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5.3.2025, 18 Uhr: Gegenwind

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz im späten 20. Jahrhundert

Buchpräsentation

Hadrien Buclins neues Buch «Vents contraires. Le Parti socialiste suisse face aux crises économiques et à l’essor du néolibéralisme (1973–1995)» untersucht erstmals die Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz im späten 20. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund wiederholter Wirtschaftskrisen und dem internationalen Aufschwung neoliberaler Wirtschaftspolitik traf die SPS auf Gegner, die immer weniger zu Kompromissen bereit waren. Das härtere politische Klima stellte die von der Partei in der Nachkriegszeit angestrebte schrittweise Erringung von sozialem Fortschritt infrage und zwang ihre Führung zur ständigen Vermittlung zwischen Befürworter:innen einer stärkeren Anpassung an die liberale Globalisierung und Verfechter:innen eines starken und interventionistischen Sozialstaates.

Anhand der Untersuchung einer Regierungspartei gibt das Buch detaillierte Einblicke in zwei Jahrzehnte Schweizer Bundespolitik und betrachtet immer noch aktuelle Herausforderungen: von der Altersvorsorge über die Europapolitik bis hin zu den Auswirkungen der sozialen Bewegungen auf das politische Leben.

Bilinguale Buchpräsentation mit dem Autor Hadrien Buclin sowie Silja Häusermann und Matthieu Leimgruber (beide Universität Zürich).
Mit anschliessendem Apéro.

Mittwoch, 5. März 2025, 18 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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12.3.2025, 19 Uhr: Alternativ leben: Natürlich, gesund, autoritär?

Transnational, kolonial, aktuell. Neue Perspektiven auf die Geschichte der Lebensreform

In einer durch Digitalisierung, Klimawandel und Pandemien verunsicherten Welt versuchen immer mehr Menschen, wieder natürlicher, lokaler und gesünder zu leben. Dabei greifen sie oft auf Ideen und Praktiken der Lebensreform um 1900 zurück. Stefan Rindlisbacher, Eva Locher und Damir Skenderovic werfen in ihrem Sammelband einen neuen Blick auf die Geschichte dieser Alternativbewegung avant la lettre: Im Fokus stehen transnationale Netzwerke, koloniale Verstrickungen und Missbrauchsvorwürfe.

Im Podiumsgespräch kommen auch die Nachwirkungen der Lebensreform zur Sprache. Insbesondere wird diskutiert, inwieweit alternative Ernährungsweisen, biologischer Landbau, Naturheilkunde oder Reformpädagogik bis heute auch autoritäre und ausgrenzende Züge aufweisen können. Aktuell zeigen sich diese beispielsweise in Teilen der Post-Corona-Bewegung, in völkisch-esoterischen Siedlungsprojekten oder in rechtsalternativen Schulgründungen.

Buchpräsentation mit Eva Locher (Historikerin, Universität Bern) und Podiumsgespräch mit Stefan Rindlisbacher (Historiker, Universität Fribourg), Julia Sulzmann (Psychologin, Relinfo), Sarah Schmalz (Journalistin, WOZ). Moderation: Damir Skenderovic (Historiker, Universität Fribourg).
Mit anschliessendem Apéro.

Mittwoch, 12. März 2025, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Foto: Roland Gretler/SozArch F 5068-Na-02140
Foto: Roland Gretler/SozArch F 5068-Na-02140

21.3.2025, 19 Uhr: Harald Naegelis Graffiti als Vorboten der 80er Jahre in Zürich

Buchpräsentation

Als Harald Naegeli 1977 zu seinen nächtlichen Sprayaktionen aufbricht, ist er Pionier in mehrfacher Hinsicht: Er geht mit seinem spielerisch-politischen Stil der Zürcher 80er Bewegung um drei Jahre voraus und wird zu einem der ersten Graffitikünstler weltweit. Und dies ausgerechnet vom Zürichberg aus, dem bis dahin nicht grosse Widerspenstigkeit nachgesagt wird. Harald Naegeli bleibt zwei Jahre lang unentdeckt, wird aber schliesslich verhaftet und in der Folge von Polizei und Justiz über Jahrzehnte gnadenlos verfolgt. Er flieht nach Italien und lebt über drei Jahrzehnte in Deutschland. Er sprayt über vierzig Jahre lang weiter, verbringt ein halbes Jahr in Gefängnissen, wird zweimal von Wachleuten verprügelt und mit Hunderttausenden Franken Schadenersatz belangt. 2020 erhält er für seinen Totentanz und sein Gesamtwerk den Zürcher Kunstpreis.

Referat von Res Strehle zur Zeitgeschichte und dem bewegten Leben eines unangepassten Künstlers. Strehle ist Autor der Biografie Harald Naegelis «Nur Fliegen kann er nicht» (Diogenes 2024).
Mit anschliessendem Apéro.

Begleitend zeigt das Sozialarchiv vom 4. bis 31. März im Lesesaal eine Vitrinenausstellung zu Harald Naegeli.

Freitag, 21. März 2025, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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19./20.3.2025: Berufserkundungstage

Das Schweizerische Sozialarchiv bietet am Mittwoch, 19. März 2025, und am Donnerstag, 20. März 2025, je einen Berufserkundungstag an. An dem Tag geben wir Einblick in die Lehre als Fachmann/-frau Information und Dokumentation EFZ.

Die Teilnehmendenzahl ist begrenzt, die Anmeldefrist endet am 10. März 2025.

Anmeldungen bitte mit Geburtsdatum und Namen der aktuellen Schule.

Kontakt und Anmeldung: Andrea Schönholzer, Berufsbildnerin, schoenholzer@sozarch.uzh.ch

14.4.2025, 18.30 Uhr: Arbeit im Wandel

Technische Umbrüche, soziale Konflikte und geopolitische Herausforderungen

Buchvernissage

Neue technische Möglichkeiten wie digitale Plattformen oder Roboter verändern derzeit auf radikale Art und Weise die Bedingungen, die Charakteristiken und die Wahrnehmung von Arbeit. Gleichzeitig hat sich das Verständnis von Arbeit durch feministische Kritik am Konzept der Lohnarbeit oder durch sozial- und globalhistorische Studien über Formen unfreier Arbeit gewandelt. Die historische Migrationsforschung hat gezeigt, dass Arbeitsmigration der historische Normalfall war.

Das neue Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (SGWSG) orientiert sich an diesen konzeptionellen Debatten. Die historischen Fallstudien untersuchen soziale Konstellationen vom frühen Kolonialismus bis zur digitalen Transformation. Dabei geraten Beziehungen zwischen Menschen und Tieren oder Maschinen und Menschen ebenso ins Blickfeld wie Arbeitskämpfe, Geschlechterverhältnisse und die Rolle von Wissen in Arbeitsprozessen.

Buchvernissage mit den Herausgeber:innen Monika Dommann, Juan Flores, Kristina Schulz und Simon Teuscher.
Auf dem Podium diskutieren Brigitta Bernet, Historikerin (Gewerkschaft Unia und Universität Zürich), Florian Eitel, Historiker (Neues Museum Biel), und Lena Kaufmann, Sozial- und Kulturanthropologin (Universität Fribourg).
Mit anschliessendem Apéro.

Montag, 14. April 2025, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Vor 120 Jahren: Revolution im Zarenreich

«Die russische Revolution ist ein reines Kinderspiel gegenüber derjenigen in Albisrieden!», schrieb das Zürcher «Volksrecht» am 7. Juli 1906. Das sozialdemokratische Parteiblatt machte sich damit lustig über die Aufregung bürgerlicher Blätter wegen eines Streiks bei der Automobilfabrik Arbenz in einer Zürcher Vorortsgemeinde. Der Arbeitskampf eskalierte in der Folge tatsächlich, es gab unter anderem eine Massenschlägerei mit Schusswaffengebrauch zwischen Arbeitern und Albisrieder Bauern, zahlreiche, teils gewaltsame Strassenproteste im Arbeiterviertel Aussersihl und ein Militäraufgebot mit Kavallerie aus der Zürcher Landschaft. Und immer wieder wurden krass übertriebene Parallelen zum Zarenreich gezogen. So schrieb das «Volksrecht» unter Bezugnahme auf das behördliche Aufgebot von Ordnungstruppen von einem «Kosakenregiment» und beklagte die «Rücksichtslosigkeit und Brutalität […] wie sie sich selbst in den rückständigsten Staaten Europas nicht ungenierter ausprägt» (Volksrecht, 18.8.1906 und 31.7.1906). Der «Neue Postillon», eine dem reformistischen Grütliverein nahestehende karikaturistische Zeitschrift, publizierte im August 1906 unter dem Titel «Die Schlacht bei Albisrieden» ein Gedicht mit dem folgenden Vers: «Wir wollen jetzt beweisen, Dass in der freien Republik, Dem Herrscher aller Reussen, Wir über sind mit Knut’ und Strick».

Die Bezugnahme auf die zeitgleichen Vorgänge im Zarenreich, die die Auslandsberichterstattung der Schweizer Presse dominierten, war indessen mehr als nur rhetorisch. Tatsächlich gab es vielfältige Bezüge der Schweiz und auch der Streikunruhen von 1906 zur Revolution im Zarenreich von 1905/06. Die Streikwelle, die damals über Europa und die Schweiz brauste, hatte eine Entsprechung im Zarenreich. Dort gab es im revolutionären Geschehen auch mehrere Generalstreiks, was die Massenstreikdebatte in der europäischen Arbeiter:innenbewegung befeuerte und dazu beitrug, dass auch die Zürcher Gewerkschaften im als «Kosakenzeit» in die Erinnerung eingehenden Streiksommer 1906 mehrfach mit einem Generalstreik drohten. Auch persönliche Verbindungen gab es. Der Zürcher Arbeiterarzt Fritz Brupbacher, den die «Neue Zürcher Zeitung» im Juli 1906 fälschlicherweise als Drahtzieher der Unruhen in Aussersihl bezichtigte, war mit einer russischen Ärztin verheiratet, die sich just zu jener Zeit ins revolutionäre Getümmel in ihrer Heimat stürzte. Der Aussersihler Pfarrer und Lokalpolitiker Paul Pflüger, der 1906 nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Streikunruhen die «Zentralstelle für Soziale Literatur der Schweiz», das heutige Sozialarchiv, gründete, um gesellschaftliche Probleme faktenbasiert auf reformistischem und demokratischem Wege und nicht mit Gewalt und Revolutionen angehen zu können (s. SozialarchivInfo 3/2021), hatte sich im Jahr zuvor stark in der Solidaritätsbewegung für die russländische Opposition engagiert. Darüber hinaus hatten viele führende Figuren der Revolution von 1905 in der Schweiz studiert oder hier im Exil gelebt oder flüchteten bei der Niederschlagung der Proteste in die Eidgenossenschaft.

Eine Imperialmacht mit Modernisierungsproblemen

Die innere und äussere Verfassung des Zarenreichs am Vorabend der Revolution von 1905 war widersprüchlich. Im Zuge der imperialistischen Ausbreitung europäischer Länder im 19. Jahrhundert hatte auch das russländische Riesenreich sein Territorium nochmals erheblich erweitert. Anders als bei den anderen Kolonialmächten ging es dabei nicht um die Eroberung überseeischer Gebiete – die einzige grössere Überseekolonie Alaska wurde 1867 für 7,2 Millionen Dollar an die USA verkauft – , sondern die immer weitere Ausdehnung und Russifizierung eines zusammenhängenden eurasischen Landblocks. Dies schuf für die Kolonisierten, aber auch für die russische Gesellschaft, die um 1900 nur etwa 44 % der Gesamtbevölkerung des Reiches ausmachte, enorme Kosten, zementierte den autoritären Zentralismus des Herrschaftssystems und erschwerte im 20. Jahrhundert dann eine territoriale und mentale Dekolonisation – mit fatalen Auswirkungen bis in die Gegenwart.

Vom 16. bis 18. Jahrhundert hatte das Zarenreich Sibirien erobert und umfangreiche nord- und osteuropäische Territorien erworben, etwa den ukrainischen Kosakenstaat sowie grosse Teile Finnlands und Polen-Litauens. Die Fläche des Reiches versechsfachte sich von 1505 bis 1796 von 2,5 auf 15,5 Millionen Quadratkilometer. Im 19. Jahrhundert erfolgte die Expansion im Kaukasus, in Zentralasien und der Mandschurei mit einer weiteren Ausdehnung des imperialen Territoriums um die Hälfte auf 22,8 Millionen Quadratkilometer. Die Eroberung des Nordkaukasus in einem von 1817 bis 1864 dauernden Krieg war begleitet von umfangreichen Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen grosser Bevölkerungsteile, die heute teilweise als Genozid diskutiert werden und gewissermassen die Blaupause zu den ethnischen Deportationen im Stalinismus bildeten. Sie stehen im 19. Jahrhundert als Gewaltpraktiken in einer Reihe mit den Massakern und Genoziden in den Imperialkriegen und aktuellen oder unabhängig gewordenen Siedlerkolonien der westlichen Kolonialmächte sowie den «ethnischen Säuberungen» im Gefolge des schrittweisen Zusammenbruchs der osmanischen Herrschaft über Südosteuropa und deren Ablösung durch Nationalstaaten in sprachlich, religiös und kulturell sehr heterogenen Gebieten. Mit der Erlangung der Kontrolle über den Kaukasus verschob sich der russländische Expansionsfokus auf Zentral- und Ostasien.

Nach umfangreichen Eroberungen in Zentralasien wurde 1868 das «Generalgouvernement Turkestan» mit der Hauptstadt Taschkent geschaffen. 1882 folgte das «Generalgouvernement der Steppe» mit der Hauptstadt Omsk, das grosse Teile des heutigen Kasachstan umfasste. 1858 zwang das Zarenreich das kaiserliche China mit dem Vertrag von Aigun zur Abtretung von über einer halben Million Quadratkilometern seines mandschurischen Territoriums. Wenig später brach das Zarenreich diesen Vertrag und erhielt 1860 auf Grundlage der Pekinger Konvention, die den zweiten Opiumkrieg beendete, die gesamte Äussere Mandschurei zugesprochen. Aus der chinesischen Siedlung Hǎishēnwǎi wurde dadurch die russländische Stadt Vladivostok – «Beherrsche den Osten».

Die asiatische Expension brachte das Zarenreich allerdings nicht nur in Gegensatz zum geschwächten China, sondern auch zu zwei anderen Imperialmächten: dem britischen Empire mit seinen umfangreichen Besitzungen in Südasien (unter anderem Indien) und dem kaiserlichen Japan. Durch das ganze 19. Jahrhundert herrschte in Asien eine Art britisch-russländischer Kalter Krieg, das sogenannte «Great Game». Japan durchlief ab 1868 mit der Meiji-Restauration einen forcierten Modernisierungsprozess, besiegte 1894/95 das Kaiserreich China im ersten chinesisch-japanischen Krieg, übernahm daraufhin Taiwan als Kolonie und geriet mit seinen Expansionsgelüsten in Ostasien in direkten Gegensatz zum Zarenreich.

Zugleich war das Zarenreich Teil des im 18. Jahrhundert herausgebildeten und auf dem Wiener Kongress 1814/15 wiederhergestellten Gleichgewichtssystems der fünf europäischen Grossmächte («Pentarchie», zusammen mit Grossbritannien, Frankreich, der Habsburgermonarchie und Preussen bzw. dem Deutschen Reich) und bildete darin das konservativste Element. Seine Rolle als antiliberaler «Gendarm Europas» wurde durch die Niederlage im Krimkrieg von 1853 bis 1856 gegen eine Koalition aus dem Osmanischen Reich, Grossbritannien, Frankreich und Sardinien-Piemont allerdings geschwächt. Durch die Intervention in die Balkankrise ab 1875 und den Sieg im Krieg gegen das Osmanische Reich von 1877/78 konnte sich das Zarenreich im Zeichen des aufkommenden Panslawismus jedoch zur (darin im Gegensatz zum Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie stehenden) Schutzmacht der südslawischen Völker aufschwingen. Zugleich kam es dadurch seinem strategischen Ziel der Kontrolle über den Bosporus und des Zugangs zum Mittelmeer ein Stück näher. 1893 schloss das Zarenreich mit der Französischen Republik trotz der starken politischen und ideologischen Unterschiede eine hauptsächlich gegen das Deutsche Reich gerichtete Militärallianz als ein früher Schritt zur bündnispolitischen Polarisierung Europas, die dann im Sommer 1914 eine katastrophale Dynamik entfalten sollte.

Vor diesem Hintergrund einer chronischen «imperialen Überdehnung» (Paul Kennedy) führte die innenpolitische Entwicklung im Zarenreich weder zu einer evolutionären Konstitutionalisierung, Liberalisierung und schliesslich Demokratisierung wie in Grossbritannien noch zu revolutionären Umstürzen wie mehrfach in Frankreich, sondern im Verhältnis zwischen russischen Unterschichten und Kolonisierten zu einer Nivellierung nach unten. Beim Thronantritt von Zar Nikolaus I. 1825 hatte die Offiziersbewegung der «Dekabristen» sich gegen Zensur, Polizeiwillkür und die Leibeigenschaft (der zu jener Zeit etwa die Hälfte der Bevölkerung unterlag) aufgelehnt und eine konstitutionelle Monarchie gefordert. Der Zar unterdrückte diese Rebellion energisch und baute in der Folge den Polizei- und Geheimdienstapparat aus. Die europäische Revolutionswelle von 1830 beschränkte sich im Zarenreich auf einen polnischen Aufstand, nach dessen Niederschlagung der Zar den verfassungsrechtlichen Sonderstatus Russisch-Polens aufhob.

Die Revolutionswelle von 1848 griff kaum auf das Zarenreich über. Vielmehr halfen russländische Interventionstruppen 1848/49 bei der Niederschlagung der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung von der Donaumonarchie sowie der Unterdrückung der Revolutionen in den unter osmanischer Oberhoheit stehenden Donaufürstentümern Moldau und Walachei. Ebenso suspendierte das Zarenreich nach dem Sonderbundskrieg seine am Wiener Kongress gegebene Garantie der schweizerischen Neutralität und territorialen Integrität – dies gleichsam als Einladung an die Nachbarstaaten, in der Eidgenossenschaft zu intervenieren (s. SozialarchivInfo 2/2023). Erst die Revolution von 1905 zeigte im Zarenreich dann das gemeinsame Auftreten konstitutionalistischer, liberaler, sozialistischer, nationalistischer und autonomistischer bzw. antiimperialer Kräfte, wie es in West-, Zentral- und Teilen Ostmitteleuropas bereits 1848 zutage getreten war. Wenn Lenin später 1905 als «Hauptprobe» für 1917 bezeichnete, so war es aus einer transnationalen Perspektive eher eine Art anachronistischer Epilog zu 1848.

Der Schock der Niederlage im Krimkrieg führte dann unter Zar Alexander II. zu einer Reihe von Reformen. Neben der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 gehörten dazu in den 1860er und frühen 1870er Jahren Reformen in den Bereichen des Finanzwesens, der Universitäten, der Lokal- und Stadtverwaltung, der Justiz, der Sekundarschulbildung und des Militärs. Bereits gegen Ende der Regierungszeit des 1881 von Mitgliedern der sozialrevolutionären Geheimgesellschaft «Norodnaja volja» ermordeten Alexanders II. sowie unter seinem Nachfolger Alexander III. wurden Teile der Reformen wieder eingeschränkt. Zugleich kam es 1863 zu einem erneuten Aufstand in Russisch-Polen, der abermals niedergeschlagen wurde. Dem entstehenden antiimperialen Nationalismus auch in anderen westlichen und südwestlichen Randgebieten setzte die zaristische Regierung eine forcierte Russifizierung in Verwaltung, Bildungssystem und Kultur entgegen. Dazu gehörten Massnahmen zugunsten des Russischen und zur Unterdrückung der anderen Sprachen, die Forcierung der seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Ideologie des «dreieinigen russischen Volkes» aus «Gross-, Weiss- und Kleinrussen» als versuchter Einbezug von Belaruss:innen und Ukrainer:innen in einen ostslawisch-orthodoxen bzw. grossrussischen Nationalismus, aber auch, insbesondere in den neu unterworfenen asiatischen Gebieten, ein russischer Siedlungskolonialismus. Hinzu kam die Instrumentalisierung des Antisemitismus als Ablenkung von gesellschaftlichen Problemen und antiimperialen Tendenzen (s. SozialarchivInfo 1/2021).

Neben den antiimperialen Strömungen entstanden im späten 19. Jahrhundert auch russische Oppositionskräfte, die dann in der Revolution von 1905 eine Rolle spielen sollten. Vor allem auf der Basis der alexandrinischen Reform der Lokalverwaltung mit regionalen Ständeversammlungen («Zemstvo») bildete sich eine reformistische Elite mit konstitutionalistischen und liberalen Ideen. Radikalere Oppositionskräfte, die sich oft auch terroristischer Methoden bedienten, agierten hauptsächlich aus dem Untergrund, dem Exil (unter anderem in der Schweiz) oder befanden sich in der Verbannung in Sibirien. Sie hingen dem Nihilismus, Anarchismus oder einem spezifisch russischen Agrarsozialismus (Narodniki, ab 1901 Partei der Sozialrevolutionäre) an, ab den 1880er Jahren zunehmend auch dem Marxismus. Die 1898 gegründete marxistische Russländische Sozialdemokratische Arbeiterpartei spaltete sich 1903 in die Flügel der Bolschewiki um Lenin, die auf eine Elite von Berufsrevolutionär:innen setzte, und der Menschewiki, die im Sinne westlicher Sozialdemokratien eine Arbeiter:innenbewegung mit Massenbeteiligung und Gewerkschaften anstrebten. Ebenso trat 1903 der «Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland» (kurz «Bund») aus, nachdem Bolschewiki wie Menschewiki dessen Autonomiestatus innerhalb der Gesamtpartei abgelehnt hatten.

