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Vor 70 Jahren: Der österreichische Staatsvertrag

«Land der Erbsen, Land der Bohnen, Land der vier Besatzungszonen, Wir verkaufen dich im Schleich, Vielgeliebtes Österreich!» Diese Parodie auf die 1946/47 eingeführte österreichische Bundeshymne war in der frühen Nachkriegszeit weit verbreitet. Sie bezog sich einerseits auf die schlechte Versorgungslage, andererseits auf die Besetzung des Landes durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs.

Ein Bericht des Leiters der «Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten», Rodolfo Olgiati, dessen Nachlass sich im Sozialarchiv befindet, von einer Österreichreise mit Stationen in Linz, Wien und Innsbruck im März 1946 zeichnet ein düsteres Bild jener Zeit: «Gegenüber Dezember 1945, dem Zeitpunkt meines letzten Besuches, ist kaum eine Aenderung der Lage festzustellen. Von Räumungsarbeiten, geschweige denn Wiederaufbau in Wien, ist fast nichts zu bemerken; angeblich wegen Mangel an Transportmitteln. Die Ernährungslage, die anfangs dieses Jahres eine Tendenz zur Besserung hatte, hat sich in den letzten Wochen zusehends verschlimmert. […] In zunehmenden Masse stellt sich das Problem der Betreuung der volksdeutschen Flüchtlinge, derer Zustrom aus allen Donauländern im Zunehmen begriffen ist. Die Betreuung dieser Flüchtlinge stellt sich den oesterr. Behörden anheim, welche vor allem aus Mangel an Mitteln, gelegentlich auch aus Unlust oder Zaghaftigkeit (man will sich nicht allzu sehr kompromitieren) ihrer Aufgabe keineswegs gewachsen sind. Allenthalben sieht man Flüchtlingstransporte auf den Bahnstrecken nach der seit einigen Jahren in Europa bekannten Methode: in Viehwagen, ohne jegliche Betreuung, mit langen Aufenthalten auf den Bahnhöfen. […] Nach wie vor ist die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse entscheidend behindert durch die Anwesenheit von Besatzungstruppen und vor allem durch die Abriegelung der verschiedenen Besatzungszonen. Weltpolitische Spannungen zwischen den Grossmächten wirken sich augenblicklich auch auf die Beziehungen zwischen ihren Vertretern in Oesterreich, besonders in Wien aus.»

Zwar verbesserte sich die Versorgungslage in den späten 1940er Jahren deutlich, machte der Wiederaufbau Fortschritte und setzte in den frühen 1950ern ein geradezu spektakulärer Wirtschaftsaufschwung ein. Die Besetzung Österreichs endete aber nach langjährigen und vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sehr zähen Verhandlungen erst 1955 mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages.

Von der Habsburgermonarchie zur Zweiten Republik

Mit dem Staatsvertrag kam eine fast vier Jahrzehnte dauernde Umbruchphase zum Ende. Das bereits vor dem Ersten Weltkrieg fragile Habsburgerreich war bei Kriegsende auseinandergefallen. Immer mehr Reichsteile sagten sich im Oktober und November 1918 von Wien und den Habsburgern los. Neben dem nun unabhängigen, aber stark verkleinerten Ungarn entstand neu die Tschechoslowakei, die südslawischen Gebiete schlossen sich dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (später: Jugoslawien) an, weitere Gebiete kamen zu Polen oder Rumänien. Ausser Konflikten um die neuen Grenzen kam es in verschiedenen ehemaligen Reichsteilen zu Revolutionen, so auch in Wien, wo Kaiser Karl I. abgesetzt und im März 1919 ins Exil in die Schweiz geschickt wurde. In den deutschsprachigen Gebieten wurde am 12. November 1918 die Republik Deutschösterreich proklamiert, die sich dem Deutschen Reich anschliessen wollte. Auf Betreiben der Siegermächte musste aber das «Deutsch-» aus dem Staatsnamen gestrichen werden und enthielt der Friedensvertrag von Saint-Germain ein Anschlussverbot. Auch kamen nicht alle deutschsprachigen Teile der ehemaligen Habsburgermonarchie zu Österreich. Die Gebiete Böhmens wurden integral Teil der Tschechoslowakei, das Südtirol fiel an Italien. Umgekehrt musste Vorarlberg, das sich in einem Referendum überwiegend für den Beitritt zur Schweiz ausgesprochen hatte, bei Österreich bleiben, damit dieses ein überlebensfähiger mittelgrosser Staat blieb.

Dieser neue Staat stand vor enormen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen. Die Metropole Wien war im Verhältnis zum Rest des Landes überproportional gross und von bedeutenden Teilen des ehemaligen Wirtschaftsgebietes durch neue Staatsgrenzen abgeschnitten. Zudem gab es scharfe politische Gegensätze zwischen dem sozialdemokratisch dominierten «Roten Wien», dessen «Gemeindesozialismus» der Schweizer Sozialdemokratie als vorbildhaft galt, und dem Rest des Landes, wo zumeist die bürgerlich-katholischen, aus der antisemitischen Bewegung des Wiener Vorkriegsbürgermeisters Karl Lueger hervorgegangenen «Schwarzen» der Christlichsozialen Partei den Ton angaben. Diese stellten ab 1920, meist in Koalition mit Gruppierungen des deutschnationalen «Dritten Lagers», auch durchgehend die Bundesregierung, während die Sozialdemokrat:innen in die Opposition verbannt blieben. Die im November 1918 entstandene Kommunistische Partei (KPÖ) blieb klein und kam bei Wahlen nie auf ein Prozent Stimmenanteil. Als Erbe der Revolutionszeit besassen die politischen Lager paramilitärische Verbände (s. SozialarchivInfo 3/2019). Dem sozialdemokratischen «Republikanischen Schutzbund» standen die «Heimwehr» und weitere rechtsgerichtete Milizen gegenüber.

Das Level der politischen Gewalt war hoch und verschlimmerte sich während der Weltwirtschaftskrise mit ihrer Massenarbeitslosigkeit ab 1930 noch. Zeitgleich wurden im deutschnationalen Lager zunehmend die Nazis tonangebend, so dass sich die regierenden «Schwarzen» nun in einem Zweifrontenkampf gegen die «Roten» und die «Braunen» sahen. Im März 1933, wenige Wochen nach der Machtübernahme des ehemaligen Österreichers Hitler in Deutschland, nutzte der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuss eine parlamentarische Geschäftsordnungskrise zur Ausschaltung des Nationalrats und regierte fortan gestützt auf ein kriegswirtschaftliches Gesetz aus dem Ersten Weltkrieg per Dekret. Er verbot den Schutzbund, die Nationalsozialistische und die Kommunistische Partei, setzte Wahlen aus, führte die Pressezensur ein, erliess ein Streikverbot und trieb den autoritären Umbau des Staates voran.

Definitiv zu einem Ende kam die Erste Republik im Februar 1934, als ein Aufstand des illegalen Schutzbundes vom Bundesheer und den Heimwehren in viertägigen Kämpfen unterdrückt wurde. In der Folge verbot die Regierung die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die freien Gewerkschaften und alle Arbeiterorganisationen. Die Christlichsoziale Partei löste sich zugunsten der autoritären Regimeorganisation «Vaterländische Front» auf und im Mai wurde die Verfassung des austrofaschistischen «Ständestaats» proklamiert. Dieser orientierte sich in seinem angestrebten berufsständischen Aufbau sowohl am italienischen Faschismus als auch an der katholischen Soziallehre und stiess bei vielen Katholisch-Konservativen der Schweiz auf grosse Sympathien (s. SoziarchivInfo 5/2020). Das neue Regime, das sich zunächst als Garant gegen deutsche Anschlussgelüste – trotz des Gegensatzes in der Südtirolfrage – stark an Mussolini anlehnte, konnte sich aber kaum stabilisieren. Die wirtschaftliche Lage blieb schlecht, die Arbeitslosigkeit hoch und die sozialdemokratische, kommunistische und nationalsozialistische Untergrundopposition konnte trotz der Hinrichtungen nach den Februarkämpfen und Errichtung von «Anhaltelagern», in denen auf dem Höhepunkt im Oktober 1934 5’000 politische Häftlinge eingekerkert waren, nicht völlig ausgeschaltet werden. Ein nationalsozialistischer Putschversuch im Juli 1934 scheiterte zwar, in dessen Verlauf wurde aber der in der Folge vom Regime zum Märtyrer stilisierte Diktator Dollfuss getötet. Am 12. Februar 1935 und 1936 unterbrachen nach Aufrufen der linken Untergrundopposition viele Betriebsbelegschaften im Gedenken an die Opfer der Februarkämpfe von 1934 für einige Minuten die Arbeit. Auch gab es verschiedene wilde Streiks.

Mit der Annäherung von Hitler und Mussolini wurde die aussenpolitische Lage Österreichs prekär. Der zunehmende deutsche Druck führte 1936 zur Freilassung vieler inhaftierter Nazis, dann schliesslich im Februar 1938 zu deren Aufnahme in die österreichische Regierung und am 12. März zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht und dem «Anschluss». «Österreich» war damit bis 1945 von der politischen Landkarte und aus dem Vokabular der deutschen Machthaber getilgt. Während des Zweiten Weltkriegs war es auch innerhalb der österreichischen Exil-Opposition zunächst umstritten, ob nach der Niederlage Nazi-Deutschlands wieder ein unabhängiger österreichischer Staat errichtet werden sollte. Im Oktober 1943 einigten sich die USA, die Sowjetunion und Grossbritannien in der Moskauer Deklaration dann auf die Wiederherstellung eines von Deutschland unabhängigen Österreich. Das Ende der Nazi-Herrschaft in Österreich kam im Frühjahr 1945, als ab dem 29. März die «3. Ukrainische Front» der Roten Armee auf österreichisches Territorium vorstiess. Der Kampf um Wien mit Zehntausenden von Toten dauerte bis zum 15. April. Zum Zeitpunkt der deutschen Kapitulation am 8. Mai wurden bereits grosse Teile Österreichs von alliierten Truppen kontrolliert.

