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Vor 105 Jahren: Der erste Zürcher Generalstreik

Am 2. August 1912 kommentierte Robert Grimm in der deutschen sozialdemokratischen Theoriezeitschrift „Die Neue Zeit“ den eintägigen Generalstreik, der rund zwei Wochen zuvor in Zürich stattgefunden hatte, folgendermassen: „Die am 12. Juli zutage getretene Solidarität der zürcherischen Arbeiterschaft – die um so höher anzuschlagen ist, als sprachliche Unterschiede, Verschiedenheiten des nordischen und südländischen Temperamentes überwunden werden mussten – wird nicht nur für die Arbeiterschaft Zürichs, sondern für das Proletariat der ganzen Schweiz den Ausgangspunkt zu einer neuen Etappe der Entwicklung sein und sie zu weiterer Machtentfaltung anspornen. Die Arbeiterschaft der Stadt Zürich hat weiter bewiesen, dass sie nicht leichtfertig eine derartige Massenaktion unternimmt und die Voraussetzungen für ihr Gelingen abzuwägen weiss. Und darin liegt die Garantie für die Wiederholung des Kampfes auf breiter Grundlage, sobald die objektiven Bedingungen dazu vorhanden sind.“ Grimm wertete den ersten Zürcher Generalstreik insgesamt also trotz des letztlichen Scheiterns der Branchenarbeitskämpfe, die durch den Generalstreik unterstützt werden sollten, als einen Erfolg, wies auf verschiedene Probleme hin, die erfolgreich überwunden worden waren, und machte auch deutlich, dass er den Generalausstand nicht als einmaliges Ereignis betrachtete, sondern als Modell für zukünftige Aktionen. Tatsächlich sollte der erste Zürcher Generalstreik nicht isoliert betrachtet, sondern in verschiedene zeitgenössische Zusammenhänge gestellt werden, bei denen sich lokale, nationale und transnationale Faktoren und Kontinuitäten überkreuzten.

Der Zürcher Generalstreik von 1912 war eines der markantesten Ereignisse in der streikintensivsten Zeitspanne der Schweizer Geschichte zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg. Dazu zählten etwa auch der Genfer Generalstreik von 1902, der Zürcher Streiksommer 1906, während dem im Anschluss an ein Militäraufgebot im Kontext des Streiks in der Automobilfabrik Arbenz in Albisrieden bereits ein Generalstreik diskutiert, aber verworfen wurde, der Winterthurer Bauarbeiterstreik von 1909/10, der als längster Streik der Schweizer Geschichte genau ein Jahr und einen Tag dauerte, sowie schliesslich der Landesstreik vom November 1918. Im Umfeld eines konjunkturellen Aufschwungs erlebte die Schweiz in den Jahren vor 1914 eine vorher ungesehene Streikwelle, die danach lediglich noch in der Krisenzeit von 1917 bis 1919 vor einem allerdings ganz anders gearteten Hintergrund ein Pendant fand. Im Jahre 1905 beteiligten sich 23’110 Personen an 167 Streiks, 1906 24’636 Personen an 264 Streiks und 1907 gar 31’927 Personen an 276 Streiks. Diese Ereignisse bescherten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung einen grossen Zulauf: Die Zahl der Mitglieder der im Schweizerischen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Verbände vervielfachte sich von rund 12’000 kurz vor der Jahrhundertwende auf über 86’000 im Jahre 1913 und der Wähleranteil der Sozialdemokratischen Partei bei Nationalratswahlen wuchs von 3,6% im Jahre 1890 auf 20% im Jahre 1911.

Zugleich entstanden in diesen Jahren auch erstmals eigentliche Arbeitgeberorganisationen auf Landesebene. Zwar hatten sich die lokalen und kantonalen Wirtschaftsverbände bereits zuvor zu nationalen Dachorganisationen zusammengeschlossen, diese waren aber primär wirtschafts- und nicht sozialpolitisch motiviert. Im Jahre 1905 wurde als Prototyp der auf arbeitsmarktliche Konflikte und sozialpolitische Fragen spezialisierten Verbände der Arbeitgeberverband schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller aus der Taufe gehoben. Bestehende Organisationen wie der Baumeisterverband strafften ihre Strukturen und gaben sich Streikreglemente. Zu ihren hauptsächlichen Kampfmitteln gehörten die Aussperrung, schwarze Listen, der Einsatz von Streikbrechern und Unterstützungskassen. 1908 wurde als Dachstruktur der Zentralverband schweizerischer Arbeitgeberorganisationen gegründet.

