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Demonstration der SVP und Gegendemonstration in Zürich, 1995 (Foto: Gertrud Vogler/SozArch F 5107-Na-08-009-016)
Demonstration der SVP und Gegendemonstration in Zürich, 1995 (Foto: Gertrud Vogler/SozArch F 5107-Na-08-009-016)

Buchempfehlungen der Bibliothek

L’Atelier paysan: Reprendre la terre aux machines. Manifeste pour une autonomie paysanne et alimentaire. Paris, 2021

Die industrielle Landwirtschaft steckt in einer Sackgasse: Immer weniger Betriebe stellen mit massenhaft Dünger und Pestiziden auf immer grösseren Flächen mit immer schwereren und teureren Maschinen auf zunehmend degradierten Böden zu immer tieferen Preisen immer mehr vom Gleichen, u.a. für den Export, her. Die einstigen Vertreter eines unabhängigen Bauernstandes sind heute «proletarisierte Unternehmer», die der Agroindustrie ausgeliefert, dem unerbittlichen Preisdruck des Freihandels ausgesetzt und von staatlicher Unterstützung abhängig sind. Nicht nur auf französischen, auch auf Schweizer Bauernhöfen ist die Selbstmordrate ungewöhnlich hoch – nicht nur die Höfe, auch die Bauern sterben.
Seit 1990 haben sich zwar etliche Landwirtschaftsbetriebe agrarökologisch umorientiert und bei den Konsument:innen ist die Nachfrage nach Bio-Produkten gestiegen, liegt aber zum Beispiel in der Schweiz immer noch erst bei knapp 20 %. Die These des französischen Autor:innenkollektivs «Atelier Paysan» lautet, dass dieser Nischentrend der letzten dreissig Jahre, der auf die privaten Kaufentscheide abstellt, die Vormacht der industriellen Landwirtschaft in keiner Weise brechen konnte und deren wirtschaftliche, ernährungstechnische, ökologische, gesundheitliche und soziale Verheerungen im Grunde nur verschleiert.
Das aktivistische «Manifest für eine bäuerliche und Ernährungs-Autonomie» fordert deshalb eine dezidierte Repolitisierung der alternativen Bewegungen für eine bäuerliche Landwirtschaft mit Mindestpreisen für Importprodukte, Ernährungssicherheit nach dem Modell einer Sozialversicherung sowie einer technologischen «Deeskalation». Konkretes Ziel: Ansiedlung einer Million Bäuer:innen in Frankreich in den kommenden zehn Jahren.

Angela Saini: Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft. Berlin, 2023

Aufgrund des Titels würde man erwarten, dass uns die Wissenschaftsjournalistin Angela Saini eine Geschichte über das Patriarchat erzählt. Stattdessen erzählt sie jedoch die Forschungsgeschichte über das Patriarchat – genauer: wie sich die verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen im Verlauf der letzten rund zweihundert Jahre das Patriarchat erklärt haben. Diese Geschichte darüber, wann und wie die Menschen was über das Patriarchat gedacht haben, ist nicht weniger spannend als die verschiedenen Erklärungsversuche, wie es zur Dominanz des einen über das andere Geschlecht gekommen ist.
Sainis umfassender Überblick über die Forschungsliteratur ist beeindruckend. Zudem lässt sie viele der von ihr zitierten Wissenschaftler:innen – von Soziologinnen und Historikern bis zu Biologinnen und Genetikern – selbst zu Wort kommen. Neue Erkenntnisse und Widersprüche ergänzt sie durch Fallbeispiele aus dem realen Leben. Auf dieser lesenswerten Tour d’Horizon dekonstruiert sie allgemein liebgewonnene und weithin etablierte Annahmen, die sich fast schon zu Mythen entwickelt haben. Oder sie bestätigt sie, sofern neueste Forschungsergebnisse dies zulassen.
Im Gesamten zeigt Saini auf, was immer wieder gerne vergessen wird: dass heutige Verhältnisse und Probleme sich nicht auf eine Ursache reduzieren und ebenso wenig mit einem simpel gestrickten Narrativ erklären lassen. Dafür sind der Mensch, seine Beziehungen und die Welt, in der er lebt, zu komplex. Die Suche nach den Ursprüngen des Patriarchats bleibt weiterhin spannend. Saini mahnt mit ihrem Buch gleichzeitig zur Vorsicht vor seinem Comeback.

David Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. München, 2021

Oft, wenn er als Bub ins Zimmer kam, schossen den Älteren seiner Angehörigen die Tränen in die Augen, so sehr erinnerte sie der kleine Daniel an Shmiel Jäger. Shmiel, das war der Bruder von Daniels Grossvater, und er, seine Frau Ester und die vier Töchter Lorka, Frydka, Ruchele und Bronia sind «von den Nazis umgebracht worden», wie die Familie jeweils sagte. Sie sind die sechs «Verlorenen», die Daniel Mendelsohns Buch den Titel geben. So machte sich Mendelsohn 2002 auf zu seiner ersten Reise nach Bolechow, das heute in der Ukraine liegt, wo Shmiel mit seiner Familie gelebt hatte. Ihr sollten viele weitere Reisen nach Israel, nach Prag, nach Riga, nach Sydney, nach Kopenhagen und nach Stockholm folgen. Zuerst wollte er erfahren, wie sie getötet wurden, doch mit der Zeit wollte er wissen, wie sie gelebt hatten.
Was Mendelsohn auf über 600 Seiten beschreibt, ist eine Recherche bis ins kleinste Detail. Er bleibt nahe dran, auch bei den schlimmsten «Geschehnissen», wie er es nennt. Er zeichnet die Begegnungen und Gespräche mit denen auf, die ihm noch etwas berichten konnten, wie es war in Bolechow, als die Deutschen dort wüteten, allzu oft mit Hilfe der Ukrainer, mit denen man jahrzehntelang in nächster Nachbarschaft gelebt hatte.
Das Buch, eine Mischung aus Reisebericht, Familiengeschichte, Anekdoten und Interviews, ist erschütternd und gleichzeitig wunderbar und warmherzig, auch wenn einige Gräueltaten sich wohl für immer ins Gedächtnis der Leser:innen einbrennen werden.

Anja Nora Schulthess: Das Packeis vermüllern. Die Zeitungen Eisbrecher und Brecheisen der Zürcher «Bewegig» zwischen Lust, Frust und Repression, 1980–1981. Zürich, 2023

Die Zürcher Achtziger Bewegung ist auf der Strasse entstanden und hat sich meist auf der Strasse abgespielt. Die Auseinandersetzung fand jedoch auch in den Medien statt. Um eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, produzierten Mitglieder der «Bewegig» Flugblätter, Filme und eben auch Zeitungen. Insbesondere dienten die Titel «Eisbrecher» und «Brecheisen/Brächise» von Oktober 1980 bis Mai 1981 als Bewegungszeitungen. Mit einer Auflage von 20’000 Exemplaren waren sie kurzfristig äusserst erfolgreich.
Neben Informationen über Aktionen der Bewegung und Repressionen des Staats hat der «Eisbrecher» zahlreiche ästhetische Mittel ausprobiert, um das Zürcher Packeis aufzubrechen. Sprichwörtlich ist das «Müllern» geworden, das heisst die Übersteigerung herkömmlicher Haltungen oder die satirische Umwandlung von vorherrschenden Sprechweisen. Das von einer jüngeren Generation der Bewegten gestaltete «Brecheisen» verwendete brachialere Mittel und druckte häufig Texte zur subjektiven Befindlichkeit der Schreibenden ab. Darin spiegelte sich auch eine Veränderung des politischen Umfelds und der Bewegten selbst: von der Lust zu Repression und Frust.
Das Buch von Anja Nora Schulthess ist ein Forschungsbeitrag zu einer Protestbewegung der jüngeren Schweizer Geschichte ebenso wie eine immer wieder vergnügliche Lektüre. Es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer im Jahr 2019 mit dem Jahrespreis des Sozialarchivs ausgezeichneten Masterarbeit.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

  • Pressegruppe Zürcher Jugendbewegung (Hg.): Eisbrecher/Brecheisen/Brächise 1980–1981 (Signatur D 2062)
  • Sachdossier zur Achtziger Bewegung (Dossier 36.3 C *2)
  • Videoarchiv «Stadt in Bewegung» (SozArch Ar Vid V)

Jenny Sprenger-Seyffarth: Kriegsküchen in Wien und Berlin. Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg. Bielefeld, 2023

In Wien und Berlin öffneten während des Ersten Weltkriegs hunderte Kriegsküchen, die in Zeiten der grössten Versorgungsnot täglich von hunderttausenden Menschen besucht wurden. Volksküchen hatte es schon vorher gegeben, diese stiessen teilweise aber auch auf einen gewissen Widerstand in der Gesellschaft. Die Einrichtung von Kriegsküchen von staatlicher Seite her war ab 1916 in den Städten zwingend, um dem sich mehr und mehr ausbreitenden Hunger zu begegnen. Mit dem Krieg erlebte die Massenverpflegung ausser Haus also einen beträchtlichen Aufschwung.
In ihrer ausführlichen Dissertation stellt Jenny Sprenger-Seyffahrt die Entstehung dieser öffentlichen Verpflegungsangebote und ihre Entwicklung über den Krieg hinaus erstmals umfassend dar. Dabei stellt sich heraus, dass nicht nur die ärmeren Schichten, sondern zunehmend auch der Mittelstand auf die neuen Einrichtungen angewiesen war. Die Autorin kann in ihrer Arbeit unter anderem auch zeigen, dass die öffentliche Massenverpflegung eine nachhaltige Veränderung der Mahlzeiteneinnahme in der Bevölkerung herbeiführte und die veränderten Essgewohnheiten mehr als nur eine «Zeiterscheinung» der Kriegsjahre waren.

11. Dezember 2023Susanne Brügger zurück