Schon am 3. April war der Sozialdemokrat Karl Renner, der 1918 bis 1920 als Staatskanzler wesentlichen Anteil an der Gründung der Ersten Republik gehabt hatte, mit den sowjetischen Militärbehörden in Kontakt getreten und hatte seine Dienste bei der Wiederherstellung der Republik angeboten. Am 14. April wurde im Wiener Rathaus die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) wiedergegründet, am 17. April entstand als Nachfolgeorganisation der Christlichsozialen und Ständestaatler:innen die Österreichische Volkspartei (ÖVP). Wenige Tage danach konstituierte sich die KPÖ unter Führung aus dem Moskauer Exil zurückgekehrter Kader neu. Sie erhielt in der Folge von der sowjetischen Besatzungsmacht massive propagandistische und finanzielle Unterstützung (bis 1955 mit mindestens 69 Millionen Schilling), was ihrer Popularität in der Bevölkerung aber abträglich war. Am 27. April wurde der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) aus der Taufe gehoben, der im Unterschied zu den Richtungsgewerkschaften der Ersten Republik sozialdemokratische, christlichsoziale und kommunistische Gewerkschafter:innen umfasste. Am selben Tag bildeten SPÖ, ÖVP und KPÖ unter der Leitung Renners eine provisorische Regierung und veröffentlichten die «Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs». Am 1. Mai erliess die provisorische Regierung ein «Verfassungs-Überleitungsgesetz», das auf die Wiederherstellung der demokratischen Verfassung der Ersten Republik abzielte und alle seit März 1933 erfolgten Verfassungsbestimmungen aufhob. Am 19. Dezember 1945 trat die demokratische Bundesverfassung wieder vollständig in Kraft.

Besatzungsregime

Die Entstehung der Zweiten Republik im Laufe des Jahres 1945 bedeutete aber noch nicht die Wiederherstellung der Souveränität Österreichs. Wie Deutschland wurde auch Österreich in vier alliierte Besatzungszonen aufgeteilt. Die sowjetische Zone umfasste das Burgenland, Niederösterreich und Oberösterreich nördlich der Donau, die amerikanische Zone Salzburg, Oberösterreich südlich der Donau, und das steirische Salzkammergut, die britische Zone Kärnten, Osttirol und den grössten Teil der Steiermark und die französische Zone Vorarlberg und Nordtirol. Für die Überschreitung der Zonengrenzen, die teilweise innerhalb der Bundesländer verliefen, war ein viersprachiger Identitätsausweis nötig. Während die Mobilität zwischen den westlichen Besatzungszonen rasch erleichtert wurde, gestaltete sich das Überschreiten der Grenze zur sowjetischen Zone noch bis 1954 wie eine Auslandsreise. Am 4. Juli 1945 wurde die Alliierte Kommission für Österreich eingerichtet, die einen Rat aus den militärischen Hochkommissaren der Besatzungsmächte und ein Exekutiv-Komitee aus hochrangigen Militärs umfasste. Die Kosten für die anfangs 700’000 Mann starken, bis zum Ende der Besatzungszeit auf etwa 55’000 Mann absinkenden Besatzungstruppen hatte Österreich zu tragen. Das weitaus grösste Kontingent stellte die Rote Armee.

Komplex war das Besatzungsregime in Wien. Wie Berlin wurde auch die österreichische Kapitale in vier, geografisch zum Teil nicht zusammenhängende Zonen der Siegermächte aufgeteilt. Nach einer vorübergehenden Besetzung der ganzen Stadt durch die Rote Armee rückten die westlichen Truppen im September 1945 vereinbarungsgemäss in ihre Zonen ein. Der 1. Bezirk (Innenstadt) wurde als «interalliierte Zone» von den vier Besatzungsmächten gemeinsam verwaltet, wobei das Oberkommando jeden Monat wechselte und in einer öffentlichen Zeremonie weitergegeben wurde. Diese Zusammenarbeit der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ging bis Mitte der 50er Jahre weiter, als Deutschland und Europa längst durch den Eisernen Vorhang gespalten und der Kalte Krieg in Korea in einen heissen mit über vier Millionen Todesopfern umgeschlagen war.

Symbolisiert wurde die gemeinsame Verwaltung Wiens durch die motorisierten Patrouillen der interalliierten Militärpolizei, bei denen je ein amerikanischer, sowjetischer, britischer und französischer Soldat im Fahrzeug sassen. Die Zürcher Praesens-Film AG hat dieser Situation 1950 mit dem Film «Die Vier im Jeep» von Leopold Lindtberg und Lazar Wechsler ein cineastisches Denkmal gesetzt. Eine noch bekanntere filmische Verarbeitung der Wiener Besatzungszeit war im Jahr zuvor in die Kinos gekommen: Der britische Film noir «The Third Man» über zonenübergreifende Medikamentenkriminalität mit ikonischen Szenen auf dem Prater-Riesenrad und in der Wiener Kanalisation und dem berühmten «Harry Lime Theme» auf der Zither. Gerüchteweise sollen Teile der britischen Filmcrew die Dreharbeiten in der sowjetischen Zone für geheimdienstliche Aktivitäten genutzt haben.

Überhaupt war Wien während der Besatzungszeit nicht nur ein Hotspot von Schwarzmarktaktivitäten, sondern auch der wechselseitigen Spionage der Besatzungsmächte. Seitens der Sowjetunion waren in Österreich die Geheimdienste NKVD, MVD, MGB, Smerš und KGB aktiv, seitens der Vereinigten Staaten OSS, SSU, G-2, CIC-430 und CIA, seitens Frankreichs SR, SM, DRA, DGER und SDECE, seitens Grossbritanniens FSS, SOE und SIS/MI6. Zahlreiche Österreicher:innen, die in unterschiedlichen Funktionen für die Besatzungsmächte arbeiteten, wurden auch für nachrichtendienstliche Aktivitäten angeworben, die angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage lukrativ erschienen.

Zeitgenössisch unklar und auch im Rückblick umstritten blieben die Ziele der sowjetischen Besatzungspolitik. Die von der Roten Armee besetzten Länder Ostmitteleuropas unterlagen ab 1945 einem Sowjetisierungsprozess mit Scheinwahlen und der schrittweisen Installierung des kommunistischen Machtmonopols. In der benachbarten Tschechoslowakei kam es im Februar 1948 zum Umsturz, der die Mehrparteiendemokratie beendete. In Ungarn geschah die kommunistische Machtergreifung mit der sprichwörtlichen Salamitaktik («szalámitaktika»). In Deutschland erfolgte in der sowjetischen Besatzungszone bereits 1946 die zwangsweise Vereinigung der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In der Folge wurden die sozialdemokratischen Kräfte in der SED ausgeschaltet und die bürgerlichen Parteien CDU und LDPD zu «Blockparteien» erniedrigt und durch zwei weitere, von der SED inszenierte Parteigründungen geschwächt. Die Blockade West-Berlins vom Juni 1948 bis Mai 1949 als sowjetischer Versuch, den Einfluss in ganz Deutschland auszuweiten, blieb zwar erfolglos, 1949 erfolgte aber die Gründung zweier deutscher Staaten mit unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Systemen.

Für Österreich war aus sowjetischer Sicht weder das tschechoslowakische oder ungarische noch das ostdeutsche Modell wirklich gangbar. Die Aufspaltung des Landes in vier Besatzungszonen sowie die Schwäche der KPÖ verunmöglichten eine Sowjetisierung Gesamtösterreichs. Ein Satellitenstaat nur in der sowjetischen Besatzungszone Ostösterreichs, wie er KPÖ-intern 1946 bis 1948 mehrfach diskutiert wurde, wäre dagegen wirtschaftlich kaum überlebensfähig gewesen und hätte zudem den Rest des Landes umso stärker politisch, wirtschaftlich und wohl auch militärisch in die Arme des Westens getrieben. So war die sowjetische Besatzungspolitik gekennzeichnet von einer Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Ausbeutung und dem Versuch der politischen und propagandistischen Einflussnahme.

Bereits im April und Mai 1945 begann die Demontage österreichischer Industriebetriebe und der Abtransport von deren Maschinen in die Sowjetunion. Zudem gingen umfangreiche Teile der österreichischen Wirtschaft in sowjetischen Besitz über. Mehr als 300 ehemals in reichsdeutschem Besitz befindliche Unternehmen, darunter erhebliche Teile der Schlüsselindustrien Ostösterreichs, wurden in den Konzern «Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Österreich» (USIA) überführt. Unter den über 50’000 Beschäftigten waren KPÖ-Mitglieder stark vertreten. Die USIA-Betriebe, über deren Fabriktoren häufig ein Sowjetstern und Propagandalosungen prangten, verfügten auch über einen bewaffneten Werkschutz. Ihre Unternehmensgewinne gingen an die sowjetische Militärbank, eine Besteuerung durch den österreichischen Staat fand nicht statt. Ebenfalls unter sowjetischer Kontrolle standen die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft und die «Sowjetische Mineralölverwaltung», die die österreichischen Erdölreserven, die drittgrössten Europas, ausbeutete.

Die propagandistische Einflussnahme begann kurz nach der Schlacht um Wien. Bereits am 24. April 1945 erfolgte die Wiederaufnahme des Wiener Kinobetriebs mit der Vorführung von Sergej Ėjzenštejns Historienfilm «Ivan der Schreckliche». In der Folge wurden zahlreiche weitere sowjetische Filme und Wochenschauen gezeigt. Der unter sowjetischer Zensur stehende Rundfunksender RAVAG brachte ab dem 7. Juni täglich eine «Russische Stunde» mit sowjetischer Propaganda. Schon am 19. August 1945 wurde am Schwarzenbergplatz, dessen südlicher Teil 1946 in «Stalinplatz» umgetauft wurde, das «Heldendenkmal der Roten Armee» eingeweiht, das an die Opfer der Schlacht um Wien erinnerte, aber bereits vor Beginn dieser Operation im Februar 1945 konzipiert worden war.

Dass das Monument, bei dem 1953 die KPÖ eine grosse Trauerfeier für Stalin veranstaltete, im Volksmund bald auch als «Denkmal des unbekannten Plünderers» bekannt wurde, deutet auf ein tendenziell negatives Bild der sowjetischen Besatzungstruppen hin. Während und unmittelbar nach der militärischen Besetzung von Wien, Niederösterreich, dem Burgenland, dem Mühlviertel und Teilen der Steiermark durch die Rote Armee war es geschätzt zu bis zu 400’000 Vergewaltigungen gekommen. Diese einen grossen Teil der Bevölkerung traumatisierenden Verbrechen führten zu einer Zunahme weiblicher Suizide und der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. In den folgenden Monaten halfen Einheiten der Roten Armee zwar tatkräftig bei der Gewährleistung einer minimalen Versorgung und beim Wiederaufbau mit, es kam aber auch zu zahlreichen Beschlagnahmungen, Plünderungen und Gewalttaten.

Ebenso verschleppten die sowjetischen Behörden immer wieder missliebige Personen. Allein aus Wien sind über 700 Fälle dokumentiert, von denen nur eine Minderheit je wieder zurückkehrte. Von 1950 bis zu Stalins Tod 1953 wurden 94 Männer und 10 Frauen aus Österreich durch sowjetische Militärtribunale zum Tod verurteilt und in Moskau erschossen, 90% davon wegen angeblicher Spionage. Die Zahl der Hinrichtungen für die Zeit von 1945 bis 1947 ist nicht bekannt, dürfte aber in derselben Grössenordnung liegen. 1947 bis 1950 hatte die Sowjetunion die Todesstrafe vorübergehend abgeschafft. Für besonderes Aufsehen sorgte das Kidnapping der jungen Ökonomin Margarethe Ottillinger, Konsulentin beim Bundesminister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung und involviert in die Vorbereitungen für den Marshall-Plan, die 1948 an der Zonengrenze auf der Ennsbrücke bei St. Valentin vor den Augen amerikanischer Soldaten aus dem Auto des Ministers heraus verhaftet und in der Sowjetunion wegen angeblicher Spionage zur damaligen Höchststrafe von 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Erst 1955 konnte sie schwerkrank aus dem Gulag nach Österreich zurückkehren.