Den Auslöser des ersten Zürcher Generalstreiks stellten zwei lokale Branchenstreiks im Frühjahr 1912 dar. Am 19. März traten in der Stadt Zürich etwa 800 Maler in den Ausstand, am 1. April folgten ihnen die etwa 400 Schlosser. In beiden Branchen wurde eine Arbeitszeitverkürzung von täglich einer halben Stunde gefordert. Die beiden Arbeitskämpfe verliefen zunächst in den damals üblichen Bahnen: Die Streikenden postierten vor den bestreikten Arbeitsstellen Streikposten, die Arbeitgeber liessen in ihren Reihen schwarze Listen zirkulieren und versuchten, aus Deutschland importierte Streikbrecher einzusetzen. Die grenzüberschreitende Rekrutierung von „Arbeitswilligen“ war damals gang und gäbe und geschah etwa durch Inserate in der in- und ausländischen Presse, die Entsendung von Streikbrecheragenten in Nachbarländer und die Zusammenarbeit mit grenzüberschreitend tätigen Vermittlungsagenturen. Beispielsweise existierte in Zürich zwischen 1906 und 1908 eine von einem Elsässer geführte Streikbrecheragentur, die auch die antisozialistische „Gelbe Arbeiter-Zeitung“ herausgab. „Arbeitswillige“ für die Schweiz wurden in der Regel in Deutschland, Norditalien, Frankreich, Vorarlberg und Tirol rekrutiert, also in den Regionen, aus denen auch die sonstigen Arbeitsmigranten kamen. Ab der Jahrhundertwende wurde diese Praxis aufgrund des wachsenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades in diesen Regionen sowie der zunehmenden internationalen Vernetzung der Gewerkschaften indessen erschwert. So konnte es vorkommen, dass die Angeworbenen, sobald sie vom Streik an ihrem Destinationsort erfuhren, ebenfalls die Arbeit niederlegten und zu den Streikenden „überliefen“. Nebst der Rekrutierung von Streikbrechern in geografisch wie linguistisch weiter entfernten und gewerkschaftlich weniger gut erschlossenen Gebieten – während des Winterthurer Bauarbeiterstreiks 1909/10 etwa kamen Streikbrecher aus Slowenien, Kroatien, Galizien, Bosnien, Serbien und Makedonien in die Ostschweizer Industriemetropole – griffen bestreikte Arbeitgeber nun vermehrt auf Berufsstreikbrecher zurück, die von Organisationen wie der „Hintze-Garde“ und der Agentur Gauer in Berlin oder dem „Internationalen Arbeitsnachweis“ in Hamburg vermittelt wurden. Die häufig bewaffneten Berufsstreikbrecher rekrutierten sich aus den untersten Schichten der norddeutschen Grossstädte und entstammten teilweise dem kriminellen Milieu. Neben den Zürcher Streiks von 1912 gelangten sie etwa auch beim Streik in der Zürcher Möbelfabrik Aschbacher 1909, als es bei ihrer Ankunft rund um den Bahnhof Stadelhofen zu Tumulten kam, und beim Berner Sattlerstreik 1913 zum Einsatz. Nach dem Ersten Weltkrieg betätigten sich dann in mindestens zwei Fällen, Bauarbeiterstreiks in Yverdon 1925 und in Lausanne 1929, auch italienische Faschisten als Streikbrecher. Die Schweiz war im internationalen Streikbruchbusiness aber nicht nur Destinationsort, sondern auch Rekrutierungsgebiet. In den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg gab es bei Streiks im Deutschen Reich wiederholt Versuche, durch Inserate oder Agenten Streikbrecher im kleinen Nachbarland anzuwerben – teilweise mit Erfolg.

Die bewaffneten Berufsstreikbrecher aus Berlin stiessen 1912 in der Zürcher Arbeiterschaft auf vehemente Ablehnung, zumal sie sich auch durch ein als schamlos empfundenes Verhalten gegenüber Arbeiterinnen hervortaten. Wiederholt kam es zu Zusammenstössen zwischen Streikbrechern und Streikposten. Eine Eskalation trat Mitte April ein, als ein deutscher Berufsstreikbrecher den Streikposten Karl Wydler erschoss. Wydlers Beerdigung am 24. April wurde zu einer Massendemonstration, an der sich 5’000 Arbeiter beteiligten. Ende April sprach ein Gericht in Pfäffikon den Streikbrecher wegen Notwehr frei, was die Arbeiterbewegung als einen Akt der Klassenjustiz interpretierte. Nach der Verkündigung des Urteils beteiligten sich 9’000 Personen an einer Protestveranstaltung.