Die wirtschaftliche Modernisierung machte im späten 19. Jahrhundert zwar Fortschritte, das Zarenreich hinkte ökonomisch aber weiter hinter den Grossmächten West- und Mitteleuropas und Nordamerikas her. Neue Bahnlinien verbanden die schnell wachsenden Städte und die Zahl der Fabrikarbeiter:innen nahm 1890 bis 1900 von 1,4 auf 2,4 Millionen zu. Dies waren aber weniger als 2 % der Gesamtbevölkerung. Die grosse Mehrheit blieb kleinbäuerlich und oft am Rand des Existenzminimums. Im Jahr 1900 lebten nur 4,8 % der Bevölkerung des Zarenreiches in Städten gegenüber 32,8 % in Grossbritannien, 18,7 % in den USA, 15,5 % im Deutschen Reich und 13,3 % in Frankreich. Selbst in Italien, Österreich-Ungarn und Japan war der Urbanisierungsgrad höher als im Zarenreich. Die Produktivität der Landwirtschaft nahm zwar zu, blieb aber deutlich unter derjenigen in Westeuropa.

Von 1880 bis 1900 gelang es dem Zarenreich, die industrielle Kapazität Frankreichs zu überholen, zugleich vergrösserte sich aber der Rückstand auf die drei führenden Industriestaaten USA, Grossbritannien und Deutschland. Auch wurde das vor allem durch ausländisches Kapital angetriebene industrielle Wachstum durch eine zunehmende Auslandverschuldung erkauft, insbesondere in Frankreich. Die Lage der Fabrikarbeiter:innen war vielfach erbärmlich. Die zaristische Regierung erlaubte die Bildung von Gewerkschaften nicht, sondern versuchte, durch polizeilich kontrollierte Organisationen die Arbeiterschaft zu vereinnahmen. Als im Juni 1896 bis zu 30’000 Textilarbeiter:innen in 18 Petersburger Fabriken für drei Wochen streikten, wurden rund 1’000 Personen verhaftet.

In den Jahren vor 1905 spitzte sich die gesellschaftliche Krise zu, insbesondere in den westlichen und südwestlichen Randgebieten. Von den 59 Demonstrationen, die 1895 bis 1900 im Zarenreich registriert wurden, fanden 25 in Polen statt, 9 in der Ukraine, 9 im Baltikum, 7 in Belarus, 6 in Finnland und nur 3 in Gebieten mit russischer Bevölkerungsmehrheit. 1902 bis 1904 gab es eine Bauernrevolte in der Ukraine. Im georgischen Gurien schuf eine bäuerliche Protestbewegung 1902 die Gurische Republik mit einer revolutionären Selbstverwaltung, die von den zaristischen Streitkräften erst 1906 niedergeschlagen werden konnte. 1903/04 entfaltete sich eine Welle von Massenstreiks und städtischen Unruhen zunächst in Baku, Tiflis und Batumi, dann in Odessa, Kyjiw und anderen Städten der Ukraine sowie in Russisch-Polen.

Krieg als Auslöser revolutionärer Unruhen

Zu den vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Problemen kam im Februar 1904 der Ausbruch des russisch-japanischen Krieges, der sich bereits in den Vorjahren abgezeichnet hatte, dennoch aber die zaristische Regierung überrumpelte. Ab 1898 pachtete das Zarenreich von China Port Arthur als Flottenstützpunkt im Gelben Meer. 1900/01 intervenierten Russland und Japan zusammen mit Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien und den USA in einer gemeinsamen Strafaktion gegen den Boxeraufstand in China, wobei das Zarenreich zum Unmut Japans die südöstliche Hälfte der Inneren Mandschurei über das Ende der Intervention hinaus besetzte. Am 13. Januar 1904 forderte der japanische Botschafter in St. Petersburg eine Abgrenzung der ostasiatischen Einflusssphären: Gegen die russländische Anerkennung der japanischen Vorherrschaft in Korea wollte Japan erklären, dass die Mandschurei ausserhalb ihres Einflussbereichs liege. Die zaristische Regierung lehnte ab, worauf die japanische Flotte in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar Port Arthur angriff.

In den folgenden Tagen wurde die russländische Pazifikflotte zerstört oder in Port Arthur blockiert. Die zaristische Regierung ging dennoch von einem leichten Sieg aus und erhoffte sich vom Krieg eine Stärkung ihres internationalen Prestiges und Schwächung der innenpolitischen Opposition. Die erste Landschlacht im April am Yalu-Fluss an der Grenze zwischen Korea und China endete aber mit einem japanischen Sieg und auch der weitere Kriegsverlauf war für die russländische Seite ein Debakel. Die meisten Land- und Seeschlachten wurden von den Japanern gewonnen. Im Juli 1904 begann die japanische Belagerung von Port Arthur. Dabei entspann sich ein Stellungskrieg mit Schützengräben, wie er zehn Jahre darauf für die Westfront des Ersten Weltkriegs charakteristisch werden sollte. Im Dezember zerstörte die japanische Artillerie die verbliebenen Schiffe der russländischen Pazifikflotte und am 2. Januar 1905 kapitulierte die Besatzung von Port Arthur. Die Nachricht vom Fall der Hafenstadt schockierte die russländische Öffentlichkeit und demoralisierte die verbliebenen Truppen. Ende Mai erlitt die Baltische Flotte, die zum «Zweiten Pazifik-Geschwader» umfunktioniert worden war, in der Seeschlacht bei Tsushima eine vernichtende Niederlage.

Kurz darauf übernahm US-Präsident Theodore Roosevelt eine Vermittlungsmission und am 5. September 1905 wurde der Friedensvertrag von Portsmouth unterzeichnet. Dieser sprach die Souveränität über die Innere Mandschurei China zu, so dass die russländischen Truppen die 1900 besetzten Gebiete räumen mussten. Das russländische Pachtgebiet auf der chinesischen Liaodong-Halbinsel mit dem Kriegshafen Port Arthur ging an Japan, das auch den Süden der Insel Sachalin, die im Juli 1905 von japanischen Truppen besetzt worden war, sowie die vormals russländische Konzession für einen Teil der chinesischen Osteisenbahn erhielt. Japan, das im August 1905 seine Allianz mit Grossbritannien erneuert und vertieft hatte und im November gleichen Jahres ein Protektorat über Korea errichtete, wurde damit zur ostasiatischen Grossmacht. Das Zarenreich hingegen, das bei einer Gesamtzahl von 1,36 Millionen mobilisierten Soldaten und Matrosen etwa 70’000 Tote, 146’000 Verwundete und 74’000 Gefangene zu beklagen hatte, sich für die Kriegsfinanzierung in Frankreich und Deutschland verschuldete und nach der faktischen italienischen Niederlage gegen Äthiopien im Krieg von 1895/96 eine der ganz wenigen Niederlagen europäischer Grossmächte gegen aussereuropäische Gegner erlitt, war trotz der im Verhältnis zum militärischen Desaster relativ milden Friedensbedingungen tief gedemütigt. Präsident Roosevelt erhielt für seine Vermittlerrolle 1906 den Friedensnobelpreis.

Der «Blutsonntag» und seine Folgen

Der Krieg gegen Japan verschärfte auch die wirtschaftlichen Probleme. Produktion und Aussenhandel gingen zurück, die Lebensmittelpreise in den Städten stiegen massiv, die Reallöhne schrumpften um 20 % und viele Industriebetriebe bauten Stellen ab. Die Depression der russländischen Industrie hielt bis 1908/09 an, ohne dass der Staat wesentliche wirtschafts- oder sozialpolitische Gegenstrategien entfaltet hätte. Schon lange vor Kriegsende regte sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und in verschiedenen Reichsteilen Opposition und Protest. Kreise aus der kritischen Intelligencija entfalteten nach dem Vorbild der französischen Opposition von 1847/48 die sogenannte «Bankettbewegung» und veranstalteten Festessen, an denen politische Resolutionen verabschiedet wurden. Am 4. Januar 1905 traten die Arbeiter:innen in den auf Eisenbahn- und Waffenproduktion spezialisierten Petersburger Putilov-Werken in den Ausstand. In den folgenden Tagen weitete sich der Streik aus und umfasste bald 140’000 Arbeiter:innen.

Am 9. Januar 1905, wenige Tage nach der Kapitulation von Port Arthur, zog eine Demonstration von Zehntausenden Menschen vor den Zarenpalast, um dem Autokrator eine Bittschrift zu überreichen. Organisiert hatte die Kundgebung der Pope Georgij Gapon, der seit 1903 eine zarenfreundliche Arbeiterorganisation leitete und zugleich Agent der Geheimpolizei Ochrana war. Ab Ende 1904 arbeitete Gapon aber zunehmend mit radikaleren Kräften der Arbeiter:innenbewegung zusammen. Der Demonstrationszug war keineswegs umstürzlerisch gesinnt. Vielmehr wurden Ikonen und Zarenbilder mitgetragen. Die Petition zielte allerdings auf eine radikale Veränderung des politischen Systems ab, war ihre zentrale Forderung doch die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung nach allgemeinem, direktem, geheimem und gleichem Wahlrecht: «Es ist notwendig, dass das Volk sich selbst hilft, denn nur es kennt die wahren Bedürfnisse. Lehnen Sie seine Hilfe nicht ab, sondern nehmen Sie sie an!» Des Weiteren forderte die Petition als «Massnahmen gegen die Unwissenheit und Entmündigung des russischen Volkes» bürgerliche Rechte wie die Rede-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, die Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, ein obligatorisches und kostenloses Bildungssystem, die Regierungsverantwortlichkeit gegenüber dem Volk, Rechtsgleichheit und Befreiung der politischen Gefangenen, ebenso wirtschafts- und sozialpolitische Reformen wie die Gewerkschaftsfreiheit, den Achtstundentag, das Streikrecht, Sozialversicherungen und angemessene Löhne.

Am Ende formulierte die Bittschrift eine klare Alternative: «Wir haben nur zwei Wege: entweder in die Freiheit und ins Glück oder ins Grab.» Eintreffen sollte für viele Demonstrationsteilnehmer:innen das zweitere: Die Palastwache schoss in die Menge, tötete und verletzte viele Menschen. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt; die Angaben variieren von 130 bis über 1’000 Tote. Die psychologische Wirkung des Ereignisses war ungeheuer. Die Illusion, die Regierung sei grundsätzlich am Wohl des Volkes interessiert, zerbrach auf einen Schlag. An zahlreichen Orten kam es zu Unruhen und Arbeitsniederlegungen. Schon am Morgen nach dem Massaker von St. Petersburg gingen in Moskau 45’000 Menschen auf die Strasse. Im April streikten 80’000 Personen, im Mai bereits 200’000. Entlang der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn griff der Protest auch nach Osten über mit Eisenbahnerstreiks im Februar, Mai und August.

Schon im Januar 1905 bildeten sich in St. Petersburg aus Fabrikbelegschaften auch Arbeitermilizen, in den folgenden Wochen und Monaten auch in Moskau und anderen Regionen. Im Februar ermordete der sozialrevolutionäre Dichter Ivan Kaljaev in der Nähe des Moskauer Kremls den Grossfürsten Sergej Romanov, einen Onkel des Zaren. Diese Tat wurde 1949 von Albert Camus im Drama «Les justes» literarisch verarbeitet. Allenthalben entstanden Berufsverbände, die sich Anfang Mai zu einer Dachorganisation zusammenschlossen. Wissenschaftler und Lehrer forderten die Einrichtung einer frei gewählten Volksvertretung und zahlreiche Nationalitäten des Riesenreiches beriefen Kongresse ein, an denen Autonomieforderungen erhoben wurden. Ende Juli tagte der erste allrussische Kongress des neugegründeten Bauernverbandes. Ausserdem gab es Meutereien in Armee und Flotte sowohl in den europäischen Reichsteilen als auch in Fernost bis nach Vladivostok.

Im Sommer 1905 flauten die Proteste in den russischen Gebieten des Zarenreiches vorübergehend ab. Zeitgleich herrschten aber in Russisch-Polen, Transkaukasien und im Baltikum bürgerkriegsartige Zustände. Ab September gab es auch in den russischen Gebieten erneut zahlreiche Streiks, unter anderem in den Metropolen St. Petersburg und Moskau. Vom 7. bis 13. Oktober traten die Eisenbahner erneut in den Ausstand. Sogar in einem Priesterseminar brach ein Streik aus. Ende Oktober meuterten 13’000 Matrosen und Soldaten der Marinebasis Kronstadt. In den westlichen Reichsteilen kam es auch zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, die über 1’000 Menschenleben forderten. Sie gingen zum Teil von pro-zaristischen Demonstrationen aus und wurden von den Behörden als Ablenkung von den revolutionären Aktivitäten zumindest geduldet.

Als neue Organisationsform bildeten sich Arbeiterräte, die die Streikbewegung leiteten. Der am 13. Oktober zusammengetretene Petersburger Arbeiterrat rief in den folgenden Wochen mehrfach zum Generalstreik auf. Am 26. November wurde an seine Spitze Leo Trotzki gewählt, der damals zwischen Bolschewismus und Menschewismus lavierte und vor dem Hintergrund der Erfahrung von 1905 kurz darauf in der Schrift «Ergebnisse und Perspektiven» erstmals seine Theorie der permanenten Revolution formulierte. Am 3. Dezember 1905 liess die zaristische Regierung die Führer des Petersburger Arbeiterrats verhaften. Auch in Moskau kam es zu einem von einem Arbeiterrat geleiteten Generalstreik. Unter dem Einfluss der Bolschewiki brach am 9. Dezember in Moskau sogar ein bewaffneter Aufstand aus, der nach einer Woche blutig niedergeschlagen wurde. Das System der Arbeiterräte, deren Deputierte von der Basis jederzeit abberufen werden konnten, galt in der Folge als anzustrebende Idealform der Arbeiterdemokratie. Im Revolutionsjahr 1917 sollte es eine wichtige Rolle spielen, wurde dann aber von den Bolschewiki bald als pseudodemokratische Fassade ihrer Parteidiktatur missbraucht. Im Protestzyklus um das Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in etwa 30 Ländern Europas, Asiens, Nord- und Lateinamerikas Arbeiterräte, die in den Revolutionen in Deutschland und Österreich-Ungarn 1918/19 eine wichtige Rolle spielten.

Auch auf dem Land kam es zu Unruhen, die ab Oktober 1905 zunahmen. Bei gewaltsamen bäuerlichen Protesten wurden allein in den letzten zwei Monaten des Jahres 1905 2’000 Landgüter niedergebrannt. Bauern plünderten und brandschatzten adlige Gutshöfe, ermordeten Gutsherren, teilten die Nahrungsmittelvorräte unter sich auf, raubten Getreide und Futter, schlugen in grundherrlichen Wäldern Holz und trieben ihr Vieh auf fremde Weiden. Die Bauernaufstände gingen 1906 weiter, bevor sie blutig niedergeschlagen wurden. Dabei brannten vor allem die gefürchteten Kosakenregimenter Bauernhäuser nieder, töteten Vieh, liessen oft die ganze Dorfversammlung auspeitschen und töteten, verstümmelten oder verhafteten wahllos Menschen. Von Oktober 1905 bis April 1906 wurden dabei 34’000 Personen erschossen, 14’000 erlagen ihren Verletzungen, 70’000 wurden in den Kerker geworfen. In den Städten gab es im Frühjahr 1906 noch durchschnittlich fünf politische Attentate pro Tag, häufig verübt durch Anarchist:innen, und zahlreiche Banküberfälle sollten Geld für die Revolution beschaffen. Erst 1907 waren die revolutionären Unruhen vollständig unterdrückt.

Revolution und Antiimperialismus

Besonders heftig waren die Unruhen und Streiks in den westlichen und südwestlichen Randgebieten, wo sich Sozialprotest und der Ruf nach politischen Reformen mit antiimperialem Aufbegehren gegen die als Fremdherrschaft empfundene zaristische Administration vermischte und teilweise in bürgerkriegsartige Zustände mündete. So finden sich in der Sachdokumentation des Sozialarchivs Berichte an die Zweite Internationale von Arbeiterparteien der Ukraine, Polens, Finnlands und Lettlands sowie des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes zu ihren Aktivitäten in der Revolutionsphase 1905 bis 1907.

Im Baltikum verbanden sich Streiks der teilweise sozialistisch organisierten Arbeiter:innen mit Bauernrebellionen gegen die zaristische Verwaltung und den grossgrundbesitzenden deutschbaltischen Adel. Neben den städtischen und ländlichen Unter- und Mittelschichten beteiligten sich auch bürgerliche und adlige Liberale am revolutionären Geschehen. In Riga kam es bereits im Januar 1905 zu bewaffneten Zusammenstössen, die 73 Opfer forderten. Im Frühjahr und Sommer traten lettische und estnische Landarbeiter:innen in den Streik, Bauern verweigerten Abgaben und schufen in Kurland und Südlivland revolutionäre Selbstverwaltungen. Bei einer Demonstration in Tallinn am 16. Oktober 1905 eröffnete das Militär das Feuer und tötete etwa 100 Menschen. Im November tagte eine All-Estnische Versammlung mit 800 Delegierten, Anfang Dezember forderte in Vilnius ein Landtag von 2’000 Personen nationale Autonomie, das Litauische als Amtssprache und eine gesetzgebende Versammlung. Bis Ende 1905 wurden 563 Rittergüter des deutschbaltischen Adels, über 20 % des Gesamtbestandes, von Aufständischen zerstört, zahlreiche Gutsbesitzer vertrieben und einige ermordet.

In Russisch-Polen, wo die grossen Aufstände von 1830/31 und 1863/64 hauptsächlich von den einheimischen Eliten getragen gewesen waren und das nun ein industrielles Zentrum des Zarenreichs war, fand 1905 eine Demokratisierung des antizaristischen Protests statt. Diese legte auch soziale Spannungen innerhalb der polnischen Gesellschaft frei. Erstmals gab es Arbeiter:innenaktivismus auf der Strasse. Ein Drittel aller Streiks im Zarenreich während der Revolutionsphase fanden in Polen statt. 90 % der polnischen Arbeiter:innen streikten 1905 mindestens einmal. Zugleich zeichneten sich die Ereignisse durch eine besondere Gewaltsamkeit aus.

Bereits im November 1904 kam es im Anschluss an eine Massendemonstration zu Kampfhandlungen zwischen dem zaristischen Militär und sozialistischen Milizen. Ende Januar 1905 demonstrierten Arbeiter:innen in Łódź gegen den Zaren und den Krieg. Ähnliche Proteste folgten in Warschau, über das die zaristischen Behörden schon am 17. Januar den Belagerungszustand verhängt hatten und wo bewaffnete Zusammenstösse mindestens 90 Todesopfer forderten, und anderen industriellen Zentren. Ende Januar riefen die sozialistischen Parteien zum Generalstreik auf, der während vier Wochen andauerte und an dem sich 400’000 Arbeiter:innen beteiligten. Auch gab es Proteste an Schulen und Universitäten gegen die Unterdrückung des Polnischen als Unterrichtssprache, unter anderem einen sieben Monate andauernden Schulboykott der Mittelschüler:innen. Am 1. Mai 1905 wurden in Warschau 30 Demonstrant:innen erschossen. Ende Juni kam es in Łódź zu einem mehrtägigen Aufstand mit Barrikadenkämpfen, bei dessen Niederschlagung 150 bis 500 Menschen ums Leben kamen.

Trotz des Krieges gegen Japan sah sich die zaristische Regierung gezwungen, die 250’000 Mann starken Truppenkontingente in Russisch-Polen zu verstärken. Politische Parteien wie die von Rosa Luxemburg mitgegründete Sozialdemokratie des Königreichs Polen-Litauen, Józef Piłsudskis Polnische Sozialistische Partei (deren bewaffneter Arm ab 1904 Überfälle auf russländische Banken und Postzüge verübte), der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund und die Nationaldemokratische Partei wurden während der Revolution von kleinen Zirkeln zu Massenorganisationen. Etwa 20 % der polnischen Arbeiter:innen traten Gewerkschaften bei, deren Mitgliedschaft zu etwa einem Fünftel weiblich war (gegenüber damals unter einem Zehntel im Schweizerischen Gewerkschaftsbund). Die Polnische Sozialistische Partei, die auf über 50’000 Mitglieder anwuchs, versuchte im Dezember 1905 erfolglos, in Warschau die Macht zu ergreifen, und setzte danach den Widerstand mit Terroranschlägen fort. Noch 1906 und 1907 gab es verschiedene Unruhen mit Todesopfern. Am 15. August 1906, dem sogenannten «Blutmittwoch», verübten Mitglieder der Kampforganisation der Polnischen Sozialistischen Partei in einer konzertierten Aktion rund 100 Anschläge auf Behörden und Polizeistellen in 20 Ortschaften Russisch-Polens und töteten etwa 80 Polizisten und Spitzel. Das Scheitern der Revolution stärkte dann innerhalb des polnischen politischen Spektrums die nationalistischen und konservativen Kräfte.

Am erfolgreichsten war die Revolution in Finnland, das seit der Jahrhundertwende einer (im Vergleich zu anderen Reichsteilen noch relativ milden) «administrativen Russifizierung» ausgesetzt gewesen war. 1899 hatte der Zar in seinem Februarmanifest die finnische Ständeversammlung zu einem blossen Beratungsorgan abgewertet. Im selben Jahr kam es zu passivem Widerstand gegen die Ausweitung der Wehrpflicht. Im folgenden Jahr wurde die Verwendung des Russischen in der finnischen Verwaltung ausgebaut. Erstmals versuchten die in verschiedene politische Gruppen gespaltenen finnischen Eliten nun breite Bevölkerungskreise zu mobilisieren, bereits 1899 mit einer Massenpetition und 1905 dann durch Unterstützung des allgemeinen Wahlrechts. Im Juni 1904 wurde der verhasste, mit Sondervollmachten regierende Generalgouverneur Nikolaj Bobrikov von einem finnischen Nationalisten ermordet.

