeitung dieser Umtriebe dann vor Gericht enden, als Fricks Nachkommen gegen den Berner Geschichtsprofessor Walther Hofer klagten. Dies führte zu einer Debatte über das Verhältnis von historischer Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz.

Anfang 1946 wurde der Druck auf den Bundesrat zur Herausgabe der Namen der «200» immer stärker. Dies stand im Zusammenhang mit den «Säuberungen», die bei Kriegsende eingesetzt hatten (s. SozialarchivInfo 2/2015). In erster Linie richteten sich diese gegen politisch diskreditierte Mitglieder der deutschen und italienischen Kolonien in der Schweiz. Wie die Zeitungsartikelsammlung des Sozialarchivs zeigt, forderten insbesondere sozialdemokratische, linksliberale und kommunistische Blätter seit den letzten Kriegswochen ein entschiedenes Vorgehen. Nach der deutschen Kapitulation mehrten sich etwa im «Volksrecht» Titel wie «Hinaus mit den Nazi» (22. Mai), «Use mit ene!» (8. Juni) oder «Auch die Betriebe säubern!» (16. Juni). Am 30. Mai publizierte das «Volksrecht» eine «Erste Liste der ausländischen Feinde der Demokratie in der Schweiz», die die Namen deutscher Nazis in der Schweiz mit Angaben zur Funktion in NS-Organisationen und Schweizer Aufenthaltsort enthielt.

Zwischen Mai 1945 und Februar 1946 wies der Bundesrat 106 Deutsche aus. Daneben fanden auch seitens kantonaler Behörden Ausweisungen statt. In verschiedenen Kantonen lancierten Linksparteien und Gewerkschaften «Säuberungspetitionen», die die Ausweisung deutscher und österreichischer Nazis und italienischer Faschisten forderten. In Zürich setzte der Kantonsrat eine parlamentarische Kommission zur Überprüfung der vom Regierungsrat getroffenen Massnahmen hinsichtlich der Ausweisung politisch diskreditierter Ausländer ein. Dieses allgemein als «Säuberungskommission» bezeichnete Gremium korrespondierte intensiv mit der kantonalen Polizeidirektion. Begrifflich lehnte man sich damit an die «Commissions d’épuration» an, die in Frankreich kurz nach der Befreiung entstanden waren. Allein im Kanton Zürich wurden knapp 800 Verfahren eingeleitet, die in mehr als der Hälfte der Fälle zum Entzug der Aufenthaltsbewilligung führten. Insgesamt beschlossen Bund und Kantone bis Ende 1946 3’307 Ausweisungen von Deutschen. Etwa ein Drittel von ihnen konnte nach Rekursen in der Schweiz bleiben.

Auch bekannte Namen gerieten ins Visier von Medien und Behörden. Dazu zählte der österreichische Fussballtrainer Karl Rappan, der seit den frühen 30er Jahren in der Schweiz wirkte und mit einem Unterbruch seit 1937 die Schweizer Nationalmannschaft betreute. Er und seine Familie engagierten sich während des Zweiten Weltkriegs in NS-Organisationen. Nach Kriegsende wurden in der Presse Stimmen laut, die seine Entlassung als Nationaltrainer und seine Ausweisung forderten. In den Berichten der Zürcher Polizeidirektion an die «Säuberungskommission» wurde dem «Fall Rappan» breiter Raum gegeben, statt der üblichen halben Seite pro Fall nicht weniger als fünfeinhalb Seiten. Darin wurde dargelegt, dass sich Rappans nationalsozialistische Gesinnung und insbesondere seine von der Presse kolportierte NSDAP-Mitgliedschaft nicht nachweisen liessen und das Verfahren gegen ihn deshalb eingestellt worden sei. Hingegen mussten mehrere nationalsozialistische Professoren das Land verlassen, so der Chemiker Bonifaz Flaschenträger und der Veterinärmediziner Leonhard Riedmüller von der Universität Zürich, der Germanist Helmuth de Boor von der Universität Bern sowie der Germanist Richard Newald, der Kunsthistoriker Heribert Reiners, der Pädagoge Josef Spieler und der Histologe Emil Tonutti von der Universität Fribourg.

