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Vor 150 Jahren: Die Demokratische Bewegung pflügt den Kanton Zürich um

Wer bei den kommenden Wahlen im Kanton Zürich zulegen und wer verlieren wird, scheint zurzeit noch völlig offen. Eines ist aber jetzt schon sicher: Die grosse Mehrheit der Gewählten durchs ganze politische Spektrum hindurch wird die parteigenealogische DNA der Demokratischen Bewegung in sich tragen. Die Demokratische Bewegung als Epochenbegriff bezeichnet gemeinhin die Zeit der direktdemokratischen Verfassungsbewegungen in verschiedenen Kantonen in den 1860er Jahren mit dem Höhepunkt in Zürich 1867/69 bis zur Revision der Bundesverfassung von 1874. Die Demokratische Bewegung in Zürich hat aber eine weit längere Geschichte, die in ihrem Verlauf exemplarisch für Aufstieg und Niedergang diverser sozialer Bewegungen ist. Nach einer „protodemokratischen“ Phase ab Mitte der 1840er Jahre erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt und Triumph in den späten 1860ern. Danach erfolgte die Transformation zu einer Regierungspartei, die den Kanton Zürich bis ins frühe 20. Jahrhundert stark prägte, zunehmend aber Substanz an sich neuformierende politische Kräfte abgeben musste. Eine letzte Phase, die das ganze 20. Jahrhundert hindurch dauerte, sah dann den Niedergang und die Auflösung der Zürcher Demokraten.

Eine in der Forschung als „Protodemokraten“ bezeichnete Vorläuferbewegung hatte sich in den 1840er und 50er Jahren herausgebildet. Die Zürcher Politik wurde damals zunehmend vom noch jungen Alfred Escher dominiert. Nach dem Umschwung von 1830/31 mit der Etablierung einer rein repräsentativen Demokratie hatten sich 1839 aus Opposition gegen die wirtschaftliche und kulturelle Modernisierungsagenda der Liberalen religiös-konservative Kräfte mit Hilfe bewaffneter Bauern an die Macht geputscht. Bereits 1845 kehrten die Liberalen aber an die Regierung zurück, die ab 1848 auch den neugegründeten Bundesstaat beherrschten. Alfred Escher hatte in Zürich und Bundesbern eine Vielzahl politischer Ämter inne („System Escher“). Diese Dominanz der Liberalen liess im Kanton Zürich die politische Partizipation auf ein Minimum sinken. Von 1848 bis 1863 betrug die Beteiligung an Nationalratswahlen jeweils höchstens um die 20% – bei einigen Wahlen bewegte sie sich sogar im einstelligen Bereich! 70 bis 90% der Stimmen gingen jeweils an liberale und radikale Kandidaten. Neben seinen politischen Ämtern vermehrte Escher seinen Einfluss durch wirtschaftliche Funktionen, insbesondere die Gründungen der Nordostbahn (1852/53) und der Kreditanstalt (1856).

Diese Machtfülle rief schon früh Kritiker auf den Plan. Häupter der „protodemokratischen“ Opposition waren Johann Jakob Treichler und Karl Bürkli. Der aus kleinbäuerlichen Verhältnissen stammende, zum Lehrer ausgebildete Treichler hatte 1845 am Zweiten Freischarenzug teilgenommen und war wenige Monate darauf an der Gründung des „Gegenseitigen Hülfs- und Bildungsvereins“ beteiligt, dem Handwerker und Fabrikarbeiter angehörten. Anfang 1846 erregte er mit einer Serie von Vorlesungen mit Titeln wie „Gibt es in der Schweiz ein Proletariat?“ und „Über die Souveränität des Volkes“ grosses Aufsehen. Wenige Monate darauf legte er in einem Manifest seine politischen Forderungen dar: direkte Wahlen, Besoldung der Parlamentarier, Gesetzesreferendum, durchgreifende Volksbildung, Arbeiterschutz, Einrichtung von Sozialwerkstätten, staatliche Unterstützung genossenschaftlicher Unternehmungen, Gründung einer Kantonalbank, Progressivsteuer, Abschaffung der Todesstrafe. Hingegen betonte Treichler, er und seine Freunde trachteten keineswegs, die Güterteilung durchzuführen: „Wir müssten allen gesunden Menschenverstand verloren haben, wenn wir auf solch räuberische Weise die Lage der Arbeiter verbessern wollten.“ Zur politischen Situation des Kantons Zürich äusserte er sich folgendermassen: „Leider sind Viele, die sich Männer des Fortschrittes, Liberale, sogar Radikale nennen, dem Fortschritte untreu geworden; sie begünstigen unter der Maske des Fortschrittes den Rückschritt; das aristokratische Herrentum ist gestürzt, jetzt gründen sie ein Zweites, das wir füglich das liberale Neuherrentum nennen könnten. Wir sind Freunde aller ächten Freisinnigen, aber die erbittertsten Feinde dieser Schein-Freisinnigen, wir werden ihnen auch mit unerbittlicher Hand die Maske vom Gesichte reissen.“

