Die 1930er Jahre in Europa waren eine Zeit schwerer Krisen und Konflikte. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte zu Massenarbeitslosigkeit und gab extremen politischen Kräften Auftrieb. In verschiedenen Ländern führte dies zu latenten oder offenen Bürgerkriegen mit einem hohen Level an politischer Gewalt und zum Zusammenbruch fragiler Demokratien. In der Schweiz kamen diese Tendenzen in abgemilderter Form an: Die Wirtschaftskrise erreichte das Land mit einer gewissen Verzögerung (s. SozialarchivInfo 5/2020), der Zulauf zu antidemokratischen Kräften an den Rändern des politischen Spektrums war geringer und die politische Gewalt hielt sich aufgrund einer schwächeren Paramilitarisierung der politischen Lager in Grenzen (s. SozialarchivInfo 3/2019). Im Jahre 1932 wurde aber auch die Schweiz von zwei Ereignissen erschüttert, die als «Blutnächte» in die Geschichte eingegangen sind.
Wilder Streik, kommunistische Agitation und die «Blutnacht» im «Roten Zürich»
Ausgangspunkt der Zürcher «Blutnacht» vom 15. Juni 1932 war ein «wilder» Streik der Zürcher Heizungsmonteure. Hintergrund waren innerlinke Positionskämpfe im «Roten Zürich». Während die Sozialdemokraten seit 1928 die Mehrheit in der Zürcher Stadtregierung besassen, waren Bedeutung und Wähleranteil der Kommunisten in der Stadt seit der Parteispaltung von 1921 kontinuierlich zurückgegangen. Anfang Mai 1932 lehnte eine vom KP-nahen «Einheitsverband» einberufene Monteurversammlung im Volkshaus eine Übereinkunft zwischen den Heizungsindustriellen und der Gewerkschaft SMUV ab. Diese sah auf der Basis des geltenden Landesvertrags im Zuge der Deflationskrise eine Lohnanpassung vor, die für die Heizungsmonteure einen Nominallohnabbau, faktisch aber aufgrund noch stärker sinkender Preise eine Reallohnerhöhung bedeutete. Einige Tage später beschloss eine weitere Versammlung den Streik, welcher weder vom SMUV noch vom Zürcher Gewerkschaftskartell unterstützt wurde. Sukkurs erhielten die Streikenden aber von den Kommunist:innen, die den Arbeitskampf als Vehikel für die Konfrontation mit der gemäss der «Sozialfaschismus»-Doktrin der Komintern als «Hauptstütze der Bourgeoisie» prioritär zu bekämpfenden Sozialdemokratie und den von ihr dominierten Gewerkschaften sahen.
In den ersten Wochen verlief der Ausstand ruhig. Als es Anfang Juni zum vermehrten Einsatz von Streikbrechern kam, eskalierte aber die Situation zunehmend. Zu Beginn der sechsten Streikwoche gab es auf verschiedenen Bauplätzen in unterschiedlichen Stadtquartieren tätliche Auseinandersetzungen zwischen Streikpatrouillen, die aus 50 bis 70 Mann bestanden, und Streikbrechern sowie der Polizei. Ein Polizist erlitt dabei unter anderem einen Kieferbruch. Die Polizei nahm mehrere Verhaftungen vor, unter anderem diejenige des Streikpräsidenten. In der folgenden Nacht kam es zu einem Sabotageakt: Im Neubau des ETH-Physikgebäudes wurden etwa 50 Zentralheizungskörper zertrümmert. Gegen die Verhaftungen riefen Streikleitung und Kommunist:innen zu einer Protestversammlung am 15. Juni auf, die indessen vom Zürcher Stadtrat verboten wurde. Während daraufhin die Streikleitung die Veranstaltung absagte, hielt das kommunistische Parteiblatt «Der Kämpfer» daran fest.
