Herman Greulich (1842-1925) gehörte zu den Wegbereitern der schweizerischen Arbeiterbewegung und zu einer ihrer bedeutendsten Persönlichkeiten. Sein schriftlicher Nachlass galt als verschollen, wenngleich das Schweizerische Sozialarchiv, das IISG in Amsterdam und das Archiv des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes über Nachlasssplitter und Fragmente verfügen. Was an persönlichen Dokumenten in der Familie noch vorhanden war, hat alt Bundesrichter Herman Schmidt, ein direkter Nachfahre von Herman Greulich, in langjähriger Arbeit zusammengetragen, inventarisiert, kommentiert und dem Schweizerischen Sozialarchiv übergeben. Wie sich jetzt zeigt, ist der Nachlass Greulich viel umfangreicher, vielfältiger und gehaltvoller, als es erwartet werden durfte.
Geschichte der Dokumente
Herman Greulich wurde 1887 zum ersten vollamtlichen Sekretär des Schweizerischen Arbeitersekretariats gewählt, eine Stellung, die er bis zu seinem Tod innehatte. Die Akten des Arbeitersekretariats wurden von Greulichs letztem Mitarbeiter Emil Leuenberger aus dem Büro im St. Annahof zum Schweizerischen Gewerkschaftsbund nach Bern gezügelt. Die persönliche Korrespondenz und die Familienstücke verblieben in Greulichs Doppelhaus an der Klusstrasse 26/28 in Hirslanden. 1942 fand im Zürcher Volkshaus eine Gedenkausstellung zum 100. Geburtstag von Herman Greulich statt. Organisator war Gerold Meyer (1900-1990), der mit einer Enkelin Greulichs verheiratet war. Zur Vorbereitung der Ausstellung verwendete Gerold Meyer zahlreiche Briefe und Erinnerungsstücke der Familie, die danach in seinem Besitz verblieben und zunächst in Meyers Reihenhaus in der Werkbundsiedlung Neubühl in Wollishofen, nach 1960 in der Tessiner Liegenschaft in Brione s. Minusio aufbewahrt wurden. Nach dem Tod der Eheleute Meyer-vanHasz (1988 bzw. 1990) konnte Herman Schmidt aus den verwahrlosten Wohn- und Estrichräumen in Brione wichtige Nachlassteile retten. Erhalten geblieben sind in erster Linie Dokumente, die 1942 in der Greulich-Ausstellung gezeigt oder für die Vorbereitung der Ausstellung ausgeliehen wurden. Leider sind aber im Tessin diverse Schriftstücke durch Mäusefrass und Wasserschaden unwiederbringlich verloren gegangen. Einzelne Dokumente sind nur noch in Abschriften vorhanden, die von Helene Meyer-vanHasz gefertigt wurden.
Der Nachlass
Der Nachlass Herman Greulich hat einen Umfang von zehn Archivschachteln und deckt zeitlich fast 150 Jahre ab. Beim ältesten Schriftstück von 1808 handelt es sich um eine vermutlich die Mutter von Herman Greulich betreffende Quittung für eine Entbindung "mit der Zange bei der Franzke in Maltsch". Die jüngsten Dokumente, darunter eine umfangreiche Fotodokumentation, betreffen die Greulich-Ausstellung von 1942. Ein grosser Teil der Unterlagen beleuchtet das Privatleben Herman Greulichs, insbesondere dessen familiäre Herkunft, den beruflichen Werdegang von der Buchbinderlehre in Breslau über die Wanderjahre in Habelschwerdt (1862/63), Wien, Linz und Innsbruck (1863) und Reutlingen (1863-1865) bis hin zur Niederlassung in Zürich. Neben der mehr oder weniger vollständigen Korrespondenz aus der Jugend- und Wanderzeit sind in diesem Zusammenhang die handschriftlichen Kalender, Notiz- und Schreibhefte sowie die von Greulich verfassten Gedichte, Freundschaftslieder, Freiheitshymnen und Prologe erwähnenswert. Sehr gut dokumentiert sind auch die Heirat mit Johanna Kaufmann (1867) und die finanzielle Not der jungen Familie, die Greulich u.a. als Gehilfe in einem Fotografieatelier, als selbständiger Buchbinder, als "Tagwacht"-Redaktor, als Kaffeeröster beim Konsumverein oder als Bienenzüchter über Wasser zu halten versuchte. Ein ausreichendes Einkommen erzielte die Familie erst 1884 mit der Anstellung Greulichs als Kanzlist für Statistik bei der kantonalen Direktion des Innern.