Beide Konfliktparteien suchten nun nach Unterstützung durch die kantonalen und städtischen Behörden. Die Arbeiterorganisationen verlangten erfolglos ein Einfuhrverbot ausländischer Streikbrecher. Stattdessen hatten die Behörden schon im April mit der Ausweisung ausländischer Streikender begonnen, darunter seit vielen Jahren in der Schweiz ansässiger Familienväter. Die Unternehmer drängten beim Regierungsrat auf ein Streikpostenverbot. Am 17. Juni forderte der Kantonsrat den Regierungsrat zum Einschreiten gegen die Streikposten auf. Dieser reichte das Begehren an den Stadtrat weiter, der am 6. Juli ein teilweises Streikpostenverbot erliess.

Damit hatten die Behörden in den Augen der Arbeiterorganisationen ihre Neutralität aufgegeben und sich auf die Seite der Arbeitgeber gestellt, womit fast automatisch das in jenen Jahren intensiv debattierte Thema Generalstreik auf den Tisch kam. Am 9. Juli befürwortete eine Delegiertenversammlung der Zürcher Arbeiterunion im Grundsatz einen 24-stündigen Generalstreik gegen das Streikpostenverbot. Die Gewerkschaften stimmten in der Folge in gesonderten Versammlungen mit insgesamt 6’200 gegen 800 Stimmen zu. Am 11. Juli fasste die Arbeiterunion mit 295 gegen 170 Stimmen den Beschluss, für den folgenden Tag den Generalstreik auszurufen. Allerdings sprachen sich die sozialdemokratischen Parteiführer und Behördenmitglieder mehrheitlich gegen diese Form des Protests aus. Die Druckergewerkschaft Typographia lehnte eine Beteiligung am Generalstreik ab, so dass die bürgerlichen Blätter normal erscheinen konnten.

Der Generalstreik begann am Freitag, 12. Juli 1912, um 9 Uhr mit einer Protestversammlung auf der Rotwandwiese in Aussersihl, an der sich zwischen 15’000 und 23’000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten. Anschliessend formierte sich ein Demonstrationszug durch die Stadt. Der Tramverkehr wurde durch Besetzung der Depots lahmgelegt und am Freitagnachmittag war es auf den Strassen der Limmatstadt ruhig wie an einem Sonntag. Arbeiterfamilien schlenderten in der Bahnhofstrasse oder verweilten in den Grünanlagen der Aussenquartiere. Auf Anordnung der Streikleitung, die jegliche Eskalation unbedingt verhindern wollte, herrschte während des ganzen Tages in den Arbeiterkneipen ein striktes Alkoholverbot. Robert Grimm, der über die Vorgänge in Zürich offenbar nicht vollständig auf dem Laufenden war, wurde am Morgen des Streiktages von der Streikleitung telefonisch eingeladen und hielt am Nachmittag vor 18’000 Personen eine Rede. Derweil versammelten sich im grossen Tonhallensaal auf Einladung des Bürgerverbands Zürich und der Industrie-, Gewerbe- und Handelsverbände etwa 3’000 Personen zu einer Gegenversammlung. Insgesamt verlief der Streiktag friedlich und ohne Zwischenfälle.