An der Versammlung auf dem Helvetiaplatz beteiligten sich je nach Quelle 1’000 bis 5’000 Personen. Im Anschluss daran entbrannte zwischen etwa 300 Steine werfenden Demonstrant:innen (darunter etwa zwei Dutzend Frauen) und der 200 Mann starken Polizei eine sich bis in die frühen Morgenstunden hinziehende Strassenschlacht, für deren Ausbruch sich im Anschluss Polizei und Kommunist:innen gegenseitig beschuldigten. Auf der Langstrasse wurde eine Barrikade errichtet und in Brand gesteckt und es kam auch zu Plünderungen mehrerer Geschäfte. Die Bilanz der «Blutnacht» waren ein Toter und 30 Schwerverletzte (davon drei Polizisten). Das Todesopfer, der 29-jährige kommunistische Magaziner und Ausläufer Fritz Meier, verheiratet und Vater von zwei Kindern, war nach einem von der Polizei abgegebenen Schuss noch in derselben Nacht verblutet. Die Polizei nahm mehrere Dutzend Verhaftungen vor und führte eine Razzia in der Parteizentrale der Kommunist:innen durch. 24 Personen wurden in Untersuchungshaft genommen, nach wenigen Tagen aber wieder freigelassen. Unmittelbar nach der «Blutnacht» setzte sich das städtische Polizeiinspektorat mit der kantonalen Militärdirektion in Verbindung und übernahm leihweise 350 Kurzgewehre, 300 Stahlhelme und acht leichte Maschinengewehre. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder zurückgegeben.
In den Medien verliefen die Kommentare streng entlang der Parteilinien. Der kommunistische «Kämpfer», der in den Tagen nach der «Blutnacht» gezielt sich gegen die Sozialdemokratie richtende Briefe angeblicher Augenzeug:innen publizierte, behauptete: «Die sozialdemokratischen Führer wollten dieses Blutbad». Die «Polizeikosaken» hätten «im Auftrage der Lohnabbauer, der herrschenden, kapitalistischen Klasse in Zürich ein ungeheuerliches Blutbad angerichtet. Zürich ist röter geworden, mit Arbeiterblut, mit Blut von Kindern und Frauen» (Kämpfer, 16.6.1932). Sogar die «Pravda» berichtete im fernen Moskau in diesem Sinne von den Zürcher Unruhen (Pravda, 22.6.1932). Zehn Tage nach den Ereignissen äusserte sich auch der vom sowjetischen Geheimdienst gejagte Trotzki aus dem Exil zu den Ereignissen in einem Brief an das kleine Grüppchen Zürcher Trotzkist:innen, den diese in einem Flugblatt mit dem Titel «Trotzki antwortet den Arbeitermördern» verbreiteten. Die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Presse stellte den Heizungsmonteurenstreik dagegen von Beginn weg negativ dar. Nach der «Blutnacht» sprach das «Volksrecht» von einer «Blutschuld der Kommunisten», die die Vorfälle «von langer Hand vorbereitet» hätten (Volksrecht, 16.6.1932). Einige Tage später schrieb das SP-Blatt: «Die Kommunisten sind die allerbesten Helfershelfer des historischen Klassenfeindes der zürcherischen Arbeiterschaft! Je mehr Aktionen der ultralinken Verbrecherclique, um so sicherer und um so gewisser der Triumph der extremen Reaktion» (Volksrecht, 20.6.1932).
Die bürgerliche Presse titulierte die Kommunist:innen als «Moskauer Hetzapostel» (Neue Zürcher Nachrichten, 15.6.1932), «Radaubrüder» (NZZ, 17.6.1932) oder «kommunistische Mordbanden» (Züricher Post, 16.6.1932). Die «Neue Zürcher Zeitung» sah nach der «Blutnacht» aber auch eine «moralische Mitverantwortung der sozialistischen Stadtverwaltung» (NZZ, 17.6.1932). Gemäss dem liberalen Leitmedium war «in dieser schwülen Sommernacht das grellrote Licht der bolschewistischen Umsturzpläne scheinwerferartig auf das Zürcher Arbeiterquartier gefallen»: «Die Zürcher Kommunisten haben in der vergangenen Nacht, die ein ganzes Quartier der Stadt in Aufregung und Schrecken versetzte, die Generalprobe ihres revolutionären Putschprogramms abgehalten» (NZZ, 16.6.1932). Dabei hätten die Kommunist:innen ihre Aktion generalstabmässig geplant: «Die Sturmtruppen des bolschewistischen Lagers waren vom Einbruch des Abends an in höchster Bereitschaft und griffen, von dem in der ‹Sonne› einquartierten unsichtbaren Generalstab geleitet, auch unverzüglich ein, nachdem ein Redner auf dem Helvetiaplatz das Signal gegeben hatte. […] all das ist mit einer beinahe militärisch zu nennenden Taktik ins Werk gesetzt worden. Die Saat des Kommunismus geht auf. Seine Anhänger sind bei jeder Gelegenheit zum Losschlagen bereit» (NZZ, 16.6.1932).