Die klare Deklaration seiner reformistischen Ziele nützte Treichler nichts. Die Behörden verboten ihm, weiterhin „öffentliche Vorträge über Socialismus und Kommunismus zu halten“. Im März 1846 erliess das Zürcher Parlament ein „Gesetz gegen kommunistische Umtriebe“, das alle Bestrebungen, die geeignet waren, „wegen der Ungleichheit des Besitzes eine Klasse von Bürgern gegen eine andere, Besitzlose gegen Besitzende zum Hasse aufzureizen“, mit bis zu 1’000 Franken Busse und zwei Jahren Gefängnis ahndete. Treichler ging daraufhin nach Lausanne und Birsfelden, kehrte aber 1847 nach Zürich zurück, bestand 1849 sein juristisches Staatsexamen, eröffnete eine Anwaltspraxis und wurde 1850 in den Grossen Rat gewählt. Ab 1851 verfügte er im Rat mit Karl Bürkli über einen Gesinnungsgenossen. Aus einer konservativ-aristokratischen Stadtzürcher Familie stammend, hatte Bürkli nach Abbruch seiner gymnasialen Ausbildung eine Gerberlehre absolviert und war dann auf der Wanderschaft in Paris mit den Lehren des Frühsozialisten Charles Fourier vertraut geworden. In der Folge wurde er zum Verfechter des genossenschaftlichen Sozialismus und der direkten Demokratie. Nach Bürklis Wahl in den Grossen Rat schrieb die konservative „Freitagszeitung“ bestürzt, es sei „die noch weit entfernt geglaubte Hunnenschaar der Sozialisten ein[gebrochen], an ihrer Spitze Bleda Treichler und Attila Bürkli“ (28.11.1851).

Treichler und Bürkli waren Mitglieder der seit 1846 bestehenden Zürcher Sektion des Grütlivereins und engagierten sich für den 1851 gegründeten Konsumverein Zürich. 1852 gelang Treichler in einer Nachwahl der Einzug in den Nationalrat. Vorangegangen war eine heftige Presseschlacht. Die NZZ warnte insbesondere vor Treichlers direktdemokratischen Forderungen: „Uns macht der Treichlersche Sozialismus nicht bange, denn die Zürcher Industrie und das Zürcher Kapital werden sich schon zu helfen wissen, aber die Treichlersche Demokratie fürchten wir, die sich wie ein Schlingkraut in den Staat hineinrankt, um die besten Kräfte des Baums zu verschlingen“ (21.2.1852). Schon 1853 existierten auch auf der Zürcher Landschaft rund 40 Konsumvereine, die neben den nun entstehenden „Demokratischen Volksvereinen“ zur Basis der als „Sozial-Demokraten“, „Bluthrothe“ oder „Neudemokraten“ bezeichneten Anhänger Treichlers und Bürklis wurden. Bei den Grossratswahlen 1854 schafften 15 von ihnen den Einzug ins Parlament. Damit hatte die Bewegung aber ihren Zenit erreicht.

Bürkli emigrierte 1855 mit einigen GesinnungsgenossInnen nach Amerika, um sich am Aufbau eines „Phalanstère“, einer fourieristischen Lebens- und Produktionskommune, zu beteiligen. Als die 30 Schweizer SiedlerInnen in Texas eintrafen, war das Projekt faktisch bereits gescheitert, wobei sowohl die völlig falsch eingeschätzten topografischen Verhältnisse als auch die organisatorische Unfähigkeit des fourieristischen Anführers Victor Considerant eine Rolle gespielt hatten. Die meisten SchweizerInnen verliessen die Kolonie rasch wieder, als letzter Bürkli Anfang 1856. Er hing aber weiterhin fourieristischen Träumen an und begab sich auf der Suche eines geeigneteren Grundstücks nach Zentralamerika. In Nicaragua stiess er unter nie ganz geklärten Umständen zu den Truppen des berüchtigten Freibeuters William Walker, bis er sich 1857 nach New York absetzte und im Jahr darauf nach Zürich zurückkehrte. Treichler dagegen wurde 1856 in die Zürcher Kantonsregierung gewählt – auf Betreiben Alfred Eschers. Auch in Bern schloss sich Treichler Eschers liberaler Nationalratsfraktion an. Nachdem Escher zunächst mit dem Gedanken gespielt hatte, seinen Kritiker mittels des Kommunistengesetzes von 1846 mundtot zu machen, entschied er sich für dessen vereinnahmende Integration. Treichler entfremdete sich immer mehr von seinen ehemaligen Mitstreitern und wurde 1861 aus dem Grütliverein ausgeschlossen.

In den 1860er Jahren erneuerte sich die Protestbewegung gegen das „System Escher“. Bereits in den Nationalratswahlen 1860 portierte eine Handvoll Politiker, darunter Gottfried Keller, im Streit um die Savoyen-Frage Gegenkandidaten zu den Escher-Liberalen, die aber chancenlos blieben. Als Konzession an die lauter werdenden Rufe nach direkter Demokratie wurde 1865 die Möglichkeit der Einleitung eines Verfassungsrevisionsprozesses mittels Volksinitiative geschaffen. Nachdem 1858 nur noch 7 „Neudemokraten“ in den Grossen Rat gewählt worden waren, trafen sich die Oppositionellen ab den frühen 1860ern in einem von Karl Bürkli übernommenen Wirtshaus im Zürcher Niederdorf. Neben Bürkli wurde aus den Reihen der „protodemokratischen“ Opposition der 1850er Jahre auch der Lehrer, Sonderbundkriegsveteran und Redaktor Johann Caspar Sieber eine wichtige Figur der Demokratischen Bewegung. Für ihn war die Volksbildung ein Schlüssel zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme. In Winterthur, dem eigentlichen Zentrum der Demokratischen Bewegung, gruppierte sich die Opposition um die 1836 gegründete linksliberale Zeitung „Der Landbote“. 1861 wurde das Blatt vom ehemaligen Pfarrer und NZZ-Redaktor Salomon Bleuler übernommen, der es zur demokratischen Parteizeitung mit nationaler Ausstrahlung machte. Wichtiger Mitredaktor war der Ökonom und Sozialist Friedrich Albert Lange, der 1866 wegen politischen Anfeindungen in Deutschland nach Winterthur gezogen war und hier zunächst als Gymnasiallehrer arbeitete, ab 1869 dann auch an der Universität Zürich lehrte. Im Zürcher Unterland wurde die vom Arzt Friedrich Scheuchzer redigierte „Bülach-Regensberger Wochen-Zeitung“ zu einem Sprachrohr der demokratischen Opposition. Scheuchzer stand zunächst auf dem linken Flügel der Demokratischen Bewegung und vertrat die Interessen der Landschaft gegenüber den dominanten Städten und der Bauern ebenso wie diejenigen der Arbeiterschaft.