Unternehmer und Behörden reagierten auf den Generalstreik prompt und massiv. Noch am 12. Juli verkündeten die Arbeitgeber als Vergeltung eine zweitägige Aussperrung für Samstag, 13. Juli, und Montag, 15. Juli. Der Zürcher Regierungsrat bot im Einvernehmen mit dem Bundesrat drei Füsilier-Bataillone und eine Kavallerieschwadron, insgesamt etwa 3’000 Mann, als Ordnungstruppen auf. Das Grossaufgebot von Polizei und Militär war kein Einzelfall. In aller Regel erschienen zu jener Zeit bei Streiks Polizeikräfte auf dem Platz, die sich aber in der überwiegenden Zahl der Fälle passiv verhielten. Zwischen 1880 und 1914 intervenierte die Polizei bei 193 Streiks, das heisst 8% der Fälle, aktiv ins Geschehen und machte neun Mal von der Schusswaffe Gebrauch. Aufgrund der teilweise noch kleinen kantonalen und kommunalen Polizeikorps kamen auch wiederholt Armeeeinheiten zum Einsatz. Die ersten Militäraufgebote im Streikkontext ereigneten sich bereits 1868/69 in Lausanne, Genf und Basel. 1875 gab es bei einem Tunnelarbeiterstreik in Göschenen erstmals bei einem Armeeeinsatz vier Tote sowie zwölf Schwerverletzte. Im selben Jahr wurden Armeeeinheiten auch bei Streiks in Wohlen und im Solothurner und Baselbieter Jura eingesetzt. Grössere militärische Ordnungseinsätze gab es sodann in den Jahren 1898 (Genfer Bauarbeiterstreik), 1899 und 1901 (Streiks der Simplon-Tunnelarbeiter), 1902 (Genfer Generalstreik), 1903 (Basler Maurerstreik), 1904 (Maurerstreik in La Chaux-de-Fonds und Rickentunnelstreik), 1905 (Metallarbeiterstreik in Rorschach), 1906 (Arbenzstreik in Zürich) und 1907 (Metallarbeiterstreik in Hochdorf, Maurerstreik in St. Moritz, Generalstreik in der Waadt). Insgesamt wurde zwischen 1880 und 1914 wegen Arbeitskämpfen 38 Mal Militär aufgeboten oder auf Pikett gestellt, wobei der Einsatz in 22 Fällen über blosse Bewachungsaufgaben hinausreichte. Die zahlreichen Streikeinsätze der Armee waren ab der Jahrhundertwende ein ständiges Thema in den militärpolitischen Debatten der SP, die seit ihrer Gründung 1888 die militärische Landesverteidigung grundsätzlich befürwortet, aber stets Reformen der Armee gefordert hatte und seit etwa 1905 einen erstarkenden antimilitaristischen Flügel besass.

Zusätzlich zum Truppenaufgebot erliessen die Zürcher Behörden auf den 12. Juli 1912 auch ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot und kündigten die Massregelung streikender städtischer Beamter an. Im Anschluss an den Generalstreik erfolgten polizeiliche Hausdurchsuchungen bei allen Sekretariaten der Arbeiterorganisationen in der Stadt Zürich. Am 15. Juli wurde das Volkshaus von Polizei und Militär besetzt, der Vorstand der Arbeiterunion verhaftet und das offenbar als Revolutionszentrale wahrgenommene Gebäude fünf Stunden lang durchsucht. Allerdings waren die wesentlichen Dokumente zum Generalstreik bereits zuvor von jungen Arbeiterinnen herausgeschmuggelt worden. Erst am Dienstag, 16. Juli, wurde die Arbeit in der Stadt Zürich allgemein wieder aufgenommen. Am folgenden Tag entliess die Kantonsregierung die aufgebotenen Ordnungstruppen. Am 18. Juli erfolgte die Ausweisung von 13 Ausländern, die sich beim Streik führend beteiligt hatten, und die Entlassung von Streikführern im städtischen Personal. Die Streiks der Maler und Schlosser wurden schliesslich ergebnislos abgebrochen.

Im Rahmen der Arbeiterunion Zürich formierte sich in der Folge ein Unterstützungskomitee für die wegen der Beteiligung am Generalstreik Gemassregelten und Angeklagten, das bis etwa 1915 aktiv blieb. Bereits in den ersten drei Wochen nach dem Generalstreik wurden 10’000 Franken Spendengelder gesammelt. Am 24. Juli 1912 fand im Velodrom in Wiedikon eine grosse Protestversammlung gegen die Massregelungen statt, an der sich 4’000 Personen beteiligten. Noch 1912 wurde der Zürcher Generalstreik in Jakob Lorenz’ Schwank „Der Generalstreik oder die Zürcher Bürgerwehr“ auch literarisch verarbeitet. Lorenz, zu jener Zeit Sozialdemokrat und wissenschaftlicher Adjunkt des Schweizerischen Arbeitersekretariats, später dann Soziologieprofessor und Vertreter eines autoritär-korporatistischen Katholizismus, gab in dem Stück einen versoffenen und grossmäuligen Gewerbler der Lächerlichkeit preis und führte als männlichen Helden einen deutschen Gewerkschafter ein, der über die Agitation für die proletarische Solidarität der Serviertochter eines stramm bürgerlichen Wirtshauses näher kommt. Auch international wurde das Ereignis beachtet. So bat etwa das „sociale Sekretariat & Bibliotek“ Kopenhagen den eidgenössischen Arbeitersekretär Herman Greulich um Übersendung des regierungsrätlichen Berichts zum Generalstreik.