Am 16. Juni besichtigten den ganzen Tag über Gruppen von Neugierigen den Schauplatz der Auseinandersetzungen der vorangegangenen Nacht. Am Abend versammelte sich auf dem Helvetiaplatz eine mehrtausendköpfige Menschenmenge zu einer unbewilligten Kundgebung, bei der der führende Kommunist Marino Bodenmann eine Rede hielt. Obwohl das Demonstrationsverbot weiterhin galt und die Menge den Tramverkehr behinderte sowie zwei Autos beschädigte, griff die Polizei dieses Mal nicht ein. Am Rande der Kundgebung wurde der 52-jährige Zigarettenhändler Ernst Klopfenstein von Demonstrant:innen aus seinem Auto gezerrt und zusammengeschlagen. Dabei erlitt er eine Verletzung der Lunge, der er in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni erlag. Dieser zweite Tote wurde von der kommunistischen Propaganda geflissentlich verschwiegen und ging auch nicht in die Erinnerungskultur ein. Am selben Abend veranstalteten auch die Sozialdemokrat:innen im Limmathaus eine Versammlung, zu der sich etwa 800 Personen einfanden und an der nach einem Referat von Parteipräsident Friedrich Heeb eine dreistündige Diskussion stattfand, an der sich unter anderem Stadtpräsident Emil Klöti und Nationalrat Ernst Nobs beteiligten. Zum Schluss beschloss die Versammlung eine Resolution, die die Kommunist:innen für die Vorfälle verantwortlich machte.
Die Kommunist:innen versuchten in der Folge, die Trauerfeierlichkeiten für Fritz Meier zu einer öffentlichen Demonstration umzufunktionieren. Dies wurde aber von der Polizei weitgehend unterbunden. Nachdem die pfarramtliche Abdankung auf Wunsch der Witwe in der Wohnung erfolgt war, sollte zunächst auch die Kremation im engsten Familienkreis stattfinden. Meiers Bruder, ebenfalls ein kommunistischer Aktivist, drängte die Witwe aber um Zustimmung zur Zulassung von 50 Kommunist:innen, die die Kremation mit «Rotfront!»-Rufen begleiteten. Auf mehreren Kränzen wurde die Sozialdemokratie geschmäht und rund um das Krematorium kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei.
Im Arbeitskonflikt, der den Ausgangspunkt der Unruhen gebildet hatte, blieben Verhandlungen vor dem Einigungsamt ab dem 22. Juni ergebnislos. Daraufhin schaltete sich die Zürcher Stadtregierung ein und erreichte die Arbeitsaufnahme am 5. Juli. In der unter ihrer Vermittlung erzielten Übereinkunft wurde der Umfang des Nominallohnabbaus nicht verringert, hingegen zeitlich etwas verzögert. Daraufhin beschlossen die Monteure die Beendigung des Streiks. Die Aufarbeitung der Unruhen vom 15. Juni führte dann in den Parlamenten von Stadt und Kanton Zürich zu heftigen Debatten, in denen Sozialdemokraten, Bürgerliche und Kommunisten ihre bereits in der Presse geäusserten Standpunkte wiederholten.