Die zu Beginn der 1860er Jahre noch kleine Opposition, die 1867 zu einer Massenbewegung anwuchs, war ein breites Bündnis von städtischen und ländlichen Mittel- und Unterschichten, das Intellektuelle (Lehrer, Pfarrer, Journalisten), Arbeiter, Bauern, Handwerker und Kleinunternehmer einschloss. Zusammengehalten wurde es durch die gemeinsame Opposition gegen alte und neue, aristokratische und grossbürgerliche Eliten und die Überzeugung, dass erst eine durchgreifende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft die Umwälzungen von 1798, 1830 und 1848 zum krönenden Abschluss bringen würde. Organisatorisches Rückgrat der Bewegung waren politische und kulturelle Zusammenschlüsse wie Gemeindevereine, Arbeitervereine und insbesondere die rund 200 Gesangsvereine, die oft von demokratisch gesinnten Lehrern geleitet wurden.

Verschiedene Faktoren trugen zur Verstärkung der Oppositionsbewegung bei: Seit 1860 verschärften steigende Hypothekarzinsen die Schuldenkrise in der Landwirtschaft. Mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges brach dann 1865 die bisherige Hochkonjunktur in Europa zusammen. Die Zürcher Seidenindustrie, die 16% der Erwerbstätigen beschäftigte, erlitt 1866/67 Exporteinbussen von 26%, was Lohnkürzungen und viele Entlassungen zur Folge hatte. Zugleich stiegen die Lebensmittelpreise massiv an, der Brotpreis beispielsweise um 28% und der Kartoffelpreis um 63%. Seit 1866 prangerte der Jurist Friedrich Locher in anonymen Pamphleten Missstände in Verwaltung und Justiz an, was heftige Reaktionen auslöste. Locher lieferte der Demokratischen Bewegung die Schlagwörter, blieb aber politisch isoliert. Vor dem Hintergrund der Locher’schen Kritik wurden 1866 zahlreiche Oppositionelle in den Grossen Rat gewählt, der sich neu aus etwa 140 „Gouvernementalen“ (Escher-Liberalen) und 80 „Oppositionellen“ (Demokraten) zusammensetzte. Im Spätsommer und Herbst 1867 forderte dann eine Cholera-Epidemie in der Stadt Zürich etwa 500 Todesopfer, was zu weiterer Kritik an den hilflosen Behörden führte.

Am 17. November 1867 hielt Friedrich Locher eine oppositionelle Versammlung im Alten Schützenhaus in Zürich ab, die eine Verfassungsrevision forderte. Wenige Tage darauf gründeten die demokratischen Oppositionellen ein Komitee, das ein Programm beschloss, ebenfalls eine Verfassungsrevision forderte und auf den 15. Dezember „Landsgemeinden“ in Uster, Winterthur, Bülach und Zürich einberief. Solche Volksversammlungen hatten bereits beim liberalen Umschwung von 1830, beim konservativen „Züri-Putsch“ 1839 und der darauffolgenden liberalen Gegenbewegung eine zentrale Rolle gespielt. Massenversammlungen hatte es dann 1863 für eine Verfassungsrevision und 1865/66 zu einzelnen demokratischen Forderungen wie der Gründung einer Staatsbank und der Wehrreform gegeben. Am 15. Dezember 1867 kamen trotz strömenden Regens insgesamt etwa 18’000 Männer, mehr als ein Viertel der Stimmberechtigten, zusammen. An der Versammlung in der Kantonshauptstadt beteiligten sich etwa 6’000 Personen, darunter viele Arbeiter und Studenten. Anstatt der für die Einleitung einer Verfassungsrevision notwendigen 10’000 kamen rund 27’000 Unterschriften zusammen. Bürkli liess es sich nicht nehmen, die Unterschriftenbögen als „Neujahrsgruss des Zürcher Volkes an die Regierung“ persönlich bei seinem ehemaligen Mitstreiter, Regierungsrat Treichler, abzuliefern. Die Demokratische Bewegung führte zu einer massiven politischen Mobilisierung. Von November 1867 bis Ende Januar 1868 gab es im Kanton Zürich 75 politische Versammlungen. Am 26. Januar 1868 sprachen sich 87% der Stimmenden für eine Revision der Verfassung aus – dies bei einer Stimmbeteiligung von 90%. Bereits bei den Nationalratswahlen von 1866 war die Beteiligung im Kanton Zürich von 19 auf 61% gesprungen, 1869 betrug sie dann sogar 77%.

An den Verfassungsratswahlen vom 8. März 1868 nahmen fast 94% teil. Etwa zwei Drittel der Gewählten zählten zur Demokratischen Bewegung. Darunter befanden sich indessen nur zwei Arbeiter, von denen einer wegen seiner politischen Tätigkeit umgehend die Stelle verlor. In den folgenden Wochen gelangten 146 Eingaben aus der Bevölkerung mit den unterschiedlichsten Anliegen an den Verfassungsrat. Präsident des Gremiums wurde der Winterthurer Johann Jakob Sulzer, der ursprünglich zu den Radikal-Liberalen gehört hatte, 1857 aus Opposition gegen Escher aber aus der Kantonsregierung zurückgetreten und dann ein führender Kopf der Demokraten geworden war. Dem Verfassungsrat gehörten führende Demokraten wie Bürkli, Bleuler, Ziegler, Lange, Sieber und Scheuchzer, aber auch das bisherige Regierungsmitglied Treichler an. Treichler unterstützte den Ausbau der Volksrechte nur bedingt, lehnte den Verfassungsentwurf schliesslich ab und musste nach den folgenden Neuwahlen seinen Regierungssessel räumen, gehörte aber noch bis 1904 als Liberaler dem Kantonsrat an. In den Verfassungsrat gewählt wurde auch Friedrich Locher, der aber bereits nach der ersten Sitzung demissionierte.