Wiederaufbau und gesellschaftlicher Wandel

Die Aufgabe des Wiederaufbaus umfasste zunächst die unmittelbare Überlebenssicherung der Bevölkerung und Beseitigung der schlimmsten Kriegsschäden. Hinzu kamen die Einrichtung von Behörden und überhaupt eines funktionierenden Staatswesens, der wirtschaftliche Wiederaufbau, die Entnazifizierung sowie die Integration der zahlreichen Flüchtlinge, «Displaced Persons» und schliesslich der rückkehrenden Kriegsgefangenen. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre waren von grosser wirtschaftlicher Not, Lebensmittelknappheit, Inflation und Schwarzhandel geprägt. Das Bruttosozialprodukt belief sich im ersten vollen Friedensjahr 1946 lediglich auf 60% desjenigen der Jahre 1913 oder 1937. Durch die langjährige Abwesenheit vieler Männer, die nach dem Fronteinsatz in Kriegsgefangenschaft geraten waren, änderten sich auch die Geschlechterrollen und spielten Frauen beim Wiederaufbau eine zentrale, freilich im kollektiven Gedächtnis lange sehr unterbelichtete Rolle.

Bei Kriegsende waren viele Städte stark beschädigt, das Eisenbahnnetz und zahlreiche Industrieanlagen zu einem beträchtlichen Teil zerstört und es mangelte an Lebensmitteln, Brennstoff und Baumaterial. Die Ernährungslage in den Städten war katastrophal. In Wien brach die Lebensmittelversorgung im April 1945 völlig zusammen und 1946 waren zeitweise erneut lediglich 700 bis 800 Kalorien pro Tag und Kopf verfügbar – höchstens ein Drittel des Mindestbedarfs. Im Verlauf des Jahres 1947 stieg die Tagesration auf 1’800 Kalorien, im Folgejahr auf 2’100 Kalorien. Fleisch und Fett blieben noch bis 1953 rationiert. Unter der katastrophalen Ernährungssituation litten besonders auch Kinder. Zu Schulbeginn im Spätsommer 1945 wurde bei 80% der Wiener Schulkinder Unterernährung festgestellt – davon galten 30% als akut untergewichtig. Noch 1948 wurden 42% der Schulkinder als unterernährt und bei über der Hälfte ein «sehr schlechter» Gesundheitszustand diagnostiziert. Zudem gab es in der Hauptstadt, wo etwa ein Sechstel der Gebäude beschädigt worden war, zunächst Zehntausende von Obdachlosen. Aufgrund der Zerrüttung von Währung und Distributionskanälen beruhte der Warenaustausch stark auf Tauschhandel und Schwarzmarkt. Städter:innen bauten auf jeder freien Fläche Gemüse an und unternahmen lange Streifzüge in die Wälder auf der Suche nach Brennmaterial.

Die in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft künstlich niedrig gehaltenen Preise für Konsumgüter und der Zusammenbruch von Produktion und Distribution führten nach Kriegsende neben der Mangellage und den Schwarzmarktproblemen auch zu einer galoppierenden Inflation. So stiegen allein zwischen April und Juni 1947 die Lebensmittelpreise um 83%, die Löhne im selben Zeitraum aber nur um 20%. Als Schritte zur Stabilisierung der zerrütteten Währung erfolgten am 30. November 1945 die Rückkehr von der Reichsmark zum Schilling und am 10. Dezember 1947 dessen Abwertung auf ein Drittel. Zusammen mit der Abwertung wurde von den privaten Sparguthaben ein Teil vom Staat abgeschöpft und für den Wiederaufbau verwendet. Der Eindämmung der Inflation dienten auch die fünf Lohn-Preis-Abkommen im August 1947, September 1948, Mai 1949, September 1950 und Juli 1951, die mittels gesamtstaatlicher Tarifverträge versuchten, Subventionen abzubauen und zu realistischen Preisrelationen zu gelangen, dabei aber Preisauftrieb und Lohnkonflikte auf konsensualer Basis zu mildern. Die Abkommen waren damit Probelauf für das sozialpartnerschaftliche System der Nachkriegszeit. 1952/53 wurde durch eine Serie von Massnahmen des knappen Geldes die Jahresinflation von 28% auf 5% reduziert – dies zum Preis eines scharfen, aber nur kurzen Wachstumseinbruchs mit rekordhoher Arbeitslosigkeit von fast 9%.

Die Stabilisierung der Währung war Bedingung für den Erhalt von Marshall-Plan-Hilfe, die Österreich als einzigem teilweise sowjetisch besetzten Land gewährt wurde. Das entsprechende Abkommen wurde im Juli 1948 abgeschlossen und sicherte Österreich bis 1953 die Gratislieferung von Sachgütern im Wert von einer Milliarde Dollar. Die KPÖ und die sowjetische Besatzungsmacht opponierten stark gegen die österreichische Teilnahme am Marshall-Plan. Im ÖGB wurde der Plan von der kommunistischen Fraktion ebenso abgelehnt, während die christliche und die aufgrund ihrer Grösse ausschlaggebende sozialistische Fraktion die Teilnahme unterstützten – letztere allerdings mit gewissen Bedenken bezüglich der kapitalistischen Ausrichtung des Programms.

Aufgrund des Mangels an Privatkapital waren sich die Regierungsparteien einig, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau und die industrielle Entwicklung zum grossen Teil auf staatswirtschaftlichem Wege zu erfolgen hatte. Zunächst wurden vor allem Unternehmen verstaatlicht, die in deutschem Eigentum gestanden hatten und entschädigungslos übernommen werden konnten. Für aus privater Hand verstaatlichte Betriebe, die dadurch auch vor sowjetischem Zugriff geschützt werden sollten, wurden dagegen Entschädigungen bezahlt. Das erste Verstaatlichungsgesetz am 26. Juli 1946 betraf das Bankenwesen, die Eisen-, Stahl-, Chemie- und Erdölindustrie sowie die Werften. Das zweite Verstaatlichungsgesetz vom 26. März 1947 überführte einen grossen Teil der Elektrizitätswirtschaft in staatlichen Besitz. Während die Verstaatlichungen in den westlichen Besatzungszonen relativ einfach umgesetzt werden konnten, stiessen sie in der sowjetischen Zone auf Widerstände der Besatzungsmacht.

Der Marshall-Plan war die Initialzündung, die verstaatlichte Industrie der Wachstumsmotor des nach der Stabilisierungskrise der frühen 50er Jahre einsetzenden rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs Österreichs. Zu einem Symbol des Aufbaus wurde 1955 die Fertigstellung des Staukraftwerksystems Kaprun-Grossglockner. Das Projekt war in der Nazi-Zeit auf Basis von Zwangsarbeit gestartet worden, wurde ab 1947 fortgeführt und mit Mitteln aus dem Marshall-Plan vollendet. Bis in die späten 50er Jahre verzeichnete das österreichische Sozialprodukt jährliche reale Wachstumsraten zwischen 5 und 12%, danach bis zum Beginn der Erdölkrise 1973 zwischen 2 und 8%. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Aufschwungsphase war gekennzeichnet durch eine starke Sozialpartnerschaft und den später sogenannten «Austro-Keynesianismus».

Der Zweite Weltkrieg hatte auch zu gewaltigen Migrationsbewegungen geführt, die nach Kriegsende weitergingen. 1945 befanden sich auf österreichischem Territorium neben 6,5 Millionen Einheimischen über 1,6 Millionen «Displaced Persons» (DP): 570’000 ehemalige Zwangsarbeiter:innen der Nazis, 200’000 KZ-Überlebende, 300’000 Kriegsgefangene, 200’000 «Reichsdeutsche» und weitere kriegsbedingt Migrierte. Bis in die frühen 50er Jahre gab es in den westlichen Besatzungszonen zahlreiche, in der Regel nach Nationalitäten getrennte DP-Camps, deren Bewohner:innen erst allmählich repatriiert werden oder in neue Heimaten weiterreisen konnten.

Am 5. Mai 1945 befreiten amerikanische Truppen im KZ Mauthausen etwa 40’000 Überlebende. In den folgenden Monaten kehrten tausende Überlebende anderer Konzentrationslager nach Österreich zurück. Ab Sommer 1945 wurde Österreich zum Transitraum für den Exodus von Überlebenden der Shoa aus Ostmitteleuropa nach Palästina, Nordamerika oder anderen Destinationen. Nachdem bei einem Pogrom in Kielce am 4. Juli 1946 über 40 Jüdinnen und Juden, darunter KZ-Überlebende, ermordet worden waren, flüchteten etwa 100’000 Jüdinnen und Juden aus Polen nach Österreich und gelangten bis zur Weiterreise nach Palästina in DP-Camps in den britischen und amerikanischen Zonen. 1947 flohen 30’000 Jüdinnen und Juden vor Antisemitismus und einer sich verschlechternden Versorgungslage von Rumänien nach Österreich. Insgesamt befanden sich zwischen 1945 und 1950 geschätzte 250’000 bis 300’000 jüdische «Displaced Persons» in Österreich. Hier stiessen sie auch auf Antisemitismus, der von Teilen der einfachen Bevölkerung bis in höchste politische Kreise reichte.

Die grösste Gruppe unter den Migrant:innen bildeten jedoch die 400’000 sogenannten «Volksdeutschen», geflüchtete oder vertriebene deutschsprachige Bevölkerungsteile aus Ostmittel- und Südosteuropa (insbesondere aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Rumänien), von denen viele zunächst ebenfalls in Lagern untergebracht wurden. Der grösste Zustrom dieser Gruppe fiel in die Jahre 1945 bis 1947, als ihr Anteil an der Wiener Bevölkerung vorübergehend auf über 10% stieg. Die Haltung der materiell völlig überforderten österreichischen Behörden war zunächst abwehrend. 1946 schoben die Siegermächte 160’000 «Volksdeutsche» von Österreich nach Deutschland ab. Viele der verbleibenden Flüchtlinge erwarben dann aber in den späten 40er und frühen 50er Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft. Mit der bereits im Zeichen des Wirtschaftsaufschwungs erlassenen Volksdeutschengesetzgebung von 1952 wurden staatenlose «Volksdeutsche» in wesentlichen Belangen mit österreichischen Bürger:innen gleichgestellt.