Der Zürcher Generalstreik von 1912 bettete sich ein in eine intensive Debatte um den Massenstreik in der internationalen Arbeiterbewegung. Das Mittel des Generalstreiks war bereits im frühen 19. Jahrhundert von der britischen Reformbewegung der Chartisten diskutiert worden. William Benbows Schrift „Grand National Holiday and Congress of the Productive Classes“ hatte 1832 den Generalstreik als Mittel zur Durchsetzung einer demokratischen Wahlrechtsreform propagiert. Ein 1839 von den Chartisten geplanter Generalstreik wurde abgesagt, drei Jahre darauf kam es aber in weiten Teilen Grossbritanniens zu Massenstreiks („Plug Plot Riots“) mit Lohn- und Arbeitszeitforderungen, an denen sich etwa eine halbe Million Fabrik- und Bergarbeiter beteiligten. Der Bezug dieser Arbeitsniederlegungen zum Chartismus ist umstritten. 1868 bezeichnete die Erste Internationale in einem Beschluss den Generalstreik als geeignetes Mittel zur Verhinderung künftiger Kriege. In den theoretischen Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden zur Massenstreikfrage grob drei unterschiedliche Positionen vertreten: Marxistische Sozialdemokraten sahen in ihm ein Abwehrmittel, für reformerische Syndikalisten war er sowohl Abwehrmittel als auch Mittel zur Durchsetzung noch nicht erreichter Rechte und die Anarchisten propagierten ihn als direkten Angriff auf den Klassenstaat und als Beginn der sozialen Revolution. Die Zweite Internationale, in der sich vor allem französische Sozialisten für den Massenstreik stark machten, lehnte auf ihren Kongressen von 1896 und 1900 internationale Generalstreiks als Kampfmittel ab. Auf dem Kongress von 1904 erfolgte dann die Anerkennung des Massenstreiks als äusserstes Mittel zur Abwehr von Angriffen auf die Arbeiterrechte oder Herbeiführung bedeutender gesellschaftlicher Veränderungen. Die Idee, durch einen internationalen Generalstreik einen drohenden europäischen Grosskrieg am Ausbruch zu hindern, tauchte in diesen Debatten immer wieder auf.

Konnte davon im Sommer 1914 dann bekanntlich keine Rede sein, so hatte es in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten auf nationaler und regionaler Ebene eine ganze Reihe von teilweise erfolgreichen Generalstreiks gegeben. Bereits 1893 fand in Belgien ein Generalstreik für die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts statt; gewährt wurde schliesslich ein allgemeines, aber ungleiches Männerwahlrecht. Ein neuerlicher Generalstreik für das gleiche Wahlrecht im Jahre 1902 wurde von Polizei und Militär unterdrückt. Um die Jahrhundertwende fanden auch Generalstreiks in Schweden, den Niederlanden, Spanien und Italien statt. Während der russischen Revolution von 1905, die im Zusammenhang mit einem erfolglosen Krieg gegen Japan ausbrach und zur Einrichtung eines (allerdings schwachen und nicht demokratisch gewählten) Parlaments führte, gab es im Oktober und Dezember in den russischen Metropolen mehrere Generalstreiks. Gleichzeitig fanden im November 1905 in verschiedenen österreichischen Städten Massenstreiks für die Demokratisierung des Wahlrechts statt. Im Juni 1906 führte dann bereits die Androhung neuer Massenstreiks zur Gewährung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts in der österreichischen Reichshälfte der Donaumonarchie.