Der Verfassungsentwurf verzichtete in seiner Präambel auf die sonst übliche Anrufung eines höheren Wesens und konstatierte stattdessen: „Das Volk des Kantons Zürich gibt sich kraft seines Selbstbestimmungsrechts folgende Verfassung.“ Die direktdemokratischen Instrumente wurden massiv ausgebaut. Neben der Direktwahl der Regierungsmitglieder durch das Volk gehörten dazu umfangreiche legislative Kompetenzen der Stimmbürger, entsprechend dem Verfassungsartikel 28: „Das Volk übt die gesetzgebende Gewalt unter Mitwirkung des Kantonsrates aus.“ So gab es neu die Möglichkeit der Volksinitiative für Gesetze und Verfassungsänderungen, das obligatorische Referendum für alle vom Kantonsrat beschlossenen Gesetze, Verfassungsänderungen und Konkordate sowie die Einzelinitiative. Zur Verhinderung von Vetternwirtschaft wurde in allen Behörden die gleichzeitige Einsitznahme von Vater und Sohn, Schwiegervater und Schwiegersohn oder Schwägern verboten. Zudem durften die Regierungsräte nicht während zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden derselben Direktion vorstehen. Keine Mehrheit fand Bürklis Forderung nach Einführung eine Mischsystems aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht.

Ebenfalls keinen Eingang in die revidierte Verfassung fand das Frauenstimmrecht, das just im Jahre 1869 im nordamerikanischen Territorium und späteren US-Bundesstaat Wyoming eingeführt wurde. Zwar hatte eine anonyme Eingabe von „mehreren Frauen aus dem Volk“, die ihren „guten Namen nicht der Spottlust böser Zungen preisgeben“ wollten, die „Wahlberechtigung und Wahlfähigkeit für das weibliche Geschlecht in allen sozialen und politischen Angelegenheiten und Beziehungen“ gefordert: „Es wäre traurig und beschämend, wenn Jeder von den Männern des Volkes nur die vollste Freiheit für sich, nicht aber für Andere und am wenigsten für uns Frauen in Anspruch nähme.“ Diakon Hirzel aus Zürich setzte sich immerhin dafür ein, dass „in Kirchen- und Schulgemeinde-Versammlungen die in der Gemeinde verbürgerten und niedergelassenen Frauenspersonen (verheirathete und unverheirathete) das Stimmrecht erhalten unter denselben Bedingungen wie die Männer“. Dem leisteten die Verfassungsväter aber keine Folge. Erst am 1. Januar 1887 publizierte dann die „Züricher Post“, damals neben dem „Landboten“ das führende demokratische Sprachrohr des Kantons, den Artikel „Ketzerische Neujahrsgedanken einer Frau“, in dem Meta von Salis erstmals in der Deutschschweiz öffentlich das Frauenstimmrecht forderte. Danach geschah aber wenig. 1905 führte die evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich das passive Frauenwahlrecht ein. 1920 lehnten aber über 80% der Stimmenden eine Volksinitiative für die Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts ab. Die erste Vorlage für das Frauenstimmrecht auf Bundesebene erlitt im Kanton Zürich 1959 mit 63% Nein-Stimmen Schiffbruch. Erst 1970 beschlossen die Zürcher Männer mit 67% Ja-Stimmen das kantonale Frauenstimmrecht und im folgenden Jahr stimmten im Kanton Zürich 62% dem Frauenstimmrecht auf Bundesebene zu.

Auch andere Frauenanliegen tauchten 1868 in den Eingaben aus der Bevölkerung auf. Eine anonyme Einsenderin forderte „im Namen vieler, vieler Frauen, die Sclavendienste umsonst thun müssen“, ein gerechteres Ehegüterrecht und eine Gruppe von Frauen aus Fluntern sprach sich für die Gleichberechtigung der Frauen in Bezug auf Ehescheidung, Erbrecht und Erziehung aus. Auch wurde gefordert, der Staat solle die Fabriken im Sinne „humanistischen Fortschritts“ beaufsichtigen, die Frauen und Kinder vor gesundheitswidriger Ausbeutung schützen und die Höchstarbeitszeit auf 10 bis 12 Stunden pro Tag beschränken. Ähnliche, ebenfalls erfolglose Vorstösse gab es zeitgleich in Basel-Land: Bereits in der Verfassungsrevision von 1850 war dort das Postulat der freien Vermögensverwaltung erwachsener Frauen aufgetaucht. In der neuerlichen Revisionsdebatte 1862/63 forderten 30 Sissacher Frauen die Förderung der Frauenbildung im Schulwesen sowie Gleichstellung der Frauen im Erbrecht.

Während die jahrzehntealten direktdemokratischen Forderungen der Demokraten und ihrer Vorläufer in der Verfassungsrevision von 1869 weitgehend umgesetzt wurden, zeigten sich bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen Differenzen innerhalb der Demokratischen Bewegung, die in Kompromisslösungen zwischen den Sozialisten um Bürkli und den bürgerlich-bäuerlichen Segmenten der Bewegung mündeten. Die direkten Steuern sollten „nach dem Grundsatze mäßiger und gerechter Progression“ ausgestaltet werden. Der Staat sollte relativ unspezifisch „die Entwicklung des auf Selbsthilfe beruhenden Genossenschaftswesens“ fördern und erleichtern. Auch erhielt er den Auftrag zur Gesetzgebung zum Arbeiterschutz und zur Errichtung einer Kantonalbank „zur Hebung des allgemeinen Kreditwesens“. Bereits 1870 erfolgte die Gründung der Zürcher Kantonalbank. Auf der gemeinsamen Linie des fortschrittlichen Liberalismus und des Sozialismus der Zeit lagen sodann weitere Bestimmungen: Die „Förderung der allgemeinen Volksbildung und der republikanischen Bürgerbildung“ wurde zur „Sache des Staates“ erklärt. Die obligatorische Volksschule sollte unentgeltlich sein, auch auf das „reifere Jugendalter“ ausgedehnt und mit den höheren Lehranstalten „in organische Verbindung gebracht“ werden. Ferner wurde die politische, rechtliche oder steuerliche Diskriminierung ausserkantonaler Schweizer Bürger verboten.