Eine zweite Gruppe von Dokumenten bezieht sich auf das langjährige öffentliche Wirken von Herman Greulich, insbesondere auf die Tätigkeit als Redaktor der "Tagwacht" (1869-1880), Organisator der schweizerischen Arbeiterbewegung (Arbeiterbund, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, SPS) und Politiker. Zahlreiche Schriftstücke betreffen die ausserordentlich rege Kurs- und Vortragstätigkeit Greulichs, der sich in der ganzen Schweiz und bis ins letzte Lebensjahr als zugkräftiger Redner unermüdlich zur Verfügung stellte. Zum politischen Wirken gehören auch teilweise recht dichte Dossiers zu Ereignissen und Einzelfragen, beispielsweise zur USA-Reise mit der Interparlamentarischen Union für internationale Schiedsgerichtsbarkeit im Jahr 1904, zum Amerikanischen Kriegshilfefonds 1915 (mit Quittungen von Lenin, Christian Rakowski, Pawel Axelrod, Friedrich Bartels u. Anderen), zur Parteispaltung von 1921 oder zur Affäre Paul Nathan/Giuseppe Valär/Herman Greulich (1915). Erwähnenswert sind schliesslich die Unterlagen zur Internationale. Der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) trat Herman Greulich bereits 1867 bei; er gehörte zu den Mitbegründern der Zürcher Sektion und nahm an zwei Kongressen teil. In der II. Internationale zählte er dann zu den herausragenden Persönlichkeiten. Die entsprechenden Mappen im Greulich-Nachlass enthalten zahlreiche Sammelstücke und Rara sowie vereinzelte Korrespondenzen (u.a. mit Viktor und Friedrich Adler, Robert Danneberg und Camille Huysmans).
Neben den privaten Schriftstücken und neben dem politisch-öffentlichen Teil des Nachlasses enthält der Bestand auch Sammlungen. Dazu gehören etwa die von Greulich zusammengetragenen Exzerpte und Zitate über Religiöses und Politisches, private Erinnerungsstücke und Andenken, Ehrungen, Nachrufe und Erinnerungen von Zeitgenossen an Herman Greulich, eine Sammlung von Maibändeln und Kongressabzeichen sowie ein vor allem für das 19. Jahrhundert ausserordentlich reicher Bestand an Fotoplatten und Papierabzügen.
Der Nachlass von Herman Greulich enthält einzigartige und bisher unbekannte Quellen zur Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung und Sozialpolitik. Das Sozialarchiv ist stolz auf diesen Bestand. Es dankt Herman Schmidt für die Sicherstellung, Zusammenführung und Inventarisierung der Unterlagen, vor allem aber für die grosszügige Überlassung.
Der Nachlass Herman Greulich (SozArch Ar 170) kann im Schweizerischen Sozialarchiv ohne Benutzungsbeschränkungen konsultiert werden.
Fotos aus dem Nachlass von Herman und Margarete Greulich
Weit weniger Beachtung als Herman Greulichs politische und gewerkschaftliche Leistungen fand bislang sein fotografisches Schaffen: Der gelernte Buchbinder liess sich 1866 in Berlin ins Handwerk des Fotografen einführen und nahm noch im gleichen Jahr eine Stelle im Zürcher Fotoatelier Flemming an. Zur Limmatstadt hatte der Deutsche schon während seiner Wanderjahre erste Bande geknüpft, nun liess er sich definitiv hier nieder und gründete zusammen mit Johanna Kaufmann eine kinderreiche Familie. Die Erwerbsarbeit als Fotograf gab er schon 1869 wieder auf, privat allerdings fotografierte er weiter.
Die Glasplatten und Abzüge sind jetzt mit der Ablieferung eines Teilnachlasses von Herman und Margarete Greulich ins Sozialarchiv gelangt. Darunter ist auch die berühmte Bierrunden-Aufnahme von Teilnehmern des internationalen Sozialistenkongresses von 1893 in einer Gartenwirtschaft in Bendlikon. Die Recherchen eines Urenkels von Greulich, Herman Schmidt, förderten nun zu Tage, dass die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass Greulich selber auf den Auslöser gedrückt hatte. Die Glasplatte ist von einer bestechenden Qualität und in hervorragendem Zustand. Das Material (rund 200 Glasplatten und Fotos) wird – soweit es nicht schon geschehen ist – digitalisiert und bald online zugänglich sein.