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Putzfrau in der Textilfabrik Schoeller, Derendingen, 1986 (Foto: Hansjörg Sahli/SozArch F 5031-Fb-0082)
Putzfrau in der Textilfabrik Schoeller, Derendingen, 1986 (Foto: Hansjörg Sahli/SozArch F 5031-Fb-0082)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Marianne Pletscher, Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz. Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer. Zürich, 2022

Von den über 200’000 Menschen, die in der Schweiz Reinigungsarbeiten verrichten, sind die meisten Migrant:innen. Oft nehmen wir sie nicht wahr, sondern stellen höchstens fest, dass unsere Büros am Morgen wieder sauber, die Restauranttoiletten geputzt oder im Spital alles frisch desinfiziert ist. Da die meisten dieser Menschen dauerhaft in der Schweiz bleiben, tut es not, «sie besser kennenzulernen», wie die Autorin im Vorwort treffend schreibt.

In ihren Reportagen porträtieren Marianne Pletscher und Marc Bachmann neun Personen und ein Ehepaar, die in der Tieflohnbranche der Reinigung tätig sind oder waren. Da ist beispielsweise Rosa mit Jahrgang 1956 aus Süditalien, die bereits seit 1974 in der Schweiz lebt und damals als Reinigungskraft mit sieben Franken Stundenlohn begann. Sie kam zu einer Zeit in die Schweiz, in der die Fremdenfeindlichkeit grassierte – die «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach war erst vier Jahre zuvor knapp abgelehnt worden. Nura aus Bosnien, die im Buch auch ihre Erlebnisse während des Bosnienkriegs erzählt, kam 2002 in die Schweiz. Sie putzt 15 bis 20 Haushalte und ist inzwischen, nach einer langen Odyssee, bei einer Firma mit fairen Arbeitsbedingungen angestellt.

Noch heute beschäftigen viele private Haushalte Reinigungskräfte «schwarz», also unter illegalen und menschenunwürdigen Konditionen. Auch gegen diesen Missstand möchte das Buch ein Zeichen setzen.

Abstand von Protest oder Protest auf Abstand? Soziale Bewegungen in der Covid-19-Pandemie. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Band 34, Heft 2. Berlin/Boston, Juni 2021

Die Pandemie als multiple Krise hat Fragen von Vulnerabilität und sozialer Ungleichheit, aber auch von Solidarität wieder ins Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gerückt. Wie soziale Bewegungen – vornehmlich in Deutschland – auf die Krise reagier(t)en, wie sie ihre Arbeitsweisen und Aktionsformen an die aussergewöhnlichen Umstände anpass(t)en, beleuchtet die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift «Forschungsjournal Soziale Bewegungen».

Zum Beispiel anhand der «Fridays for Future»-Bewegung, die auf digitale Aktionsformen zurückgriff und auf digitalen Plattformen zum Klimastreik vom 25. September 2020 aufrief; oder anhand der rechtspopulistischen PEGIDA, welche durch virtuellen Protest auf sich und ihre Anliegen aufmerksam machte und mitunter den Bogen zur regierungskritischen «Querdenker»-Bewegung schlug. Und schliesslich entstand quasi im Eiltempo eine neue Bewegung, welche sich weltweit gegen die Pandemie-Massnahmen richtete und nicht davor zurückschreckte, sich teilweise die Symbolik der extremen Rechten anzueignen.

Alle Beispiele zeigen die Zusammenhänge zwischen sozialen Bewegungen, Krisensituationen und Mobilisierung auf. Das Heft widerspiegelt den aktuellen Forschungsstand und belegt mit vielen Fallstudien, wie widerstandsfähig soziale Bewegungen auch in Krisenzeiten sind.

Siehe auch:
corona-memory.ch: partizipatives Archiv, das persönliche Momentaufnahmen zur Coronavirus-Pandemie in der Schweiz sammelt
Dossier 64.0 *8 Medizin: Krankheiten in der Sachdokumentation des Sozialarchivs

Mykhailo Minakov, Georgiy Kasianov, Matthew Rojansky (Hrsg.): From «the Ukraine» to Ukraine. A contemporary history, 1991-2021. Stuttgart, 2021

«The history of Ukraine is about losing the article» – that short but in-depth definition was given by the Ukrainian historian Yaroslav Hrytsak.

It was standard in the English-speaking world to refer to this Eastern European country as «The Ukraine» till its independence in 1991. Before this time, Ukraine was never fully an object of international politics. This small change in naming however identifies the development of the country which is now fighting to keep its independence.

Before February 2022, the Russian unleashed war in Ukraine wasn’t well understood in Europe, still, the recent full-scale invasion cleared up the situation. Obviously, Russia’s aggression toward Ukraine aims not only to destroy and annex the neighboring state but also to challenge the democratic world.

As we’re holding our breaths waiting for the outcome, we might as well enjoy reading this book, which can answer an important question: Why is a recent Russian ally now fighting against it to protect European values? The collective of authors made a huge effort to analyze different aspects of Ukraine’s history over the last 30 years. From political development to the shaping of a new Ukrainian national identity. This clearly written book is a toolkit that will help you understand the struggles of modern Ukraine and its perspectives.