Am 18. April 1869 hiessen 61% der Stimmenden bei einer Beteiligung von 90% die neue Verfassung gut. Allerdings lehnten die Bezirke Zürich, Affoltern, Horgen und Meilen die Vorlage mehrheitlich ab, während die Bezirke Winterthur, Pfäffikon und Bülach ihr mit über 80% zustimmten. Bei den folgenden Wahlen gewannen die Demokraten sämtliche Sitze im Regierungsrat und eine Mehrheit im Parlament sowie beide Ständeratsmandate. Auch in anderen Kantonen wurden in den 1860er Jahren Rufe nach Reformen laut. Während sich diese in der Romandie und im Kanton Bern im Rahmen des bestehenden Parteiensystems artikulierten, formierten sich in verschiedenen Industriekantonen der Nordwest- und Ostschweiz Demokratische Bewegungen. Verfassungsrevisionen mit einer Erweiterung direktdemokratischer Instrumente gab es in jenen Jahren in Basel-Land, Bern, Aargau, Luzern, Thurgau, Schaffhausen, Solothurn, St. Gallen und in der Waadt. Neben den politischen Postulaten standen wirtschaftliche und soziale Forderungen, etwa nach einer Reform des Schulwesens, einem gerechteren Steuersystem, der Einrichtung von Kantonalbanken, der Revision der Schuldbetreibung und dem Arbeiterschutz.

Im Anschluss daran erhob sich auch Opposition gegen die sogenannten „Bundesbarone“, die freisinnig-liberale Elite in Bundesbern, und die Forderung nach einer Totalrevision der Bundesverfassung von 1848. Ein erster Verfassungsentwurf, der Anliegen der Demokratischen Bewegung mit wirtschaftsliberalen und kulturkämpferischen Elementen sowie einer behutsamen Zentralisierung verband, scheiterte 1872 in der Volksabstimmung knapp am vereinigten Widerstand von Katholisch-Konservativen und welschen Föderalisten. In einem zweiten Entwurf wurden die Bundeskompetenzen in den Gebieten Armee, Recht und Schule sowie die demokratischen Rechte gegenüber der Vorlage von 1872 abgebaut, die kulturkämpferischen Bestimmungen dagegen noch verschärft. Bei der Vermittlung zwischen Zentralisten und Föderalisten spielte Salomon Bleuler eine wichtige Rolle. Dadurch wechselten die reformierten Kantone der Romandie und der Ostschweiz ins Ja-Lager und die Vorlage wurde 1874 deutlich angenommen.

Die revidierte Bundesverfassung weitete die Kultusfreiheit auf alle Glaubensgemeinschaften aus, erweiterte die Niederlassungsfreiheit, gewährte die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Handels- und Gewerbefreiheit und das Recht auf Ehe, gab dem Bund das Recht zur Arbeiterschutzgesetzgebung und sicherte die politischen Rechte kantons- und gemeindefremder Bürger. Im Zeichen des Kulturkampfes wurden Zivilstandsangelegenheiten zur reinen Staatssache erklärt, die Gründung neuer Orden und Klöster verboten, Geistliche von der Wahl in den Nationalrat ausgeschlossen, das Jesuitenverbot von 1848 verschärft und die Schaffung neuer Bistümer von der Genehmigung des Bundes abhängig gemacht. Zugleich brachte die Verfassungsrevision den Übergang von der repräsentativen zur halbdirekten Demokratie. Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse wurden dem fakultativen Referendum unterstellt, was oppositionellen Kräften ein gewichtiges Machtmittel in die Hand gab und längerfristig den Wandel zur Konkordanzdemokratie einleitete. Hingegen wurde ein weiteres direktdemokratisches Instrument, die Volksinitiative, erst 1891 eingeführt.

Nach den Erfolgen in den Verfassungsrevisionskampagnen lösten sich die Demokratischen Bewegungen auf, ihre Anhänger formierten sich aber in der Folgezeit in verschiedenen Kantonen zu politischen Parteien. Während sich die Demokraten in Schaffhausen, Aargau und Basel-Land den Freisinnigen anschlossen, entstanden 1881/88 in St. Gallen, 1891 im Thurgau, 1902 in Glarus und 1906 in Appenzell Ausserrhoden eigenständige Demokratische Parteien.

Im Kanton Zürich hielten die Demokraten nach der Verfassungsrevision bis 1878 die Mehrheit in Regierung (mit prägenden Figuren wie Gottlieb Ziegler und Johann Caspar Sieber) und Parlament. Bis zur Jahrhundertwende bestand ein Zweiparteiensystem aus Demokraten und Liberalen/Freisinnigen. Auf Bundesebene arbeiteten die Zürcher Demokraten indessen mit den Freisinnigen zusammen, ab 1878 in der radikal-demokratischen Fraktion der Bundesversammlung und ab 1894 in der neu gegründeten Freisinnig-Demokratischen Partei. So war ein langjähriger Führer der Demokraten im Zürcher Kantonsrat, Ludwig Forrer, genannt der „Löwe von Winterthur“, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch führendes Mitglied der radikal-demokratischen Mehrheitsfraktion des Nationalrates, bevor er von 1902 bis 1917 für die FDP im Bundesrat Einsitz nahm. Johannes Stössel, 1867/68 Anführer der Demokratischen Bewegung im Zürcher Oberland und dann von 1875 bis 1917 demokratischer Langzeitregierungsrat, war 1897/98 Präsident der FDP Schweiz.