Faschismus, Antifaschismus, Ordnungstruppen und die «fusillade» in Genf
Knapp fünf Monate nach der Zürcher «Blutnacht» fand in Genf ein noch tragischeres Ereignis statt. Anlass war am 9. November 1932 eine Veranstaltung der faschistischen «Union Nationale», gegen die rund 8’000 Personen, hauptsächlich Anhänger:innen der Linksparteien und Gewerkschaften, demonstrierten. Nachdem die überforderte Polizei durch eine Militäreinheit aus der Lausanner Rekrutenschule verstärkt worden war, eskalierte die Situation. Um 21.34 Uhr feuerten die Rekruten auf Befehl und ohne Vorwarnung in die Menge. Es gab 13 Tote und über 60 Verwundete. Als erster wurde mit Henri Fürst der Präsident der Kommunistischen Partei Genf tödlich getroffen. Das älteste der allesamt männlichen Todesopfer war der 57-jährige Bäckermeister Gabriel Loup, das jüngste der 25-jährige Handlungsgehilfe Jean-Pierre Larderaz. Ein Opfer, der 25-jährige Bankangestellte Oscar Maurer, wurde auf dem Nachhauseweg von einem Abendkurs getötet. Es war dies der blutigste Ordnungseinsatz der Schweizer Armee, nachdem die Einsätze während des Basler Generalstreiks von 1919 fünf und während des Landesstreiks von 1918 in Grenchen drei Todesopfer gefordert hatten.
Die politische Situation in Genf unterschied sich von derjenigen Zürichs. Die Stadt war von der Wirtschaftskrise in besonderem Masse betroffen: 1932 waren über 8’000 Personen ohne Arbeit. Die Arbeitskämpfe nahmen an Heftigkeit zu. Die aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Allianz zwischen «Radicaux» (Freisinnigen) und Sozialisten zerbrach definitiv. An ihre Stelle trat eine zunehmende Polarisierung zwischen rechts und links. Die SP unter Führung des wortgewaltigen Linkssozialisten Léon Nicole ging aus den kantonalen Wahlen von 1930 zwar als weitaus stärkste Kraft hervor, war aber in der siebenköpfigen Kantonsregierung nicht mehr vertreten. Die Gewerkschaften radikalisierten sich durch Militante wie Lucien Tronchet, der unter dem Dach des Bau– und Holzarbeiterverbandes die etwa hundertköpfige anarchosyndikalistische «Ligue d’action du bâtiment» organisierte, welche in mehreren Arbeitskämpfen zu Sabotageaktionen griff.
Auf der rechten Seite wurden die traditionellen bürgerlichen Parteien durch mehrere politische und Finanzskandale erschüttert, während zugleich autoritäres Gedankengut zunehmende Popularität genoss. 1931 deckte die Linke Unregelmässigkeiten im Zusammenhang mit einer Rettungsaktion zugunsten der «Banque de Genève» auf, der trotz katastrophaler Finanzlage öffentliche Gelder zugeflossen waren. Innerhalb des bürgerlichen Lagers befanden sich die antiliberalen Kräfte auf dem Vormarsch. Arbeitgeber und christliche Gewerkschaften machten sich für eine korporative Neuordnung der Arbeitsbeziehungen stark. Zudem betraten neue, rechtsextreme Kräfte das politische Parkett. 1930 gründete der Antisemit und Mussolini-Bewunderer Georges Oltramare die faschistische Partei «Ordre Politique National», die 1932 mit der rechtsbürgerlichen «Union de défense économique» zur «Union Nationale» fusionierte. Diese hetzte gegen Judentum und Marxismus und wollte an die Stelle der liberalen Demokratie ein autoritär-korporatistisches System setzen. Ihre Parteianhänger paradierten nach ausländischen Vorbildern zu Marschmusik und uniformiert mit Baskenmützen und grauen Hemden durch die Strassen der Calvinstadt.
Für den 9. November 1932 lud die «Union Nationale» in den Gemeindesaal von Plainpalais zu einer als «öffentliche Anklage» gegen die sozialistischen Parteiführer Léon Nicole und Jacques Dicker deklarierten Veranstaltung. Nachdem die Behörden ein Begehren der SP nach Verbot der Kundgebung abgelehnt hatten, organisierte diese eine Gegendemonstration. Die Kantonsregierung wurde im Verlauf des Tages davon unterrichtet, dass diese Demonstration in Unruhen überzugehen drohe, und forderte beim Eidgenössischen Militärdepartment Verstärkung an, worauf über 600 Mann der Lausanner Infanterierekrutenschule, die sich in der sechsten Ausbildungswoche befand, nach Genf beordert wurden. Nach dem Blutvergiessen zogen es die meisten Demonstrant:innen vor, nach Hause zu gehen. Lediglich eine vor allem aus Kommunist:innen und Anarchist:innen bestehende Gruppe von 200 bis 300 Personen zog unter dem Ruf «Assassins!» und Absingen der «Internationale» bis Mitternacht durch die Strassen.