Parallel zu diesen Fluchtwellen erfolgte die Rückkehr der hunderttausenden österreichischen Kriegsgefangenen, die sich über zehn Jahre hinzog. Bereits im Sommer 1945 konnten die ersten Gefangenen der Westalliierten heimkehren und bis Ende 1947 wurden alle Gefangenen der Amerikaner, Briten und Franzosen freigelassen. Schwieriger gestaltete sich die Befreiung der Kriegsgefangenen der Sowjetunion. Erst im September 1947 kehrte ein erstes kleines Kontingent von 1’200 Männern nach Hause zurück. Die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen wurde mit dem Abschluss des Staatsvertrags vereinbart und am 25. Juli 1955 traf der letzte Heimkehrerzug aus der Sowjetunion in Österreich ein.

Eine weitere gesellschaftspolitische Aufgabe der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Entnazifizierung. Im Sommer 1945 wurden nacheinander das Verbotsgesetz, das Kriegsverbrechergesetz und das Wirtschaftssäuberungsgesetz erlassen, die zusammen mit dem Nationalsozialistengesetz vom Februar 1947 die Rechtsgrundlage der Entnazifizierung bildeten und etwa 7,5% der Einwohner:innen Österreichs betrafen. Vom Dezember 1945 bis Juni 1946 wurden vier Kriegsverbrecherlisten erstellt und in der Presse publiziert, mit welchen nach 242 schweren Kriegsverbrechern gefahndet wurde. Die bis 1955 für die Kriegsverbrecherprozesse zuständigen «Volksgerichte» fällten 13’607 Schuldsprüche und verhängten 43 Todesurteile. Aufgrund des Verbotsgesetzes mussten sich alle ehemaligen Mitglieder von NSDAP, SS, SA und weiterer Nazi-Organisationen registrieren, wurden in öffentliche Listen aufgenommen und in den meisten Fällen auch sühnepflichtig. Sie wurden in «Belastete» (ca. 40’000 Personen) und «Minderbelastete» (ca. 490’000 Personen) eingeteilt. Die «Belasteten» wurden von den Besatzungsmächten zunächst in Lagern interniert. Besondere Bestimmungen galten für die rund 98’000 «Illegalen», die während des Verbots der NSDAP von 1933 bis 1938 Mitglied gewesen waren und sich dadurch des Hochverrats schuldig gemacht hatten.

Zu den Sühnemassnahmen für «Belastete» und «Minderbelastete» zählten Berufsverbote im öffentlichen Dienst, in der Privatwirtschaft, bei Zeitungen und Verlagen sowie in Wissenschaft, Lehre und Kunst sowie der Verlust des Wahlrechts. 1945/46 wurde im Zuge der Entnazifizierung rund ein Drittel aller öffentlich Bediensteten (ca. 100’000 Personen) aus dem Staatsdienst entlassen. Zudem verloren 36’000 Personen in der Privatwirtschaft und 960 höchste Führungskräfte aus Staat und Wirtschaft ihre Positionen. Die österreichischen Behörden drängten indessen bei den Siegermächten auf eine zeitliche Befristung der Sühnemassnahmen und Reintegration der «Ehemaligen». 1948 erfolgte auf Vorschlag der KPÖ und der Sowjetunion eine «Minderbelastetenamnestie», die die Entnazifizierung als Massenerscheinung beendete.

Der Entnazifizierung dienten auch Umerziehungsmassnahmen wie etwa 1946 die Ausstellung «Niemals vergessen!» des Kulturamts der Stadt Wien. Seitens der Siegermächte folgte die sowjetische Linie propagandistisch dem kommunistischen Antifaschismus. Von amerikanischer Seite wurde von Beginn weg eine andere Kulturpolitik als in Deutschland betrieben. Statt der «Re-education» zielte die Kulturpolitik in Österreich auf eine sanftere «Re-orientation» ab, die primär die Vorzüge der freiheitlich-demokratischen Ordnung gegenüber jeglicher Form von Diktatur hervorstreichen sollte.

Überlebenshilfe aus der Schweiz

Die katastrophale Versorgungslage bei Kriegsende führte zu Hilferufen der österreichischen Behörden an vom Krieg weniger betroffene Länder. Die kriegsverschonte Schweiz reagierte rasch. Ab Oktober 1945 konnten Kinder jeweils drei Monate bei Schweizer Gastfamilien verbringen und sich normal ernähren. Vom November 1945 bis Ende 1946 fuhren durchschnittlich drei Züge im Monat mit jeweils 350 bis 450 Kindern von Wien in die Schweiz. Insgesamt kamen bis 1955 rund 100’000 österreichische Kinder in den Genuss dieser Hilfsaktion. Oft kannten die Eltern nach der Rückkehr ihr eigenes Kind kaum mehr, da es so zugenommen und gute Farbe bekommen hatte. Nach der Jahrtausendwende gab es in Linz, Wien und Innsbruck dann mehrere Gedenkveranstaltungen, an denen sich über 1’000 ehemalige «Schweizerkinder» beteiligten. Für knapp 1’000 an der in den Städten grassierenden Tuberkulose erkrankte Kinder gab es Aufenthalte in Davos und Arosa. 30 verstümmelte Kinder erhielten in der Schweiz Prothesen. Ebenso organisierte das Schweizerische Rote Kreuz ab Frühjahr 1946 Patenschaften, mit denen für 10 Franken pro Monat Kinder, die für einen Aufenthalt in der Schweiz nicht gesund genug waren, deren Vater gefallen, vermisst oder gefangen war oder deren Wohnung ausgebombt worden war, monatlich ein Lebensmittelpaket erhielten. Bis 1949 wurden so über 11’000 Kinder von Schweizer Pat:innen betreut.

Zwischen 1945 und 1948 verteilten das Schweizerische Rote Kreuz, das Schweizerische Arbeiterhilfswerk, die Mission Caritas, die Schweizer Quäker-Hilfe, das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen und die Centrale Sanitaire Suisse Hilfsgüter in Österreich, die teilweise aus den Sammlungen der «Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten» stammten. Die «Schweizer Spende» war 1944 vom Bundesrat initiiert worden, wurde von einem Zusammenschluss Schweizer Hilfswerke getragen und geleitet von Rodolfo Olgiati. Die Hilfsaktion sollte auch dazu beitragen, die aussenpolitische Isolation der Schweiz, die bei Kriegsende wegen ihrer mannigfaltigen Verflechtungen mit den Achsenmächten in Kritik stand, zu überwinden. Ab Februar 1945 wurden 1,5 Millionen Exemplare der Broschüre «Unser Volk will danken» verbreitet. Bis März 1946 kamen 24 Millionen Franken Spendengelder von Privatpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, 13 Millionen aus der Wirtschaft und 9 Millionen von Kantonen und Gemeinden zusammen, dazu sprachen die Bundesbehörden noch über 152 Millionen Franken Bundesmittel.

Die «Schweizer Spende» leistete in 18 europäischen Ländern Hilfe. Für Österreich wurden knapp 27 Millionen Franken, über 13% der Mittel der «Schweizer Spende», aufgewendet. Davon flossen 25 Millionen in Hilfsaktionen im östlichen Nachbarland, weitere 2 Millionen in Hospitalisierungen. Mit fast 4 Franken pro Kopf der Bevölkerung lag die Österreichhilfe hinter der Luxemburghilfe (5.11 Franken) an zweiter Stelle und ragte deutlich heraus. Bereits die Hilfe für die drittplatzierten Niederlande war mit 1.34 Franken pro Kopf dreimal geringer, massiv tiefer waren etwa die Hilfsquoten für die Nachbarländer Frankreich (0.73 Franken), Deutschland (0.54 Franken) und Italien (0.49 Franken).

Schon kurz nach Ende der Kampfhandlungen wurden in Zusammenarbeit mit der Grenzlandhilfe der Kantone St. Gallen und Appenzell Medikamente, Verbandsstoff und Desinfektionsmittel an Tiroler und Vorarlberger Spitäler geliefert. Im Spätsommer 1945 erhielten 3’000 Kinder in Innsbruck Speisungen. Im September 1945 begann die Lieferung von Sanitätsmaterial und Medikamenten sowie eine Speisung für 127’000 Wiener Schüler:innen, Lehrlinge und Kleinkinder. Im Oktober wurden den Wiener Kindergärten 42 Tonnen Äpfel geliefert. Zu Schulbeginn und Weihnachten 1946 erhielten über 300’000 Kinder in Wien, Niederösterreich und Burgenland eine Tafel Schweizer Schokolade. Kinderspeisungen durch Schweizer Hilfswerke gab es auch in Niederösterreich, Burgenland, der Steiermark und verschiedenen Flüchtlingslagern. Hinzu kamen über 74’000 Lebensmittelpakete der «Schweizer Spende» für ältere Menschen.

Total wurden bis 1948 aus der Schweiz 17’000 Tonnen Lebensmittel nach Österreich geliefert. Hinzu kamen Wolldecken, Windeln, Wolle, Stopfgarn, Schuhe, Nähmaschinen, Haushaltsartikel, Einrichtungsgegenstände, Medikamente, Ausrüstungen für Schuster- und Schneiderwerkstätten sowie Tuberkulose-Sanatorien, Ambulanzautos sowie Geräte für den Betrieb von Grossküchen. Ebenso wurden 40 Baracken nach Österreich geliefert sowie eine Bücherspende von 13’000 Bänden zum Wiederaufbau der zunächst ideologisch, dann teilweise auch physisch beschädigten Universitätsbibliotheken. 1948/49 entstand in Wien aus Mitteln der «Schweizer Spende» ein Kindergarten. Die Aktionen der «Schweizer Spende» in Österreich liefen von drei Stützpunkten in Wien, Graz und Innsbruck aus, die in allen Besetzungszonen wirken konnten.

In den Beständen des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks im Sozialarchiv finden sich umfangreiche Akten über Hilfsaktionen in Wien, Innsbruck, Linz, Salzburg, Niederösterreich und Burgenland, Flüchtlingshilfe in Graz, Kinderferien in der Schweiz und das Säuglings- und Kinderheim «Schwyzerhüsli» in Arzl im Tirol für 50 Kinder. Ebenso initiierte das Arbeiterhilfswerk die unter dem Patronat der Zürcher Stadtregierung stehende Aktion «Zürich hilft Wien», der sich auch andere Schweizer Städte anschlossen und deren Akten sich im Sozialarchiv befinden. Zwischen 1946 und 1948 sammelte die Aktion Geld, Lebensmittel und Baumaterial. Insgesamt spendeten die Zürcher:innen 1’500 Tonnen Kartoffeln nebst Kleidern, Baumaterialien, Mehl und anderen Lebensmitteln. Rund 2’000 Freiwillige, darunter viele Pöstler, Kehrichtmänner und Verkäuferinnen, halfen beim Sammeln und Sortieren. Die Hilfsaktion erstellte in Wien auch Küchenbaracken und unterstützte den Wiederaufbau der Infrastruktur. Im Gegenzug traten 1947 die Wiener Symphoniker in Zürich auf. Eine ähnliche Hilfsaktion organisierte die Stadt Biel für den Wiener Stadtteil Floridsdorf, wo 1947 aus Dankbarkeit ein markanter Gemeindebau den Namen «Bieler Hof» erhielt.