Eine blutige Nase holten sich die Demokraten in einer weiteren Auseinandersetzung mit Alfred Escher – im Eisenbahnbau. 1872 erliess der Kanton Zürich ein Gesetz, das ihm die finanzielle Unterstützung des Eisenbahnbaus in bisher unberücksichtigt gebliebenen Gegenden erlaubte. Auf Bundesebene trugen die Demokraten im selben Jahr dazu bei, das Eisenbahngesetz zu revidieren. Ziel war es, den Wildwuchs im mit Konzessionen privatwirtschaftlich organisierten System der „Herrenbahnen“ einzuhegen mit der längerfristigen Vision eines staatlichen Eisenbahnbetriebs. Johann Jakob Sulzer, von 1858 bis 1873 Stadtpräsident von Winterthur und 1869 bis 1878 demokratischer Ständerat des Kantons Zürich, initiierte 1872 als Konkurrenz zu Eschers Nordostbahn die Schweizerische Nationalbahn, die als „Volksbahn“ eine von Kantonen und Gemeinden getragene Eisenbahnverbindung von Kreuzlingen bis Vevey mit Winterthur als betrieblichem Zentrum schaffen sollte. Im Verwaltungsrat der neuen Gesellschaft sassen mit Salomon Bleuler, der das Unterfangen im „Landboten“ wortgewaltig unterstützte, und Gottlieb Ziegler weitere prominente Demokraten.

Die Nordostbahn behinderte die neue Konkurrenz von Beginn weg mit allen Mitteln. Insbesondere verteidigte sie hartnäckig ihr Monopol der Beförderung zwischen Winterthur und Zürich. Die Mitbenutzung von Geleisen der Nordostbahn durch die Nationalbahn beziehungsweise der Bau eines eigenen Schienenstrangs der Nationalbahn gleich neben demjenigen der Nordostbahn wurde mehrfach Gegenstand von Prozessen vor Bundesgericht. 1878 musste die Nationalbahn, die zu jenem Zeitpunkt erst eine Verbindung zwischen Singen und Zofingen realisiert hatte, Konkurs anmelden und hinterliess einen gewaltigen Schuldenberg, der, wie das Dossier zur Nationalbahn in der Sachdokumentation des Sozialarchivs zeigt, noch jahrzehntelang zu reden gab. Die Nordostbahn konnte ihre untergegangene Konkurrentin zwar zu einem Schnäppchenpreis erwerben, doch war ihre eigene finanzielle Situation durch den ruinösen Konkurrenzkampf massiv verschlechtert worden. Diese und andere Eisenbahnkrisen, die letztlich die Steuerzahler schwer belasteten, gaben der Forderung nach staatlichen Eisenbahnen Auftrieb. 1898 hiess das Stimmvolk die Verstaatlichung der grössten Bahngesellschaften gut und 1902 erfolgte die Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen, womit ein altes Anliegen der Demokratischen Bewegung doch noch Realität wurde.

Kurzfristig trug das Nationalbahndebakel aber dazu bei, dass die Demokraten 1878 ihre Mehrheitsposition im Kanton Zürich vorübergehend verloren. Hinzu kam, dass im Übergang von der Bewegung zur Partei das gesellschaftlich heterogene, durch den Protest gegen das „System Escher“ zustande gekommene Bündnis zunehmend brüchig wurde. Allerdings hielt es noch bis ins späte 19. Jahrhundert notdürftig zusammen. Vor den Wahlen von 1887 brachte die NZZ das Dilemma der Demokratischen Partei folgendermassen auf den Punkt: „Geht sie rechts, so verliert sie die Arbeiter, die künftig ihre eigene Bahn wandeln werden; geht sie links, so hat sie es mit der bäuerlichen Demokratie und überhaupt mit allen gemässigten Elementen verdorben“ (29.4.1887).

Tatsächlich emanzipierten sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen zunehmend von den Demokraten. Die Entwicklung eigenständiger politischer Arbeiterorganisationen wurde durch die Dominanz der Demokratischen Bewegung im Kanton Zürich zwar verzögert. Die 1867 gegründete, von Karl Bürkli geleitete Zürcher Sektion der Ersten Internationale hatte nur geringen Zulauf und die seit 1869/70 bestehenden sozialdemokratischen Parteiorganisationen blieben zunächst Anhängsel der Demokratischen Partei. Bei Streiks in den 1870er und 80er Jahren konnten die Arbeiter in der Regel auf die Unterstützung der demokratischen Parteiblätter zählen und führende Demokraten wie Salomon Bleuler, Hans Rudolf Zangger und Friedrich Scheuchzer engagierten sich 1877 stark für das erste eidgenössische Fabrikgesetz. Bleuler sass in den 1860er und 70er Jahren auch in wichtigen Gremien des sich zunehmend zu einer Arbeiterorganisation wandelnden Grütlivereins und des ersten Arbeiterbundes. Von 1873 bis 1878 redigierte er neben dem „Landboten“ auch den „Grütlianer“, das (jüngst vom Sozialarchiv digitalisierte) Zentralorgan des Grütlivereins. Garant für das fortdauernde Bündnis von Demokraten und Arbeiterbewegung war bis in die 1890er Jahre Karl Bürkli, für den direktdemokratische und genossenschaftssozialistische Anliegen untrennbar zusammengehörten. Als die Sozialdemokraten 1878 erstmals eigene, von den Demokraten unabhängige Listen aufstellten, verloren sie prompt zwei ihrer drei Kantonsratsmandate und trugen durch die Zersplitterung der Stimmen zur Wahlniederlage der Demokraten bei. Erst bei den kantonalen Wahlen von 1890 einigten sich die Sozialdemokraten, obwohl sie sich inzwischen gesamtschweizerisch als eigenständige Partei konstituiert hatten, wieder auf gemeinsame Listen mit den Demokraten, worauf die liberale Parlamentsmehrheit beseitigt und eine fünfköpfige sozialdemokratische Vertretung gewählt wurde. Dieses Bündnis war allerdings nicht mehr von langer Dauer. 1893 entstand im Kantonsrat eine eigene sozialdemokratische Fraktion.