Am Morgen des folgenden Tages waren verschiedene öffentliche Gebäude mit Militär belegt. Léon Nicole und weitere sozialistische Parteiführer wurden verhaftet. Im Lauf des Tages traf der katholisch-konservative Bundespräsident Giuseppe Motta in Genf ein und stellte fest, die Ordnung sei wiederhergestellt. Genauso wie für ihn war auch für die bürgerliche Presse klar, dass die Schuld an den Ereignissen die sozialistischen und kommunistischen «Revolutionsköche» treffe, allen voran den «Hetzer Nicole», der «für seinen berstenden Ueberfluss an Gift und Galle einen Auslass auf die Strasse finden» musste (Der Bund, 11.11.1932). Die «Neue Zürcher Zeitung» benutzte die Ereignisse zu einer generellen Attacke gegen die Demonstrationsfreiheit. In einem Artikel mit dem Titel «Politik der Strasse» verneinte sie die Frage, ob es ein «‹Recht› auf die Strasse» gebe, vehement. In der direktdemokratischen Schweiz habe die «Strassenpolitik», die «von unseren sozialistisch-kommunistischen Parteien ausländischen Vorbildern nachgeahmt worden» sei, keine Berechtigung. Insgesamt war die «Strassenpolitik», wozu «öffentliche Massenversammlungen» und in «roten Terror» ausartende Demonstrationszüge gezählt wurden, für die NZZ ganz klar ein nur von der «marxistischen Bewegung» benutztes Instrument. Rechtsextreme Aufmärsche spielten in ihren Überlegungen keine Rolle (NZZ, 12.11.1932).
Innerhalb der Linken diskutierte man am Tag nach der Genfer «Blutnacht» die Proklamation eines lokalen Generalstreiks. Schliesslich wurde für den darauffolgenden Samstag, an dem die Opfer bestattet wurden, zur Arbeitsniederlegung aufgerufen, die aber nur unvollständig befolgt werden sollte. In mehreren Schweizer Städten fanden indessen Solidaritätskundgebungen statt, welche die Behörden mit erneuten militärischen Pikettstellungen beantworteten. Als im folgenden Monat die eidgenössischen Räte über die Erneuerung der Subvention für den Arbeitersportverband SATUS zu befinden hatten, versandte der rechtsbürgerliche «Schweizerische Vaterländische Verband» im Vorfeld an nahe stehende Parlamentarier Briefe, in denen dem SATUS eine wesentliche Rolle bei den Genfer Ereignissen angedichtet wurde. Als die Räte daraufhin beschlossen, die Subvention nicht zu erneuern, wurde von sozialdemokratischer Seite der Verdacht geäussert, die Streichung sei eine «Rache für Genf». Während gegen die beteiligten Armeeangehörigen keine Verfahren eingeleitet wurden, verurteilte ein Bundesschwurgericht 7 der 18 wegen Anstiftung zum Aufruhr Angeklagten. Mit sechs Monaten Gefängnis am härtesten bestraft wurde Léon Nicole.
Nachwirken und Erinnerungskultur
Die beiden «Blutnächte» von 1932 hatten sowohl kurz- als auch längerfristig unterschiedliche Konsequenzen. In Zürich konnten die Kommunist:innen entgegen ihren Erwartungen (und sozialdemokratischen Befürchtungen) keinen politischen Profit aus den Ereignissen des Sommers 1932 ziehen. Bei den kommunalen Erneuerungswahlen im September 1933, die im Zeichen der zweiten Eingemeindung sowie des Grossangriffs einer bürgerlich-frontistischen Wahlallianz auf das «Rote Zürich» standen, behaupteten die Sozialdemokraten ihre absoluten Mehrheiten in Parlament und Stadtregierung, während die Kommunisten vier ihrer sechs Parlamentsmandate einbüssten und mit ihren neun Stadtratskandidaten keinerlei Erfolg hatten (s. SozialarchivInfo 6/2017). In den Arbeiterquartieren erlitten die Sozialdemokraten zwar geringfügige Stimmenverluste, die Kommunisten aber ebenso.
