Aus Gertrud Voglers Wohnung im Lochergut blickt man weit über die Gleisanlagen und über Aussersihl. Vor einem halben Jahrzehnt war ich dort zum ersten Mal zu Besuch – vorausgegangen war ein scheues Telefonat, das ich in meiner Funktion als Archivar des Sozialarchivs machte: ob sie sich vorstellen könnte, dereinst ihr fotografisches Werk im Sozialarchiv zu deponieren? Was bei anderen komplizierte Verhandlungen mit unwägbarem Ende zur Folge haben könnte, war bei Gertrud Vogler nach drei Zigaretten erledigt: Sie, die mich vorher nicht kannte, war nach dem Besuch einverstanden, ihr gesamtes Archiv dem Sozialarchiv zu schenken. Ein unschätzbarer Fundus für die Sozialgeschichte der Schweiz, Resultat von 25 Jahren aufmerksamem, kritischem und empathischem Schauen durch die Linse!
Gertrud Vogler begann Mitte der 1970er Jahre mit Fotografieren: Sie regte sich über die Qualität der Fotos auf, die in Publikationen der Frauenbewegung kursierten, und griff selbst zur Kamera. Ihr Augenmerk galt von Anfang an den sozialen Bewegungen, die sie dokumentieren wollte, “weil es sonst niemand macht”. Als Auftragsfotografin arbeitete sie zuerst für verschiedene Publikationen, von der “Annabelle” bis zum “Vorwärts”. Kurz nach der Gründung der WoZ kam die Anfrage, ob sie die Bildredaktion übernehmen wolle. Dort blieb sie bis zur Pensionierung 2003.
In diesen Jahren sind – teils im Auftrag der WoZ, teils aus ureigenem Interesse – eine Viertelmillion Fotos entstanden. Man kennt ihre Aufnahmen vom Platzspitz oder der Pariser Défense. Sie war in der Zürcher Jugendbewegung präsent und hat in besetzten Häusern fotografiert. Mit gleichem Engagement hat sie aber auch die Veränderungen des öffentlichen Raums durch penetrante Werbetafeln und die Vergitterung der Stadt dokumentiert. Und falls sie mal für einen Auftrag die Aktionärsversammlung einer grossen Bank fotografieren musste, hat sie neben Erwartbarem eben auch die Aushilfskräfte fotografiert, die mit den Stimmurnen durch die Massen eilten oder das Catering vorbereiteten.
Gertrud Vogler konnte Aufnahmen machen, wo den einen der Zutritt verwehrt war oder andere sich gar nicht mehr hin getrauten. In einer Zeit, in der Fotografen oft skeptisch beäugt oder als Spitzel verdächtigt wurden, genoss sie das Vertrauen der Szenen, die sie fotografierte – und die ihr am Herzen lagen.
Erschienen im P.S. vom 9. Feb. 2018