Während und nach der russischen Revolution von 1905 intensivierte sich in der europäischen Arbeiterbewegung die Debatte über den politischen Massenstreik. In der deutschen Sozialdemokratie waren die Meinungen gespalten. Auf dem Parteitag von 1905 rief Rosa Luxemburg als Wortführerin des linken Flügels aus: „Wir sehen die russische Revolution, und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten.“ Das Parteizentrum um den in Zürich lebenden August Bebel befürwortete den Massenstreik indessen nur im Notfall und setzte sich bei den Delegierten mit dieser Position durch. Im Jahr darauf warnte Karl Kautsky vor einer Parallelisierung Deutschlands und Russlands und sah im politischen Massenstreik in Russland eine Art Naturereignis, das auf die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes zurückzuführen sei. Demgegenüber übte Rosa Luxemburg in einer Broschüre mit dem Titel „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ Kritik an SPD und Gewerkschaften. Das russische Beispiel habe gezeigt, dass sogar ein wenig organisiertes Proletariat jahrelange Kämpfe auszufechten imstande sei, während die wohlorganisierte deutsche Arbeiterschaft nur sporadisch in Streiks in Erscheinung trete. Im Jahre 1907 diskutierte der Kongress der Zweiten Internationale den Massenstreik als Mittel zur Abwendung eines drohenden Krieges und einigte sich diesbezüglich auf eine Kompromissformel. Drei Jahre später lehnte er die explizite Erwähnung des Generalstreiks als Anti-Kriegsmittel ab. Zeitlich zusammen mit der europäischen Debatte um den politischen Massenstreik fiel die Entstehung von Gandhis Konzept des zivilen Ungehorsams („Satyagraha“), welches er erstmals 1906 als Rechtsanwalt in Südafrika im Kampf um politische Rechte der dortigen Inder propagierte und das auch das Mittel des Streiks beinhaltete. Inwiefern hier ein globalhistorischer Zusammenhang besteht, ist m. W. noch nicht untersucht.

Die theoretischen Debatten und praktischen Generalstreikerfahrungen hatten auch Auswirkungen auf die Schweiz. In der Schweizer Presse fanden sich im frühen 20. Jahrhundert immer wieder Berichte über nationale und lokale Generalstreiks im Ausland. Während des einmonatigen schwedischen Generalstreiks von 1909 organisierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit Unterstützung der SP und des Grütlivereins eine Hilfsaktion, bei der innerhalb von zwei Wochen 6’000 Franken Spendengelder zusammenkamen. Dasselbe Ereignis hatte auch bei den helvetischen Arbeitgebern Resonanz: An der Delegiertenversammlung 1910 des Zentralverbandes schweizerischer Arbeitgeberorganisationen hielt Verbandssekretär Otto Steinmann ein Referat, das sich detailliert den „Lehren“ aus dem schwedischen Generalstreik widmete. Insbesondere befürwortete Steinmann einen Arbeitgeber-Kampffonds, eine stärkere Zentralisierung der Arbeitgeberorganisationen sowie ein Streik- und Koalitionsverbot für Arbeiter und Angestellte von Infrastrukturbetrieben, unabhängig davon, ob sich diese in öffentlicher oder privater Hand befanden.

In der Schweizer Arbeiterbewegung war die Generalstreikidee umstritten. Bezeichnete Herman Greulich 1903 Generalstreiks als „nichtsbewirkende Geplänkel“ und „Kinderphantasien“, so befürwortete Robert Grimm drei Jahre darauf den politischen Massenstreik als Mittel zur Systemveränderung in Ergänzung des Parlamentarismus. Eine Umfrage unter den Gewerkschaften zeigte 1912 eine ähnliche Skepsis gegenüber der Generalstreikidee wie bei den deutschen Bruderorganisationen. Der SP-Parteitag von 1913 lehnte den „sogenannten revolutionären Generalstreik“ ab, befürwortete aber Massenstreiks „als Notwehr- und Protestaktion“ zur Verhinderung von „Massnahmen der Behörden, durch die gemeinsame Lebensinteressen oder unentbehrliche Rechte und Freiheiten der Arbeiterklasse ernsthaft bedroht werden“, oder „in solchen Fällen, wo die Arbeiterklasse in ihrem Ehrgefühl derart verletzt wurde, dass das Ansehen der Organisation durch kein anderes Protestmittel besser gewahrt werden kann“.