Demgegenüber kam es in Genf zu einem politischen Umschwung. Im November 1933 feierte der soeben aus der Haft entlassene Léon Nicole ein spektakuläres Comeback. Zusammen mit drei weiteren Sozialisten wurde er in den Staatsrat gewählt. Gleichzeitig errang die SP auch die Mehrheit in der Stadtregierung von Lausanne. Damit bestand in Genf als schweizweite Premiere eine mehrheitlich linke Regierung auf kantonaler Ebene – allerdings mit einer rechten Parlamentsmehrheit. Dies führte in den folgenden Jahren zu einer Blockadepolitik und bereits 1936 eroberten die bürgerlichen Parteien mit Unterstützung der «Union Nationale» die Regierungsmehrheit zurück. Diese setzte im Juni 1937 ein kantonales Verbot der Kommunistischen Partei durch. Der daraufhin einsetzende Zustrom von Kommunist:innen zur Genfer SP drängte diese weiter nach links und führte zu immer stärkeren Konflikten mit der nationalen Mutterpartei.
Zum definitiven Bruch kam es im Herbst 1939. Nachdem Léon Nicole, der durch eine Moskaureise im Frühjahr in seinem sowjetfreundlichen Kurs bestärkt worden war, den zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hinführenden Hitler-Stalin-Pakt gutgeheissen hatte, wurde er im September aus der SP ausgeschlossen. Grosse Teile der Genfer und Waadtländer SP-Sektionen schlugen sich aber auf die Seite Nicoles und gründeten die «Fédération socialiste suisse» (FSS), die in Genf die Rest-SP wählermässig bei weitem überflügelte. 1941 wurde die FSS vom Bundesrat verboten, fusionierte daraufhin mit der inzwischen ebenfalls landesweit illegalen Kommunistischen Partei und wurde zu einer Keimzelle der 1944 gegründeten Partei der Arbeit (PdA). Léon Nicole, der während des Zweiten Weltkriegs als Korrespondent der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS wirkte, wurde 1947 für die PdA in den Nationalrat gewählt, bezichtigte aber seine Partei nach dem Bruch zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien «titoistischer» Tendenzen. 1952 aus der PdA ausgeschlossen, gründete er den kurzlebigen «Parti progressiste». Diese Irrungen und Wirrungen innerhalb der Genfer Linken widerspiegelten sich nicht zuletzt in den Gedenkfeiern an die «fusillade» von 1932, die bis in die frühe Nachkriegszeit jährlich abgehalten wurden.
Auch im späten 20. Jahrhundert waren die beiden «Blutnächte» noch nicht vergessen. In den 70er Jahren erschienen aus «neulinken» Kreisen verschiedene Publikationen zu den Zürcher Ereignissen vom Sommer 1932. Anlässlich des 50. Jahrestages organisierten 1982 verschiedene Gruppen links von der SP einen Gedenkanlass, bei dem eine Erinnerungstafel an das «Denkmal der Arbeit» auf dem Helvetiaplatz montiert wurde. Dieses hatte seinerseits eine komplexe Geschichte. Seine Idee ging auf die Landesausstellung 1939 zurück und nach zwei Projektwettbewerben 1942 und 1952 obsiegte Karl Geisers Modell mit einer Menschengruppe aus zwei männlichen Arbeitern, einer Frau mit Tasche und einem Kind. Die Gewerkschaften, denen das Modell zu wenig heroisch war, gaben daraufhin bei Werner F. Kunz die Statue «Prometheus» in Auftrag. Die Stadt liess am 1. Mai 1964 auf dem Helvetiaplatz aber Geisers Modell einweihen, während der heroische «Prometheus» auf den Werdplatz verbannt wurde. 1983 beantragte dann die POCH im Gemeinderat, die Tafel zur Erinnerung an die «Blutnacht» zu verstetigen. Der Vorstoss wurde aber mit den Stimmen der Bürgerlichen bei Enthaltung der Sozialdemokrat:innen abgelehnt. Etwa zwei Jahrzehnte später hing am «Denkmal der Arbeit» indessen erneut ein (anonymes) Täfelchen zur Erinnerung an die «Blutnacht» – versehen mit Hammer und Sichel. Dieses ging möglicherweise auf den «Revolutionären Aufbau Zürich» zurück, der 2012 anlässlich des 80. Jahrestages der «Blutnacht» auch eine entsprechende Schauplatzführung veranstaltete.
