Die Sammlung popularer Selbstzeugnisse im Schweizerischen Sozialarchiv
von Fabian Brändle
Den Alltag und die Kultur der „kleinen Leute“ zu erforschen erweist sich bisweilen als denkbar schwierige Aufgabe. Gerichtsakten geben zwar immerhin Auskunft über kriminalisiertes Verhalten, enthalten jedoch viele strategisch bedingte Aussagen, die nicht immer für bare Münze zu nehmen sind. Angeklagte Frauen und Männer versuchen nämlich, durch mehr oder weniger bewusstes Verfälschen der Tatsachen den Kopf aus der Schlinge zu ziehen und der zu verhängenden Strafe zu entgehen. So sind wir bei der Rekonstruktion des Alltags und der Volkskultur in der Regel auf Selbstaussagen, auf Egodokumente, angewiesen, wie sie uns in Selbstzeugnissen (Autobiografien, Tagebücher, Kindheitserinnerungen, Briefe etc.) entgegentreten. Handwerker, Bäuerinnen, Bauern, Angestellte, Arbeiterinnen, Arbeiter, aber auch „Ungelernte“ wie Hausierer, Berufssportler, Dienstboten oder Prostituierte haben solche Texte in gar nicht so kleiner Anzahl verfasst, Texte, die freilich nicht frei von Stilisierungen, ja, von Beschönigungen und sogar von Lügen sind. Selbstzeugnisse bedürfen wie sämtliche anderen Quellentypen auch einer sorgfältigen Quellenkritik. Im Grundton sind sie oft nostalgisch, beschwören eine harte, aber schöne Kindheit ohne Computer und Handys und mit nur ganz wenigen Spielsachen.
Es herrscht indessen immer noch Mangel an zuverlässigen, wissenschaftlichen Editionen, die den Wahrheitsgehalt popularer Selbstzeugnisse herausdestillieren würden, indem sie beispielsweise archivalische Quellen wie Kirchenbücher oder Zivilstandsregister kontrollierend hinzuziehen. So liesse sich so manche noch so raffinierte Fälschung relativ schnell enttarnen. Denn vergessen wir nicht: Auf dem Büchermarkt sind populare Selbstzeugnisse durchaus beliebt und gefragt, denken wir nur an die Autobiografien der bayrischen Bäuerin Anna Wimschneider („Herbstmilch“) oder an die Schweizer Aussenseiterin und Hausfrau Rosemarie Buri („Dumm und dick“), die zu veritablen Bestsellern avancierten. Populare Selbstzeugnisse haben eben noch lange nicht jene Lobby wie die Werke bekannter SchriftstellerInnen, die in gebundenen, annotierten Werkausgaben gediegen, vollständig und mehrbändig erscheinen. Eine Ausnahme bilden die gesammelten Werke des Toggenburger Ferggers, Bauern, Salpetersieders und preussischen Söldners Ulrich Bräker, die in mustergültiger Edition vorliegen (Haupt und C. H. Beck).
Jammern hilft indessen wenig, nur selbst machen hilft weiter. So habe ich in den letzten beiden Jahrzehnten fünf populare Selbstzeugnisse aus der Frühen Neuzeit (ca. 1500-1800), aus dem 19. und aus dem frühen 20 Jahrhundert (mit-)ediert und in Buchform herausgegeben. Ich bin mir indessen sicher, dass noch in so manchem Archiv editionswürdige Manuskripte aufzufinden wären, und auch gedruckte Rarissima und Rara wären je nach Qualität eine kommentierte, vollständige Neuausgabe wert. So bietet beispielsweise die im Selbstverlag erschienene Kindheitserinnerung des Aussersihlers Edwin Läser ein Panorama der Freizeitkultur in einem grossstädtischen Arbeiterquartier der 1930er und frühen 1940er Jahre: Eine jedoch keinesfalls einmalige Fundgrube jugendlicher Alltagskultur. Das Deutsche Tagebucharchiv Emmendingen (bei Freiburg im Breisgau) sammelt und verschlagwortet Selbstzeugnisse „kleiner Leute“ und erfreut sich in den letzten Jahren einer wachsenden Beliebtheit nicht nur unter HistorikerInnen, sondern auch unter Geschichtsinteressierten generell und nicht zuletzt unter Schulklassen. Auch in Wien gibt es eine sehr gute Dokumentationsstelle mit eigener Buchreihe („Damit es nicht verlorengeht“, Böhlau, begründet vom Sozialhistoriker Michael Mitterauer).