Parallel dazu gab es in der Schweiz zwischen 1902 und 1912 eine Reihe von lokalen Generalstreiks. Der erste entzündete sich im Oktober 1902 in Genf an einem Arbeitskonflikt bei der Strassenbahn, die sich in privatem, britischem Besitz befand und deren amerikanischer Manager ältere Angestellte durch jüngere, billigere Kräfte ersetzen wollte. Nach Massregelungen gegen streikende Strassenbahner löste der Genfer Gewerkschaftsbund einen Generalstreik aus, um die Kantonsregierung zum Eingreifen zu bewegen. Etwa 15’000 Personen schlossen sich dem Ausstand an. Die Regierung bot 2’500 Mann Ordnungstruppen auf. Nach drei Tagen und zahlreichen Zusammenstössen zwischen Demonstrierenden und Ordnungstruppen wurde der Generalstreik erfolglos abgebrochen; etwa 100 Strassenbahner verloren ihre Stelle. Nach Ende des Generalstreiks fand in Genf ein Defilee der Ordnungstruppen statt, das ähnlich polarisierte wie 16 Jahre später der entsprechende Vorgang in Zürich nach dem Ende des Landesstreiks. Die Streikwelle von 1905 bis 1907 mündete in weitere lokale Generalstreiks. 1906 gab es in Basel und Zürich Generalstreikforderungen zur Unterstützung lokaler Arbeitskämpfe, die indessen nicht in die Realität umgesetzt wurden, während es in Neuchâtel in der Tat zu einem Generalstreik kam. Im folgenden Jahr gab es Generalstreiks in Genf und im Kanton Waadt mit Schwerpunkten auf Lausanne, Vevey und Montreux. Ebenso fand ein Generalstreik in Hochdorf statt. 1910 gab es einen Generalstreik in Arosa.

Der Zürcher Generalstreik von 1912 war damit lediglich ein Glied in einer Ereigniskette, die schliesslich im November 1918 in den Landesstreik hineinführen sollte. Dazwischen lagen weitere Protestaktionen in der zweiten Kriegshälfte, die sich hauptsächlich um die Versorgungs- und Teuerungsproblematik drehten. Am 30. August 1917 gab es einen überregionalen halbtägigen Generalstreik, bei dem in den meisten grösseren Städten während der Arbeitszeit grosse Teuerungsdemonstrationen stattfanden. Diese Aktion trug dazu bei, dass ab Herbst 1917 endlich die wichtigsten Nahrungsmittel rationiert wurden. Am 8. und 9. Juli 1918 traten in Lugano rund 3’000 Arbeiter zur Unterstützung streikender Nebenbahn-, Tram- und Dampfschiffangestellter in den Ausstand. Die Streikforderungen, welche Lohnerhöhungen und eine gerechtere Verteilung rationierter Lebensmittel umfassten, wurden nach Verhandlungen vor dem kantonalen Einigungsamt teilweise erfüllt. Und als am 30. September 1918 das Zürcher Bankpersonal in einen aufsehenerregenden Streik für höhere Löhne und die Anerkennung des Bankpersonalverbands trat, rief die Zürcher Arbeiterunion zu einem lokalen Generalstreik zur Unterstützung der Bankangestellten auf, deren Forderungen am zweiten Streiktag vollumfänglich bewilligt wurden.

Der November 1918 bedeutete noch nicht das Ende der helvetischen Generalstreikgeschichte. Ein im Juni 1919 in Genf proklamierter Generalstreik wurde wenig befolgt, am 7. Juli kam es aber in Bern anlässlich des Haftantritts von Robert Grimm, der im Landesstreikprozess zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden war, zu einem halbtägigen Generalstreik. Anfang August 1919 gab es Generalstreiks in Basel und Zürich, bei denen Ordnungstruppen in Basel fünf und in Zürich einen Demonstranten töteten. Einen weiteren Generalstreikversuch gab es im November 1932, nachdem in Genf bei einer linken Demonstration gegen die faschistische Union Nationale militärische Ordnungstruppen 13 Personen getötet und über 60 weitere verletzt hatten. Die Genfer Gewerkschaftsunion proklamierte daraufhin einen eintägigen Generalstreik, der nur teilweise befolgt wurde. Der Versuch der Kommunistischen Partei, deren Genfer Vorsitzender Henri Fürst eines der Todesopfer war, einen landesweiten Generalstreik zu lancieren, scheiterte vollkommen. Sehr viel erfolgreicher war sechs Jahrzehnte später der landesweite Frauenstreiktag vom 14. Juni 1991, bei dem eine halbe Million Frauen die Arbeit niederlegten (vgl. SozialarchivInfo 2/2016). Die Beteiligung war damit in absoluten Zahlen fast doppelt so hoch wie beim Landesstreik. Aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Verankerung des Gleichberechtigungsartikels in der Bundesverfassung hatte der Schweizerische Gewerkschaftsbund zum Protest gegen die zögerliche Umsetzung des Verfassungsartikels und anhaltende Ungleichheiten in zahlreichen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aufgerufen. Die meisten Frauenorganisationen des Landes schlossen sich an. Im ganzen Land beteiligten sich Frauen an vielfältigen Streikaktionen und tauchten Strassen und Plätze in ein Meer von Lila.