Der Petersburger Generalstreik vom Oktober 1905 sprang nach zehn Tagen aufs benachbarte Finnland über und mündete in spektakuläre Reformen. Am 4. November 1905 genehmigte der Zar einen fundamentalen und im ganzen Imperium einmaligen Wechsel vom ständischen zum parlamentarischen System und suspendierte darüber hinaus das Rekrutierungsgesetz und andere unpopuläre Massnahmen. Das neue finnische Parlament wurde erstmals 1907 gewählt, wobei als europaweites Novum neben den Männern auch die Frauen wahlberechtigt waren (s. SozialarchivInfo 6/2020). Stärkste Kräfte wurden die Sozialdemokratische Partei mit 37 % und die konservative Finnische Partei mit 27 %. 19 der 200 Abgeordneten waren Frauen. Der Zar löste das Parlament bereits 1908 wegen «staatsfeindlicher Gesinnung» auf, startete im selben Jahr eine zweite Russifizierungswelle Finnlands und intervenierte auch in der Folgezeit mit Einschränkungen der parlamentarischen Kompetenzen und beinahe jährlichen Parlamentsauflösungen massiv in den demokratischen Prozess. Dennoch ermöglichten die 1905 erkämpften Reformen die Etablierung einer neuen politischen Kultur und eines relativ stabilen Parteiensystems als Grundlage für die demokratische Entwicklung Finnlands nach der Unabhängigkeit und dem Bürgerkrieg von 1918.

In der Ukraine spielten die Eisenbahner im revolutionären Geschehen eine wichtige Rolle. Im Donbass-Gebiet gab es bewaffnete Auseinandersetzungen, in Odessa zahlreiche Streiks und Demonstrationen. Knechte und Tagelöhner auf Gutsbetrieben verweigerten die Arbeitsleistung. Auch auf die am Krieg gegen Japan nicht beteiligte Schwarzmeerflotte sprang der Funke der Rebellion über. Schon im November 1904 gab es eine Meuterei in der Marinebasis Sevastopol’. Am 14. Juni 1905 meuterte dann die Besatzung des Panzerkreuzers Potemkin. Auslöser war die Verabreichung verfaulten Fleisches an die Matrosen. Nach dem Einlaufen des Panzerkreuzers in Odessa, wo gerade ein Generalstreik stattfand, richteten Kosakentruppen in den folgenden Tagen bei der Niederschlagung der Aufstände ein Blutbad an, das über 1’000 Menschenleben kostete. Die Besatzung der Potemkin flüchtete ins rumänische Constanța. Diese Ereignisse dienten als Grundlage für Sergej Ėjzenštejns Stummfilmepos «Panzerkreuzer Potemkin» von 1925. Die ukrainische Intelligenz schuf im Zuge der Revolution eine Reihe neuer Organisationen und Zeitschriften. Die wichtigste politische Partei, die 1900 entstandene Revolutionäre Ukrainische Partei, nannte sich 1905 um in Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei.

Auch im Kaukasus und Transkaukasien wurde es unruhig. Im späten 19. Jahrhundert waren antiimperiale Kräfte erstarkt und um 1900 entstanden politische Parteien, die sich für mehr Autonomie einsetzten und teilweise Kontakte zu anderen Peripherien des Zarenreiches pflegten. In Baku erzielten 1905 Arbeiter:innen mit Protestaktionen Lohnerhöhungen. Die Streikbewegung griff dann auf Tiflis, Batumi und andere Städte über. Im August töteten Truppen in Tiflis bei der Auflösung einer Protestversammlung mehrere Dutzend Menschen. Im Sommer 1905 entglitt dem zaristischen Statthalter für den Kaukasus die Kontrolle über weite Gebiete, etwa Ossetien, vollständig. Der Gouverneur von Baku förderte im Sinne einer klassischen imperialistischen Divide-and-rule-Strategie aserbaidschanische Pogrome gegen Armenier:innen, die zuvor seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von den zaristischen Machthabern gezielt als Gegengewicht gegen die muslimische Bevölkerung in der Region angesiedelt worden waren. In der Folge kam es bis Frühjahr 1906 zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen aserbaidschanischen Muslimen und Armeniern, die mehrere Tausend Opfer forderten. Der seit 1902 in Gurien schwelende Bauernaufstand weitete sich auf ganz Westgeorgien aus und es schlossen sich ihm meuternde Armeeeinheiten an. Führende politische Kraft Georgiens wurden die Menschewiki, die ab 1918 auch die erste unabhängige und demokratische Republik dominierten, bis diese 1921 von der Roten Armee zerstört wurde.

In den während des 19. Jahrhunderts kolonisierten Gebieten Zentralasiens blieb es vergleichsweise ruhig, aber auch hier kamen politische Prozesse in Gang. Im Generalgouvernement Turkestan traten vor allem die russischsprachigen Eisenbahner mit zahlreichen Streiks als tragende Kraft der Revolution hervor und der liberale Teil der Kolonialelite beteiligte sich an der Bankett-Bewegung. Ausserhalb des Eisenbahnwesens gab es keine Streiks. Die kolonisierte muslimische Landbevölkerung betrachtete die Revolution als innerrussische Angelegenheit und blieb ruhig. Auch die städtischen Muslime beteiligten sich nicht an Streiks und Demonstrationen, wurden aber politisiert und diskutierten diverse politische und gesellschaftliche Reformprojekte. Auf zwei Kongressen im August 1905 und Januar 1906 entstand die «Union der Muslime Russlands», die Demokratie sowie die Gleichberechtigung der Muslime forderte.

Auch die kleinen ethnischen Gruppen Sibiriens und des Wolga-Uralgebiets schlossen sich der in diesen Gebieten in russisch besiedelten Städten ausbrechenden Revolution kaum an. Die jakutischen und burjätischen Nationalbewegungen artikulierten sich aber mit Versammlungen und Publikationen. Anfang 1906 erhob ein Kongress von 400 jakutischen Delegierten radikale politische und soziale Forderungen.

Bei der Niederschlagung der Revolution waren die zaristischen Behörden in den Peripherien des Reiches noch repressiver als in den russischen Gebieten. Die Strafexpeditionen im Baltikum forderten 2’000 Menschenleben. Von den im Zuge der Konterrevolution ausgesprochenen Todesurteilen entfielen rund 25 % auf Russisch-Polen, über 15 % auf das Baltikum und über 5 % auf das kleine Gurien.

Scheinkonstitutionalismus und Repression mit Vorbildwirkung

Die zaristische Regierung reagierte auf die Proteste und Aufstände nicht nur mit Repression, sondern auch mit vagen Versprechungen. Im August 1905 erschien eine Proklamation des Zaren über die Schaffung einer rein beratenden Reichsvertretung, was die liberale Opposition enttäuschte und auch zu einer neuen Streikwelle führte. Am 17. Oktober kündigte Nikolaus II. dann im sogenannten Oktobermanifest die Einführung von Meinungs-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie neben dem vom Zaren ernannten Staatsrat die Einrichtung einer gewählten zweiten Kammer (Staatsduma) an. Gleichzeitig wurde der Emser Erlass von 1878 aufgehoben, der die öffentliche Verwendung der (als «kleinrussischer Dialekt» bezeichneten) ukrainischen Sprache und Publikationen auf Ukrainisch verboten hatte. Das Wahlgesetz vom Dezember 1905 sah eine indirekte Wahl nach sehr ungleichem Wahlrecht vor. Männer unter 25, Frauen, Arbeiter mittlerer und kleinerer Betriebe, Studenten, Dienstboten, landlose Bauern und Soldaten blieben vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die Stimme eines Grundbesitzers wog so viel wie die Stimmen von 2 Stadtbewohnern, 15 Bauern oder 45 Arbeitern.

Das Oktobermanifest spaltete die Opposition. Einer Mehrheit, die sich in der neugegründeten liberalen Partei der Konstitutionellen Demokraten («Kadetten») oder den verschiedenen sozialistischen Parteien organisierte, gingen die angekündigten Reformen zu wenig weit. Die Liberalen lösten sich indessen aus der revolutionären Front, um ihren Kampf ins versprochene Parlament zu verlegen. Es entstand aber auch die vor allem von Grossgrundbesitzern und Grossindustriellen getragene Partei der Konstitutionellen Monarchisten («Oktobristen»), die sich hinter das neue System stellten.

Die ersten Duma-Wahlen fanden im Frühjahr 1906 statt. Trotz des ungleichen Wahlrechts, aufgrund dessen die meisten sozialistischen Gruppierungen die Wahl boykottierten, wurden die liberalen Kadetten und die bäuerlich-demokratisch-agrarsozialistischen Trudoviki klare Sieger. Hinzu kam eine grosse Zahl von zarismusskeptischen Abgeordneten der nichtrussischen Nationalitäten. Noch vor dem ersten Zusammentritt der Duma erliess die Regierung die «Staatsgrundgesetze des Russländischen Kaiserreiches», die den Zaren als «Oberste Selbstherrschende Gewalt» bezeichneten und die Kompetenzen des Zweikammerparlaments stark beschnitten. Über wichtige Entscheidungen wie den Militär- und Hofetat sollte nicht abgestimmt werden, der Zar besass das Vetorecht gegen alle Parlamentsentscheidungen und konnte die Duma auch jederzeit auflösen. Ausserdem behielt er das Recht zur Kriegserklärung, setzte weiterhin die Minister nach eigenem Gutdünken ein und ab und kontrollierte immer noch die Russisch-Orthodoxe Kirche als ideologische Basis des Regimes. Der berühmte liberale Soziologe Max Weber kritisierte dieses System im Sommer 1906 als «Scheinkonstitutionalismus».

Als die Duma im Frühjahr 1906 ein vom Zaren abgelehntes Agrarreformprogramm in Angriff nahm, wurde sie schon nach 72 Tagen wieder aufgelöst. Geplante Protestversammlungen der Abgeordneten und Anhänger der Mehrheitsfraktionen konnten nicht stattfinden, da das Parlamentsgebäude und das Parteilokal der Kadetten von Polizei und Militär umstellt wurden. Kadetten und Trudoviki protestierten daraufhin schriftlich in Form des Vyborger Manifests. Gegen dessen Unterzeichner wurden Strafverfahren eingeleitet. Die meisten wurden zu Haftstrafen verurteilt und durften für die folgenden Wahlen nicht mehr kandidieren.

Aus den zweiten Duma-Wahlen Anfang 1907 gingen die sozialistischen und bäuerlich-demokratischen Kräfte als klare Sieger hervor und auch die Kadetten blieben stark. Da die neue Duma in noch stärkerer Opposition zur Regierung stand als die alte und weiterhin auf einer Agrarreform beharrte, wurde sie bereits im Sommer 1907 abermals aufgelöst. Zudem setzte der Zar per Dekret eine Änderung des Wahlrechts durch, das nun Städter, Bauern und die nichtrussischen Nationalitäten gegenüber dem russischen Adel und Grossbürgertum noch stärker benachteiligte. Die Neuwahl im Herbst 1907 sowie die folgenden, letzten Duma-Wahlen von 1912 ergaben dadurch die von der Regierung gewünschte Mehrheit von konservativen Oktobristen, Nationalisten und Rechtsextremen. Letztere hatten sich als pro-zaristische, antisemitische, ultranationalistische und protofaschistische Gruppierungen ab 1905 in Ablehnung der Revolution organisiert und rasch bedeutende Mitgliederzahlen erlangt.

Mit der Unterdrückung eigenständiger parlamentarischer Regungen durch den Regierungsapparat und anschliessenden Manipulation der Wahlen zur Herbeiführung regierungsfreundlicher Mehrheiten bei gleichzeitiger Unterdrückung antiimperialer Kräfte wurde Zar Nikolaus II. stilbildend für die Restabilisierung autoritärer und imperialer Herrschaft russländischer Machthaber ganz unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung in Umbruchsituationen. Im November 1917 fanden wenige Wochen nach der putschartigen Machtübernahme des bolschewistischen «Rats der Volkskommissare» in der Oktoberrevolution die noch von der vorangegangenen, aus der Februarrevolution hervorgegangenen Provisorischen Regierung anberaumten Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht statt. Dabei gingen rund 90 % der Stimmen an sozialistische Parteien. Lenins Bolschewiki errangen aber nur ein Viertel der Mandate, während die Partei der Sozialrevolutionäre die absolute Mehrheit gewann. Nachdem die bolschewistische Regierung bereits vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung Anfang Januar 1918 die Partei der Kadetten, die etwa 2 Millionen Stimmen erhalten hatte, als «Volksfeinde» verboten und für den Tag der Parlamentseröffnung 7’000 pro-bolschewistische Matrosen in Gefechtsbereitschaft versetzt hatte, verweigerte sie am zweiten Sitzungstag den Abgeordneten den Zutritt zum Parlamentsgebäude und löste die Nationalversammlung per Dekret auf. Nach Auffassung Trotzkis hatte damit «der Klassenkampf […] durch einen Ansturm von innenheraus die formalen Rahmen der Demokratie gesprengt».

Stattdessen tagte Mitte Januar 1918 der dritte Allrussische Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, bei dessen Wahl die städtischen Hochburgen der Bolschewiki stark bevorzugt worden waren. Er bestimmte das Rätesystem als definitive Staatsform. Schon im Sommer 1918 waren die als «konterrevolutionär» stigmatisierten gemässigt sozialistischen Parteien in den Räten nicht mehr vertreten und auch die nichtbolschewistischen linkssozialistischen Kräfte wurden immer spärlicher. Die Zerschlagung der Nationalversammlung mündete in den vierjährigen Bürgerkrieg zwischen bolschewistischen «Roten» und zaristisch dominierten «Weissen», auf deren Seite die letzten auf der Nationalversammlung beruhenden Strukturen im November 1918 durch einen Putsch rechtsgerichteter Offiziere beseitigt wurden. Ebenso eroberte die Rote Armee, obschon die bolschewistische Regierung unmittelbar nach der Oktoberrevolution das Selbstbestimmungsrecht der «Völker Russlands» (inklusive des Rechts auf Eigenstaatlichkeit) proklamiert hatte, die unabhängig gewordenen Staaten Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien und Ukraine mit ihrem parlamentarisch-demokratischen Charakter zurück und bolschewisierte sie, ebenso wie eine anarchistische Föderation selbstverwalteter Kommunen, die zeitweise weite Teile der Süd- und Ostukraine umfasste. Die letzten Parteistrukturen nichtbolschewistischer Kräfte wurden bis 1922 zerschlagen und die mit 99,9 %-Ergebnissen gewählten Räte als pseudodemokratische Fassade der kommunistischen Parteidiktatur bis in die 1980er Jahre reine Akklamationsorgane.

Erst als Folge der Reformpolitik Michail Gorbačevs fanden in der Sowjetunion ab 1989 halbwegs freie Wahlen statt. Der im März 1990 gewählte Volksdeputiertenkongress der Russländischen Föderation blieb dabei über die Auflösung der Sowjetunion hinaus im Amt. 1993 kam es aber zu einem Konflikt zwischen diesem Parlament und Präsident Boris El’cin über den wirtschaftspolitischen Kurs und den Erlass einer neuen Verfassung. Der Präsident löste daraufhin, bewusst oder unbewusst dem Muster von 1906/07 und 1918 folgend, das Parlament durch ein (vom Verfassungsgericht für illegal erklärtes) Dekret auf und liess das Parlamentsgebäude, in dem die meisten Abgeordneten ausharrten, von der Armee beschiessen. Bei diesen Vorgängen kamen gegen 200 Menschen ums Leben. In der Wahl des nun wieder Duma genannten Parlaments Ende 1993 gewannen die Gegner des Präsidenten erneut die Mehrheit. Die Regierung begann nun aber mit dem Aufbau kremlnaher Parteien und, verstärkt unter dem neuen Präsidenten Vladimir Putin ab 2000, mit der (teilweise auch physischen) Ausschaltung wirklich oppositioneller Kräfte und Manipulation der Wahlprozesse, so dass das Parlament, in dem ab 2007 stets die Regimepartei «Einiges Russland» die absolute Mehrheit innehatte und nur noch regierungsloyale Kräfte vertreten waren, in der als «gelenkte Demokratie» verschleierten Präsidialdiktatur als eigenständiger politischer Machtfaktor keine Rolle mehr spielte. Zugleich wurden Autonomiebestrebungen in Randgebieten wie Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan unterdrückt und setzte der hybride Krieg gegen demokratische oder sich demokratisierende ehemalige Sowjetrepubliken wie vor allem die Ukraine und Georgien, aber auch die baltischen Staaten und Moldawien ein.

Die Schweiz als Hub der versuchten Demokratisierung des Zarenreichs?

Die Bezüge der Schweiz zur Revolution von 1905 waren vielfältig und gingen weit über die eingangs zitierten Vergleiche mit den einheimischen Streikunruhen hinaus. Es lebten damals rund 8’000 Russlandschweizer:innen im Zarenreich (s. SozialarchivInfo 5/2018). Im Zuge der Modernisierungsbestrebungen hatte die zaristische Regierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezielt Fachkräfte in Westeuropa rekrutiert. Aus der Schweiz waren dies etwa Käser:innen, Erzieher:innen, Kaufleute und Industrielle. Insbesondere in den Regionen um Moskau und St. Petersburg sowie in der Ukraine entstanden rund 300 schweizerische Firmen in der Maschinen-, Lebensmittel- und Textilindustrie. Viele Russlandschweizer:innen erlebten die revolutionären Unruhen von 1905 bis 1907 hautnah mit.

Umgekehrt gab es eine grosse Community aus dem Zarenreich in der Schweiz. Dazu zählten polnische Flüchtlinge des Aufstands von 1863, Angehörige der unter sich zerstrittenen Gruppierungen und Fraktionen der sozialistischen Opposition, sogenannte «Ostjuden», die auf der Flucht vor Diskriminierung und sporadischen Pogromen definitiv oder als Durchgangsstation zur Weiterreise in die USA in die Schweiz gekommen waren, sowie Studierende, die das liberale Klima und die Möglichkeit des Frauenstudiums in der Schweiz sowie der antisemitische Numerus clausus an den russländischen Universitäten zum Studium an Schweizer Hochschulen geführt hatte. Etwa ein Viertel der Studierenden und gar drei Viertel der Studentinnen in der Schweiz stammten zu jener Zeit aus dem Zarenreich, mindestens die Hälfte von ihnen war jüdisch und viele mit den Kreisen des politischen Exils vernetzt. So entstand eine politisierte Bubble mit Zentren in Zürich, Bern und Genf, die mehrere Tausend Personen umfasste und von Spitzeln der zaristischen Geheimpolizei überwacht wurde, mit eigenen Diskussionszirkeln, Hilfsorganisationen, Bibliotheken und Druckereien.

Manche kehrten bei Ausbruch der revolutionären Unruhen in der Hoffnung auf Veränderungen ins Zarenreich zurück. Lenin, der seit 1903 in Genf lebte, ging Ende 1905 nach St. Petersburg, wo er aber nicht gross öffentlich in Erscheinung trat. Vera Zasulič, die 1878 ein missglücktes Attentat auf den wegen seiner besonderen Brutalität gegen aufständische Polen und politische Gefangene berüchtigten General Fjodor Trepov verübt hatte, dann in die Schweiz geflohen war, 1883 in Genf die erste russische marxistische Gruppe «Befreiung der Arbeit» mitgegründet hatte und ab 1903 die Menschewiki unterstützte, reiste 1905 ebenfalls nach Russland, betätigte sich aber kaum noch politisch.

Eine Reihe ehemaliger Studentinnen von Schweizer Hochschulen spielten in der Revolution von 1905 eine aktive Rolle. Um nur wenige zu nennen: Rosa Luxemburg aus dem polnischen Zamość, die 1889 bis 1897 an der Universität Zürich studiert und mit einer Dissertation über die industrielle Entwicklung Polens doktoriert hatte, ging Ende 1905 unter falschem Namen mit ihrem aus Vilnius stammenden Partner Leo Jogiches, der 1890 bis 1900 im Exil in Genf und Zürich gelebt hatte, ins revolutionäre Warschau, wo sie im März 1906 verhaftet wurde. Die Erfahrung der Vielvölkerrevolution verarbeitete sie 1908/09 in einer Artikelserie «Nationalitätenfrage und Autonomie». Vera Veličkina aus Moskau, die 1892 bis 1894 an den Universitäten Zürich und Bern Medizin und Naturwissenschaften studiert und dann 1902 bis 1905 als Mitarbeiterin verschiedener bolschewistischer Zeitschriften in Genf gelebt hatte, wurde 1905 in St. Petersburg verhaftet. Rosalija Hal’berstadt aus Ekaterinoslav (heute: Dnipro), die 1896 bis 1898 in Genf Medizin studiert hatte und dort mit dem Marxismus in Kontakt gekommen war, beteiligte sich als Menschewistin an der Revolution in St. Petersburg und Moskau. Aleksandra Kollontaj aus St. Petersburg, 1898 für kurze Zeit Hörerin der Nationalökonomie an der Universität Zürich, beteiligte sich am 9. Januar 1905 am Zug zum Winterpalast, war dann revolutionäre Agitatorin unter anderem in St. Petersburg, Litauen und Finnland und führte eine Kampagne zur Organisation sozialistischer Frauen. 1917 bis 1918 sollte sie in der bolschewistischen Regierung als weltweit erste Frau ein Ministeramt wahrnehmen. Anna Lifschitz aus Chełm studierte 1900/01 an der Universität Bern und war als Mitglied des «Bundes» während der Revolution und der Meuterei auf der Potemkin eine führende Persönlichkeit in Odessa, was ihr den Spitznamen «Mutter Gapon» eintrug. Sofia Bričkina aus Rostov am Don hatte 1902 bis 1904 in Bern studiert und war 1905/06 bolschewistische Aktivistin in Odessa und Moskau.