Die Schweizer Hilfsaktionen für Österreich standen in einer Tradition. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden trotz der prekären Versorgungslage im Inland bereits ab November 1918 Getreidelieferungen für Vorarlberg und Tirol, wo die Versorgung völlig zusammengebrochen war, organisiert. Das Schweizer Hilfswerk für Vorarlberg organisierte bis Sommer 1920 85 Eisenbahnwagen mit Lebensmitteln und Kleidern. Ab Jahreswechsel 1918/19 fuhren 112 Eisenbahnwagen mit Lebensmitteln nach Wien. Ebenso entstanden mehrere Kinderhilfskomitees und bis 1921 wurden über 56’000 Kinder vorübergehend in der Schweiz aufgenommen. Aus Dankbarkeit wurde 1920 der Maria-Josefa-Park in Wien in «Schweizergarten» umbenannt. Dort befindet sich seit 1966 das Staatsgründungsdenkmal zur Erinnerung an die Republikgründungen von 1918 und 1945.

Die Hilfe nach den Februarkämpfen 1934 ging dann einseitig von den Schweizer Arbeiterorganisationen aus. Nach ersten Transporten von Kindern der Februarkämpfer zu Schweizer Freiplätzen unterbanden die austrofaschistischen Behörden ab April 1934 weitere Kinderhilfszüge. Über diverse Kanäle leisteten die Arbeiterorganisationen bis 1938 Hilfe in der Höhe von rund 200’000 Franken. Ausserdem verwendete der Schweizerische Gewerkschaftsbund 1934 24’000 Franken und 1935 12’000 Franken aus dem Maibändel-Verkauf für die Unterstützung geflüchteter Schutzbündler. Umgekehrt gab es 1934 eine angeblich von den Schweizer Bischöfen unterstützte Sammelaktion rechtskatholischer Kreise zugunsten der paramilitärischen und antisemitischen «Ostmärkischen Sturmscharen».

Demokratie als Kompromiss der ehemaligen Feinde

Der Wiederaufbau der Verwaltung war zunächst eher improvisiert, nahm aber bald innen- und geopolitische Dimensionen an. In Wien ernannten die sowjetischen Militärbehörden am 12. April 1945 eher zufällig den ehemaligen Spanienkämpfer Rudolf Prikryl zum Bürgermeister. Er ging als «Drei-Tage-Bürgermeister» in die Geschichte ein und wurde bereits am 17. April vom Sozialdemokraten Theodor Körner abgelöst, der in den ersten Wiener Nachkriegswahlen im November 1945, als seine SPÖ auf über 57% kam, im Amt bestätigt wurde. Die provisorische Staatsregierung Renner, in der sich SPÖ, ÖVP und KPÖ die Ministerposten paritätisch teilten, wurde von den Westmächten zunächst nicht anerkannt. Die Sowjetunion erhoffte sich den Aufbau eines willfährigen Gremiums mit der nichtkommunistischen Führungsfigur Renner als Feigenblatt, musste aber rasch erkennen, dass sich die Regierung nicht wie erhofft kontrollieren liess.

Am 25. November 1945 fanden die ersten freien Nationalratswahlen seit 1930 statt. Über eine halbe Million ehemaliger Nazis waren vom Wahlrecht ausgeschlossen. Viele wahlberechtigte Männer befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft, so dass die Frauen die Mehrheit der 3,2 Millionen Wählenden bildeten. Der Wahlausgang war eher überraschend. Die ÖVP kam auf 49,8% und gewann die absolute Mandatsmehrheit, die SPÖ folgte mit 44,6% an zweiter Stelle. Deutlich unter den Erwartungen blieb mit 5,4% der Stimmen die KPÖ. Die sowjetischen Besatzungsbehörden und die KPÖ selbst hatten mit 20 bis 30% gerechnet, die politische Konkurrenz immerhin mit 10 bis 15%. Bei den zeitgleich stattfindenden Landtagswahlen gewann die SPÖ in Wien und Kärnten, die ÖVP in allen anderen Bundesländern.

Durch die unerwartete konservative Parlamentsmehrheit und den Umstand, dass die SPÖ neunmal so stark war wie die KPÖ, wurden anfängliche sowjetische Pläne, die beiden Linksparteien wie in Ostdeutschland zusammenzuschliessen und damit die Regierung zu übernehmen, gleich in zweifacher Hinsicht im Keim erstickt. Die Dreiparteienregierung wurde nach den Wahlen weitergeführt, nun aber unter Berücksichtigung der Parteistärken. Bundeskanzler wurde der ÖVP-Mann Leopold Figl, ein ehemaliger austrofaschistischer Funktionär, der in der Nazi-Zeit über fünf Jahre in Konzentrationslagern inhaftiert und gefoltert worden war und nach der Befreiung Mitglied der Regierung Renner und provisorischer Landeshauptmann von Niederösterreich wurde. Renner wurde zum Bundespräsidenten gewählt. Die nur noch über einen Ministerposten verfügende KPÖ bemühte sich nun um eine Destabilisierung der Regierung in der Hoffnung auf für sie günstigere Neuwahlen. So drangen am 5. Mai 1947 kommunistische Demonstranten bei einer «Hungerdemonstration» ins Bundeskanzleramt ein. Im November 1947 nahm die KPÖ die Währungsreform zum Anlass, die Koalition zu verlassen.

Bei den zweiten Nationalratswahlen vom Oktober 1949 waren erstmals etwa eine halbe Million «minderbelasteter» Ex-Nazis wahlberechtigt und es setzte ein Buhlen um die «Ehemaligen» ein. So trafen sich im Mai 1949 in der Oberweiser Konferenz führende ÖVP-Vertreter mit hochrangigen ehemaligen Nationalsozialisten. Als Sammelbecken für Ex-Nazis und neuer Repräsentant des deutschnationalen «Dritten Lagers» entstand im März 1949 der Verband der Unabhängigen (VdU). Auf der Linken hatte sich von der SPÖ eine Gruppe von Linkssozialisten um den Gegner der grossen Koalition Erwin Scharf abgespaltet, die auf Druck der sowjetischen Besatzungsbehörden mit der KPÖ das Wahlbündnis «Linksblock» bildete. Der VdU erreichte in den Wahlen aus dem Stand 11,7% – in Vorarlberg, Oberösterreich und Kärnten machte er sogar über 20%. Diese Gewinne gingen etwa gleichmässig zulasten der beiden Grossparteien, die je knapp 6% verloren und auf 44% (ÖVP) bzw. 38,7% (SPÖ) kamen. Der Linksblock blieb mit rund 5% schwach. Aufgrund des Wahlergebnisses wurde die grosse Koalition unter Figl fortgesetzt und vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Kalten Kriegs zunehmend auch von einem antikommunistischen Grundkonsens zusammengehalten. Auch bei den Arbeiterkammerwahlen desselben Jahres schnitt der VdU mit 11,7% stark ab, hinter der SPÖ (64,4%) und ÖVP (14,2%), aber noch vor der KPÖ (9,7%). Bei den Betriebsratswahlen der Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerke (VÖEST) in Linz, der ehemaligen «Reichswerke Hermann Göring» mit einer nazi-affinen Belegschaft, wurde der VdU bei den Arbeitern mit 46,2% der Stimmen sogar noch vor der SPÖ zur stärksten Fraktion.

Ein markantes Ereignis in der politischen Entwicklung der frühen Nachkriegszeit waren die Oktoberstreiks von 1950 gegen das vierte Lohn-Preis-Abkommen. Die von der KPÖ und teilweise auch, obwohl er zuvor dem Lohn-Preis-Abkommen zugestimmt hatte, dem VdU getragenen Proteste verliefen in zwei Phasen Ende September mit etwa 180’000 Streikenden und Anfang Oktober mit etwa 120’000 Streikenden mit Schwerpunkten in Wien, Ober- und Niederösterreich. Seitens der Streikenden kam es zu Sabotageakten gegen Eisenbahn- und Tramlinien und Strassensperren. In Linz stürmte eine Gruppe von Streikenden unter Führung eines VdU-Betriebsrates die Arbeiterkammer und bedrohte den sozialistischen Kammerpräsidenten mit Fenstersturz. Besonders in Wien gab es auch gewaltsame Zusammenstösse zwischen Streikenden und von der Bauarbeitergewerkschaft organisierten Räumtrupps. Die Regierungsparteien, Wirtschaftsverbände und der ÖGB lehnten die Streiks vehement ab und warnten zweieinhalb Jahre nach dem Umsturz in Prag gar vor einem kommunistischen Putschversuch, was dann für Jahrzehnte zu erinnerungspolitischen Kontroversen führte. Der VdU betrieb ein Doppelspiel, für das er bei den folgenden Betriebsrats- und Arbeiterkammerwahlen abgestraft wurde.

Die sowjetischen Besatzungsbehörden verfolgten die Ereignisse, obwohl sie ihnen vor dem Hintergrund des Koreakrieges eher ungelegen kamen, mit wohlwollender Zurückhaltung und vorsichtiger Unterstützung, indem sie in ihrer Zone teilweise das Eingreifen der Polizei (deren Führungspositionen mehrheitlich mit Kommunisten besetzt waren) behinderten, Demonstrant:innen aus den USIA-Belegschaften mit Lastwagen befördern liessen und die Bahnverbindung Wien–Langenzersdorf mit Panzern unterbrachen. Im Äther fand ein eigentlicher Propagandakrieg statt zwischen dem sowjetisch kontrollierten Rundfunksender RAVAG und den prowestlichen Stationen Alpenland (britische Zone) und Rot-Weiss-Rot (amerikanische Zone).

Letztlich festigten die Oktoberstreiks die Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien der grossen Koalition und das sozialpartnerschaftliche System und führten zu einer weiteren Marginalisierung der KPÖ. Eine andere Folge war der Aufbau einer geheimen «Stay-Behind»-Organisation, die sich im Unterschied zu ähnlichen Strukturen in anderen westlichen Ländern nicht aus rechtsgerichteten Kreisen, sondern hauptsächlich aus sozialistischen Arbeitern rekrutierte. Nach Anfängen im ÖGB ab 1947 zur Abwehr eventueller kommunistischer Umsturzversuche wurde die Truppe mit dem Tarnnamen «Österreichischer Wander-, Sport- und Geselligkeitsverein» ab 1951 vom CIA ausgerüstet und finanziert, legte geheime Waffenlager an und baute ein landesweites Funknetz auf. Ebenso wurde die seit 1949 aufgebaute «B-Gendarmerie» als Keimzelle eines zukünftigen Bundesheeres mit Unterstützung der westlichen Besatzungsmächte erweitert und 1952 beim Bundesministerium für Inneres formalisiert.