Daneben stand die Abrechnung mit einheimischen Faschisten und Kollaborateuren. Hier konzentrierte sich die Empörung rasch auf die Unterzeichner der «Eingabe der 200», während die Exponenten der Frontenbewegung der 1930er und frühen 1940er Jahre sowie die Aufarbeitung der Haltung von Behörden und Wirtschaftseliten in den Hintergrund rückten. Mitte Januar 1946 zirkulierten in der Presse die Namen eines Teils der «200». Im Zürcher Kantonsrat wurde am 21. Januar eine Interpellation eingereicht, die den Regierungsrat zur Entlassung der im Staatsdienst stehenden Unterzeichner aufforderte. Am nächsten Tag gab der Bundesrat dem Druck aus Presse und Politik nach und veröffentlichte den Text der Eingabe sowie die vollständige Liste der Unterzeichner. Sie wurden nun in den Medien als «Anpasser» oder «Defaitisten» geschmäht. Ebenso kam der – vom britischen «Daily Express» geprägte – Begriff «Swisslinge» in Gebrauch, der sich auf die Bezeichnung «Quislinge» für Nazi-Kollaborateure bezog, in Anlehnung an Vidkun Quisling, den Führer der norwegischen Faschisten und Vorsitzenden der Marionettenregierung während der deutschen Besatzung. Im Gegenzug erschienen aus den Kreisen der «200» verschiedene Rechtfertigungsschriften. Führende Figur bei diesen Aktivitäten war Wilhelm Frick. Verschiedene im Staatsdienst tätige Unterzeichner wurden in der Folge aber aus ihren Ämtern entfernt, so im Kanton Zürich der Gymnasiallehrer für Mathematik Heinrich Frick, der vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde, und im Aargau Staatsarchivar Hektor Ammann, der dann ab Mitte der 1950er Jahre seine Laufbahn als Wirtschafts- und Landeshistoriker an deutschen Universitäten fortsetzte.

Einen besonders brisanten Fall stellte der Arzt und Offizier Richard Allemann dar. Allemann war an der Universität Zürich Privatdozent für Urologie. Ausserdem sass er für die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, die Vorläuferpartei der SVP, als Vertreter der Zürcher Stadtkreise 1 und 2 im Kantonsrat. Nachdem er Ende Januar im Kantonsrat verkündet hatte, die Eingabe hauptsächlich «aus Gründen der Landesverteidigung» unterzeichnet zu haben und nicht von seinem Parlamentsmandat zurücktreten zu wollen, war in der Presse verschiedentlich von einem «Fall Allemann» die Rede. An einem Treffen der «200» zur Lancierung einer publizistischen Gegenoffensive am 29. Januar im Zunfthaus zur Waag rief Allemann in einer emotionalen Intervention aus, man müsse die Linken «niedertätschen». Schliesslich trat der Urologe, den der kommunistische «Vorwärts» als einen «Oberhäuptling der Anpasser» schmähte und der nun im Vorfeld der Gemeindewahlen auch Druck aus seiner eigenen Partei verspürte, Anfang März doch aus dem Kantonsrat zurück. Einige Wochen später teilte der Regierungsrat, der die Forderungen der «200» als «mit der Neutralität der Schweiz, der demokratischen Freiheit und den Grundsätzen eines Rechtsstaates nicht vereinbar» betrachtete, dem Kantonsrat mit, er habe für jeden einzelnen Unterzeichner im Kantonalzürcher Staatsdienst untersucht, ob eine Gesinnung vorliege, die «das notwendige Vertrauen derart erschüttert» habe, dass eine Weiterbeschäftigung «nicht mehr tragbar» erscheine. Im Fall Allemanns habe die Regierung den Erziehungsrat ersucht, mit sofortiger Wirkung die Lehrbefugnis als Privatdozent zu entziehen. Zugleich wurde Allemann als Mitglied der Aufsichtskommission über die Kantonsspitäler Zürich und Winterthur entlassen. Für diesen Entscheid sei massgebend, «dass Dr. Allemann seit der Publikation der Eingabe durch sein einsichtsloses Verhalten dazu beigetragen hat, das Vertrauen in seine Person zu erschüttern».