Lidija Kočetkova aus Samara studierte 1895 bis 1899 in Zürich und Bern Medizin und war 1901 bis 1916 verheiratet mit dem Arbeiterarzt Fritz Brupbacher, dessen Nachlass sich im Sozialarchiv befindet. Nach Tätigkeit als Ärztin in Russland war sie 1904 bis 1906 zur Weiterbildung in Hirnanatomie erneut an der Universität Zürich immatrikuliert. Zürich war damals international ein Zentrum der neurologischen Forschung dank des Arztes Constantin von Monakov, Sohn eines emigrierten Liberalen aus Vologda, der in den 1880er Jahren ein privates hirnanatomisches Labor mit umfangreicher Präparatesammlung sowie eine neurologische Poliklinik aufgebaut hatte und 1894 vom Regierungsrat gegen den Willen der Medizinischen Fakultät vom Privatdozenten zum Professor befördert wurde. Als Sozialrevolutionärin ging Kočetkova 1906 nach St. Petersburg und war dann, unterbrochen von mehrfachen Reisen nach Westeuropa zu Kuraufenthalten und Parteikonferenzen, Agitatorin in Atkarsk und Saratov. 1909 wurde sie verhaftet und ins Gouvernement Archangel’sk verbannt, wo Brupbacher sie 1910 und 1911 zweimal besuchte und sein bislang romantisches Bild vom «vorkapitalistischen» russischen Bauerntum revidierte. Im Gegensatz dazu entwickelte Kočetkova zunehmend antiwestliche Ressentiments und wurde dann im Ersten Weltkrieg zur fanatischen grossrussischen Nationalistin, worauf es zur Trennung von Brupbacher kam.

Trotzkis Freund Alexander Parvus hatte 1887 bis 1891 an der Universität Basel Wirtschaftswissenschaften studiert, ging 1905 nach St. Petersburg, wurde 1906 verhaftet, konnte aber auf dem Weg in die sibirische Verbannung flüchten und war 1917 dann eine wichtige Figur bei Lenins Rückkehr nach Russland. Der lettische Bauernpolitiker Kārlis Ulmanis, der 1902 bis 1903 am Eidgenössischen Polytechnikum Zürich Agronomie studiert hatte, wurde wegen Beteiligung an den revolutionären Ereignissen kurzzeitig inhaftiert und floh in die USA. Nach der Unabhängigkeit Lettlands war er dann als Vertreter des Lettischen Bauernverbandes mehrfach Ministerpräsident, errichtete 1934 in einem Staatsstreich ein autoritäres Regime und regierte diktatorisch bis zum sowjetischen Überfall auf die baltischen Staaten 1940 aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts. Dann wurde er, obwohl angeblich im Besitz einer Ausreiseerlaubnis in die Schweiz, nach Turkmenistan deportiert und starb 1942 im Gefängnis. Sein Schicksal zeichnete den Leidensweg von über 100’000 Lett:innen vor, die von den neuen sowjetischen Machthabern in zwei Deportationswellen 1941 und 1949 nach Sibirien oder Kasachstan verschickt wurden.

Auch einen nachmals prominenten Schweizer zog es ins revolutionäre Geschehen im Zarenreich. Fritz Platten beteiligte sich 1906 an der Revolution in Riga, wurde verhaftet und kam ins Gefängnis. Nach achtmonatiger Haft gelang ihm die Flucht in die Schweiz, wo er als Sozialdemokrat und dann Kommunist wichtige politische Ämter einnahm, 1916 als Bürge für Lenins Benutzung des Sozialarchivs fungierte und im Folgejahr eine wichtige Rolle bei der Organisation von Lenins Rückkehr nach Russland spielte (s. SozialarchivInfo 1/2016). 1919 gehörte er dem Gründungspräsidium der Kommunistischen Internationale an, 1923 emigrierte er in die Sowjetunion, wo er in den 1930er Jahren in den Strudel der stalinistischen Säuberungen geriet und 1942 im Gulag erschossen wurde.

Die schweizerische Öffentlichkeit nahm an den Ereignissen im Zarenreich lebhaften Anteil. In der Presse waren 1905 der russisch-japanische Krieg und die Revolution die dominierenden Ereignisse der Auslandsberichterstattung. Das Massaker am Blutsonntag stiess in den Schweizer Zeitungen unabhängig von deren politischer Ausrichtung auf Empörung. Ebenso wurde Ende Februar 1905 eine Klage der russländischen Gesandtschaft über die zarenkritische Berichterstattung der Schweizer Presse von den Zeitungen fast einhellig als Angriff auf die Pressefreiheit zurückgewiesen. Bei der ebenfalls breit beachteten Meuterei auf der Potemkin waren die Sympathien der Schweizer Presse dann geteilt. Das Oktobermanifest wurde von den sozialdemokratischen und auch vielen freisinnigen Blättern mit Skepsis aufgenommen.

Wenige Tage nach dem Blutsonntag organisierte die Arbeiterunion Zürich im Velodrom eine Protestversammlung mit Reden von Nationalrat Herman Greulich und Kantonsrat Paul Pflüger. Auch in Genf, Bern, Lausanne, Winterthur, Baden, Lugano und La Chaux-de-Fonds gab es Ende Januar oder Anfang Februar 1905 sozialdemokratische Kundgebungen. Im Februar und März veranstalteten viele Arbeiterorganisationen Vortragsabende zu den Ereignissen im Zarenreich. Greulich hatte sich schon vor dem Blutsonntag im Zürcher Stadtparlament für das «Recht auf Selbstbestimmung des russischen Volkes» ausgesprochen. Ende Januar 1905 stellte Pflüger im selben Rat Antrag auf eine Sympathiebekundung für die Protestbewegung. Die bürgerlichen Fraktionen lehnten dieses Ansinnen trotz teilweiser inhaltlicher Übereinstimmung mit Pflügers Standpunkt als nicht opportune Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ab. Der Aufruf der SP Schweiz zur Maidemonstration bezeichnete 1905 als das Jahr, «in welchem das Proletariat Russlands den Fuss auf den Zarismus, auf den Obergendarmen Europas, gesetzt hat und mit seinem Blute der internationalen Freiheit die Hauptgasse öffnet». Am ersten Jahrestag des Blutsonntags gab es 1906 Kundgebungen in Zürich, Bern, Genf, Basel, Lausanne, St. Gallen, Rorschach, Frauenfeld, Lugano und Davos, an denen sich Tausende beteiligten.

Ebenso veranstaltete ein sozialdemokratisch dominiertes «Hilfskomitee für die Opfer der russischen Revolution» eine Geldsammlung, was seitens der russländischen Gesandtschaft grosse Empörung hervorrief. Die in Genf ansässigen Menschewiki erliessen unter dem Titel «An die zivilisierte Welt» einen Spendenaufruf, welcher ausführte, am Blutsonntag habe «die Riesenhand des russischen Proletariates den absolutistischen Drachen an der Kehle erfasst»: «Der Kampf gegen den Zarismus, seine Vernichtung erscheint auch als Kampf gegen die wilde Barbarei […]. Was der Absolutismus in Finnland und Kischinew begangen, begeht er fortwährend in Polen und Litauen, in Sibirien und im Kaukasus; er hat es im Grossen gethan, als ihm das Volk der Hauptstadt die Forderungen von ganz Russland gestellt hat. […] Heute weiss die ganze Welt, dass der Zarismus sich bemüht, mit Hülfe von Bajonetten sein Leben zu verlängern. Aber das Regime der Bajonette ist ein fortwährendes militärisches Abenteurertum, eine ewige Gefahr für den Weltfrieden.»

Die Verteilung der gesammelten Mittel stiess indessen aufgrund der Zersplitterung der sozialistischen Kräfte des Zarenreichs entlang nationaler und ideologischer Grenzen auf Probleme. Der Nachlass von Herman Greulich im Sozialarchiv enthält ein Schreiben Greulichs an die Geschäftsleitung der SP Schweiz und das Bundeskomitee des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vom 31. Januar 1905, in welchem der Arbeitersekretär klagte: «Wegen der Verteilung der für die russischen Revolutionäre gesammelten Gelder bin ich in den letzten Tagen arg bestürmt worden. Nach aussen herrscht die Meinung, es gebe nur eine russische sozialdemokratische Partei. Leider ist das nicht so. Es gibt nicht nur Organisationen, die einen lokalen und nationalen Charakter tragen: Der jüdische Arbeiterbund. Die polnische sozialdem. Partei. Die lettische sozialdem. Partei, sondern es existiert noch eine selbständige Vereinigung: Die revolutionären Sozialisten. Damit aber noch nicht genug. Neben der Sozialdemokratischen Partei mit Axelrod, Plechanow und Vera Sassulitsch, gibt es noch eine zweite, mit dem ‚Vperiod’ unter Lenin in Genf an der Spitze, welche behauptet, die Mehrheit und den grössten Anhang in Russland zu haben. Auch sie beansprucht Anteil an der Sammlung. Diese arge Zersplitterung ist ein Unglück in der ganzen Situation, sie verursacht unnütze Opfer an Menschenleben und verhindert ein planmässiges Vorgehen. Sie setzt auch uns in grosse Verlegenheit.»

Die Revolution forderte auch ein Todesopfer auf Schweizer Boden. Am 1. September 1906 erschoss die Medizinstudentin Tat’jana Leont’eva im Speisesaal des noblen Grandhotel Jungfrau in Interlaken den französischen Geschäftsmann Charles Müller. Dabei handelte es sich um eine Verwechslung. Leont’eva, die 1905 Augenzeugin der Ereignisse des Blutsonntags gewesen und Mitglied der terroristischen «Kampforganisation» der Sozialrevolutionären Partei geworden war, hielt ihr Opfer für den zaristischen Innenminister Pëtr Durnovo, einer zentralen Person bei der Repression gegen die revolutionären Bewegungen Ende 1905 und Förderer der rechtsextremen, antisemitischen, polen- und ukrainefeindlichen «Schwarzen Hundertschaften». Im Mordprozess von 1907 wurde Leont’eva zwar schuldig gesprochen, ihre Strafe beschränkte sich aber wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit und mildernden Umständen auf nur vier Jahre Zuchthaus.

Massenstreiks und Kampflieder

Die verschiedenen Massenstreiks während der Revolution im Zarenreich liessen in der internationalen Arbeiter:innenbewegung die Debatten über Sinn und Unsinn des politischen Generalstreiks wieder aufflammen. Das Mittel des Generalstreiks war bereits im 19. Jahrhundert diskutiert und auch angewandt worden. 1868 bezeichnete die Erste Internationale den Generalstreik als geeignetes Mittel zur Verhinderung künftiger Kriege – eine Idee, die dann auch in der Zweiten Internationale wieder auftauchte (s. SozialarchivInfo 2/2024). 1893 fand in Belgien ein Generalstreik für die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts statt. Gewährt wurde schliesslich ein allgemeines, aber ungleiches Wahlrecht. Ein neuerlicher belgischer Generalstreik für das gleiche Wahlrecht wurde 1902 von Polizei und Militär unterdrückt.

In den theoretischen Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts fanden sich zur Massenstreikfrage grob drei Positionen: Marxistische Sozialdemokrat:innen sahen in ihm ein Abwehrmittel, für reformerische Syndikalist:innen war er sowohl Abwehrmittel als auch Mittel zur Durchsetzung noch nicht erreichter Rechte und die Anarchist:innen propagierten ihn als direkten Angriff auf den Klassenstaat und Beginn der sozialen Revolution. Die Zweite Internationale, in der sich vor allem französische Sozialist:innen für den Massenstreik stark machten, lehnte auf ihren Kongressen von 1896 und 1900 internationale Generalstreiks als Kampfmittel ab. Auf dem Kongress von 1904 erfolgte dann die Anerkennung des Massenstreiks als das «äusserste Mittel, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen».

Während und nach der Revolution von 1905 setzte namentlich in der deutschen Sozialdemokratie eine intensive Massenstreikdebatte ein. Auf dem Parteitag vom September 1905 rief Rosa Luxemburg als Befürworterin politischer Massenstreiks aus: «Wir sehen die russische Revolution, und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten.» Das Parteizentrum um August Bebel befürwortete den Massenstreik nur «im Notfalle» und setzte sich bei den Delegierten mit dieser Position durch. Im Jahr darauf warnte Karl Kautsky vor einer Parallelisierung Deutschlands und Russlands und sah im politischen Massenstreik in Russland gleichsam ein Naturereignis, das auf die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit des Zarenreiches zurückzuführen sei. Demgegenüber übte Rosa Luxemburg in einer Broschüre mit dem Titel «Massenstreik, Partei und Gewerkschaften» Kritik an SPD und Gewerkschaften: «Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend. Im ersteren Falle brechen Massenstreiks ‚von selbst’ und immer ‚rechtzeitig’ aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen der Leitung zum Massenstreik erfolglos. Und für beides liefert die russische Revolution sprechende Beispiele.» Das russländische Beispiel habe gezeigt, dass sogar ein wenig organisiertes Proletariat jahrelange Kämpfe auszufechten im Stande sei, während die wohlorganisierte deutsche Arbeiter:innenschaft nur sporadisch in Streiks in Erscheinung trete.

Auch in der Schweiz, wo es bereits 1902 im Anschluss an einen Arbeitskampf der Tramangestellten einen lokalen Generalstreik in Genf gegeben hatte, entspann sich eine ähnliche Diskussion. Es war vor allem der spätere Landesstreikführer Robert Grimm, der den Generalstreik als Mittel zur Systemveränderung befürwortete, wenn auch nur in Ergänzung zum Parlamentarismus und als Krönung der bisherigen Mittel und Methoden des Klassenkampfes. In einem 1906 gehaltenen Vortrag, der in der Folge auch als Broschüre verbreitet wurde, befürwortete er die Möglichkeit, durch einen Massenstreik die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen und der Arbeiterklasse zur Macht zu verhelfen. Die schweizerischen Gewerkschaften standen der Generalstreikidee zunächst indessen wie ihre deutschen Schwesterorganisationen sehr skeptisch gegenüber, dennoch gab es in den folgenden Jahren eine Reihe lokaler Generalstreiks, so 1912 in Zürich (s. SozialarchivInfo 4/2017).

Zu einer praktischen Anwendung, die direkt von den Ereignissen im Zarenreich beeinflusst war, kam es in der cisleithanischen (österreichischen) Reichshälfte der Donaumonarchie. Dort fanden Anfang November 1905 in zahlreichen Städten Strassenkundgebungen statt, die in Wien und Prag zu blutigen Zusammenstössen mit der Staatsgewalt führten. Zugleich weitete sich eine zunächst lokale Protestaktion der Eisenbahnarbeiter, die sich an den Eisenbahnerstreiks im Zarenreich orientierte, immer mehr aus und brachte die Regierung in arge Bedrängnis. Ab dem 26. Oktober übten die Eisenbahner in Nordböhmen «passive Resistenz», die darin bestand, die bestehenden Vorschriften peinlich genau zu beachten. Aufgrund des reglementarischen Gestrüpps im k. k. Eisenbahnwesen führte dies zu einem Kollaps des öffentlichen Verkehrs, ohne dass den Arbeitern irgendein Vorwurf wegen Dienstverletzung gemacht werden konnte.

Die sozialdemokratische Eisenbahnergewerkschaft stand der Aktion zunächst eher skeptisch gegenüber, übernahm aber Anfang November die Führung der Protestbewegung und hielt am 5. November in Prag eine Vertrauensmännerkonferenz ab, die dem Eisenbahnministerium einen Forderungskatalog mit folgenden Punkten übermittelte: 20 bis 30 % mehr Lohn, Mitspracherecht des Personals, Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts. Bereits 1894 hatte der sozialdemokratische Parteitag unter Androhung eines Generalstreiks die Ausweitung des auf eine schmale Schicht von Vermögenden beschränkten Wahlrechts gefordert. 1896 kam es zu einer Wahlrechtsreform mit Einrichtung einer fünften «Wählerkurie» für alle über 24 Jahre alten männlichen Staatsbürger, die jedoch nur 72 der 425 Parlamentsmandate wählen durften. Der Rest blieb den aristokratischen und bürgerlichen Eliten vorbehalten.

Vor diesem Hintergrund weiteten sich die Protestaktionen Ende 1905 in rasantem Tempo aus. Am 4. November erfassten sie bereits ganz Böhmen, am 6. November Salzburg und Oberösterreich, am 8. November Wien und am folgenden Tag ganz Cisleithanien. Insgesamt beteiligten sich am Protest etwa 25’000 Arbeiter:innen. Nach wenigen Tagen trat die Regierung mit den Gewerkschaften in Verhandlungen. Eine Übereinkunft am 12. November brachte den Eisenbahnern verschiedene Verbesserungen. Verklausuliert versprach die Regierung auch, dem Parlament eine Wahlreformvorlage zu unterbreiten. Als am 28. November 1905 das Parlament wieder zusammentrat, streikte in den österreichischen Städten der grösste Teil der Arbeiter:innen. In Wien zog eine Viertelmillion Menschen in wohlgeordneten Achterreihen fünf Stunden lang über die Ringstrasse schweigend am Parlamentsgebäude vorbei. In Prag demonstrierten am selben Tag 150’000 Menschen. Die Führung der tschechischen Sozialdemokratie erwog die Ausrufung eines Generalstreiks, wurde von der Gesamtparteileitung aber vorerst zurückgepfiffen.

Die Regierung legte in der Folge einen Gesetzesentwurf für die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts vor. Konservative und liberale Wahlreformgegner betrieben aber eine Obstruktionspolitik und versuchten die Reform mit Debatten um minimale Differenzen endlos hinauszuzögern. Teilweise handelte es sich dabei um einen Schacher um Wahlkreise, es war aber auch das offensichtliche Ziel vieler Abgeordneter, durch Verkomplizierung der Verhandlungen und Ausnützung des deutsch-tschechischen Gegensatzes die Reform scheitern zu lassen. Obwohl der parlamentarische Wahlreformausschuss im Mai 1906 einen ausgereiften Gesetzesentwurf zugewiesen erhielt, legte er erst im November nach 63 Sitzungen einen Bericht vor.

Angesichts dieser Verschleppungstaktik drohte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erneut mit Massenprotesten. Als im Juni 1906 eine sinnvolle Weiterarbeit im Wahlreformausschuss nicht mehr möglich schien, rüstete die Parteileitung zu einem Massenstreik, der zunächst drei Tage lang in Wien durchgeführt, dann wenn nötig in Böhmen fortgesetzt und schliesslich auf die ganze österreichische Reichshälfte ausgedehnt werden sollte. Unter dem Eindruck dieser Drohung beschleunigte der Reformausschuss seine Beratungen und fand schliesslich doch einen Konsens. In den ersten Wahlen nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht im Mai 1907, an denen von den nun 5,5 Millionen Wahlberechtigten 84 % teilnahmen, wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei mit 87 der total 516 Sitze zur stärksten Fraktion. Allerdings galt das allgemeine Männerwahlrecht nur in der österreichischen Reichshälfte, nicht aber für den ungarischen Reichsteil, der über ein eigenes Parlament verfügte. Hier war das Wahlrecht weiterhin an eine sehr hohe Steuerleistung geknüpft, so dass lediglich etwa sechs Prozent der Bevölkerung wählen durften. Zudem galt auch in der österreichischen Reichshälfte für die Landtage und Gemeindeparlamente bis zum Ende der Habsburgermonarchie 1918 das ungleiche Kurienwahlrecht.

Neben der Massenstreikdebatte hatte die Revolution von 1905 auch musikalische Auswirkungen auf die westlichen Arbeiter:innenbewegungen. Das in den 1890er Jahren von Leonid Radin in einem Moskauer Gefängnis gedichtete und zunächst vor allem von politischen Gefangenen in Sibirien gesungene «Smelo, tovarišči, v nogu!» wurde 1905 und erneut 1917 zur Revolutionshymne und dann 1920 vom deutschen Dirigenten Hermann Scherchen, der es in Kriegsgefangenschaft in Russland kennengelernt hatte, als «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit» ins Deutsche übersetzt und in den deutschsprachigen Arbeiter:innenorganisationen rasch so populär, dass sich auch die Nazis die Melodie anzueignen versuchten. Scherchen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg musikalischer Leiter und Dirigent des Deutschschweizer Radioorchesters und gründete den Zürcher Musikverlag «Ars viva». Das vom sozialistischen Poeten Wacław Święcicki 1879 in Gefängnishaft mit Referenz auf ein patriotisches Lied aus dem Aufstand von 1831 gedichtete polnische Freiheitslied «Warszawianka» war während der Revolution von 1905 in Russisch-Polen sehr populär und verbreitete sich von da aus ins Zarenreich wie auch nach Mittel- und Westeuropa. Unter dem Titel «A las Barricadas» war es im Spanischen Bürgerkrieg die anarchistische Hymne, unter dem Titel «Ánemoi thíelles» das Lied des antifaschistischen Widerstands in Griechenland während des Zweiten Weltkriegs.