In Genf blieb die Erinnerung an das Ereignis von 1932 noch stärker. 1977/78 schilderten eine Fernsehserie und ein Buch die turbulenten 30er Jahre mit einem Fokus auf der «fusillade». Anlässlich des 50. Jahrestages organisierte ein Komitee aus linken und gewerkschaftlichen Kreisen 1982 eine Ausstellung und einen Gedenkanlass. Ebenso errichtete die lokale Bauarbeitergewerkschaft einen Gedenkstein, der von der Regierung nach einigem Hin und Her über den Wortlaut der Inschrift und einem Vandalenakt durch einen Rechtsaussenpolitiker dann rückwirkend offizialisiert wurde. Dass im November 1989 die erste Armeeabschaffungsinitiative im Kanton Genf mit 50,4 Prozent Ja-Stimmen eine knappe Mehrheit erzielte, dürfte ebenfalls eine Langzeitwirkung von «1932» gewesen sein. 2007 fand anlässlich des 75. Jahrestags in Genf eine internationale Tagung über Repression in demokratischen Staaten statt. Im Jahr darauf liess die Kantonsregierung den Gedenkstein verschieben, damit er auf die genaue Stelle der «fusillade» zu stehen kam. 2016 beschloss das Genfer Kantonsparlament mit grosser Mehrheit eine Standesinitiative für die juristische Rehabilitierung der verurteilten Aktivisten von 1932. Der Vorstoss wurde 2018/19 aber von den eidgenössischen Räten abgelehnt.
Darüber hinaus haben die Politikwissenschafter Marco Tackenberg und Dominique Wisler die These formuliert, dass die beiden «Blutnächte» von 1932 auch gegenteilige Auswirkungen auf den langfristigen staatlichen Umgang mit öffentlichem Protest gezeitigt hätten. Zunächst hätten in beiden Städten «law and order»-Vorstellungen dominiert. In Genf habe sich dann nach der Wahlniederlage der Rechten von 1933 aber eine stärker bürgerrechtsorientierte Position auch bei den Bürgerlichen durchgesetzt. Die diskursiven Strategien der 30er Jahre seien sodann zu wichtigen und bindenden symbolischen Ressourcen für die politischen Akteur:innen ab den 70er Jahren geworden, als die Auseinandersetzung um die öffentliche Ordnung mit dem Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen wieder auf die politische Agenda kam. Damit lägen die Wurzeln divergierender politischer Kulturen der beiden Metropolen beim Umgang mit öffentlichem Protest in den 30er Jahren.
Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)
- Ar 1.110.21 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Protokolle Geschäftsleitung und Parteivorstand 1931–1934
- Ar 1.220.34 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Kantonalparteien: Genève 1933–1934
- Ar 2.20.16 Gewerkschaftskartell Zürich: Gewerkschaftskartell 1930–1933
- Ar 198.8.2 Hans Bruggmann: Manuskripte: Bemerkungen zur Herausgabe einer Dokumentation über den Streik der Heizungsmonteure, 1971
- Ar 422.81.1 SMUV Sektion Zürich: Heizungsmonteure 1930–1937
- Ar 422.82.5 SMUV Sektion Zürich: Sanitär- und Heizungsmonteure 1931–1934
- Ar 493.10.2 ROPRESS – Sammlung von Auftrags-Lauftaschen mit Belegexemplaren: Die Blutnacht und der Monteurenstreik in Zürich Juni 1932; Broschüre; 22.01.1974
- Ar 685.10.87 Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte: Adolf Felix Vogel, Fotokopien
- Ar SMUV 10B-0002 Broschüren, Kleinformat: 1916–1933
- Ar SMUV 02I-0001 SMUV und Kommunismus: Presseausschnitte; Flugblätter; agitatorische Schriften; Korrespondenz
- KS 335/79:1 Arbeiterunruhen & Streiks in der Schweiz
- KS 335/240 Léon Nicole (Parti progressiste)
- Batou, Jean: Quand l’esprit de Genève s’embrase: Au-delà de la fusillade du 9 Novembre 1932. Lausanne 2012, 128193
