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In weiten Räumen denken – rund um einen «Central-Park»

Stadtplanung ist nicht nur etwas für Spezialisten. Und Stadtplanung geht über die Kernstädte hinaus. Das diesjährige Veranstaltungsprogramm des Schweizerischen Sozialarchivs bietet eine breite Palette von Veranstaltungen zum Thema «In weiten Räumen denken». Die urbane Entwicklung im Grossraum Zürich am Beispiel Uster verstehen und in Begehungen konkret ablesen können, das ist das Ziel der Veranstaltungsreihe. Den Auftakt machte Professor Thomas Sieverts, Architekt und Stadtplaner aus Bonn, mit seinem Vortrag am 1. Juni 2010 im Stadthaus Uster.

In der Schweiz leben heute zwei Drittel der Menschen weder in der Stadt noch auf dem Land, sondern irgendwo dazwischen. Als Thomas Sieverts in den 1960er Jahren begonnen hatte, sich mit den Vorstädten zu beschäftigen, wurde er belächelt. Heute ist er im deutschsprachigen Raum einer der grossen Spezialisten für das Thema Agglomeration. 1997 prägte er für diese ungeliebten und oft übersehenen Stadtlandschaften mit seinem wegweisenden Buch den Begriff der «Zwischenstadt».

Weit über eine Million Menschen leben in der Agglomeration Zürich. Allein 300’000 wohnen in 27 Gemeinden entlang der S-Bahn S5 zwischen Zürich-Stadelhofen und Pfäffikon (SZ). «Das ist mehr als eine Ansammlung von einzelnen Dörfern», sagt Thomas Sieverts, «das ist eine eigene Grossstadt.»

Ent-Täuschung: keine S5-Stadt in den Köpfen

Seit einem Jahr ist Thomas Sieverts wissenschaftlicher Leiter des interdisziplinären Projekts «S5-Stadt. Agglomeration im Zentrum» des ETH Wohnforum ETH-CASE (www.s5-stadt.ch). An seinem Vortrag im Stadthaus von Uster gab er einen Überblick zu den Forschungsresultaten. Eines der wichtigsten sei, dass die Menschen im Gebiet der so genannten S5-Stadt diese nicht als Stadt wahrnehmen. Es gebe keine gemeinsamen Vorstellungen und schon gar keine gemeinsamen inneren Bilder eines urbanen Gebietes, so Sieverts, und er gibt zu: «Das ist eine Ent-Täuschung. Die These einer S5-Stadt war kühn, die Resultate sind ernüchternd.»
Das Gebiet umfasse durchaus viele urbane Elemente. Früher sei die Stadt durch die räumliche Nähe definiert worden, heute – bei der «Netzstadt» – sei es die zeitliche Nähe. Zwölf Minuten dauert die Fahrt zwischen den Stadtzentren von Zürich und Uster, «das ist keine Distanz mehr», so Sieverts, doch brauche es für einen urbanen Raum auch eine gemeinsame Vorstellung und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Die Untersuchung der unterschiedlichen Politikstile im Einzugsgebiet der S5 zeige ebenfalls, dass diese gemeinsamen Vorstellungen fehlen. Auf der einen Seite gebe es durchaus eine urbane Politik, etwa in den Gemeinden Wetzikon oder Uster. Andererseits sei in den kleineren Gemeinden, so die Resultate der Forschung, die Bereitschaft für eine planerische Zusammenarbeit über die Gemeindegrenzen hinaus minimal.

Vom Wert der Ränder rund um einen «Central-Park»

Ein weiteres Resultat, so Sieverts, sei die Erkenntnis, dass die  Bewohner/-innen für die Qualitäten der Region durchaus Wertschätzung zeigen. Dabei würden die Ränder zunehmend an Wert gewinnen: Wohnlagen am Rand zu den offenen Landschaften, die gut ans örtliche Verkehrsnetz angeschlossen sind sowie Schulen und Einkaufsmöglichkeiten in Gehdistanz bieten, das seien im neuen urbanen Raum zwischen den Kernstädten die begehrtesten Lagen. Das nachbarschaftlich geprägte Quartier sei hingegen keine soziale Grösse mehr, auf die Bezug genommen würde. Sieverts gibt für die Zukunft zu bedenken, dass dieser Raum ohne Planung jedoch bald nur noch eine zerrissene Landschaft, eine gesichts- und scheinbar auch geschichtslose Agglomeration oder ein unappetitlicher Siedlungsbrei sein würde.

Die Grundlagen seien nun erforscht, so Sieverts, jetzt müssten die Resultate zurück in die Region getragen und breit diskutiert werden, wozu die verschiedenen Transferveranstaltungen weite Räume zum Denken böten. Er selbst entwickelte mit dem Team des ETH-Wohnforums – ETH CASE die Idee einer zentralen Landschaftsanlage mitten im Gebiet der so genannten S5-Stadt, eine Verbindung der verschiedenen Landschaftsoasen zu einer zusammenhängenden «Aggloase» oder einem regionalen «Central-Park».

Sieverts’ Vortrag und Vision hatten berührt, das kam bei den Fragen und Voten aus dem Publikum zum Ausdruck. Zurück zur Vorstellung einer Ansammlung von Dörfern führe kein Weg, wurde festgehalten, auf welchem Geleise der Zug in die Zukunft fahre, sei aber noch unklar. Am Schluss der Veranstaltung ergriff Martin Bornhauser, Stadtpräsident von Uster, das Wort. Offensichtlich hatten auch ihn die weiten Räume beeindruckt, in welchen Thomas Sieverts denkt. Für die Zerrissenheit seien zu einem grossen Teil die Politiker verantwortlich, die nur bis zur Gemeindegrenze denken würden, und er folgerte: «Wir müssen die Zusammenarbeit auf politischer Ebene radikal neu denken.»

Martin Widmer

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