Von der Revolution ins Schweizer Exil

Wie nach den europäischen Revolutionswellen von 1830 und 1848, dem polnischen Aufstand von 1863 oder dem Pariser Commune-Aufstand von 1871 flüchteten auch nach 1905 wieder zahlreiche geschlagene Rebell:innen in die Schweiz (s. SozialarchivInfo 2/2021 und 2/2023). In Genf gab es 1906 eine Versammlung von 600 revolutionären Emigrant:innen, worauf die Behörden vier Ausweisungen vornahmen. Lenin floh im Januar 1907 vor dem zaristischen Sicherheitsapparat nach Helsinki und kehrte im folgenden Jahr nach Genf zurück. Im Januar 1917, kurz vor Ausbruch einer neuerlichen Revolution im Zarenreich, sollte er dann im Zürcher Volkshaus ein Referat über die Revolution von 1905 halten. Der im Zuge der Repression gegen die Revolutionär:innen zu lebenslanger Verbannung nach Sibirien verurteilte Trotzki floh 1907 aus dem Zarenreich und hielt sich 1914 in der Schweiz auf, wo er dem Vorstand des Arbeiterbildungs-Vereins Eintracht Zürich angehörte und Benutzer des Sozialarchivs war.

Auch Georgij Gapon hielt sich vorübergehend in der Schweiz auf. Nach dem Blutsonntag exkommunizierte er den Zaren und flüchtete ins Ausland, wo er in Genf und London Kontakt zu wichtigen Figuren des sozialistischen Exils aufnahm. Nach dem Oktobermanifest kehrte er nach Russland zurück. Nachdem er gegenüber einem Weggefährten, dem Sozialrevolutionär Pinchas Ruthenberg, bekannt hatte, ein Ochrana-Agent zu sein, wurde er 1906 von Angehörigen der «Kampforganisation» der Sozialrevolutionären Partei ermordet. Einer der drei Mörder war selbst ebenfalls ein Undercover-Agent der Ochrana.

Verschiedene Flüchtlinge kamen aus dem Baltikum in die Schweiz. Der lettische Publizist Jānis Pliekšāns mit dem Pseudonym «Rainis» und seine Frau, die unter dem Pseudonym «Aspazija» schreibende Dichterin Elza Rozenberga, kamen 1905 ins Land und lebten dann bis 1920 in Castagnola, wo Rainis ein literarisches Werk schuf, das die lettische Unabhängigkeitsbewegung stark beeinflusste, unter anderem die dramatische Ballade «Daugava» («Dünawind», 1916). Nach der Unabhängigkeit war er ab 1920 als Vertreter der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Parlamentsmitglied und 1926 bis 1928 Bildungsminister. In Kontakt mit Rainis und Aspazija stand der lettische Bauernsohn und Sozialdemokrat Jānis Klawa, der 1898/99 als Fabrikarbeiter und Student in Bern geweilt hatte, von den zaristischen Behörden mehrfach verhaftet und jahrelang nach Sibirien verbannt worden war. Er konnte Anfang 1905 nach Lettland zurückkehren, beteiligte sich dort wie sein Vater, dessen Bauernhaus 1906 von Kosaken niedergebrannt wurde, und sein Bruder an der Revolution und reiste Ende 1905 erneut in die Schweiz aus. Hier arbeitete er als Schriftsetzer und heiratete 1921 die Textilarbeiterin Anny Morf. In deren Nachlass im Sozialarchiv befinden sich zahlreiche Fotografien aus Klawas Zeit in Lettland und Sibirien sowie das Originalmanuskript der Memoiren seines Lebens bis 1905, die 1958 unter dem Titel «Der Rebell» erschienen.

Aus Estland kam der bürgerlich-nationalistische Jurist Konstantin Päts, der 1905 stellvertretender Bürgermeister von Tallinn war, dann aus dem Zarenreich flüchtete und in Abwesenheit zum Tod verurteilt wurde. 1906 bis 1909 lebte er in der Schweiz, vor allem auf dem Gut Weissenstein bei Bern. 1918 war er an der Unabhängigkeitserklärung Estlands beteiligt und in der Folge Anführer des Bundes der Landwirte sowie mehrfacher Regierungschef. Nach einem Staatsstreich 1934 zur Verhinderung einer Machtübernahme des faschistischen «Bunds der Freiheitskämpfer» regierte er das Land autoritär. Die ab 1938 geplante Rückkehr zur Demokratie konnte aufgrund der sowjetischen Invasion von 1940 nicht mehr vollzogen werden. Päts wurde (wie in der Zeit bis in die frühen 1950er Jahre über 30’000 seiner Landsleute) nach Osten deportiert, kam ohne Anklage und Verurteilung in verschiedene Gefängnisse, Zwangsarbeitslager und psychiatrische Kliniken und starb 1956 nach 16 Jahren Haft. Während seines Exils in der Schweiz stand Päts im Austausch mit anderen Flüchtlingen aus dem Baltikum, beispielsweise dem estnischen Journalisten und Sozialdemokraten Mihkel Martna, der 1905 ebenfalls an der Revolution teilgenommen hatte und dann 1906 bis 1917 in der Schweiz lebte. Martna war 1907 Mitbegründer der Estnischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und spielte nach der Unabhängigkeit als Parlamentarier und Diplomat eine wichtige Rolle beim Aufbau des estnischen Staates.

1911 kam der polnische Neurologe Mieczyslaw Minkowski nach Zürich und wurde Assistenzarzt von Monakovs. Minkowski war 1905 als Medizinstudent von der Universität Warschau ausgeschlossen worden, weil er sich im Zuge der revolutionären Unruhen für die Wiedereinführung des Polnischen statt des 1870 aufgezwungenen Russischen als Unterrichtssprache eingesetzt hatte. Anschliessend setzte er seine Studien in München und Breslau fort. 1928 bis 1954 war er dann Direktor der Neurologischen Universitäts-Poliklinik und des Hirnanatomischen Instituts der Universität Zürich. Zugleich fungierte er ab 1925 als Präsident der Jüdischen Vereinigung Zürich.

Bestände zum Thema im Schweizerischen Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv:

  • Ar 101.30.7 Brupbacher, Fritz (1874–1945): Briefe K–M
  • Ar 127.10+11 Klawa-Morf, Anny (1894–1993): Janis (John) Klawa
  • Ar 170.15.11 Greulich, Herman (1842–1925): Zweite Internationale 1904–1911
  • Ar 198.7.2 Schweizer Kommunisten: M–Z
  • Ar 198.43 Kirschbaum, Familie
  • Ar 535 Publ 668 Russlandschweizer-Archiv RSA: Ordner mit Ausschnitten aus Schweizer Zeitungen zur Russischen Revolution 1905–1907

Sachdokumentation:

  • KS 32/46:1+2 Russland bis 1917
  • KS 331/257 Generalstreiks, Massenstreiks: Allg.
  • KS 335/275+276 Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre bis 1917: Russland
  • KS 335/442:1+2 Anarchismus; politische Gefangene: Russland & Sowjetunion

Bibliothek:

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  • Anweiler, Oskar: Die russische Revolution 1905–1921. 3. Aufl. Stuttgart 1971, 51693
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Ungarische Flüchtlinge lesen 1956 die von den Zürcher Medienhäusern produzierte Zeitung «Hiradó» (Foto: Hermann Freytag/SozArch F 5025-Fc-065)
Ungarische Flüchtlinge lesen 1956 die von den Zürcher Medienhäusern produzierte Zeitung «Hiradó» (Foto: Hermann Freytag/SozArch F 5025-Fc-065)

Hintergrundliteratur zum Krieg in Osteuropa, Update Nr. 3

Der Krieg in Osteuropa dominiert seit Februar 2022 die Medien. Neben den aktuellen Berichten, Prognosen und Expert:innenmeinungen dürfen aber auch die vielschichtigen Hintergründe und Kontexte der Tragödie nicht aus dem Blickfeld geraten. Als Hilfestellung zur Orientierung in den umfangreichen relevanten Materialien in unserer Bibliothek (über swisscovery bestellbar) und Sachdokumentation (QS-, ZA- und DS-Signaturen; bestellbar via sachdokumentation.ch) publizierten wir im Juni 2022 eine thematisch gegliederte Auswahlbibliografie zu Sekundärliteratur und Quellen im Sozialarchiv:

Thematisch gegliederte Auswahlbibliografie als PDF (1’006 KB)

Hintergrundliteratur zum Krieg in Osteuropa, Update 24.2.2023 (PDF, 154 KB)

Hintergrundliteratur zum Krieg in Osteuropa, Update 24.2.2024 (PDF, 187 KB)

Hintergrundliteratur zum Krieg in Osteuropa, Update 24.2.2025 (PDF, 186 KB)

Die Stellungnahme des Sozialarchivs zum Überfall auf die Ukraine finden Sie hier.

5.2.2025: Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken

Buchpräsentation

Die gemeinsame Geschichte von jüdischer Emanzipationsbewegung gegen Diskriminierung und Antisemitismus sowie der Arbeiter:innenbewegung mit ihren sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Strömungen und Organisationen ist lange, oft spannungsreich und widersprüchlich. Sie ist eine Globalgeschichte mit Schauplätzen in Europa, Nordamerika, dem russländischen Imperium, dem Nahen Osten, Südafrika und anderen Weltregionen sowie vielfältigen transnationalen und interkontinentalen Vernetzungen. Die von Riccardo Altieri, Bernd Hüttner und Florian Weis für die Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Reihe «Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken» möchte diese Geschichte mit Beiträgen zu markanten Persönlichkeiten, bedeutenden Organisationen sowie wichtigen Schauplätzen und Ereignissen wieder in Erinnerung rufen.

Präsentation der Buchreihe mit dem Herausgeber Bernd Hüttner sowie Inputs von Christina Späti (Universität Fribourg/FernUni Schweiz), Aline Masé (Universität Bern), Brigitte Walz-Richter (Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung) und Christian Koller (Schweizerisches Sozialarchiv).
Mit anschliessendem Apéro.

Mittwoch, 5. Februar 2025, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Vor 65 Jahren: Die Entstehung der Zauberformel

Auch nach den letzten Eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2023 gab es wieder Diskussionen über die parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates. Bei Überlegungen dazu standen in der Regel inhaltliche, programmatische Ideen hinter arithmetischen Argumenten zurück. Der dabei immer wieder angesprochene Grundgedanke, wie Parteistärken sich in Bundesratssitze transformieren sollten, greift auf ein Modell zurück, das vor 65 Jahren erstmals verwirklicht wurde: die sogenannte «Zauberformel». Dieser freiwillige Parteienproporz gilt als Kernelement der sogenannten Konkordanzdemokratie, die nicht wie die Konkurrenzdemokratie vom konfrontativen Wechselspiel zwischen Regierung und starker parlamentarischer Opposition lebt, sondern vom Einbezug aller wichtigen Kräfte in die Regierungsverantwortung und deren stetigem Aushandeln von Kompromissen.

Dieses System wurde durch verschiedene institutionelle Gegebenheiten begünstigt, bildete sich aber erst im Verlauf von 111 Jahren heraus. Gewisse Grundvoraussetzungen wurden bereits mit der Bundesstaatsgründung von 1848 geschaffen. Mit dem Direktorial- und Kollegialsystem ohne Regierungschef mit Richtlinienkompetenz oder einem institutionell über dem Regierungsgremium stehenden Staatsoberhaupt sowie der fehlenden Möglichkeit des parlamentarischen Misstrauensvotums waren wesentliche Elemente der Konkurrenzdemokratie nicht vorhanden. Hinzu kam die individualisierte Wahl der Mitglieder des Bundesrats anstelle eines kollektiven Vertrauensvotums durch das Parlament. Die Idee, statt der Einzelwahl das Gremium per Listenwahl in einem Durchgang zu wählen, taucht immer wieder auf und wurde bereits 1851 ein erstes Mal vom Parlament abgelehnt. Die Einführung eines kollektiven Vertrauens- oder Misstrauensvotums für die ganze Regierung wurde aber nie ernsthaft verfolgt.

Andere Reformideen tauchten sporadisch auf, setzten sich aber nie durch. Dazu gehörte die seit den 1870er Jahren diskutierte Volkswahl des Bundesrates, die 1900, 1942 und 2013 dreimal in Volksabstimmungen bachab geschickt wurde, die seit etwa 1900 immer wieder herumgeisternde Vergrösserung des Bundesrates auf neun Mitglieder oder in jüngerer Zeit die Einführung einer Geschlechterquote, die 2000 in einer Volksabstimmung deutlich verworfen wurde. Die einzige verwirklichte Reform zur Zusammensetzung der Regierung betraf 1998 die Lockerung der Kantonsklausel. Alle weiteren formalen Kriterien – Parteizugehörigkeit, Vertretung der Sprachregionen, in früheren Zeiten die Konfessionszugehörigkeit und seit der Jahrtausendwende das Geschlecht – sind ungeschriebene Gesetze.

Eine wesentliche Rolle auf dem Weg zum freiwilligen Parteienproporz in der Regierung spielte der Ausbau der direkten Demokratie. Mit der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums 1874 und der Volksinitiative 1891 erhielten nicht in der Regierung vertretene politische Kräfte starke ausserparlamentarische Oppositionsinstrumente (s. SozialarchivInfo 6/2021). Dadurch kam die Dynamik zur Einbindung der wichtigen politischen Kräfte in die Regierungsverantwortung in Gang, die erst nach Jahrzehnten zum Abschluss gelangte. Und dadurch kam auch die Vorstellung auf, in der Schweiz bilde nicht die parlamentarische Minderheit, sondern das «Volk» die Opposition zur Regierung.

Lange vor dem Bund gab es in verschiedenen Kantonsregierungen Modelle eines freiwilligen Parteienproporzes. Ein formalisierter Proporz nicht nur für die Parlamentswahl, sondern auch für die Regierung existierte im Kanton Tessin ab 1891. Er beseitigte die jahrzehntelange latente Bürgerkriegssituation zwischen Konservativen und Liberalen mit anhaltenden Wahlmanipulationen und sporadischen Gewaltausbrüchen und machte den Südkanton zu einem Laboratorium der Konkordanz. Der Wechsel vom Majorz- zum Proporzsystem für die Wahl des Nationalrats nach dem Ersten Weltkrieg intensivierte dann die Diskussionen über einen freiwilligen Proporz auch im Bundesrat (s. SozialarchivInfo 4/2019). Der Durchbruch dazu im und nach dem Zweiten Weltkrieg hing dann noch mit einem weiteren Faktor zusammen: Mit dem Übergang zur Sozialpartnerschaft und der Integration der Gewerkschaften in den auf verbandsstaatlichen Mechanismen beruhenden «Neo-Korporatismus» von den späten 30er bis in die frühen 50er Jahre (s. SozialarchivInfo 2/2017) erschien eine parallele Entwicklung auf der politischen Ebene und der Einbezug auch der SP in eine Regierung, die bereits alle wichtigen bürgerlichen Parteien umfasste, naheliegend.

Vom hegemonialen Pluralismus der Bundesstaatsgründer zum Bürgerblock

Die ersten Bundesratswahlen fanden am 16. November 1848 statt, ein Jahr nach dem Sonderbundskrieg. Alle sieben Sitze gingen dabei an Radikale und Liberale, die auch in beiden Parlamentskammern eine erdrückende Mehrheit hatten (s. SozialarchivInfo 2/2023). Diese absolute Dominanz der Sieger des Sonderbundskrieges im Bundesrat sollte bis 1891 anhalten. Trotzdem ist die traditionelle Vorstellung, diese Phase als Ära einer freisinnigen Einparteienregierung zu betrachten, zu stark vereinfacht. Urs Altermatt, der Doyen der Bundesratsgeschichtsforschung, spricht in seinen jüngsten Publikationen für die Zeit von 1848 bis 1891 sogar ausdrücklich von einer «Zweiparteienkoalition» zwischen Radikalen und gemässigt Liberalen und bezeichnet die Tendenz, alle Bundesräte bis 1891 unisono als «freisinnig» zu deklarieren, als «Geschichtskonstruktion» der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die FDP nach dem Verlust der Parlamentsmehrheit ihre starke Übervertretung im Bundesrat historisch zu begründen versuchte.

Vor der organisatorischen Verfestigung der Parteien im späten 19. Jahrhundert gab es bei den liberalen Kräften verschiedene Strömungen, die sich vor allem in den Kantonen teilweise heftig bekämpften, aber auch nicht eindeutig voneinander abgrenzen liessen. Die Geschichtsschreibung spricht in diesem Zusammenhang im Gefolge von Erich Gruner oft von der «freisinnigen Grossfamilie». Rechts von der radikal-liberalen «Linken», die in der Bundesversammlung stets die stärkste Gruppe stellte, gab es die gemässigt liberale und liberalkonservative «Mitte» (auch «Zentrum» genannt), links aussen die in den 1860er Jahren erstarkenden, auf direktdemokratische und sozialpolitische Reformen drängenden Demokraten, die auch einen Arbeiterflügel mit sozialistischen Tendenzen hatten (s. SozialarchivInfo 6/2018 und 2/2024). Die Radikal-Liberalen verloren 1863 erstmals die absolute Mehrheit im Nationalrat, während das Zentrum um wirtschaftsliberale «Bundesbarone» wie Alfred Escher vorübergehend stark zulegte. Erst 1881 eroberten die Radikal-Liberalen die absolute Parlamentsmehrheit zurück.

Dieser Pluralismus innerhalb des hegemonialen Liberalismus widerspielte sich auch in der Zusammensetzung des Bundesrats. Von den Bundesräten der ersten Stunde trat Ulrich Ochsenbein 1851 nicht mehr als Radikaler, sondern als gemässigt Liberaler zur «Komplimentswahl» in den Nationalrat an und wurde dann als Bundesrat bestätigt. Drei Jahre darauf schaffte er, politisch zwischen Stuhl und Bank, die «Komplimentswahl» nicht mehr und wurde dann auch aus dem Bundesrat abgewählt. Bis in die 1880er Jahre hielten sich im Bundesrat jeweils je drei bis vier Vertreter der Radikal-Liberalen und der liberalen Mitte in etwa die Waage – auch wenn die Zuordnung nicht immer eindeutig war. Hinzu kamen vereinzelte Bundesräte, die den Demokraten zugerechnet wurden.

Ausgeschlossen war in den ersten Jahrzehnten nach dem Sonderbundskrieg dagegen die Wahl von Katholisch-Konservativen, die im Parlament den rechten Flügel bildeten, in den Bundesrat. Ab den 1870er Jahren änderte sich die Situation aber allmählich. Mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 war das Instrument des fakultativen Gesetzesreferendums eingeführt worden, das die Katholisch-Konservativen, zum Teil im Verbund mit föderalistischen liberalen Kräften, geschickt dazu nutzten, um eine Reihe von Vorlagen zu Fall zu bringen. Zugleich verzeichneten sie in den Wahlen von 1875 und 1878 bedeutende Gewinne und wurden im Nationalrat bis zum Ende der Majorz-Ära dauerhaft zur zweitstärksten Fraktion. 1878 erhob das katholisch-konservative Parteiblatt «Vaterland» den arithmetischen Anspruch auf zwei Bundesratssitze. Ein Einbezug der Katholisch-Konservativen, die ab 1875 wiederholt Kampfkandidaturen für den Bundesrat aufstellten, in die Regierungsverantwortung erschien nun nur noch als Frage der Zeit. 1883 sprachen sich die Fraktionen der Demokraten und des liberalen Zentrums für einen Bundesrat der Katholisch-Konservativen aus, um deren Obstruktionspolitik zu beenden. Der Zeitpunkt dazu kam, als Emil Welti, letzter Bundesrat des liberalen Zentrums, 1891 nach einer Abstimmungsniederlage zurücktrat. Die liberalen Fraktionen boten nun den Katholisch-Konservativen einen Sitz im Bundesrat an und verhalfen dem Luzerner Josef Zemp zur Wahl.

Drei Jahre darauf erfolgte die Gründung der Freisinnig-Demokratischen Partei, die die Radikal-Liberalen, deren Parlamentsfraktion sich seit 1878 «radikal-demokratisch» nannte, sowie Teile des liberalen Zentrums und der Demokraten unter ein Dach brachte. Durch den Zuzug von gemässigt Liberalen erhielt die FDP einen starken Wirtschaftsflügel und rückte insgesamt nach rechts. Die parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates bis zum Ersten Weltkrieg lautete damit sechs Freisinnige und ein Katholisch-Konservativer.

Die ausserhalb der FDP verbliebenen Reste des ehemaligen Zentrums gründeten die liberal-demokratische Fraktion und 1913 dann die Liberale Partei, die aber nur in wenigen Kantonen Bestand hatte und nach erfolglosen Bundesratskandidaturen 1897 und 1902 mit Gustav Ador von 1917 bis 1919 nur noch einmal für kurze Zeit einen Bundesrat stellte. Diejenigen Kantonalparteien der Demokraten, die nicht der FDP beitraten, bildeten im Parlament ab 1896 die «Äusserste Linke» bzw. «Sozialpolitische Gruppe», der bis 1911 auch die zunächst noch wenigen sozialdemokratischen Nationalräte angehörten. Aus dieser Fraktion ging nie ein Bundesrat hervor. Bei einer Ersatzwahl 1897 schickten die Liberalen und die Demokraten je einen Kandidaten ins Rennen, im vierten Wahlgang setzte sich aber der offizielle FDP-Kandidat durch. Hingegen wurde 1902 mit Ludwig Forrer ein prominenter Vertreter der Zürcher Demokraten, die sich auf Bundesebene der FDP angeschlossen hatten, aber im Kanton weiterhin als eigenständige Partei links von den Freisinnigen politisierten, in den Bundesrat gewählt.

