… und die Spanische Grippe im Sozialarchiv
Im Dossier 64.0 *8 «Medizin: Krankheiten» sowie im Dossier 64.0 *71 «Tuberkulose» finden sich interessante Dokumente zum Thema Epidemien und deren Bekämpfung, die in diesem Winter 2019/20 bei der Lektüre eine unwillkommene Aktualität entfalten.
Die Schweizer Stimmbevölkerung hat zuletzt am 22. September 2013 über das geltende Epidemiengesetz (« Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten ») abgestimmt. Es wurde mit 60 % Ja-Stimmen deutlich angenommen. Strittiger Punkt war vor allem ein « allfälliges, befristetes Impfobligatorium » für besonders exponierte Personen, in der Terminologie der GegnerInnen der « Impfzwang ». Mit dem Gesetz wurde für Krisensituationen zudem neu auch die « besondere Lage » (neben der « normalen » und der « ausserordentlichen Lage ») eingeführt. Eine « besondere Lage » kann eintreten, wenn die Kantone bei der Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten an ihre Grenzen stossen oder aber wenn die WHO eine internationale Gefahrenlage feststellt. Und: Der Bundesrat kann bereits bei einer « besonderen Lage » Massnahmen anordnen, wie Ende Februar 2020 mit dem Verbot von Massenveranstaltungen erstmals geschehen. Nur eine Minderheit schätzte diese Kompetenzerweiterung des Bundes vor knapp sieben Jahren als « Gesundheitsdiktatur » ein. Bereits hundert Jahre zuvor, am 4. Mai 1913, stimmte die Schweiz über eine Revision von Artikel 69 der Bundesverfassung ab, der « im Sinne vermehrter Befugnis des Bundes bei der Bekämpfung menschlicher und tierischer Krankheiten » geändert wurde. Sie wurde damals vom Stimmvolk mit 60.3 % gutgeheissen.
An der Impffrage, bereits in ihren frühesten Zeiten eine regelrechte Glaubensfrage, schieden sich übrigens schon im 19. Jahrhundert die Geister. So war der Impfzwang (für die Pocken) ausschlaggebend für das Scheitern des nationalen Epidemiengesetzes an der Urne am 30. Juli 1882. Das « Bundesgesetz betreffend Massnahmen gegen gemeingefährliche Epidemien » wurde seinerzeit mit 78.9 % Nein-Stimmen bachab geschickt. Speziell die damals grassierende Tuberkulose betreffend stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung am 22. Mai 1949 über eine «Ergänzung des Bundesgesetzes vom 13. Juni 1928 betreffend Massnahmen gegen die Tuberkulose» ab, mit welcher zum einen der Bundesrat dazu ermächtigt werden sollte, im Sinne der Präventivmedizin für die gesamte Bevölkerung periodische obligatorische Untersuchungen (mit dem Schirmbildverfahren) anzuordnen, deren Durchführung in der Zuständigkeit der Kantone läge. Zum anderen sollte mit dem Gesetz die Zwangsisolierung ansteckungsgefährlicher Personen geregelt werden. Im gleichen Gesetz war als sozialpolitische Massnahme zudem die Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung für wenig bemittelte Personen vorgesehen. Die «Zwangsmassnahmen für die Tuberkulosebekämpfung» wurden von den Gegnern als «Eingriffe in die persönliche Freiheitssphäre des Bürgers» aufgefasst, und die Vorlage wurde mit 75.2 % Nein-Stimmen überaus klar verworfen.
Vor gut hundert Jahren wütete bekanntlich die Spanische Grippe. Die Pandemie, ausgelöst durch ein besonders aggressives Influenzavirus (Subtyp A/H1N1), von dem eine Variante im Jahr 2009 die «Schweinegrippe»-Pandemie verursachte, betraf auch das Schweizerische Sozialarchiv, das damals noch «Zentralstelle für soziale Literatur der Schweiz» hiess und am Predigerplatz 35 zu Hause war. Im «Jahresbericht pro 1918» lässt sich dazu Folgendes nachlesen:
«Als gegen Ende des Jahres die Grippe auftrat und die Kohlen ausblieben, griff eine pessimistische Stimmung Platz, die im Leselokal bald durch einen stark erhöhten, bald durch einen schwächeren Besuch ihren Ausdruck fand. Die weit verbreitete Krankheit, von der auch der Bibliothekar heimgesucht wurde, zwang uns, die Bibliothek während einiger Wochen geschlossen zu halten. Im ganzen genommen war die Frequenz jedoch sehr gut.»
Der Jahresbericht 2020 ist noch nicht geschrieben… – Kommen Sie gut durch die nächste Zeit und bleiben Sie gesund!