In der Kantonsratsdebatte bezeichnete der Fraktionssprecher der Sozialdemokraten die Verteidigungsstrategie Allemanns und anderer Unterzeichner als «Lügengebäude». Allemann habe im Juni 1940 als Oberstleutnant in einem militärischen Kurs die Auffassung vertreten, die Deutschen würden nun einen Brückenkopf nach England errichten und der Krieg sei in 14 Tagen fertig. Der Sprecher der Bauernfraktion meinte über den ehemaligen Fraktionskollegen, dieser habe «unsere Parteitüre heftig polternd hinter sich zugeschlagen». Dennoch seien die Massnahmen gegen Allemann zu hart. Sein «Temperament» habe ihn «zu politischen Ungeschicklichkeiten verführt», er habe aber auch «wissenschaftliche Werte» geschaffen, weshalb die Bauernfraktion den «brüsken Entzug der venia legendi verurteilen» müsse. In der Folge profitierte Allemann vom Umstand, dass mit dem Einsetzen des Kalten Kriegs der Säuberungseifer rasch erlahmte. Er konnte seine Lehrbefugnis behalten und 1953 verlieh ihm die Universität sogar den Professorentitel.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.124.8 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Diverses 1940–1946
  • Ar 1.124.9 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Säuberungen, Ausbürgerungen, Spionage/Landesverräter
  • Ar 1.124.11 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Eingabe der Zweihundert, ESAP/NSB etc.
  • Ar 39.30.1 Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste vpod: Parteien, Organisationen I

Sachdokumentation

  • KS 32/86a Faschismus; Erneuerung: Schweiz
  • ZA 34.3 C Totalitarismus; Radikalismus; Extremismus: Schweiz

Bibliothek

  • Brassel-Moser, Ruedi: Säuberungen, in: Traverse 2/4 (1995). S. 20f., D 5397
  • Grap, Gilbert: Differenzen in der Neutralität: Der Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz (1921–1934). Zürich 2011, 125353
  • Hahn, Patrick von: «Sauberer» als Bern? Schweizerische und Basler Politik gegenüber den nationalsozialistischen Organisationen in der Schweiz (1931–1946), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 51 (2002). S. 46-58, D 4212
  • Kreis, Georg: Die Entnazifizierung der Schweiz, in: ders.: Vorgeschichten zur Gegenwart: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2. Basel 2004. S. 305–321, 113423
  • Kunz, Matthias: Aufbruchstimmung und Sonderfall-Rhetorik: Die Schweiz im Übergang von der Kriegs- zur Nachkriegszeit in der Wahrnehmung der Parteipresse 1943¬–50. Bern 1998, Gr 9637
  • Scheibler, Kurt: Geschichte im Würgegriff der Gerichte? Die Prozesse um Wilhelm Theodor Frick (1894–1961) und die Debatte der Historiker. Zürich 2014, 130870
  • Simon, Christian: Hektor Ammann: Neutralität, Germanophilie und Geschichte, in: Mattioli, Aram (Hg.): Intellektuelle von rechts: Ideologie und Politik in der Schweiz 1918–1939. Zürich 1995. S. 29-53, 98854
  • Tanner, Jakob: «Die Ereignisse marschieren schnell»: Die Schweiz im Sommer 1940, in: Suter, Andreas und Manfred Hettling (Hg.): Struktur und Ereignis. Göttingen 2001. S. 257-282, 107900
  • Van Dongen, Luc: La mémoire de la Seconde Guerre mondiale en Suisse dans l’immédiat après-guerre (1945–1948), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997). S. 709-729, D 4212
  • Waeger, Gerhart: Die Sündenböcke der Schweiz: Die Zweihundert im Urteil der geschichtlichen Dokumente 1940–1946. Olten/Freiburg i. Br. 1971, 47176
  • Wolf, Walter: Faschismus in der Schweiz: Die Geschichte der Frontenbewegungen in der deutschen Schweiz. Zürich 1969, 39590