Die Dominanz der FDP, die von 1896 bis zum Ersten Weltkrieg mit Wähleranteilen zwischen 40 und 50% dank des Majorzwahlrechts eine komfortable absolute Mehrheit im Nationalrat hatte und im Bundesrat sechs Sitze beanspruchte, führte um die Jahrhundertwende zu gemeinsamen Aktionen der weltanschaulich stark verschiedenen «Minderheitsparteien». Ein heterogenes Bündnis aus Sozialdemokraten und Katholisch-Konservativen sowie vereinzelten Demokraten, Liberalen und Reformiert-Konservativen lancierte zwei Volksinitiativen, die sich gegen die Dominanz des Freisinns in den Bundesbehörden richteten und die Proporzwahl des Nationalrates sowie die Volkswahl des auf neun Mitglieder zu erweiternden Bundesrates forderten. Die beiden Vorlagen kamen 1900 vors Volk. Nach einem leidenschaftlichen Abstimmungskampf wurde die Proporzinitiative mit 59,1% und die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates mit 65% Nein-Stimmen abgelehnt. Immerhin 9,5 Stände stimmten der Proporzinitiative aber zu und die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates erreichte Ja-Mehrheiten in den Kantonen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Fribourg, Glarus, Zug, Tessin und Wallis. Ebenso spannte das Bündnis 1902 bei einer Bundesratsergänzungswahl zusammen. Gegen den von der FDP portierten Zürcher Demokraten Forrer nominierte die Sozialpolitische Gruppe den Glarner Landammann und Nationalrat Eduard Blumer, dessen Glarner Demokraten ausserhalb der FDP standen. Die Katholisch-Konservativen stellten keinen eigenen Kandidaten auf, sondern votierten zusammen mit der sozialpolitischen Linken und den Sozialdemokraten für Blumer, der dadurch mit 70 gegen 113 Stimmen nur relativ knapp gegen Forrer unterlag.

Mit den Erschütterungen um das Ende des Ersten Weltkriegs herum wurde die Zusammensetzung des Bundesrats erneut zum Thema. Bei den Nationalratswahlen 1917 hatte die FDP mit einem Stimmenanteil von 40,8% erneut die absolute Sitzmehrheit im Nationalrat gewonnen, während die SP zwar auf ein Rekordresultat von 30,8% kam, aber aufgrund des Majorzsystems fünfmal weniger Mandate als der Freisinn erhielt. Die Katholisch-Konservativen kamen auf 16,4%, die Liberalen und die Demokraten hatten mit 4,9 bzw. 3,3% nur noch den Status von Kleinparteien. Ein Jahr darauf stand die Abstimmung über die dritte Volksinitiative zur Einführung der Proporzwahl an. Entsprechende Initiativen waren 1900 und, nur noch knapp, 1910 abgelehnt worden. Das politisch heterogene «Aktionskomitee für den Nationalratsproporz» lancierte bereits 1913 die nächste Proporzinitiative, die nach wenigen Monaten eingereicht wurde. In den Beratungen im Frühjahr 1914 lehnten Bundesrat und Parlament auch diesen Vorstoss ab. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wurde die Vorlage dann für vier Jahre auf Eis gelegt und die Volksabstimmung fand erst am 13. Oktober 1918 statt. Das Ergebnis war eine schallende Ohrfeige für Bundesrat und Parlament: 66,8% der Stimmenden und 19,5 Stände stimmten der Vorlage zu. Damit war absehbar, dass die freisinnige Dominanz im Parlament mit den nächsten Wahlen enden würde. Dies verlieh auch den Diskussionen über die Zusammensetzung des Bundesrates Auftrieb, zumal der liberale Genfer Nationalrat Horace Micheli 1916 eine Motion für die Erhöhung der Zahl der Bundesräte auf neun eingereicht hatte.

Wenige Wochen nach der Proporzabstimmung erschütterte die schwerste innenpolitische Krise seit 1848 die Schweiz: der Landesstreik. Der Streikaufruf des Oltener Aktionskomitees nahm ausdrücklich auf die «denkwürdige Abstimmung vom 13. Oktober» Bezug, in der «Demokratie und Volk […] den gegenwärtigen verantwortlichen Behörden des Landes das Vertrauen entzogen» hätten, und forderte die «ungesäumte Umbildung der bestehenden Landesregierung unter Anpassung an den vorhandenen Volkswillen». In der ausserordentlichen Session der eidgenössischen Räte während des Landesstreiks stellte der freisinnige Bundespräsident Felix Calonder eine Regierungsbeteiligung der SP in Aussicht: «Die möglichst rasche Umgestaltung des Bundesrates in einer Weise, dass auch die sozialdemokratische Partei darin eine ihrer Bedeutung entsprechende Vertretung erhält, entspricht durchaus unserer Auffassung. Im Interesse des gesamten Staates und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft sollten die Führer dieser Partei an der Arbeit und an der Verantwortlichkeit der Landesregierung sich beteiligen. Nach der Auffassung des Bundesrates sollte die Mitgliederzahl der eidgenössischen Exekutive so rasch als möglich auf neun erhöht werden.» Einen sozialdemokratischen Antrag auf Einsetzung einer Kommission zur Vorbereitung dieser «Umwandlung des Bundesrates» lehnte das Parlament aber deutlich ab.

Die vorgezogenen Nationalratswahlen vom Oktober 1919 brachten aufgrund der erstmaligen Anwendung des Proporzsystems das erwartete Ende der freisinnigen Mehrheit. Von den bisherigen Regierungsparteien kamen die Freisinnigen auf 28,9% der Stimmen, die Katholisch-Konservativen auf 20,9% und die Liberalen auf 3,8%. Bei den nicht im Bundesrat vertretenen Parteien erhielt die SP 23,5%, die neu entstandenen Bauern- und Bürgerparteien 15,3%, die von der SP abgespaltenen Grütlianer 2,8%, die Demokraten 2% und die EVP 0,8%. Bei den darauffolgenden Bundesratswahlen waren aufgrund der Rücktritte von zwei freisinnigen und des einzigen liberalen Bundesrates drei Sitze neu zu besetzen. Die Sozialdemokraten, in deren Reihen die Ansichten über eine Regierungsbeteiligung gespalten waren, stellten keine eigenen Kandidaten auf. Freisinnige, Katholisch-Konservative und Bauern- und Bürgerparteien einigten sich auf eine gemeinsame Kandidatenliste.

Alle bisherigen Bundesräte wurden wiedergewählt und die beiden bisher freisinnigen vakanten Sitze verblieben bei der FDP – in einem Fall wurde allerdings nicht der parteioffizielle Kandidat gewählt. Der bisherige liberale Sitz ging an die Katholisch-Konservativen – nach dem Verlust der absoluten Mehrheit sahen sich die Freisinnigen gezwungen, den Juniorpartner stärker zu beteiligen. Aus Genfer Kreisen war eine Kampfkandidatur des parteilosen Wirtschaftshistorikers und Diplomaten William Rappard lanciert worden, insbesondere gegen die Kandidatur des weit rechts stehenden Katholisch-Konservativen Jean-Marie Musy. Rappard erhielt bei den Ersatzwahlen für die beiden Westschweizer Sitze die Stimmen der Sozialdemokraten und einiger Linksfreisinniger, blieb aber chancenlos. Für die nächsten zehn Jahre setzte sich somit der Bundesrat aus fünf Freisinnigen und zwei Katholisch-Konservativen zusammen. Die Katholisch-Konservativen gaben ihre antiliberalen Ressentiments aus dem 19. Jahrhundert zwar nicht völlig auf, profilierten sich nun aber in erster Linie als antisozialistisches Bollwerk. Aus der freisinnigen Hegemonie mit katholisch-konservativer Juniorbeteiligung wurde damit mehr und mehr eine Regierung des Bürgerblocks.

Demgegenüber blieb ein als «Linksblock» bezeichnetes potenzielles Bündnis zwischen FDP und SP, über das nach dem Wahlsieg des «Cartel des gauches» aus Radikalen (einer linksliberalen Partei) und Sozialisten in Frankreich 1924 bis Ende der 20er Jahre immer wieder spekuliert wurde, eine Schimäre und hatte keinen Einfluss auf die Bundesratswahlen. Das 1924 beschlossene Arbeitsprogramm der SP forderte die Wahl aller gesetzgebenden und Exekutivbehörden in Bund, Kantonen und Gemeinden, und damit auch des Bundesrates, «durch das Volk, unter Anwendung des Proporzes». Bei den Nationalratswahlen 1928 zog die SP wählermässig erstmals mit der FDP gleich, drei Jahre darauf wurde sie stärkste Partei und sollte diesen Rang bis 1979 ununterbrochen behaupten. Für die Gesamterneuerungswahl des Bundesrates 1928 stellte sie keine eigenen Kandidaten auf, unterstützte aber die Kandidatur des parteilosen Genfer Nationalrats und Rechtsprofessors Paul Logoz für einen vakant gewordenen freisinnigen Sitz. Ab 1929 meldete die SP bei Ersatz- und Gesamterneuerungswahlen dann regelmässig eigene Sitzansprüche an und nominierte teilweise auch Kampfkandidaturen gegen bisherige Bundesräte.

Einen Richtungsentscheid hatte die Bundesversammlung 1929 zu fällen, als zwei der fünf freisinnigen Bundesräte ihre Rücktritte erklärten. Angesichts der massiven arithmetischen Übervertretung des Freisinns meldeten die SP als wählerstärkste Partei wie auch die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerparteien als viertstärkste Kraft Ansprüche an. Der katholisch-konservative Fraktionschef Heinrich Walther, der in jenen Jahren als «Königsmacher» galt, erreichte mit formalen Argumenten, dass zuerst über den «Berner Sitz» abgestimmt wurde. Dieser ging weitgehend unbestritten von der FDP auf die BGB mit Rudolf Minger über. Bei der folgenden Ausmarchung über den «Zürcher» Sitz kam es zum Dreikampf zwischen dem von der FDP portierten demokratischen Regierungsrat und Ständerat Oskar Wettstein, dem sozialdemokratischen Zürcher Stadtpräsidenten und Nationalrat Emil Klöti sowie dem nicht nominierten Nationalrat, FDP-Präsidenten und NZZ-Chefredaktor Albert Meyer. Wettstein lag im ersten Wahlgang in Führung, wurde dann aber von Meyer überholt, der schliesslich im vierten Wahlgang das absolute Mehr erreichte. Anstatt einer Integration der Sozialdemokratie in die Regierungsverantwortung bedeutete diese Wahl also eine Erweiterung und Verfestigung des Bürgerblocks sowie Rechtsverschiebung des Bundesrats. Die Zusammensetzung des Bundesrats für die nächsten anderthalb Jahrzehnte lautete damit vier Freisinnige, zwei Katholisch-Konservative und ein Bauernparteiler.

Wenige Jahre darauf kam es angesichts der internationalen wirtschaftlichen und politischen Krisenakkumulation zu grundlegenderen Umgestaltungsüberlegungen zur schweizerischen Verfassung, die auch den Bundesrat bzw. eine neu zu gestaltende Exekutive miteinbezogen. Mit dem Aufkommen der Fronten, die sich teils am italienischen Faschismus, teils am deutschen Nationalsozialismus, teils an eigenständigen helvetischen Faschismusmodellen orientierten, und der Bewunderung vieler Katholisch-Konservativer für die in den frühen 30er Jahren errichteten korporatistischen Diktaturen in Portugal und Österreich erhielten rechte Fantasien über eine Liberalismus, Parlamentarismus und Parteienpluralismus überwindende autoritäre Neuordnung der Schweiz Auftrieb. Verhandelt wurden solche Ideen unter Schlagworten wie «autoritäre Demokratie» oder «berufsständische Ordnung». Da die Parteien in einem solchen System ohnehin stark an Bedeutung verlieren oder ganz beseitigt und durch berufliche Körperschaften ersetzt werden sollten, spielten Überlegungen zur parteimässigen Zusammensetzung der Regierung darin keine Rolle.

Die Exekutive in einem solchen System sollte von einer starken Führerfigur («Landammann») geleitet werden, der dem Bundesrat (sofern ein solcher überhaupt noch vorgesehen war) vorstehen und direkt vom Volk oder durch die Kantone für längere Zeit gewählt werden sollte. Demgegenüber sollte das Bundesparlament durch berufsständische Strukturen angereichert oder ersetzt oder aber gänzlich abgeschafft werden. Bei rechtskatholischen Planüberlegungen kamen noch theokratische Elemente dazu. So forderte Philipp Etter kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat 1934 den Einbau von «Autoritätskörpern» in die Staatsordnung: «Wenn wir eine ‹autoritäre Demokratie› an die Stelle der liberalen Demokratie setzen […] wollen, dann müssen wir den ersten und letzten, stärksten und mächtigsten Träger der Autorität, den Herrgott, wieder einbauen in den Staat!»

1934 lancierte die Nationale Front eine Volksinitiative für die Totalrevision der Bundesverfassung. Sie verlangte eine Neuwahl des Parlaments sowie die Erarbeitung einer neuen Bundesverfassung. Die Initianten erhofften sich dabei einen Rechtsrutsch bei den Wahlen und eine neue Verfassung im Sinne eines autoritären «Ständestaates». Bei der Abstimmung im folgenden Jahr empfahlen nebst den Initianten, zu denen ausser frontistischen Gruppierungen die rechtskatholisch-korporatistische Aufgebotsbewegung und die Jungkonservativen gehörten, auch die Katholisch-Konservativen und kleinere rechte Gruppierungen Zustimmung. Die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei des Kantons Bern gab Stimmfreigabe. Bundesrat und Parlament sowie FDP und SP gaben die Nein-Parole heraus. Im September 1935 wurde die Revisionsvorlage mit 72,3% Nein deutlich verworfen (s. SozialarchivInfo 5/2020).

Keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundesrates zeitigte andererseits auch die bis 1940 aktive «Richtlinienbewegung». Angesichts der antidemokratischen Umtriebe von Frontist:innen, autoritär gesinnten Rechtsbürgerlichen und Kommunist:innen initiierten Gewerkschaften und Angestelltenverbände 1936 ein Programm zur Verteidigung der Demokratie, Überwindung der Wirtschaftskrise und Schaffung einer neuen Mitte-Links-Mehrheit mit dem Titel «Richtlinien für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Sicherung der Demokratie». Von den Parteien schlossen sich der Richtlinienbewegung die SP, die Demokratischen Parteien verschiedener Kantone, die Jungbauernbewegung, der Freiwirtschaftsbund und die Schaffhauser Bauernpartei an, während die angefragte FDP eine Mitwirkung ablehnte und die Kommunistische Partei abgewiesen wurde. So blieb es während der 30er und frühen 40er Jahre bei weiteren Versuchen der SP, ohne ein lagerübergreifendes Bündnis in den Bundesrat einzuziehen.

Zangengeburt und Gehversuche der Allparteienregierung

Nach dem Scheitern von 1929 trat Emil Klöti noch zwei weitere Male erfolglos als Kampfkandidat für den Bundesrat an, bei einer Ergänzungswahl 1938 und bei der Gesamterneuerungswahl 1939. Weitere SP-Kampfkandidaten dieser Phase waren Henri Perret (Gesamterneuerungswahlen 1931, 1935 und 1943, Ergänzungswahlen 1935 und 1944), Johannes Huber (Ergänzungswahlen 1934 und 1940, Gesamterneuerungswahlen 1935 und 1939), Guglielmo Canevascini (Ergänzungswahl 1940), Gustav Wenk (Ergänzungswahl 1940) und Robert Bratschi (Ergänzungswahl 1940). Bei den Gesamterneuerungswahlen 1935 traten SP-Kampfkandidaten gegen alle sieben bisherigen Bundesräte an, vier Jahre darauf in gedanklicher Vorwegnahme der Zauberformel nur gegen zwei der vier bisherigen Freisinnigen. Als im Verlauf des Jahres 1940 vier Bundesräte zurücktraten, kam es jedes Mal zu einer Kampfwahl, bei der ein SP-Kandidat unterlag.

Bereits nachdem 1938 bei einer Ergänzungswahl das Parlament mit 117 gegen 98 Stimmen relativ knapp dem Freisinnigen Ernst Wetter gegenüber Klöti den Vorzug gegeben hatte, lancierte die SP eine zweite Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates und für die Erhöhung von dessen Mitgliederzahl auf neun. Bei der parlamentarischen Beratung sprach sich der Nationalrat mehrheitlich dafür aus, die Zahl der Bundesräte auf neun zu erhöhen, um ohne Sitzverlust für die anderen Parteien zwei Sozialdemokraten wählen zu können, der Ständerat lehnte dieses Ansinnen aber ab, so dass die Vorlage ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung gelangte. Ausser der SP sprachen sich sämtliche Parteien gegen die Initiative aus. Während Rechtsfreisinnige und Katholisch-Konservative darüber hinaus eine Einbindung der SP in den Bundesrat auch grundsätzlich ablehnten, sprachen sich Jungliberale und viele Freisinnige sowie die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei und der Landesring für eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung aus. Die Initiative, über die mitten im Krieg im Januar 1942 abgestimmt wurde, scheiterte mit 67,5% Nein und Ablehnung in sämtlichen Kantonen deutlich. Sie ebnete aber letztlich doch den Weg für die Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundesrats im folgenden Jahr.

Bei den Parlamentswahlen 1943 war die SP mit 28,6% klar wählerstärkste Partei und gewann elf Mandate im Nationalrat und zwei im Ständerat dazu. Die FDP verlor mit einem Wähleranteil von 22,5% in beiden Kammern je zwei Sitze und stellte in der Bundesversammlung hinter den Katholisch-Konservativen und der SP erstmals nur noch die drittstärkste Fraktion. Dieses Resultat sowie die Kriegssituation ermöglichten nun eine Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates.

Für die Nachfolge des zurücktretenden FDP-Bundesrates Wetter meldeten die Freisinnigen keine Kandidatur an und machten damit den Weg für den ersten sozialdemokratischen Bundesrat frei. Die SP, in deren Führungsgremien der Eintritt in den Bundesrat mit nur einem einzigen Vertreter durchaus kontrovers diskutiert wurde, nominierte für den «Zürcher» Sitz Ernst Nobs, der nach dem Landesstreik noch zu einer vierwöchigen Haftstrafe verurteilt worden war, dann aber als Regierungsrat des Kantons Zürich und Zürcher Stadtpräsident Exekutiverfahrung gesammelt hatte. Zudem trat mit Henri Perret ein weiterer Sozialdemokrat gegen den wegen seiner von vielen als anpasserisch empfundenen Rede nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich vom Sommer 1940 immer noch umstrittenen FDP-Magistraten Marcel Pilet-Golaz an, machte über seine Partei hinaus aber kaum Stimmen. Hingegen schaffte der ehemalige Bürgerschreck Nobs die Wahl gleich im ersten Wahlgang, obwohl zahlreiche Deutschschweizer Freisinnige die Stimme für ihren Parteikollegen Theodor Gut (senior) einlegten. Der Bundesrat setzte sich damit neu aus drei Freisinnigen, zwei Katholisch-Konservativen und je einem Vertreter von BGB und SP zusammen, womit die FDP im Gremium erstmals die absolute Mehrheit verlor.

Das «Volksrecht» bezeichnete anderntags den 15. Dezember 1943 als Tag, «der einen neuen Abschnitt unserer politischen Geschichte einleitet»: «Heute zieht nun ein Sozialist in den Bundesrat ein mit grundsätzlich andern Konzeptionen von Staat und Wirtschaft und ihrer gegenseitigen Abgrenzung. Bisher waren ausschliesslich Anhänger der bürgerlichen Ordnung im Bundesrat, jetzt sitzt in seiner Mitte ein grundsätzlicher Gegner» (Volksrecht, 16.12.1943). Zugleich betonte das Parteiblatt aber, dass der Anspruch der SP auf zwei Bundesratssitze nach wie vor nicht erfüllt sei.

Als ein Jahr später Pilet-Golaz seinen Rücktritt einreichte, nachdem er als Aussenminister mit dem Versuch der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion kläglich gescheitert war, trat die SP erneut mit Perret an. Weitere Kampfkandidaturen kamen von den Liberalen sowie vom Landesring, für den William Rappard nach einem Vierteljahrhundert zum zweiten Mal als Bundesratskandidat ins Rennen ging. Gewählt wurde aber mit den meisten Stimmen der bürgerlichen Regierungsparteien bereits im ersten Wahlgang der FDP-Kandidat Max Petitpierre. Im selben Jahr reichte der demokratische Nationalrat Albert Maag eine Motion für die Erhöhung der Mitgliederzahl des Bundesrats auf neun ein. Bei den Gesamterneuerungswahlen 1947 erhob die SP bei der Ersatzwahl für den zurückgetretenen Bundesrat Walther Stampfli erneut mit einer Kampfkandidatur Anspruch auf den dritten FDP-Sitz, scheiterte jedoch abermals.

Als am Ende der folgenden Legislaturperiode Ernst Nobs seinen Rücktritt erklärte, war der einzige SP-Sitz unbestritten. Bereits im ersten Wahlgang wurde der offizielle Kandidat, der Wirtschaftsprofessor und ehemalige Gewerkschaftsfunktionär Max Weber, dessen Nachlass sich heute im Sozialarchiv befindet, zum Bundesrat gewählt. Relativ viele Stimmen gingen indessen an den späteren SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi. Webers Stigma war seine Dienstverweigerung, zu der sich der Aktivdienstler des Ersten Weltkriegs 1930 unter dem Eindruck einer Besichtigung immer noch völlig verwüsteter ehemaliger Schlachtfelder in Frankreich entschlossen hatte. Sein Gesuch um Wiedereingliederung in die Armee wurde 1940 von General Guisan abgewiesen und in der Folge tat er mit einem selbstgekauften Karabiner in der Ortswehr Aktivdienst. Im Vorfeld der Bundesratswahl wurde Webers alte Dienstverweigerung von bürgerlichen Gegnern als Argument gegen ihn ins Feld geführt.