Materialien zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 2.50.4 Arbeiterunion Zürich, Gewerkschaftskartell Zürich, GBZ: Generalstreik 1912: Akten des Unterstützungskomitees
  • Ar 2.50.5 Arbeiterunion Zürich, Gewerkschaftskartell Zürich, GBZ: Generalstreik 1912: Zeitungsausschnitte
  • Ar 2.50.7 Arbeiterunion Zürich, Gewerkschaftskartell Zürich, GBZ: Generalstreik 1912: Akten 1912–1915
  • Ar 170.15.17 Nachlass Herman Greulich: Diverse Dokumente
  • Ar 422.84.4 SMUV Sektion Zürich: Spengler

Sachdokumentation

  • KS 331/255a Generalstreik Zürich 1912
  • KS 331/255b Generalstreik Zürich 1912: Nachlass Otto Lang

Bibliothek

  • 54290 Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich: Schweizerische Arbeiterbewegung: Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart. Zürich 1975.
  • Gr 5438 Balthasar, Andreas et al. (Hg.): Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914: Soziale Lage, Organisation und Kämpfe von Arbeitern und Unternehmern, politische Organisationen und Sozialpolitik, Bd. II/2. Zürich 1988.
  • 95554 Eigenheer, Susanne: Bäder, Bildung, Bolschewismus: Interessenkonflikte rund um das Zürcher Volkshaus 1890–1920. Zürich 1993.
  • 91199 Frei, Annette: Die Welt ist mein Haus: Das Leben der Anny Klawa-Morf. Zürich 1990.
  • 38424 Gautschi, Willi: Der Landesstreik 1918. Zürich 1968.
  • 78028 Goodstein, Phil H.: The Theory of the General Strike from the French Revolution to Poland. Boulder 1984.
  • 36444 Grimm, Robert: Der politische Massenstreik: Ein Vortrag. Basel 1906.
  • NN 154 Grimm, Robert: Der Generalstreik in Zürich, in: Die Neue Zeit 30/2 (1912).
  • 42416 Grunenberg, Antonia (Hg.): Die Massenstreikdebatte. Frankfurt/M 1970.
  • GR 3103 Jacob, Urs: Der Zürcher Generalstreik vom 12. Juli 1912, Teil I: Allgemeine und besondere Vorgeschichte bis zur Streikdebatte im Kantonsrat von Anfang Juni 1912. Unpubl. Lizentiatsarbeit, Universität Zürich 1977.
  • MFB 31 Klassenurteil, in: Gewerkschaftliche Rundschau 4 (1912). S. 86-88.
  • 121626 Koller, Christian: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950). Münster/Wien 2009.
  • D 5429 Koller, Christian: Local Strikes as Transnational Events: Migration, Donations, and Organizational Cooperation in the Context of Strikes in Switzerland (1860–1914), in: Labour History Review 74/3 (2009). S. 305-318.
  • N 2463 Lang, Karl: La grève générale de 1912 à Zurich, in: Cahiers Vilfredo Pareto 42 (1977). S. 129-141.
  • 100168 Ragaz, Leonhard: Der Zürcher Generalstreik vom 12. Juli 1912, in: Eingriffe ins Zeitgeschehen: Reich Gottes und Politik: Texte von 1900–1945. Hg. Ruedi Brassel und Willy Spieler. Luzern 1995, S. 102-111.
  • 55987 Schaffner, Alfred: Wirtschaftslage, gewerkschaftliche Organisation, Streikhäufigkeit und ihre Beziehung zueinander: Eine Untersuchung am Beispiel der Stadt Zürich 1897–1915. Aarau 1977.
  • 331/247-2 Steinmann, Otto: Betrachtungen über den Schwedischen Generalstreik des Jahres 1909. o. O. u. J. [1910].
  • 23569 Traber, Alfred: Vom Werden der zürcherischen Arbeiterbewegung: Jubiläumsschrift der Sozialdemokratischen Partei Zürich 4. Zürich 1957.
  • Gr 12817 Traber, Alfred: Ich war der „Trämlergeneral“: Rückblick auf mein Leben. Zürich 2011.
  • 90235 Zeller, René: Ruhe und Ordnung in der Schweiz: Die Organisation des militärischen Ordnungsdienstes von 1848 bis 1939. Bern 1990.
28. August 2017Christian Koller zurück