Neben den Arbeitern sonderten sich auch die Bauern allmählich vom demokratischen Bündnis ab. Friedrich Scheuchzer löste sich Ende der 1880er Jahre, die für die Zürcher Landwirtschaft aufgrund der voranschreitenden Globalisierung sowie witterungsbedingter Probleme und der Reblaus-Epidemie eine krisenhafte Zeit waren, zunehmend von demokratischen Positionen, verkrachte sich mit ehemaligen Parteifreunden und ventilierte die Gründung einer eigenständigen Bauernpartei. Neben den wirtschaftlichen Problemen war es (wie schon in den 1830er Jahren) die von den Demokraten vorangetriebene Bildungsexpansion, die Teile der ländlichen Bevölkerung von den etablierten politischen Kräften entfremdete. 1895 ging nach Scheuchzers Tod die Redaktion seiner „Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung“ auf den ebenfalls von den Demokraten herkommenden bisherigen Hilfsredaktor Fritz Bopp über, der im folgenden Jahr in den Kantonsrat gewählt wurde und 1907 die Demokratische Bauernpartei des Bezirks Bülach ins Leben rief. Bopp, inzwischen Nationalrat, gehörte 1917 auch zu den Gründern der kantonalzürcherischen Bauernpartei, aus der er aber 1924 wieder austrat. Zur Verteidigung der wirtschaftlich bedrohten Bauernschaft, die im Kanton Zürich zwischen 1870 und 1910 um ein Viertel schrumpfte, vertrat Bopp zunehmend konservative und antimodernistische Positionen. Neben seiner oft polemisch gehaltenen politischen Publizistik trat er auch durch eine Lyrik hervor, die traditionelle Themen wie Heimat, Natur, Bauernstand und Bauernarbeit zelebrierte.

Mit dem Aufstieg der Sozialdemokratie zur dominierenden Kraft in den Städten und der Bauernpartei auf der Landschaft sanken die Demokraten in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer Mittel- und dann Kleinpartei ab. Im Zürcher Regierungsrat hatten sie von 1869 bis in die späten 1890er Jahre mit Ausnahme einer kurzen Periode um 1880 stets die Mehrheit innegehabt, dann zusammen mit den Grütlianern noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, bevor sie auf zwei und dann einen Regierungssitz reduziert wurden. Im Kantonsrat brachte die Einführung des Proporzes das definitive Ende des aus den 1860er Jahren ererbten Zweiparteiensystems. Bei den ersten Proporzwahlen 1917 fielen die Demokraten von 73 auf 37 Sitze, die Freisinnigen von 98 auf 44. Auf der Gewinnerseite standen die Sozialdemokraten, die von 43 auf 82 Mandate zulegten, und die Bauernpartei, die aus dem Stand 38 Sitze gewann. In den folgenden Jahren stabilisierten sich die Freisinnigen auf diesem neuen Niveau, legte die Bauernpartei weiter zu und nahmen die Demokraten kontinuierlich ab. Mit der ersten Eingemeindung kam 1893 die bisherige liberale Hochburg Zürich durch Vereinigung mit den demokratisch dominierten Vororten zwar zu einer demokratischen Regierungsmehrheit. Diese hielt aber nur bis 1901 an und machte dann einer zunehmenden sozialdemokratischen Präsenz Platz, die 1928 im „Roten Zürich“ gipfelte.

Innerhalb des Bürgerblocks, in dem sie sich seit der Jahrhundertwende in Frontstellung zur Arbeiterbewegung verorteten, deckten die nun zunehmend zum Juniorpartner degradierten Demokraten den linken Flügel ab, der sich besonders auf Angestellte und Intellektuelle stützte. Während des Landesstreiks publizierten sie einen Forderungskatalog, der mit Ausnahme des Frauenstimmrechts die wesentlichen Postulate des Oltener Aktionskomitees übernahm: Alters- und Invalidenversicherung, 8-Stunden-Tag, „Tilgung der gesamten Kriegsschuld durch die besitzende Klasse, insbesondere durch die grossen Vermögen und hohen Einkommen“, Neuwahl des Nationalrats auf Grundlage des Proporzwahlrechts im Frühjahr 1919, Neuwahl des Bundesrates unter Berücksichtigung der Parteistärken, „durchgreifende Demokratisierung der Armee“. Darüber hinaus forderten sie eine Totalrevision der Bundesverfassung „im Sinne des sozialen Ausbaues unseres eidgenössischen Staates“, die Schaffung eines eidgenössischen Lohnamtes und die sofortige Aufhebung der militärischen Besetzung Zürichs nach Beendigung des Generalstreiks. Sie wiesen darauf hin, die Demokratische Partei habe „seit langem mit grösstem Nachdruck auf die schwere soziale Spannung in unserem Volkskörper hingewiesen und, leider mit unzureichendem Erfolg, immer wieder staatliches Eingreifen gefordert […], um unser Gemeinwesen vor schweren sozialen Erschütterungen zu bewahren“, und richteten an die Ordnungstruppen den Appell, „sich stets dessen eingedenk zu sein, dass unsere schweizerische Armee ein Volksheer ist“. In der darauffolgenden Periode des „galop social“ bis in die frühen 20er Jahre waren die Demokraten Teil jener reformbürgerlichen Kräfte, die durch eine aktive Sozialpolitik und Elemente der „Wirtschaftsdemokratie“ einen Mittelweg zwischen ungezügeltem Kapitalismus und Staatssozialismus anstrebten und dadurch die Arbeiterschaft mit der bestehenden Ordnung versöhnen wollten. 1933 verweigerten sie sich dann bei den Zürcher Gemeindewahlen als einzige bürgerliche Partei dem antisozialdemokratischen Bündnis mit der Frontenbewegung.