Nachdem Weber am Morgen des 13. Dezember 1951 in den Bundesrat gewählt worden war, hielt er am Nachmittag regulär seine Vorlesung an der Uni Bern. Mit dem Finanzdepartement übernahm er ein Schlüsselressort. 1953 legte er den Entwurf für eine kompliziert austarierte und von Kompromisslösungen geprägte Bundesfinanzreform vor, die trotz bürgerlicher Vorbehalte gegen die Verstetigung der direkten Bundessteuer das Parlament passierte. In der von Vorort und Gewerbeverband herbeigeführten Referendumsabstimmung kam das Reformwerk aber zu Fall. Daraufhin reichte Weber den Rücktritt ein.

Nach der überraschenden Demission des Finanzministers ging die SP freiwillig in die als «Jungbrunnen» bezeichnete Opposition und gab dann die Devise «zwei Sitze oder keinen» aus. Bei der Wahl von Webers Nachfolge besiegte der Freisinnige Hans Streuli im zweiten Wahlgang den Christlichsozialen Emil Duft, womit die Freisinnigen wieder die absolute Mehrheit im Bundesrat und doppelt so viele Bundesräte wie die Katholisch-Konservativen hatten – dies, obwohl die Sozialdemokraten wählerstärkste Partei waren und die Katholisch-Konservativen dank ihrer starken Vertretung im Ständerat die grösste Fraktion in der Vereinigten Bundesversammlung stellten. Die Kluft zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen, die sich bereits bei der Wahl eines freisinnigen Bundeskanzlers 1951 aufgetan hatte, vergrösserte sich dadurch noch mehr.

Es war nun vor allem Martin Rosenberg, der Generalsekretär der Katholisch-Konservativen und langjährige Bundeshausredaktor des Parteiblatts «Vaterland», der eine wahltaktische Annäherung seiner Partei an die SP zwecks Beendigung der freisinnigen Übermacht herbeiführte. In einem ersten Schritt und gemäss einer Absprache zwischen Katholisch-Konservativen und Sozialdemokraten ausdrücklich nur als Übergangsphase sollte im Bundesrat die Parität zwischen den beiden grossen bürgerlichen Parteien herbeigeführt werden. Dies gelang 1954, als zwei freisinnige und ein katholisch-konservativer Bundesrat vorzeitig zurücktraten. In der Ersatzwahl für den einen vakanten Sitz der Freisinnigen setzte sich der Katholisch-Konservative Giuseppe Lepori im zweiten Wahlgang mit SP-Unterstützung gegen den Freisinnigen Alfred Schaller durch. Damit setzte sich der Bundesrat neu aus je drei Freisinnigen und Katholisch-Konservativen und einem Vertreter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei zusammen.

Der magische Moment

Die Gelegenheit für eine Neuordnung der parteimässigen Zusammensetzung des Bundesrates ergab sich bei den Gesamterneuerungswahlen 1959, als sich alle drei katholisch-konservativen Bundesräte sowie der Freisinnige Streuli nicht zur Wiederwahl stellten. Aus den vorangegangenen Parlamentswahlen waren erneut die Sozialdemokraten als wählerstärkste Partei hervorgegangen, während in der Bundesversammlung die Fraktionen der Freisinnigen und der Katholisch-Konservativen, die sich im Zeichen einer gewissen Öffnung zur Mitte hin nun Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei nannten, mit je 64 Vertretern am stärksten waren. Nach den Diskussionen der vorangegangenen Jahre war in der Presse zum Teil bereits von der «bekannten Formel 2 : 2 : 2 : 1» die Rede. Die NZZ erwähnte drei Wochen vor der Wahl sogar eher spöttisch «die seit Jahren herumgebotene magische Formel 2 : 2 : 2 : 1» (NZZ, 26.11.1959). Gegner dieser Zusammensetzung des Bundesrates schrieben über eine Woche vor den Wahlen noch in Anführungszeichen von der «Zauberformel» (NZZ, 7.12.1959), wobei die Anführungszeichen kurz vor dem Wahltag teilweise bereits verschwanden (Die Tat, 15.12.1959).

Die SP nominierte den Zürcher Stadtrat und Ständerat Willy Spühler sowie den Schaffhauser Stadtpräsidenten und Nationalrat Walther Bringolf. Aus Kreisen des Rechtsfreisinns und des Vororts wurde der freisinnige Chefbeamte Hans Schaffner, der in den Vormonaten eine wesentliche Rolle in den Vorverhandlungen zur Errichtung der Europäischen Freihandelszone EFTA gespielt hatte, als «überparteiliche» Kandidatur lanciert, wobei das geplante Überraschungsmanöver bereits geraume Zeit vor dem Wahltag publik wurde. Während Spühler in bürgerlichen Kreisen guten Rückhalt besass, war Bringolf als ehemaliger Kommunist auch für viele Bürgerliche, die den Zweieranspruch der SP grundsätzlich anerkannten, unwählbar.

Bringolf war kurz nach dem Landesstreik der SP beigetreten und in Schaffhausen rasch zu deren Wortführer aufgestiegen. Bei der Parteispaltung 1921 trat unter seinem Einfluss als schweizerisches Unikum der grösste Teil der Schaffhauser SP in die Kommunistische Partei über. 1925 wurde Bringolf erstmals in den Nationalrat gewählt. Hier erregte er 1930 Aufsehen, als er den katholisch-konservativen Ratskollegen Ruggero Dollfus während einer Debatte zum Drogenhandel als Lügner titulierte und daraufhin von diesem eine Ohrfeige empfing. Ruggero beschimpfte Bringolf dann auch noch als «Tier», dieser seinen Kontrahenten als «Feigling» und revanchierte sich in der folgenden Sitzungspause ebenfalls mit einer Ohrfeige. Es war dies der wohl grösste Zusammenstoss zwischen zwei Parlamentariern, seit sich Ende 1848 der liberale Zürcher Nationalrat Rudolf Benz und sein radikaler Tessiner Ratskollege Giacomo Luvini im Anschluss an eine asylpolitische Debatte mit Säbeln duelliert hatten.

Ebenfalls 1930 entfremdete sich Bringolf zunehmend vom parteioffiziellen Kommunismus sowjetischer Prägung. Die von der Kommunistischen Internationale proklamierte «Sozialfaschismus»-These, gemäss der die Sozialdemokratie als angebliche «Hauptstütze» der Bourgeoisie von den Kommunisten trotz der faschistischen Gefahr vordringlich zu bekämpfen sei, lehnte er ab und wurde deswegen von Stalin nach Moskau zitiert und gerüffelt (s. SozialarchivInfo 2/2024). Nach seiner Rückkehr schloss er sich der antistalinistischen «Kommunistischen Partei-Opposition» an, die nun die stärkste linke Kraft in Schaffhausen wurde und 1935 in die SP zurückkehrte. Bringolf wurde 1932 Schaffhauser Stadtpräsident (bis 1968!), 1952 Präsident der SP Schweiz und entschiedener Gegner jeglicher totalitären Einflüsse von aussen. Im Zweiten Weltkrieg gehörte er der antidefätistischen Geheimorganisation «Aktion nationaler Widerstand» an, im frühen Kalten Krieg befürwortete er eine atomare Bewaffnung der Schweizer Armee (s. SozialarchivInfo 3/2022).

Die Bundesratswahl vom 17. Dezember 1959 vollzog sich unter Hochspannung. Diese widerspiegelt sich auch in der Zeitungsausschnittsammlung des Sozialarchivs. An den Vortagen hatte die Presse immer wieder über Strategiediskussionen in den Fraktionen, historische Präzedenzen und Winkelzüge hinter den Kulissen berichtet und ihre Artikel mit süffigen Schlagzeilen versehen: «Kritische Verwirrung um die Bundesratswahlen» (Neue Zürcher Nachrichten, 8.12.1959), «Schwierigkeiten» (National-Zeitung, 9.12.1959), «Wahlen mit Qualen…» (Berner Tagwacht, 11.12.1959), «Lage weiterhin ungeklärt – Die grosse Konfusion im Vorbereitungsstadium der Bundesratswahlen» (Tages-Anzeiger, 12.12.1959), «Bundesratswahl im Zwielicht» (National-Zeitung, 12./13.12.1959), «Zum Nervenkrieg rund um die Bundesratswahlen» (Volksrecht, 15.12.1959). Einen gewissen Kontrapunkt setzte die «Weltwoche», die unter dem Titel «Möchtest Du Bundesrat sein?…» die massive Arbeitsüberlastung der Bundesräte thematisierte (Weltwoche, 11.12.1959).

Vom Beginn des Wahltages berichtete die NZZ: «In herrlicher Klarheit hebt sich die silbergraue Silhouette der Berner Alpen vom blauen Morgenhimmel ab und präsentiert sich den Parlamentariern, die frühzeitig zum Bundeshaus streben, in strahlender Schönheit. Vor den Eingängen zur Publikumstribüne drängt sich eine Menschenmasse, die nur durch ein grosses Polizeiaufgebot davon überzeugt werden kann, dass die Tribünen für einen solchen Tag viel zu klein sind und dass sich die Besucher mit Vorteil in eines der öffentlichen Lokale der Stadt begeben, wo Fernsehübertragungen auch den Abwesenden Gelegenheit zum Miterleben dieses politischen Staatsaktes bieten» (NZZ, 17.12.1959). Tatsächlich wurde die Bundesratswahl 1959 erstmals live in Radio und Fernsehen übertragen. In Zürich gab es sogar ein «Public Viewing», das vom Publikum regelrecht überrannt wurde. Die Fernsehübertragung konnte im Kongresshaus mittels Grossbildprojektion des Schweizer «Eidophor»-Systems verfolgt werden. Rund 2’000 Personen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, wobei dem «Volksrecht»-Reporter die «Anwesenheit vieler fraulicher Elemente» auffiel, «die sich ebenfalls für die Vorgänge interessierten» (Volksrecht, 18.12.1959). Zahlreiche weitere Interessierte, darunter ganze Schulklassen, mussten wegen Überfüllung an den Pforten abgewiesen werden.

Nach Eröffnung des Wahlprozederes wurden zunächst die drei Bisherigen Max Petitpierre (FDP), Paul Chaudet (FDP) und Friedrich Traugott Wahlen (BGB) mit Glanzresultaten bestätigt. Bei der Ersatzwahl für den Katholisch-Konservativen Philipp Etter setzte sich dessen Parteikollege Jean Bourgknecht bereits im ersten Wahlgang gegen zwei starke Parteirivalen durch. Der fünfte, bisher vom Freisinnigen Streuli gehaltene Sitz ging ebenfalls bereits im ersten Wahlgang an Willy Spühler, der sich mit 149 von 226 gültigen Stimmen deutlich gegen verschiedene Sprengkandidaturen durchsetzte. Bei der Ersatzwahl für den sechsten, bisher vom Katholisch-Konservativen Thomas Holenstein gehaltenen Sitz reüssierte dessen Parteikollege Ludwig von Moos im ersten Wahlgang gegen dieselben Parteirivalen, die bereits bei der Wahl Bourgknechts viele Stimmen erhalten hatten.

Damit kam es bei der Ersatzwahl für den siebten, bisher vom Katholisch-Konservativen Giuseppe Lepori gehaltenen Sitz zum Showdown. Entsprechend den Absprachen von 1954 gaben die Katholisch-Konservativen diesen Sitz kampflos ab und unterstützten den Anspruch der SP, hatten aber zugleich grosse Mühe mit der Kandidatur Bringolf. Die Freisinnigen hatten sich zum Zweieranspruch der SP nicht eindeutig geäussert. Die BGB-Fraktion beschloss vorgängig Unterstützung von Spühler und Stimmfreigabe in Bezug auf die Kandidatur Bringolf.

Im ersten Wahlgang lag der freisinnige Sprengkandidat Hans Schaffner mit 84 Stimmen an der Spitze, hinter ihm folgte der sozialdemokratische Basler Regierungsrat und Ständerat Hans-Peter Tschudi mit 73 Stimmen und erst an dritter Stelle der offizielle SP-Kandidat Bringolf mit 66 Stimmen. Auch der zweite Wahlgang brachte noch keine Entscheidung, es schwenkte nun aber ein beträchtlicher Teil der SP-Fraktion von Bringolf auf Tschudi um. Nun stand Tschudi mit 107 Stimmen an der Spitze. Schaffner erhielt 91 und Bringolf nur noch 34 Stimmen. Bringolf gab daraufhin eine Verzichtserklärung ab. Im dritten Wahlgang setzte sich Tschudi mit 129 Stimmen gegen Schaffner mit 97 Stimmen durch, womit die von Rosenberg angestrebte Parität der drei grossen Parteien und die von der SP geforderte Zweiervertretung Realität wurden. Schaffner sollte dann bereits im Juni 1961 als offizieller FDP-Kandidat bei einer Ersatzwahl in den Bundesrat gewählt werden.

Die NZZ bedauerte Schaffners Nichtwahl und lamentierte, die «Zauberformel» sei «von der konservativen und der sozialdemokratischen Gruppe dekretiert und diktiert» worden, «und die übrigen Fraktionen konnten sich lediglich darüber schlüssig werden, ob sie Dekret und Diktat annehmen oder verwerfen wollten» (NZZ, 19.12.1959). Das «Volksrecht» begrüsste dagegen, dass «das freisinnig-liberalkonservativ-landesringliche Sprengmanöver mit der Kandidatur Schaffner» gescheitert war und jubelte: «Wieder einmal mehr hat sich der Freisinn durch seinen Sesselhunger zu einem Manöver verleiten lassen, das ihn in die politische Niederlage führen musste» (Volksrecht, 18.12.1959). Bringolfs Nichtwahl und das Wahlverhalten der SP-Fraktion gaben parteiintern allerdings unmittelbar nach dem Wahltag einiges zu reden und Bringolf kündigte zunächst sogar seinen unverzüglichen Rücktritt als Parteipräsident an, machte dann aber bis 1962 weiter. Der Begriff «Zauberformel» bzw. «formule magique» wurde nun rasch zu einem Schlüsselwort im helvetischen Politvokabular.

Entwicklung, Erschütterungen und Neujustierung der Zauberformel

Bis in die 90er Jahre blieb die Zauberformel von 1959 weitgehend unbestritten und entsprach den Stimmenanteilen der Parteien bei den Nationalratswahlen, wo jeweils SP, FDP und KCVPS (ab 1970: CVP) auf je rund 20% und die BGB (ab 1971: SVP) auf rund 10% kamen. Kritik am «Machtkartell» der vier Grossen gab es indessen immer wieder. So nahm der parteilose Nationalrat und streitbare Geschichtsprofessor Marcel Beck 1965 eine Ersatzwahl zum Anlass einer Fundamentalkritik am Wahlsystem. Zwei Kampfkandidaturen der Liberalen Partei bei Ersatzwahlen 1962 und 1965 blieben chancenlos. Beim Landesring, der bei den Wahlen 1967 mit einem Stimmenanteil von 9,1% in Greifnähe zur BGB (11%) aufrückte, war eine Regierungsbeteiligung sporadisch ein Thema. So warb Nationalrat Franz Jaeger in den 70er Jahren zuweilen für eine Mitte-Links-Koalition aus SP, CVP und Landesring, die zu jener Zeit eine knappe Parlamentsmehrheit gehabt hätte, und die Verbannung von FDP und SVP in die Opposition. Nach 1944 lancierte der Landesring aber erst 1989, als die Partei stimmenmässig schon seit geraumer Zeit auf dem absteigenden Ast war und aufgrund ihres ökoliberalen Kurses von der sie finanzierenden Migros zunehmend weniger Geld erhielt, wieder eine erfolglose Kampfkandidatur.

Zwar scheiterten mehrfach offizielle Kandidaturen der Bundesratsparteien. Das Parlament wählte in solchen Fällen aber andere Personen aus der innerhalb der Logik der Zauberformel anspruchsberechtigten Partei. Dies war etwa 1973 bei den Ergänzungswahlen für gleich drei Sitze der Fall, als je ein offizieller Kandidat der SP, FDP und CVP gegenüber nicht nominierten Parteikollegen das Nachsehen hatten. In den meisten Fällen führte dies zu keinen Erschütterungen der Zauberformel, wohl aber zum allmählichen Übergang von den bis in die 80er Jahre üblichen Einer- zu Zweier- oder Dreiertickets.

Dynamik in die Nichtwahl offizieller Kandidaturen und Erschütterungen der Zauberformel brachte dann ab den 80er Jahren zunächst deren Verknüpfung mit der Geschlechterfrage. Im Jahr 1983 wählte die Vereinigte Bundesversammlung nach einer konspirativen «Nacht der langen Messer» statt der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen, die die erste Frau im Bundesrat gewesen wäre, Otto Stich. Dies führte bei der SP zu einer heftigen Debatte über die eigene Bundesratsbeteiligung. Ein ausserordentlicher Parteitag beschloss im Februar 1984 schliesslich mit 773 gegen 511 Stimmen den Verbleib im Bundesrat, verbunden allerdings mit der Ankündigung von Parteipräsident Helmut Hubacher, die SP werde in Zukunft «schampar unbequem» sein.

1984 wurde dann mit der Freisinnigen Elisabeth Kopp die erste Frau in den Bundesrat gewählt. Nach deren skandalbehaftetem Rücktritt 1989 standen für die Nachfolge bei den Freisinnigen ausschliesslich Männer zur Debatte. Dies führte ausserhalb der Logik der Zauberformel zur Kandidatur der Landesring-Ständerätin Monika Weber, die aber keine Chance hatte.

1993 wählte die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat, der seit 1989 wieder ein reines Männergremium war, anstelle der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner Francis Matthey, der aber auf Druck seiner Partei und einer grossen ausserparlamentarischen Mobilisierung verzichtete. Die Wahlwiederholung mit dem SP-Zweierticket Christiane Brunner und Ruth Dreifuss nahm eine starke Minderheit bürgerlicher Parlamentarier:innen zum Anlass der Lancierung einer Sprengkandidatur der freisinnigen Nationalrätin Vreni Spoerry, die im ersten Wahlgang 54 Stimmen erhielt, dann aber erklärte, nicht zur Verfügung zu stehen. Unmittelbar danach reichte SP-Nationalrat Andrea Hämmerle einen Vorstoss für die Volkswahl des Bundesrates nach dem Proporzsystem mit Frauenquote und Minderheitenschutz ein. Die Nichtwahl von Christiane Brunner zog auch eine Volksinitiative nach sich, die unter anderem auf die Zusammensetzung des Bundesrats abzielte. Die von einem überparteilichen Komitee lancierte Initiative «für eine gerechte Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden (Initiative 3. März)», die dann als «Quoteninitiative» diskutiert wurde, forderte Frauenquoten für Regierung, Parlament und Bundesgericht. Für den Bundesrat wollte sie ein Minimum von drei Frauen vorschreiben. Bei der Abstimmung im Jahr 2000 erlebte diese Vorlage mit 82% Nein-Stimmen ein Fiasko.

Ab den 90er Jahren wurde das Phänomen koordinierter Proteststimmen für Personen in- oder ausserhalb der in der Logik der Zauberformel anspruchsberechtigten Partei häufiger. Diese in der Regel 10 bis 20 Stimmen gingen oft an Personen, die es entweder nicht aufs Ticket ihrer Partei geschafft hatten oder bereits bei früheren Bundesratswahlen einmal im Gespräch gewesen waren. Parallel zu Attacken gegen die Sozialpartnerschaft im Bereich der Arbeitsbeziehungen gab es seitens rechtsbürgerlicher Kreise nun aber auch Versuche, die Zauberformel zu Lasten der SP zu knacken. 1995 lancierte der Zürcher Freisinn für die Nachfolge von Otto Stich die Kandidatur von Vreni Spoerry, unterlag damit in der eigenen Fraktion aber knapp und erhielt von den anderen bürgerlichen Bundesratsparteien offiziell keine Unterstützung. Dennoch machte Spoerry im ersten Wahlgang 65 Stimmen und landete auf dem zweiten Platz, noch vor einem der zwei offiziellen SP-Kandidaten. Erst nach dem dritten Wahlgang schied sie aus dem Rennen aus.

Nachhaltig erschüttert wurde die 1959er Zauberformel durch Veränderungen der Stimmenstärken während der 90er Jahre, die sich erst nach der Jahrtausendwende in einer neuen Proportion wieder etwas stabilisierten. Bis 1999 stieg die SVP von 10% auf über 20% an, während die CVP auf unter 15% abstürzte. Als die SVP 1999 erstmals knapp vor der SP wählerstärkste Partei wurde, erhob sie mit Berufung auf die Zauberformel Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz, attackierte dann aber bei den Gesamterneuerungswahlen entgegen der Logik der Zauberformel mit ihrem Kampfkandidaten Christoph Blocher nicht einen der beiden CVP-Sitze, sondern erfolglos die beiden bisherigen SP-Bundesrät:innen. Ein weiterer SVP-Versuch, die Zauberformel zu knacken, erfolgte 2002 bei der Ersatzwahl für Ruth Dreifuss, als SVP-Kampfkandidat Toni Bortoluzzi gegen die beiden SP-Kandidatinnen über vier Wahlgänge im Rennen blieb.

Eine Neukalibrierung der Zauberformel erfolgte nach den eidgenössischen Wahlen 2003, die die Tendenz der vorangegangenen zwei Wahlen bestätigten. Entsprechend der Zauberformel-Logik, dass den drei wählerstärksten Parteien zwei und der viertstärksten Partei ein Bundesratssitz zustehe, wählte das Parlament die bisherige CVP-Bundesrätin Ruth Metzler ab und ersetzte sie durch den SVP-Vertreter Christoph Blocher. Diese neue Zauberformel hielt aber zunächst nur für vier Jahre und vermochte fortgesetzte Turbulenzen um die Verteilung der Bundesratssitze nicht nachhaltig zu beruhigen.