Wenige Wochen nach den Oktoberstreiks verstarb Bundespräsident Renner. Bei der Erneuerungswahl, die im Mai 1951 erstmals direkt durch das Volk geschah, setzte sich der Wiener Bürgermeister Theodor Körner im zweiten Wahlgang überraschend gegen den ÖVP-Kandidaten Heinrich Gleissner durch. Einen Achtungserfolg erzielte der parteilose, vom VdU portierte Arzt Burghard Breitner, der im ersten Wahlgang auf 15,4% kam. Breitner war 1932/33 sowie erneut ab 1939 NSDAP-Mitglied gewesen und während des Zweiten Weltkriegs an der Universitätsklinik Innsbruck für die Durchführung des nationalsozialistischen Zwangssterilisierungsprogramms zuständig. Abgeschlagen auf dem vierten Rang landete mit 5,1% KPÖ-Kandidat Gottlieb Fiala.

Die sowjetischen Behörden und die KPÖ leiteten eine neuerliche Strategieänderung ein. Nunmehr sollten die etablierten politischen Kräfte mit «Spoiler-Parteien» konkurrenziert werden. Als Konkurrenz zur SPÖ wurde im November 1950 aus der mit der KPÖ verbündeten linkssozialistischen Gruppe eine sowjetfinanzierte Sozialistische Arbeiter-Partei (SAP) gegründet. Die seit 1945 bestehende bürgerliche Splitterpartei Demokratische Union (DU) näherte sich unter ihrem neuen Vorsitzenden Josef Dobretsberger, einem ehemaligen austrofaschistischen Minister und Ex-ÖVP-Mitglied und nun wegen seiner Linie von politischen Gegnern als «Sowjetsberger» verspottet, der KPÖ an und wurde von dieser als pro-sowjetische Alternative zur ÖVP aufgebaut. Selbst die «Nationale Liga» des ehemaligen SS-Offiziers und mutmasslichen KGB-Agenten Adolf Slavik, die sich im Juli 1950 vom VdU abgespaltet hatte, wurde hinter den Kulissen von der KPÖ gefördert und finanziert und vertrat eine Mischung aus neonazistischer, pro-sowjetischer, grossdeutscher, neutralistischer und antiwestlicher Propaganda.

Diese neue Strategie erlitt bei den letzten Nationalratswahlen der Besatzungszeit im Februar 1953 Schiffbruch. KPÖ, SAP und DU traten auf einer gemeinsamen Liste unter dem Label «Wahlgemeinschaft Österreichische Volksopposition» an, erhielten aber lediglich 5,3% der Stimmen. Die SPÖ wurde nach deutlichem Zuwachs mit 42,1% erstmals stimmenstärkste Partei, die ÖVP kam auf 41,3%, gewann aber ein Mandat mehr als die SPÖ. Der VdU erlitt leichte Verluste und kam auf knapp 11%, geriet aber kurz darauf durch innerparteiliche Querelen in eine Krise und wurde durch die von ihm abgespaltene Freiheitliche Partei (FPÖ) unter den ehemaligen SS-Offizieren Anton Reinthaller und Friedrich Peter abgelöst. Das Bundeskanzleramt verblieb bei der ÖVP, ging jedoch von Figl, der von seiner Partei als gegenüber der SPÖ zu kompromissbereit kritisiert wurde, auf Julius Raab über. 1945 war Raab als ehemaliger Heimwehrführer und austrofaschistischer Minister den Alliierten als Mitglied der provisorischen Regierung noch nicht genehm gewesen. Figl wurde einige Monate später Aussenminister. Nachdem Bundespräsident Körner ÖVP-Plänen eines Einbezugs des VdU in die Regierung eine Absage erteilt hatte, wurde erneut eine grosse Koalition geschmiedet und noch bis 1966 fortgeführt.

Die traumatischen Erfahrungen der vorangegangenen Jahrzehnte führten dazu, dass «Rote» und «Schwarze» anders als in der Zwischenkriegszeit nun kooperierten, sich aber immer noch gegenseitig misstrauten. Die grosse Koalition glich so einer gegenseitigen Umarmung zur Kontrolle des Kontrahenten. Diese weitete sich aus zu umfassenden Proporzregelungen in Behörden, Kammern, den meisten Landes- und Stadtregierungen, Betriebsräten sowie den Führungsgremien der verstaatlichten Wirtschaftszweige und des ÖGB. Der institutionalisierte «Proporz» wurde dadurch zum Garanten gegen ein neues «1934», zugleich aber zunehmend auch zum umgangssprachlichen Synonym für «Parteibuchwirtschaft».

Kalter Krieg und lange Verhandlungen

Ab Anfang 1947 versuchte die österreichische Regierung, mit den Besatzungsmächten einen Friedensvertrag auszuhandeln, der die Besetzung beenden würde. Im Januar 1947 fanden erste Verhandlungen in London statt, die ab März in Moskau fortgesetzt wurden. Umstritten war zunächst der Umgang mit jugoslawischen Gebietsansprüchen auf Teile Südkärntens und der Südsteiermark. Nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin im Juni 1948 war dieser Punkt für die Sowjetunion dann aber nicht mehr von Bedeutung und die Grenzen blieben unverändert. Komplexere Fragen waren dagegen der Umgang mit den österreichischen Betrieben in sowjetischem Besitz sowie die vor allem von der Sowjetunion geforderte Verknüpfung der Verhandlungen mit Österreich mit einem Friedensvertrag zwischen den Alliierten und Deutschland, der mit der Verschärfung des Kalten Krieges immer unwahrscheinlicher wurde. Dennoch einigten sich die Alliierten im Sommer 1949 in den meisten wichtigen Punkten. Im Oktober gab US-Präsident Harry S. Truman grünes Licht zur Unterzeichnung eines Staatsvertrags, die Sowjetunion brach aber die Verhandlungen ab und verknüpfte in der Folge die Österreichfrage mit einer Regelung des zwischen Italien, Jugoslawien und den Westalliierten umstrittenen Status der Stadt Triest. Eine gewisse Rolle für das Scheitern von 1949 dürfte der Umstand gespielt haben, dass die Sowjetische Mineralölverwaltung wenige Monate zuvor in der Nähe von Wien das damals grösste zusammenhängende Erdölfeld Mitteleuropas entdeckt hatte und dieses nicht an Österreich übergeben werden sollte.

So zogen sich die Verhandlungen über Jahre in die Länge. Zugleich wandte sich Österreich politisch und wirtschaftlich immer mehr dem Westen zu. Ende 1951 riefen die Westmächte zur Wiederaufnahme der Staatsvertragsverhandlungen auf. 1952 liess die österreichische Bundesregierung den Science-Fiction-Film «1. April 2000» produzieren, der ein anhaltendes Besatzungsregime bis zur Jahrtausendwende auf die Schippe nahm. Die Satire, deren Uraufführung in Anwesenheit des Bundeskanzlers stattfand, stellte einerseits eine friedliebende österreichische, von der deutschen stark verschiedene Identität dar, andererseits sollte ein Signal an die Besatzungsmächte gesandt werden, endlich einen Staatsvertrag abzuschliessen. Am 20. Dezember 1952 beschloss die UNO-Vollversammlung auf Antrag Brasiliens eine Resolution zugunsten des raschen Endes der Besetzung Österreichs.

Erst ab 1953 ging es mit den Verhandlungen aber voran, nachdem in der Sowjetunion, den USA und Österreich neue Personen an die Spitze gelangt waren. Im Januar 1953 trat der ehemalige Weltkriegsgeneral Dwight D. Eisenhower sein Amt als US-Präsident an. Am 5. März verstarb Stalin und es setzte in der Sowjetunion die Periode des «Tauwetters» ein. Am 2. April trat der neue Bundeskanzler Raab sein Amt an und änderte den österreichischen Verhandlungsstil. Hilfreich waren auch informelle Kontakte mit Dritten. Der finnische Ministerpräsident und später langjährige Staatspräsident Urho Kekkonen verbrachte Anfang 1953 seine Ferien in Österreich und gab in einem Treffen mit Spitzenpolitikern wichtige Tipps aus dem Erfahrungsschatz seines Landes für Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung. Im Juni desselben Jahres traf auf dem Bürgenstock am Vierwaldstättersee der österreichische Aussenminister Karl Gruber mit dem indischen Ministerpräsidenten Pandit Jawaharlal Nehru und dem indischen Botschafter in Moskau zusammen. In der Folge spielte die Diplomatie des erst seit kurzem unabhängigen, sich zwischen den geopolitischen Blöcken positionierenden Indien eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Österreich und der Sowjetunion.

Anfang 1954 fand in Berlin eine Aussenministerkonferenz der Siegermächte statt. Hauptsächlich ging es dabei um die Deutschlandfrage, es war aber auch eine österreichische Delegation eingeladen. Die Sowjetunion forderte die Auflösung der NATO, den Abzug der US-Truppen aus Europa und die Neutralisierung Deutschlands sowie in Bezug auf Österreich eine anhaltende sowjetische Truppenpräsenz bis zum in weiter Ferne liegenden Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland sowie die Verpflichtung zur Neutralität. Zwei Jahre zuvor hatte die Sowjetunion in den «Stalin-Noten» plötzlich eine Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands vorgeschlagen, was im Westen aber als Bluff zur Verhinderung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Westintegration der Bundesrepublik betrachtet wurde. Letztere war angesichts des Aufstiegs der Sowjetunion zur Atommacht 1949, des Ausbruchs des Koreakriegs im folgenden Jahr sowie der gewaltigen konventionellen Überlegenheit der sowjetischen Streitkräfte rascher als zunächst gedacht zu einem Thema geworden. Die Frage, ob freie Wahlen in Gesamtdeutschland wie vom Westen gefordert vor oder wie von der Sowjetunion vage in Aussicht gestellt erst nach einer Wiedervereinigung stattfinden sollten, liess die Initiative verpuffen.

Auch die Berliner Aussenministerkonferenz 1954 endete ohne Ergebnis – sowohl in Bezug auf Deutschland als auch auf Österreich. Im Herbst 1954 trat die Bundesrepublik, nachdem das bis zur Ratifizierung gereifte Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit Europaarmee («Pleven-Plan») in der französischen Nationalversammlung an einer unheiligen Allianz von Gaullist:innen und Kommunist:innen gescheitert war, der NATO bei. Mit Inkrafttreten des Deutschlandvertrags zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten am 5. Mai 1955 wurde das Besatzungsregime in Westdeutschland weitgehend aufgehoben, der bundesdeutsche NATO-Beitritt wirksam und begann der Aufbau der Bundeswehr. Zudem gründeten nach dem Scheitern der EVG die sechs Staaten der 1951 entstandenen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Frankreich, Italien, Benelux, Bundesrepublik), deren Verknüpfung mit der EVG unter dem Dach einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) mit parlamentarisch-föderalistischen Zügen geplant gewesen war, im Oktober 1954 zusammen mit Grossbritannien, der damals einzigen westeuropäischen Atommacht, den Beistandspakt der Westeuropäischen Union (WEU).