Mein erster Kontakt mit einem popularen Selbstzeugnis fand im Jahre 1997 an der Universität Basel statt, wo ich wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Selbstzeugnisspezialisten Kaspar von Greyerz war. Meine dortige erste Aufgabe war es, die Autobiografie des calvinistischen Elsässer Kannengiessers Augustin Güntzer (1596-1657?) zu annotieren. Die einwandfreie Transkription der Handschrift aus der Universitätsbibliothek Basel hatte mein Kollege Dominik Sieber in langjähriger Arbeit besorgt. Wir betrieben viel Aufwand für diese Edition (Reihe „Selbstzeugnisse der Neuzeit“, Boehlau Verlag), indem wir zu elsässischen Archiven reisten und versuchten, den komplexen Frömmigkeitsdiskurs Augustin Güntzers zu rekonstruieren, die mannigfachen Intertextualitäten der Autobiografie und die Lektüren des Autors zu ergründen. Der immense Aufwand hatte einen guten Grund: Augustin Güntzers spannendes Selbstzeugnis ist eines der ältesten deutschsprachigen Handwerkerselbstzeugnisse überhaupt. Augustin Güntzer war ein sozialer Absteiger, er endete in den 1650er Jahren verarmt als Hausierer und Glaubensflüchtling vor den Toren Basels in der Alten Eidgenossenschaft. Güntzer war auch ein sozialer Aussenseiter, denn als strenggläubiger Calvinist mied er die „Gastereyen“ (Gastmähler) der Colmarer Zünfter und verachtete die allseits beliebten Wirtshäuser als „Sauffheuser“. Auch manche andere AutorInnen popularer Selbstzeugnisse, wie sie mir in späteren Jahren begegneten, waren gesellschaftliche AussenseiterInnen, auch soziale AbsteigerInnen. Nicht zuletzt schreibend und lesend verarbeiteten sie ihr bisweilen tragisch anmutendes, abwärtsorientiertes Schicksal: Im Leben gescheitert, im Schreiben ohne eigentliches Lesepublikum erfolgreich, könnte man, natürlich sehr verkürzt, behaupten.
Meine nächste wissenschaftliche Reise führte mich wiederum ins schöne, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder französische Elsass, wiederum in die alte Reichsstadt Colmar. Dort haben im späteren 17. Jahrhundert zwei eng miteinander verwandte Schuhmacher, Vater und Sohn Mathias Lauberer, ein „Hausbuch“ geführt und darin auch Rezepte oder eine prinzipielle, mutige Abrechnung mit dem Krieg niedergeschrieben. Die wissenschaftliche Edition erschien in der Basler Reihe „Selbst-Konstruktion“ (Schwabe Verlag), die von den Professoren Kaspar von Greyerz und Alfred Messerli herausgegeben wurde.
Ich begann nun, mehr oder weniger systematisch in Antiquariaten und im Internet nach popularen schweizerischen Selbstzeugnissen Ausschau zu halten, und wurde oft genug fündig. Allerdings beschränkte ich mich auf gedruckte Texte, so dass Tagebücher und Briefe in meiner Sammlung kaum vorkommen. Der vor einigen Jahren verstorbene Zürcher Volkskundeprofessor Paul Hugger sammelte hingegen Manuskripte sowie Briefe und stellte auch Editionen bereit (Reihe „Das volkskundliche Taschenbuch,“ Limmat Verlag). Ich beschränkte meine Sammlertätigkeit indessen nicht auf die Frühe Neuzeit, wohl aber auf die Schweiz und auf angrenzende Regionen (zum Beispiel Schwarzwald, Schwaben, Tirol, Vorarlberg, Bayern, Elsass), um vergleichend arbeiten zu können. Ich stiess auf eine Schatzkammer popularer Kultur, auf Kinderspiele und angeeignete Sportarten wie Strassenfussball oder auf „Militärlis“, auf oftmals bittere Schulerfahrungen, auf den Umgang mit Krieg oder mit der verheerenden Spanischen Grippe von 1918/19.