Nach den eidgenössischen Wahlen 2007, bei der die SVP einen stark auf Bundesrat Blocher personalisierten Wahlkampf geführt hatte, landete bei der Gesamterneuerungswahl des Bundesrates eine konspirative Mitte-Links-Allianz einen Überraschungscoup und wählte für den zweiten SVP-Sitz statt Blocher die Bündner SVP-Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf, die nach einem Tag Bedenkzeit die Wahl annahm. Dieser formal in der Logik der Zauberformel-Arithmetik verlaufende, aber dennoch einmalige Vorgang führte zum vorläufigen Ende der neuen Zauberformel. Die SVP hatte zuvor Mitgliedern, die eine Wahl ohne Nomination durch die Partei annähmen, den «Ausschluss» aus der Fraktion angedroht. Dieses Verdikt traf nun nicht nur Widmer-Schlumpf, sondern auch den vor ihr gewählten Samuel Schmid, der gegen den Willen der Partei die Wiederwahl annahm. Schmid war im Jahr 2000 ohne Nomination durch seine Partei gegen das offizielle SVP-Zweierticket gewählt und dann zunächst aus Kreisen seiner Partei als «halber» SVP-Bundesrat geschmäht worden. Nach der Wahl Blochers 2003 erfolgte seine semantische Aufwertung zum «ganzen» Bundesrat, unmittelbar nach der Bundesratswahl 2007 bezeichnete ihn die Parteileitung dann als «fraktionslosen» Bundesrat und einige Wochen darauf als «so gut wie klinisch tot».

Die Turbulenzen um die Blocher-Abwahl hatten Weiterungen. So wurde unter anderem die SVP Graubünden wegen ihrer Weigerung, Widmer-Schlumpf auszuschliessen, ihrerseits aus der SVP Schweiz ausgeschlossen. 2008 nahm die SVP Schweiz eine umstrittene Klausel in ihre Statuten auf, wonach nicht von der Fraktion nominierte Kandidat:innen bei einer Wahlannahme automatisch aus der Partei ausgeschlossen werden. Auch entstand mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei eine neue politische Kraft, der sich Widmer-Schlumpf und Schmid anschlossen. Zum ersten Mal seit 1959 war damit die wählerstärkste Partei nicht mehr im Bundesrat vertreten, dafür eine Kleinpartei gleich mit zwei Personen und die Zauberformel ausser Kraft gesetzt.

Bei der folgenden Serie von Bundesratswahlen versuchte die SVP den Wiedereinzug in die Regierung. Bereits 2008 trat Samuel Schmid zurück. In der Ersatzwahl war der Anspruch der SVP ausser seitens der mit einem eigenen Kandidaten antretenden Grünen unbestritten, das aus Christoph Blocher und Ueli Maurer bestehende Zweierticket stiess bei vielen Parlamentsmitgliedern aber auf wenig Begeisterung und Maurer setzte sich im dritten Wahlgang nur mit einer Stimme Vorsprung gegen den nicht nominierten Bauernverbandspräsidenten Hansjörg Walter durch, der in den ersten beiden Wahlgängen in Führung lag, aber auf Druck seiner Partei vorgängig erklärt hatte, eine eventuelle Wahl abzulehnen.

Bei der nächsten Ergänzungswahl 2009 für die Nachfolge des freisinnigen Pascal Couchepin entbrannte die Interpretationsfrage, ob bei der für die Zauberformel massgeblichen Parteistärke der Stimmenanteil oder die Fraktionsgrösse entscheidend seien. Die FDP hatte bei der vorangegangenen Wahl 2007 mit 15,8% gegen 14,5% zwar leicht vor der CVP gelegen, beide hatten aber 31 Nationalratssitze erhalten und im Ständerat war die CVP um einen Sitz stärker. Ebenso war die Fraktion von CVP-EVP-GLP grösser als diejenige von FDP-LPS, und die Rückeroberung des 2003 verlorenen zweiten Bundesratssitzes war 2007 erklärtes CVP-Wahlziel gewesen. Beide Fraktionen nominierten offizielle Kandidaturen. Bei der Wahl setzte sich der freisinnige Didier Burkhalter durch, der vom dritten Platz im ersten Wahlgang zur absoluten Mehrheit im vierten Wahlgang aufstieg und den CVP-Kandidaten Urs Schwaller, der in den ersten drei Wahlgängen an der Spitze lag, auf der Zielgerade überholte.

In den folgenden Jahren versuchte die SVP den zweiten Bundesratssitz mit Kampfkandidaturen zurückzuholen. Bei der Ersatzwahl für den Sozialdemokraten Moritz Leuenberger und den Freisinnigen Hans-Rudolf Merz griff sie 2010 beide Sitze erfolglos mit Jean-François Rime an. Aus dieser Wahl ging erstmals eine Frauenmehrheit im Bundesrat hervor. Rime war im folgenden Jahr auch SVP-Kampfkandidat bei den Gesamterneuerungswahlen und griff sämtliche Sitze von SP, FDP und BDP an. Gegen BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf trat zudem mit Hansjörg Walter noch ein zweiter SVP-Kampfkandidat an. Als 2015 Eveline Widmer-Schlumpf zurücktrat, war der SVP-Anspruch auf diesen Sitz unbestritten. Mit der Wahl von Guy Parmelin wurde die modifizierte Zauberformel von 2003 mit je zwei Sitzen für SVP, SP und FDP und einem für die CVP wiederhergestellt.

Als Reaktion auf die Abwahl Blochers lancierte die SVP 2009 auch die Initiative «Volkswahl des Bundesrates», die 2011 eingereicht wurde und 2013 zur Abstimmung gelangte. Mit 76,3% Nein-Stimmen und Ablehnung in sämtlichen Kantonen scheiterte die Initiative deutlicher als ihre Vorgängerinnen von 1900 und 1942. Als weitere Reformideen tauchten in jenen Jahren die Listenwahl des Bundesrats, eine offene Bundesratswahl mit qualifiziertem Mehr, das Vertrauensvotum durch das Volk, das «Bravo-Sympa-Verfahren» (Volk bestimmt parteimässige Zusammensetzung des Bundesrats, Parlament wählt die Personen) oder das Volksveto (50’000 Stimmberechtigte können gegen das Ergebnis der Bundesratswahl das Referendum ergreifen) auf.

Ab der Jahrtausendwende brachten sich auch mehrfach die Grünen aktiv in die Bundesratswahlen ein. Seit den späten 80er Jahren hatten sie sich mit einem Stimmenanteil von um die 5% im Nationalrat etabliert, nach der Jahrtausendwende nahm dieser trotz der Abspaltung der Grünliberalen im Jahr 2004 auf 7 bis 13% zu und die Grünen gewannen nun auch vereinzelte Ständeratsmandate. Bei der turbulenten Ersatzwahl für SVP-Bundesrat Adolf Ogi stellten die Grünen im Jahr 2000 mit Cécile Bühlmann erstmals eine Kampfkandidatin auf, die bei einem breiten Bewerberfeld mit einem offiziellen SVP-Zweierticket und drei aussichtsreichen inoffiziellen SVP-Kandidaturen im ersten Wahlgang auf beachtliche 54 Stimmen und den zweiten Platz kam und erst nach dem vierten Wahlgang ausschied.

Für die Gesamterneuerungswahl 2007 nominierten die Grünen Ständerat Luc Recordon als Kampfkandidaten gegen Blocher, zogen ihn jedoch zugunsten des Überraschungscoups mit der Wahl Widmer-Schlumpfs zurück. Im folgenden Jahr ging Recordon auch ins Rennen um die Nachfolge von Samuel Schmid gegen das SVP-Zweierticket Blocher/Maurer, machte im ersten Wahlgang aber wenig Stimmen und zog sich dann zugunsten der Sprengkandidatur Walter zurück. 2010 griffen die Grünen bei der Ersatzwahl für Hans-Rudolf Merz den auch von der SVP attackierten zweiten FDP-Sitz mit Brigit Wyss an. Diese machte im ersten Wahlgang mit 57 Stimmen hinter dem SVP-Kampfkandidaten das zweitbeste Resultat und schied dann nach dem dritten Wahlgang aus, nachdem viele linke Stimmen auf die offiziellen FDP-Kandidaturen übergegangen waren.

Eine Intensivierung erlebten die Diskussionen um eine grüne Regierungsbeteiligung durch die Nationalratswahlen 2019, als die Grünen mit einem Stimmenanteil von 13,2% die Einbundesratspartei CVP (11,4%) überholten und nur knapp hinter der Zweibundesratspartei FDP (15,1%) lagen. Hinzu kamen noch 7,8% für die anderthalb Jahrzehnte zuvor abgespaltene GLP sowie der Umstand, dass SVP und FDP, die im Bundesrat die absolute Mehrheit stellten, nur auf einen kombinierten Stimmenanteil von knapp 42% gekommen waren. Das Wahlresultat führte zu angeregten Debatten, bei denen verschiedene originelle Vorschläge für eine neue Zauberformel eingebracht wurden. Je nach Belieben wurden dabei auch unterschiedliche Parteien zusammengezählt, um die arithmetischen Ansprüche einzelner «Lager» zu berechnen. Auch die uralte Idee einer Aufstockung des Bundesrats auf neun Mitglieder zwecks Gewinnung zusätzlicher Manövriermasse tauchte wieder auf, ebenso aber das Argument, dass eine Veränderung der parteimässigen Zusammensetzung des Bundesrats nicht aufgrund eines einmaligen Wahlresultats vorgenommen werden sollte. Die Grünen griffen bei der Gesamterneuerungswahl 2019 mit Regula Rytz den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis an, wurden dabei von der SP unterstützt, unterlagen aber mit 82 gegen 145 Stimmen.

Bei den nächsten Nationalratswahlen fielen die Grünen mit 9,8% der Stimmen wieder auf den fünften Platz zurück, hatten arithmetisch aber damit immer noch den grösseren Anspruch auf einen Bundesratssitz als die FDP auf ihre zwei. Kompliziert wurde die Lage noch durch die Unklarheit, wer als drittstärkste Partei zu gelten habe. Die aus der Fusion von CVP und BDP hervorgegangene Mitte gewann im Nationalrat 29 Mandate gegenüber 28 der FDP. Auch beim Stimmenanteil lag sie mit 14,1% nach dem vorläufigen Endergebnis knapp vorne, bevor derjenige der FDP nachträglich auf 14,3% korrigiert wurde. Im Ständerat lag die Mitte mit 15 gegenüber 11 freisinnigen Mandaten neu deutlich vorne. Vor diesem Hintergrund stellte die Mitte für die Gesamterneuerungswahlen, bei denen nur ein unbestrittener SP-Sitz neu zu besetzen war, keine Kampfkandidaturen auf. Hingegen griffen die Grünen mit Gerhard Andrey beide FDP-Sitze an. Andrey machte gegen Ignazio Cassis beachtliche 59 Stimmen, hingegen nur 15 gegen Karin Keller-Sutter und erhielt zudem im ersten Wahlgang für die Nachfolge von SP-Bundesrat Alain Berset 30 Stimmen.

Die Diskussionen über die zukünftige parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates gingen danach weiter. Ihr Ausgangspunkt blieb aber weiterhin die Zauberformel, die mit Erreichen des Rentenalters von 65 immer noch eine gewisse Magie auszustrahlen scheint.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.140.2 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesrats-Ersatzwahlen 1929–1940
  • Ar 1.140.3 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesrat 1931–1966
  • Ar 1.230.10 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesratswahlen 1983
  • Ar 1.230.13+14 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesratswahlen 1993
  • Ar 1.240.1-3 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Volkswahl des Bundesrates
  • Ar 1.734.4 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: SPS Fraktion, Bundesratswahl 2010 (Rücktritt Leuenberger/Wahl Sommaruga)
  • Ar 103.70.2 Weber, Max (1897–1974): Bundesratswahl und Rücktritt, Tod
  • Ar 1038.13.2 Hubacher, Helmut (1926–2020): Bundesratsbeteiligungs-Debatte

Sachdokumentation

  • KS 32/66 Schweizerischer Bundesrat
  • KS 32/67 Schweizerischer Bundesrat
  • KS 34/73 Proporzwahl des Nationalrates; Volkswahl des Bundesrates
  • QS 31.2 Schweizerischer Bundesrat
  • ZA 31.2 Schweizerischer Bundesrat
  • DS 655 Junge Grüne Schweiz: Offener Brief: Kandidatur für den Bundesrat

Bibliothek

  • Altermatt, Urs (Hg.): Die Schweizer Bundesräte: Ein biographisches Lexikon. Zürich/München 1991, Gr 7499
  • Altermatt, Urs (Hg.): Das Bundesratslexikon. Basel 2019, 140755
  • Altermatt, Urs: Vom Unruheherd zur stabilen Republik: Der schweizerische Bundesrat 1848–1875: Teamplayer, Schattenkönige und Sesselkleber. Basel 2020, 144782
  • Altermatt, Urs: Der lange Weg zum historischen Kompromiss: Der schweizerische Bundesrat 1874–1900: Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle. Basel 2021, 146852
  • Altermatt, Urs: Von der freisinnigen Vorherrschaft zum Proporz: Der schweizerische Bundesrat 1900–1919: Bundespräsident als Primus inter Pares und Departementalisierung. Basel 2023, 152587
  • Bircher, Silvio: Wahlkarussell Bundeshaus: Umstrittene Bundesratswahlen und Schweizer Politik. Baden 2007, 118681
  • Böschenstein, Hermann (Hg.): Buch der Freunde: alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen zum 80. Geburtstag am 10. April 1979. Zürich 1979, 64337
  • Brassel, Ruedi et al. (Hg.): Zauberformel: Fauler Zauber? SP-Bundesratsbeteiligung und Opposition in der Schweiz. Basel 1984, 75349
  • Bringolf, Walther: Der Bundesrat ohne Sozialdemokraten. Zürich o. J., Hf 4738
  • Burgos, Elie et al.: La formule magique: Conflits et consensus dans l’élection du Conseil fédéral. Lausanne 2011, 126144
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  • De Pretto, Renato: Bundesrat und Bundespräsident: Das kollegiale Regierungssystem schweizerischer Prägung. Grüsch 1988, 87942
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  • Ebnöther, Christoph: Leitfaden durch das politische System der Schweiz. Zürich 2017, 137803
  • Festschrift Bundesrat H.P. Tschudi: Zum 60. Geburtstag am 22. Oktober 1973. Bern 1973, 51343
  • Fisch, Arnold: Meine Bundesräte: Von Etter bis Aubert. Stäfa 1989, 89043
  • Furrer, Christian: Bundesrat und Bundesverwaltung: Ihre Organisation und Geschäftsführung nach dem Verwaltungsorganisationsgesetz: Bundesgesetz vom 19. September 1978 über die Organisation und die Geschäftsführung des Bundesrates und der Bundesverwaltung: Textausgabe mit Erläuterungen. Bern 1986, 81165
  • Grisel, Etienne: Gouvernement suisse: Le Conseil fédéral. Bern 2010, 123219
  • Gross, Andreas und Fredi Krebs (Hg.): Élections au Consel Fédéral: … pas un show électoral! St-Ursanne 2009, D 6212:6
  • Gross, Andreas et al.: Nur scheinbar demokratisch: Die Wahl des Bundesrates durch das Volk ist ein Rückschritt für die Demokratie. St-Ursanne 2013, D 6212:11
  • Gysin, Nicole: Angst vor Frauenquoten? Die Geschichte der Quoteninitiative 1993–2000. Bern 2007, 118226
  • Hämmerle, Andrea: Die Abwahl: Fakten & Figuren. 2. Aufl. Glarus 2011, 125665
  • Kästli, Tobias: Ernst Nobs: Vom Bürgerschreck zum Bundesrat: Ein politisches Leben. Zürich 1995, 97953
  • Keller, Willy (Hg.): Alt Bundesrat Prof. Dr. Max Weber zum 60. Geburtstag am 2. August 1957: Biographische Daten und bibliographisches Verzeichnis seiner wichtigsten Publikationen. Bern 1957, Hf 2357
  • Krebs, Ernst: Die Volkswahl des Bundesrates, mit besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Volkswahl der Exekutive in Stadt und Kanton Zürich: Eine geschichtliche und staatsrechtlich-politische Untersuchung. Zürich 1968, 39296
  • Linder, Wolf: Schweizerische Demokratie: Institutionen, Prozesse, Perspektiven. Bern 1999, 104179
  • Linder, Wolf und Sean Mueller: Schweizerische Demokratie: Institutionen – Prozesse –Perspektiven. 4. akt. Aufl. Bern 2017, 138093
  • Menz, Peter: Der «Königsmacher» Heinrich Walther: Zur Wahl von vierzehn Bundesräten 1917–1940. Fribourg 1976, 58540
  • Metzler-Arnold, Ruth: Grissini & Alpenbitter: Meine Jahre als Bundesrätin. Herisau 2004, 113627
  • Moeckli, Silvano: Der Bundesrat: Das politische System der Schweiz, in Romanform spannend erklärt. Mörschwil 2014, 131472
  • Reber, Arthur Fritz: Der Weg zur Zauberformel: Die Bundesratswahlen der Vereinigten Bundesversammlung seit der Wahl des Nationalrates nach dem Verhältniswahlrecht 1919 bis zur Verwirklichung eines «freien Proporzes» für die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung 1959. Bern/Frankfurt 1979, 65772
  • Rhinow, René: Wie weiter mit dem Bundesrat? Zürich 2011, 124770
  • Richoz, Claude: Paul Chaudet …que nous aimions. Vulliens 1982, Gr 4478
  • Ritz, Adrian et al. (Hg.): Blackbox Exekutive: Regierungslehre in der Schweiz. Basel 2019, 141938
  • Rosenberg, Martin: Sinn und Zweck der «Zauberformel», in: Hartmann, Alois (Hg.): Im Spannungsfeld der Politik: Festgabe für Dr. Martin Rosenberg, Generalsekretär der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei der Schweiz, zu seinem 60. Geburtstag. Luzern 1968. S. 158-162, 38592
  • Schiller, Felix: Die Volkswahl des Bundesrates seit 1848: Ein staatsrechtliches Problem zwischen direkter Demokratie, Parlamentarismus, Föderalismus und dem Schutz von Minderheiten. Zürich 2021, 146238
  • Senti, Martin (Hg.): Konkordanz: Zwischen Arithmetik und Verantwortung. Zürich 2011, N 4376:48
  • Trachsler, Daniel: Bundesrat Max Petitpierre: Schweizerische Aussenpolitik im Kalten Krieg 1945–1961. Zürich 2011, 124599
  • Tschudi, Hans Peter: Im Dienste des Sozialstaates: Politische Erinnerungen. Basel 1993, 95836
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  • Ueberwasser, Heinrich: Das Kollegialprinzip: Seine Grundsätze und Konkretisierungen im Bereiche von Regierung und Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung des schweizerischen Bundesrates. Basel/Frankfurt 1989, 88413
  • Vatter, Adrian: Der Bundesrat: Die Schweizer Regierung. Basel 2020, 144906
  • Wahlen, Friedrich Traugott: Dem Gewissen verpflichtet: Zeugnisse aus den Jahren 1940 bis 1965. Hg. Alfred A. Häsler. Zürich 1966, 34657
  • Wolf, Walter: Walther Bringolf: Eine Biografie – Sozialist, Patriot, Patriarch. Schaffhausen 1995, 98612 Ex.2
  • Zumstein, Hansjürg: Die Abwahl: Die Geheimoperation gegen Christoph Blocher. Zürich 2008, DVD 55
Still aus «LIBERTY, LOVE AND LONELINESS II», Philip Ortelli, 2024
Still aus «LIBERTY, LOVE AND LONELINESS II», Philip Ortelli, 2024

25.11.2024, 18.30 Uhr: Le Foyer – In Process

Artist-Archivist-Artist

Philip Ortelli & Philipp Gufler

Philip Ortelli nutzt Archive, um die Geschichte von LGBTQIA+-Gemeinschaften zu rekonstruieren. Er entnimmt öffentlichen Archiven Material, führt ihnen aber auch neues zu – so auch im Fall des schwulenarchivs, das im Schweizerischen Sozialarchiv untergebracht ist. Darin fand Ortelli Konvolute mit Geschichten queeren Lebens, denen er seine eigene sammelnde Arbeit in den Sozialen Medien gegenüberstellt.

Im Zentrum von Philipp Guflers künstlerischer Arbeit stehen Bilder und Geschichte(n) queeren Lebens. Historische Persönlichkeiten, Entwicklungen und einschneidende Ereignisse aus unterschiedlichen Zeitspannen treten in einen Dialog und erzählen eine intersektionale queere Geschichte. Seit zehn Jahren ist Gufler aktives Mitglied des selbstorganisierten Forums Queeres Archiv München, das er ebenso mit Material speist wie für seine Arbeiten anzapft.

Gezielt verwischen Ortelli (*1991 in Bern) und Gufler (*1989 in Augsburg) die Grenzen zwischen archivarisch-dokumentierender und künstlerisch-produzierender Praxis. Beide stellen sich in die Tradition privater Archivar:innen, die unabhängig von vorherrschenden Geschichtsordnungen sammelten, was sie wichtig fanden, und damit marginalisierte Vergangenheit in die Zukunft retteten.

Gespräch mit Philip Ortelli, Philipp Gufler und Stefan Länzlinger (Leiter der Abteilung Archiv im Schweizerischen Sozialarchiv), moderiert von Yasmin Afschar.
Anschliessend Apéro.

In Zusammenarbeit mit «Le Foyer – In Process» (www.lefoyer-lefoyer.ch).

Montag, 25. November 2024, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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