- Bodenmann, Marino: Zum 40. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei der Schweiz. Zürich/Genf 1961, 38080
- Borès, Mélanie: Plus jamais ça: Petite histoire de la «Pierre de Plainpalais»: Entretien avec Jacques Robert, in: Cahiers d’histoire du mouvement ouvrier 33 (2017). S. 82-93, D 5037
- Bruggmann, Lisel: Ich wünsche euch des Weltenalls Erbeben: Gedichte und Erzählungen aus dem Kampf der Schweizer Arbeiterklasse. Zürich o. J. [1974], 54108
- Conca-Pulli, Pälvi: Soldats au service de l’ordre public: La politique du maintien de l’ordre intérieur au moyen de l’armée en Suisse entre 1914 et 1949. Neuchâtel 2003, 134579
- Heimann, Erwin: Hetze: Roman. Bern o. J. [1937], 9349
- Heimann, Erwin: Ein Blick zurück: Mein Leben in meiner Zeit. Ostermundigen-Bern 1974, 52893
- Heimberg, Charles: Pour une histoire sans trous de mémoire. Genf 1992, 100347
- Heimberg, Charles et al. (Hg.): Mourir en manifestant: Répressions en démocratie – Le 9 Novembre 1932 en perspective: Actes du Colloque international organisé dans le cadre du 75e anniversaire de la fusillade du 9 novembre 1932 à Plainpalais (Genève). Lausanne 2008, 120877
- Heimberg, Charles: Ramer à contre-courant: Le fier combat pour l’histoire et les mémoires subalternes, in: Cahiers d’histoire du mouvement ouvrier 33 (2017). S. 126-138, D 5037
- Huber, Peter: Kommunisten und Sozialdemokraten in der Schweiz 1918–1935: Der Streit um die Einheitsfront in der Zürcher und Basler Arbeiterschaft. Zürich 1986, 80494
- Humbert-Droz, Jules: Die Strassenkämpfe in Zürich, in: Internationale Presse-Korrespondenz 12/51 (1932). S. 1611f., N 4097
- Koller, Christian: Demonstrating in Zurich between 1830 and 1940 – From Bourgeois Protest to Proletarian Street Politics, in: Reiss, Matthias (Hg.): The Street as Stage: Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century. Oxford 2007. S. 191-211, 140421
- Koller, Christian: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950). Münster/Wien 2009, 121626
- Kreis, Georg: Zeitzeichen für die Ewigkeit: 300 Jahre Schweizerische Denkmaltopographie. Zürich 2008, 119419
- Lindig, Steffen: «Der Entscheid fällt an den Urnen»: Sozialdemokratie und Arbeiter im Roten Zürich 1928 bis 1938. Zürich 1979, 65768
- Die Mobilisierung der Kommunistischen Partei zur Organisierung und Führung der Massenkämpfe: Beschlüsse des 7. erweiterten Plenums des Z. K. der K. P. Schweiz. Zürich 1933, 335/390a-4
- Rauber, André: Léon Nicole: Le Franc-tireur de la Gauche Suisse (1887–1965). Genf 2007, 118829
- Studer, Brigitte (Hg.): Sous l’œil de Moscou: Le Parti communiste suisse et l’Internationale 1931–1943. Zürich 1996, 100180
- Tackenberg, Marco und Dominique Wisler: Die Massaker von 1932: Protest, Diskurs und Öffentlichkeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft 4 (1998). S. 51-79, N 953
- Tackenberg, Marco und Dominique Wisler: Hutlose Bürschchen und halbreife Mädels: Protest und Polizei in der Schweiz. Bern 2007, 118020
- Torracinta, Claude: Sturm über Genf 1930–1939. Genf 1978, Gr 3506
- Wandeler, Josef: Die KPS und die Wirtschaftskämpfe 1930–1933: Bauarbeiterstreik Basel, Schuharbeiterstreik Brüttisellen, Heizungsmonteurstreik Zürich, Sanitärmonteurstreik Zürich. Zürich 1978, 63529
- Wyler, Rebekka: «Ein Chefmonteur streikt doch nicht wie ein gewöhnlicher Prolet»: Der Streik der Zürcher Heizungsmonteure im Sommer 1932 als Arbeitskampf einer gespaltenen Gruppe von Arbeitern. Lizentiatsarbeit, Univ. Zürich 2005, Gr 11584