Arbeitslosenkomitee der Region Basel (Hrsg): Surprise. Das Strassenmagazin. Basel, 1995-

Seit mehr als zwanzig Jahren gibt das «Surprise»-Magazin aus Basel der Armut im Land eine Stimme. Das Magazin ist vielleicht das landesweit einzige Blatt, das mehr Käufer:innen als Leser:innen hat, denn es wird oft nur aus Solidarität gekauft. Dies ist schade, denn es ist gut recherchierter, anwaltschaftlicher Journalismus mit Tiefgang und Qualität. Das Redaktionsteam setzt Schwerpunkte, die eng mit der Lebensrealität der Verkaufenden zusammenhängen (Schulden, Sucht, Ängste, Ausgrenzung), geht aber auch auf aktuelle Themen ein – spannend, ungewohnt und erfrischend.

So nahm sich das Surprise-Team in der Ausgabe Nr. 515, noch zu Zeiten coronabedingter Einschränkungen, ein sehr schweizerisches Thema vor, den «Konsens». Sechs Personen versuchten, sich über folgende drei Fragestellungen zu einigen: das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer:innen, die Klimaveränderung und den politischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Nicht immer gelang es, einen Konsens zu finden.

Surprise Nr. 517 widmete die Titelgeschichte dem Land «Somalia», nachdem sich Surprise-Verkäufer:innen zunehmend besorgt gezeigt hatten, was in ihrem Land geschah und noch geschehen könnte. Der ausgewiesene Afrika-Kenner Marc Engelhardt schrieb über «Warlords, Islamisten, Investoren». Das gleichnamige Buch befindet sich übrigens in unserer Bibliothek.

Surprise Nr. 521 wiederum brachte Fotoreportagen aus der Ostukraine, eine aus dem regierungskontrollierten Gebiet und eine aus dem prorussischen, separatistischen Gebiet. Sie entstanden in den Jahren 2019 und 2020 und zeigen, dass der Krieg für diese Menschen schon lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine begann.

Alle gedruckten Surprise-Ausgaben können Sie bei uns ausleihen, aber noch besser ist es, Sie kaufen ein Exemplar und unterstützen damit die Verkaufenden und das Magazin.

Laura Backes, Margherita Bettoni: Alle drei Tage. Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen. München, 2021

Jeden Tag im Jahr 2019 versuchte in Deutschland ein Mann, seine Frau umzubringen. Alle drei Tage wurde dabei eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Das ist die erschreckende Bilanz einer Statistik, die die Journalistinnen Laura Backes und Margherita Bettoni für den Titel ihres Buches inspiriert hat. Bei diesen Verbrechen handelt es sich nicht um «Ehrenmorde» oder «Beziehungstaten», sondern um Femizide: Morde, verübt an Frauen, weil sie Frauen sind.

Doch wieso wird kaum über dieses Problem gesprochen? Oftmals als Familientragödien verharmlost, bleiben viele dieser Frauenmorde verborgen und die patriarchalen Macht- und Gewaltmuster, die sich tief durch unsere Gesellschaft ziehen, verdeckt.

Laura Backes und Margherita Bettoni brechen das Schweigen und geben in Form von Protokollen vor allem den Femizid-Überlebenden eine Stimme, die sich als roter Faden durch das Buch zieht. Sie gehen zusätzlich analytisch den Fragen nach, weshalb es zu einer solchen Tat kommt, wie sie abläuft, was nach einem Femizid passiert und wie das Umfeld der Opfer damit umgeht. Auf notwendigerweise bestürzende Art klären die Autorinnen über Femizide auf und liefern den Beweis dafür, dass Femizide ein politisches sowie gesamtgesellschaftliches Problem darstellen – bei uns und weltweit. «Alle drei Tage» ist Schock und Aufklärung zugleich.

Franco Ruault: «Baummord». Die staatlich organisierten Schweizer Obstbaum-Fällaktionen 1950-1975. Frauenfeld, 2021

Als Alternative zur industriellen Landwirtschaft mit ihren biodiversitätsfeindlichen Monokulturen hört man heute vermehrt (wieder) von der «Agroforstwirtschaft», einer Anbaumethode, bei der Nutzpflanzen wie Getreide oder Gemüse mit Bäumen kombiniert werden, wodurch der Artenreichtum gefördert, der Wasserhaushalt stabilisiert und der Boden vor Erosion und Degradation geschützt werden kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte man das landwirtschaftliche Heil genau in der entgegengesetzten Richtung, weg von der damals noch «Feldobstbau» genannten Mischkultur: Auf Anordnung des Bundes mussten ab 1950 Hundertausende Hochstammobstbäume gefällt werden. Ziel war die «Umstellung» auf eine «brennlose Obstverwertung» bzw. auf die nachfragegerechte Produktion von marktkonformem Tafelobst in effizient zu bewirtschaftenden Niederstammplantagen. Den Hintergrund bildete das 1932 in Kraft getretene Alkoholgesetz, in dessen Folge der Obstanbau durch die Alkoholverwaltung reguliert wurde. Diese machte mit der neu erhobenen Alkoholsteuer zwar Einnahmen, mit der Übernahmegarantie der Obstüberschüsse im Gegenzug aber Millionenverluste.

Besonders betroffen war das «Obstparadies» Thurgau, an dessen Beispiel Franco Ruault diese martialische staatliche Massnahme genauer untersucht hat. Der Historiker hat schriftliche Quellen ausgewertet, aber auch Interviews mit damaligen Akteuren geführt und dem Text viele Fotos beigefügt, so dass sich dieses noch junge, aber bisher unterbeleuchtete Kapitel der Schweizer Agrargeschichte sehr anschaulich liest.

27. June 2022Susanne Brügger back