Manche Texte erschienen im Selbstverlag und waren lediglich für die Zirkulation innerhalb der Familie oder des Freundeskreises bestimmt. Wie sie den Weg in Antiquariate oder gar ins „Brockenhaus“ fanden, ist ungewiss. Die mitunter schmalen Büchlein, darunter wie gesagt viel „graue Literatur“, waren meistens wohlfeil, denn es existiert noch kein spezifischer Sammlermarkt. Arbeitertexte von Parteigenossen (SP, KPS, PdA) oder Gewerkschaftsfunktionären waren auch darunter, aber deutlich weniger als eigentlich erwartet. Es dominiert vielmehr der „Mittelstand“, Handwerker, Grossbauern, Primarlehrer, Angestellte, kleine Beamte. Aber auch Texte von „ganz unten“ stellten sich ein und sind sogar überrepräsentiert: Ehemalige schweizerische „Verding“- und Heimkinder, die der Staat oft gegen ihren Willen von ihren Eltern trennte und zu harter, oftmals mit Schlägen verbundener Arbeit auf Bauernhöfen anhielt, berichteten über ihre verpfuschte Kindheit und Jugend. Hausiererinnen und Hausierer wie der greise Gregorius Aemisegger (1813-1911) aus dem voralpinen ostschweizerischen Toggenburg erzählten über Strategien, Kundinnen und Kunden zu werben. Und auch ehemalige schweizerische Fremdenlegionäre in französischen Diensten oder sogar mit ihrem Schicksal hadernde (männliche) Sträflinge meldeten sich zu Wort, ganz zu schweigen von ehemaligen Suchtkranken oder an psychischen Krankheiten Leidenden. Hier wird Lebensgeschichte zum „Appell“ (Klaus Bergmann), zum Versuch, ein gewisses Mass an Mitgefühl und Sympathie im „autobiographischen Pakt“ (Philippe Lejeune) zu generieren, Respektabilität zu erzeugen, vom Rand aus in die Mitte der Gesellschaft zu gelangen. Das Handwerk ist stark repräsentiert, körperlich stark fordernde Berufe wie Färber, Gärtner, Maurer, Schuhmacher oder auch Serviertochter, Magd, Wirtin und Wirt kommen in der Sammlung vor.
Meine Sammlung an Selbstzeugnissen sowie der einschlägigen Forschungsliteratur (James S. Amelang, Bernd-Jürgen Warneken, Margarethe Münchow, Klaus Bergmann, Sigrid Wadauer, Rainer Elkar, Alfred Messerli, Martyn Lyons, Andrea Dörfer etc.) wuchs mittlerweile auf weit über 700 Titel an. Aus Platzgründen beschloss ich daher gegen Ende des Jahres 2017, diese wertvolle und für die Schweiz einmalige Sammlung dem an Literatur „von unten“ interessierten Schweizerischen Sozialarchiv zu schenken, wo sie in besten Händen und ausleihbar vorliegt. Ich wünsche mir natürlich, dass namentlich junge Forschende Freude an der Lektüre dieser Texte gewinnen und sie in ihre Qualifikationsarbeiten einfliessen lassen, denn eine empirisch ergiebige „Erfahrungsgeschichte“ (Andreas Holzhem) „von unten“ ist ohne populare Selbstzeugnisse oder die aufwändige Methode der Oral History kaum zu bewerkstelligen.
> Die vollständige Titelliste kann im NEBIS-Katalog mit dem Code E19Braen aufgerufen werden.