Anders als die Ostschweizer Demokraten, die in der Bundesversammlung bis 1931 die „Sozialpolitische Gruppe“ bildeten (bis 1911 zusammen mit der SP) und dann für zehn Jahre mit den Jungbauern eine Faktionsgemeinschaft eingingen, verblieben die Zürcher Demokraten zunächst gesamtschweizerisch unter dem Dach der FDP und waren in Bundesbern Teil der radikal-demokratischen Fraktion. Erst 1941 kam es zum Bruch mit der FDP, zur Gründung der Demokratischen Partei der Schweiz und einer Demokratischen Fraktion in der Bundesversammlung unter Einschluss der Zürcher. Dies vermochte den weiteren Niedergang der Zürcher Demokraten in der Nachkriegszeit aber nicht zu verhindern. Der Versuch von 1964/65, mit einer eidgenössischen Volksinitiative gegen die „Überfremdung“ neue Anhänger zu gewinnen, scheiterte. Schillerndste Figur der Zürcher Demokraten in dieser Niedergangsphase war der Historiker Marcel Beck, Kantonsrat von 1955 bis 1963 und Kantonalparteipräsident von 1961 bis 1963. Als Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich kritisierte Beck die Mythen um den Ursprung der Eidgenossenschaft, als Politiker wagte er sich immer wieder an heisse Eisen und eckte in allen politischen Lagern an. 1952 musste er auf Druck der kantonalen Erziehungsdirektion aus seiner 1.-August-Rede auf dem Zürcher Bürkliplatz eine Passage streichen, in der er Alternativen zur Schweizer Neutralitätspolitik anmahnte. 1963 verliess er die Demokratische Partei, rutschte aber ein Jahr darauf als Ersatzmann von deren Liste in den Nationalrat nach, dem er bis 1967 als Fraktionsloser angehörte. Dort nahm er 1965 eine Bundesratsersatzwahl zum Anlass einer Fundamentalkritik am Wahlsystem. Später führte er in Zeitungskolumnen einen publizistischen Kleinkrieg mit den aufmüpfigen StudentInnen der Nach-68er-Zeit und meinte 1971 gegenüber dem „Spiegel“ zum Schweizer Konkordanzmodell: „Die Demokratie wird bei uns zur Sau gemacht“ (2.8.1971).

1971 löste sich die Demokratische Partei der Schweiz auf. Während die Bündner und Glarner Demokraten, die sich in der Nachkriegszeit hatten halten können, mit der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei zur Schweizerischen Volkspartei fusionierten, schlossen sich die massiv geschrumpften Zürcher Demokraten mit Ausnahme weniger Sektionen dem Freisinn an. Von den verbliebenen Lokalsektionen vertraten die Winterthurer einen stärker sozialliberalen und ökologischen Kurs als der Rest, spalteten sich 1984 von der Kantonalpartei ab und politisierten in den 90er Jahren unter dem Namen „Die andere Partei“ (DaP). Bei ihrer Auflösung im Jahr 2000 ging die DaP teilweise in den Grünen auf. Die Sektion Dübendorf schloss sich 2009 der neu gegründeten Bürgerlich-Demokratischen Partei an, so dass zurzeit nur noch in Dietikon eine Demokratische Partei existiert.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 27 Kantonalverband zürcherischer Grütli- und Arbeitervereine: Protokolle 1881–1889
  • Ar 170 Nachlass Herman Greulich
  • Ar 638.10.1-10.9 Sammlung Markus Bürgi: Vorarbeiten HLS
  • Ar R88 Schweizerischer Grütliverein

Sachdokumentation

  • KS 32/105 Eidgenössische Wahlen bis 1914
  • KS 32/105a Eidgenössische Wahlen 1915-1928
  • KS 32/112 Kantonale Wahlen: Kanton Zürich bis 1932
  • KS 32/220 Parteien in der Schweiz: Demokratische Partei
  • KS 37/29 Schule: Schweiz vor 1900
  • KS 332/13 Kantonalbanken
  • KS 335/229 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Wahlen 1878–1959
  • KS 380/125 Privatbahngesellschaften: Schweizerische Nationalbahn

Bibliothek

  • Ammann, J.[osef]: Theodor Curti, der Politiker und Publizist: 1848–1914: Ein Beitrag zur neueren Schweizergeschichte. o. O. u. J., 3489
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  • Bärtschi, Hans-Peter et al.: Die Nationalbahn: Vision einer Volksbahn. Wetzikon 2009, Gr 12385
    Bittersüss, Chiridonius: Der „bezähmte“ Sohn der Wildniss. Zürich 1861, Hf 3206
  • Blum, Roger: Die politische Beteiligung des Volkes im jungen Kanton Baselland (1832–1875). Liestal 1977, 61236
  • Bürkli, Karl: Eine Kantonalbank, aber keine Herren-, sondern eine Volksbank: Sturz der Geldaristokratie durch eine Staatsbank ohne Gold und Silbergeld. Zürich 1866, R 426
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  • Schmid, Stefan G.: Die Zürcher Kantonsregierung seit 1803. Zürich 2003, 111806
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