Vor diesem Hintergrund gingen die Verhandlungen um den österreichischen Staatsvertrag weiter. Dem neuen starken Mann im Kreml, Nikita Chruščëv, wurde zunehmend klar, dass ein neutrales Österreich das Maximum dessen darstellte, was noch zu erreichen war, und er wich dafür auch vom bisherigen Dogma ab, aus keinem von der Roten Armee besetzten Gebiet je wieder abzuziehen. Dadurch konnte in die Südostflanke der NATO dauerhaft ein zusammenhängender bündnisloser, aber mit grossen Landstreitkräften verteidigter Raum aus Jugoslawien, Österreich und der Schweiz eingeschoben werden. Freilich hatte die sowjetische Führung keinerlei Absicht, die für Österreich und zuvor Deutschland geforderte Neutralität auch Staaten zuzugestehen, die sie ganz zu ihrem Machtbereich zählte. Als Ungarn im Herbst 1956 ein Jahr nach Österreich ebenfalls seine Neutralität erklärte, zog dies postwendend eine Invasion der Roten Armee nach sich, die auch in Österreich Befürchtungen eines sowjetischen Wiedereinmarsches hervorriefen (s. SozialarchivInfo 5/2016).

Im Frühling 1955 lud die sowjetische Regierung eine hochrangige österreichische Delegation aus Bundeskanzler Raab, Aussenminister Figl (beide ÖVP) sowie Vizekanzler Adolf Schärf und Staatssekretär Bruno Kreisky (beide SPÖ) nach Moskau ein. Die Gespräche von 12. bis 15. April führten zum Durchbruch. Die damals als angeblich wesentlicher Faktor kolportierte Trinkfestigkeit der österreichischen Delegation war freilich eine Legende. Im «Moskauer Memorandum» machte Österreich die Zusage zur Neutralität nach Schweizer Vorbild. Mit der Referenz auf das helvetische Modell sollte unterstrichen werden, dass es sich um eine rein völkerrechtliche Neutralität handeln sollte, keine «Gesinnungsneutralität» mit (von sowjetischen Neutralitätstheoretikern gewünschten und im Fall von Finnland teilweise durchgesetzten) Einschränkungen der zivilgesellschaftlichen Meinungsäusserungs- und Handlungsfreiheit in Bezug auf die Sowjetunion oder einen auf Kooperation mit dem östlichen «Friedenslager» abzielenden «dritten Weg» im Ost-West-Konflikt. Die Sowjetunion sagte die Anerkennung dieser Neutralität, Garantie der Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des österreichischen Staatsgebietes und den Abzug ihrer Truppen aus Österreich zu.

Auch bezüglich der sowjetischen Wirtschaftsbetriebe in Österreich wurde eine Lösung gefunden. Die Rechte an der Mineralölverwaltung sollten gegen eine Lieferung von 10 Mio. Tonnen Rohöl auf Österreich übertragen werden. Für die USIA-Betriebe, die in der Folge zu einem grossen Teil verstaatlicht wurden, sollte Österreich 150 Mio. Dollar bezahlen, für die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft 2 Mio. Dollar.

Bei der Rückkehr der Verhandlungsdelegation dankte Kanzler Raab am Flugplatz Bad Vöslau dem Herrgott und verkündete: «Österreich wird frei sein!»

«Österreich ist frei»

Am 15. Mai 1955, zehn Tage nach Inkrafttreten des Deutschlandvertrags und einen Tag nach der formellen Gründung des Warschauer Pakts, wurde der Staatsvertrag in Wien im Schloss Belvedere von Österreich, der Sowjetunion, den USA, Grossbritannien und Frankreich feierlich unterzeichnet. Grundlegende Vertragsbestimmungen waren das Verbot des Anschlusses an Deutschland, die Beibehaltung des NSDAP-Verbotsgesetzes, Einschränkungen der Bewaffnung Österreichs, Verpflichtungen gegenüber den sprachlichen Minderheiten in Österreich und Reparationen an die Sowjetunion in Form von Erdöllieferungen. Die vorgesehene Verantwortlichkeitsklausel, in der Österreichs Mitverantwortung für den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erwähnt werden sollte, wurde auf Figls Wunsch fast in letzter Minute aus der Präambel gestrichen. Dies gab der These, wonach Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, Auftrieb. Tatsächlich schlief die juristische Entnazifizierung nach 1955 weitgehend ein.

Unmittelbar nach der Vertragsunterzeichnung tat Aussenminister Figl den berühmten Ausspruch: «Österreich ist frei». In der Folge präsentierte er auf dem Balkon des Oberen Belvedere das Vertragsdokument einer jubelnden Menschenmenge und umarmte seine Amtskollegen aus den Siegermächten. Von sowjetischer Seite war dies Vjačeslav Molotov, der bereits im August 1939 den berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt mit der deutsch-sowjetischen Aufteilung Ostmitteleuropas unterzeichnet hatte, in der antisemitischen Endphase der Stalin-Diktatur wegen seiner jüdischen Ehefrau in Ungnade gefallen, aber nach Stalins Tod erneut zum Aussenminister aufgestiegen war. Bei den Diskussionen um die Streichung der Mitverantwortlichkeitsklausel aus der Präambel des Staatsvertrags soll Figl Molotov ins Bewusstsein gerufen haben, er habe 1939 im Konzentrationslager von dessen Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrags zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion erfahren.

Nach der Ratifizierung durch Österreich und die Besatzungsmächte trat der Staatsvertrag am 27. Juli 1955 in Kraft. Der Alliierte Rat trat zu einer letzten Sitzung zusammen, an der er sich selbst auflöste, und es begann für die Besatzungstruppen eine Räumungsfrist von 90 Tagen. In dieser Räumungsphase legte der KGB noch in verschiedenen österreichischen Dörfern, zwei Burgruinen und sogar einem Kloster geheime Waffenlager für potenzielle zukünftige Sabotageaktionen an. Am 25. Oktober 1955 erhielt Österreich seine volle Souveränität zurück. Am Tag darauf beschloss der Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und KPÖ gegen diejenigen des VdU vereinbarungsgemäss das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs. Diese wurde schon bald aktiver ausgelegt als das schweizerische Vorbild. Am 14. Dezember 1955 wurde Österreich nach über sieben Jahren Wartezeit in die UNO aufgenommen.

Bestände zum Thema im Schweizerischen Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv:

  • Ar 20.631-633 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Österreich
  • Ar 20.741 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Faschismus, Deutschland: Radioberichte, Nachrichten über Österreich
  • Ar 20.893.1-22 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Österreich
  • Ar 20.910.3 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Kinderlager mit Schweizer Kindern
  • Ar 20.930.10 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Roten Kreuz für österreichische Kinder 1945–1947 und Freiplatzlisten für österreichische Kinder
  • Ar 20.930.34 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Frankreich 1948–1949 und Tschech. Flüchtlingskinder aus deutschen und österreichischen Lagern
  • Ar 20.950.29 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Schweizer Europahilfe (SEH): Tätigkeitsberichte
  • Ar 20.950.65 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Internationales Arbeiterhilfswerk IAH
  • Ar 46.18.2 Landesverband der Schweiz. Kinderfreunde-Organisationen (LASKO): Fahrt der Zürcher Falken zum Int. Treffen der Roten Falken
  • Ar 107.3 Olgiati, Rodolfo (1905–1986): Schweizer Spende III
  • Ar 151.11.1 Risler, Robert (1912–2005): Aktion «Zürich hilft Wien» 1947–1981
  • Ar 198.30 Adler, Friedrich und Kathia
  • Ar 201.87 Aktion Zürich hilft Wien
  • Ar SAH 20.971.126 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH: Aktionen, diverse: Teil 2

Sachdokumentation:

  • KS 32/40 Österreich
  • KS 331/158a+b Gewerkschaften: Österreich
  • KS 335/253-253a Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ): Schriften: 1934–1945
  • KS 335/254-255a Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ): Schriften
  • KS 338/221 Marshallplan; Organization for European Economic Cooperation (OEEC): Beziehungen zu einzelnen Ländern
  • KS 338/269 Wirtschaft: Österreich (inkl. Österreich-Ungarn)
  • KS 338/270 Wirtschaftspolitik: Österreich
  • KS 362/51-51b Kriegsnothilfe: Hilfsaktionen: 2. Weltkrieg
  • ZA EMO 3 Österreich: Innenpolitik
  • ZA EMO 4 Österreich: Aussen- & Sicherheitspolitik
  • ZA EMO 8 Österreich: Arbeit; Wirtschaft
  • ZA 55.7 EMO Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ)
  • ZA 65.4 *2 Schweizerische Kriegsnothilfe für Europa
  • ZA 65.4 *21 Schweizerische Kriegsnothilfe: «Schweizer Spende»
  • ZA 65.4 *22 Schweizerische Kriegsnothilfe für Kinder
  • ZA 78.1 EMO Gewerkschaften: Österreich

Bibliothek:

  • Adamson, Göran: Populist parties and the failure of the political elites: The rise of the Austrian Freedom Party (FPÖ). Frankfurt 2016, 134464
  • Altermatt, Urs und Emil Brix (Hg.): Schweiz und Österreich: Eine Nachbarschaft in Mitteleuropa. Wien/Köln 1995, 98860
  • Andrew, Christopher und Vasili Mitrokhin: The Mitrokhin Archive: The KGB in Europe and the West. London/New York 1999, Hf 5735
  • Androsch, Hannes: Wirtschaft und Gesellschaft: Österreich 1945–2005. Innsbruck 2005, 115139
  • Autengruber, Peter und Manfred Mugrauer: Oktoberstreik: Die Realität hinter den Legenden über die Streikbewegung im Herbst 1950: Sanktionen gegen Beteiligte und ihre Rücknahme. Wien 2016, 135502
  • Baier, Walter: Das kurze Jahrhundert: Kommunismus in Österreich: KPÖ 1918 bis 2008. Wien 2009, 121378
  • Baier, Walter: Unentwegte: Österreichs KommunistInnen 1918–2018. Wien 2017, 144105
  • Bauer, Kurt: Niemandsland zwischen Krieg und Frieden. Salzburg 2025, erwartet
  • Baur-Timmerbrink, Ute: Wir Besatzungskinder: Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen. Berlin 2015, 132348
  • Behrmann, Lilly-Ralou: Bibliographie zur Aussenpolitik der Republik Österreich seit 1945. Wien 1974, 53813
  • Bergmann, Werner et al. (Hg.): Schwieriges Erbe: Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt 1995, 98031
  • Bischof, Günter und Hans Petschar: Der Marshallplan: Die Rettung Europas & der Wiederaufbau Österreichs: Das europäische Wiederaufbauprogramm, der ERP-Fonds, die Marshallplan-Jubiläumsstiftung. Wien 2017, Gr 14482
  • Bischof, Günther und Peter Ruggenthaler: Österreich und der Kalte Krieg: Ein Balanceakt zwischen Ost und West. Graz 2022, Gr 15652
  • Bock, Fritz et al.: Österreich zuliebe: Der Staat, den alle wollten. Wien 1985, 80482
  • Böhm, Johann: Erinnerungen aus meinem Leben. 2. Aufl. Wien 1961, 27526
  • Bonvalot, Michael: Die FPÖ – Partei der Reichen. Wien 2017, 137533
  • Botz, Gerhard und Albert Müller: «1945»: «Stunde Null», historischer Bruch oder Kontinuität mit der NS-Zeit und der Ersten Republik?, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands: Jahrbuch 1995. S. 6-27.
  • Boyer, John W.: Austria, 1867–1955. Oxford 2022, 152713
  • Brandhauer-Schöffmann, Irene und Ela Hornung: Der Topos des sowjetischen Soldaten in lebensgeschichtlichen Interviews mit Frauen, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands: Jahrbuch 1995. S. 28-44.
  • Brandis, Clemens Graf zu: Österreichs historische Mission in Europa. Zürich/Leipzig 1946, 14402
  • Brandstaller, Trautl: Die zugepflügte Furche: Geschichte und Schicksal eines katholischen Blattes. Wien 1969, 39887
  • Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien/München 1985, 79922
  • Bruckmüller, Ernst: Österreichische Geschichte: Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Wien 2019, 142567
  • Bruckmüller, Ernst: Geschichte kompakt: Österreich. Wien/Köln 2021, 146523
  • Cede, Franz und Christian Prosl: Anspruch und Wirklichkeit: Österreichs Aussenpolitik seit 1945. Innsbruck 2015, 133745
  • Czernetz, Karl: Hier antwortet die SPÖ: Einwände gegen den Sozialismus, Argumente gegen die Sozialistische Partei und die Antworten der Sozialisten. Wien 1946, Hf 3974:18
  • Deutsch, Julius: Was wollen die Sozialisten? Wien 1949, 17473
  • Deutsch, Julius: Ein weiter Weg: Lebenserinnerungen. Zürich 1960, Hf 2167
  • Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (Hg.): Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich: Festschrift für Brigitte Bailer. Wien 2012, 126747
  • Dolezal, Martin et al.: Sehnsucht nach dem starken Mann? Autoritäre Tendenzen in Österreich seit 1945. Wien 2019, Gr 15055
  • Düriegl, Günter und Gerbert Frodl (Hg.): Das neue Österreich: Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005, Oberes Belvedere, 16. Mai bis 1. November 2005. Wien 2005, Gr 11510
  • Eger, Reiner: Krisen an Österreichs Grenzen: Das Verhalten Österreichs während des Ungarnaufstandes 1956 und der tschechoslowakischen Krise 1968: Ein Vergleich. Wien 1981, 70774
  • Enderle-Burcel, Gertrude (Hg.): Adolf Schärf – Tagebuchnotizen des Jahres 1952. Innsbruck 2010, 125877
  • Enderle-Burcel, Gertrude (Hg.): Adolf Schärf – Tagebuchnotizen des Jahres 1954. Innsbruck 2025, erwartet
  • Enderle-Burcel, Gertrude (Hg.): Adolf Schärf – Tagebuchnotizen des Jahres 1955. Innsbruck 2008, 119649
  • Epler, Ernst: Der grosse Streik. Wien 1965, 34843
  • Ermacora, Felix: 20 Jahre österreichische Neutralität. Frankfurt 1975, 55794
  • Fichna, Wolfgang et al. (Hg.): Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren: Die Siedlung Siemensstraße in Wien-Floridsdorf. Wien 2021, 152621
  • Figl, Leopold: Reden für Österreich. Wien 1965, 37081
  • Fischer, Ernst: Das Ende einer Illusion: Erinnerungen 1945–1955. Wien etc. 1973, 50533
  • Fischer, Heinz (Hg.): Karl Renner: Porträt einer Evolution. Wien 1970, 42388
  • Fischer, Heinz: Zur Geschichte und Demokratieentwicklung der Zweiten Republik. Innsbruck 2018, 144184
  • Fischer, Heinz (Hg.): 100 Jahre Republik: Meilensteine und Wendepunkte in Österreich 1918–2018. Wien 2020, 146590
  • Fitzpatrick, Sheila: Lost Souls: Sowjetische DPs und der Beginn des Kalten Krieges. Hamburg 2025, erwartet
  • Foltin, Robert: Die Linke in Österreich: Eine Einführung. Wien 2023, 150513
  • Freiheit, Aufbau, Friede: Die Parteikonferenz der SPÖ am 7. Mai 1946. Wien 1946, Hf 3974:16
  • Friesenbichler, Georg: Verdrängung: Österreichs Linke im Kalten Krieg 1945–1955. Innsbruck/Wien 2021, 146069
  • Fürnberg, Friedl et al.: Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs: 1918–1955: Kurzer Abriss. Wien 1977, 61093
  • Gärtner, Heinz: Zwischen Moskau und Österreich: Die KPÖ – Analyse einer sowjetabhängigen Partei. Wien 1979, 67400
  • Gehler, Michael und Rolf Steininger (Hg.): Österreich und die europäische Integration seit 1945: Aspekte einer wechselvollen Entwicklung. 2. erw. Aufl. Wien 2014, Gr 13368
  • Göhring, Walter: 1000 Daten SPÖ: Zur Entwicklung der sozialistischen Partei Österreichs 1945–1985. Eisenstadt 1985, Gr 5311
  • Graf, Maximilian und Agnes Meisinger (Hg.): Österreich im Kalten Krieg: Neue Forschungen im internationalen Kontext. Göttingen 2016, 137029
  • Grasl-Akkilic, Senol et al. (Hg.): Aspekte der österreichischen Migrationsgeschichte. Wien 2019, 143482
  • Grünwald, Leopold: Wandlung: Ein Altkommunist gibt zu Protokoll. Wien 1979, 69896
  • Grusch, Sonja: Im Hamsterrad: Lehren aus der Geschichte der SPÖ-Linken von 1945 bis heute. Berlin 2017, 137983
  • Haider-Pregler, Hilde et al. (Hg.): Zeit der Befreiung: Wiener Theater nach 1945. Wien 1998, 103088
  • Haller, Max (Hg.): Identität und Nationalstolz der Österreicher: Gesellschaftliche Ursachen und Funktionen – Herausbildung und Transformation seit 1945 – Internationaler Vergleich. Wien 1996, 101516
  • Hammerstein, Katrin: Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich. Göttingen 2017, 138472
  • Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates: Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994, 97994:9
  • Hannak, Jacques: Karl Renner und seine Zeit: Versuch einer Biographie. Wien 1965, 33211
  • Helms, Ludger und David M. Wineroither (Hg.): Die österreichische Demokratie im Vergleich. 2. akt. Aufl. 2017, 136809
  • Höbelt, Lothar (Hg.): Aufstieg und Fall des VdU: Briefe und Protokolle aus privaten Nachlässen 1948–1955. Wien 2015, 131397
  • Holzhauser, Thorsten: Demokratie, Nation, Belastung: Kollaboration und NS-Belastung als Nachkriegsdiskurs in Frankreich, Österreich und Westdeutschland. Berlin 2022, 148218
  • Jenny, Christian: Konsensformel oder Vorbild? Die Entstehung der österreichischen Neutralität und ihr Schweizer Muster. Bern 1995, 98498
  • Jenny, Christian: Die Beziehungen zu Österreich in der Nachkriegszeit (1945–55), in: Schweizerisches Bundesarchiv (Hg.): Integration oder Isolation? Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und den Staaten Mittel- und Osteuropas seit dem Zweiten Weltkrieg: Publikation zum Kolloquium im Schweizerischen Bundesarchiv Bern, 29. Oktober 1996. Bern 1997. S. 41-46, Gr 9501
  • Kadan, Albert und Anton Pelinka: Die Grundsatzprogramme der österreichischen Parteien: Dokumentation und Analyse. St. Pölten 1979, 68042
  • Kaindl-Widhalm, Barbara: Demokraten wider Willen? Autoritäre Tendenzen und Antisemitismus in der 2. Republik. Wien 1990, 91762
  • Im Kampf gegen den Hunger: Rede des Bundesministers für Ernährungswesen Hans Frenzel und des Bundesministers für Inneres Oskar Helmer sowie die Entschliessung der Konferenz der Betriebsratsobmänner am 16. März 1946. Wien 1946, Hf 3974:13
  • Karlssohn, Irmtraut (Hg.): Frauen in Bewegung – Frauen in der SPÖ. Wien 1998, 104298
  • Karner, Stefan und Barbara Stelzl-Marx (Hg.): Stalins letzte Opfer: Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953. Wien 2009, 121625
  • Karner, Stefan: Im Kalten Krieg der Spionage: Margarethe Ottillinger in sowjetischer Haft 1948–1955. 2. korr. Aufl. Innsbruck 2016, 135489
  • Karner, Stefan (Hg.): Die umkämpfte Republik: Österreich 1918–1938. Innsbruck 2017, 137696
  • Karner, Stefan (Hg.): Krieg, Folgen, Forschung: Politische, wirtschaftliche und soziale Transformationen im 20. Jahrhundert. Wien 2018, 139761
  • Karner, Stefan und Barbara Stelzl-Marx (Hg.): Migration: Flucht – Vertreibung – Integration. Graz/Wien 2019, Gr 15300
  • Katzenstein, Peter J.: Corporatism and change: Austria, Switzerland, and the politics of industry. Ithaca/London 1984, 78663
  • Kaufmann, Fritz: Sozialdemokratie in Österreich: Idee und Geschichte einer Partei, von 1889 bis zur Gegenwart. Wien 1978, 62477
  • Keller, Fritz: Die KPÖ und die Schauprozesse in Osteuropa 1948 bis 1953, in: Maderthaner, Wolfgang et al. (Hg.): «Ich habe den Tod verdient»: Schauprozesse und politische Verfolgung in Mittel- und Osteuropa 1945–1956. Wien 1991. S. 199-218, 92614
  • Keller, Fritz: Die KPÖ 1945–1955, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1994. S. 104-121, D 5369
  • Klambauer, Otto: Der Kalte Krieg in Österreich: Vom dritten Mann zum Fall des Eisernen Vorhangs. Wien 2000, 106328
  • Klein, Erich (Hg.): Die Russen in Wien, die Befreiung Österreichs: Wien 1945: Augenzeugenberichte und über 400 unpublizierte Fotos aus Russland. 2. Aufl. Wien 2015, Gr 15005
  • Klose, Alfred: Ein Weg zur Sozialpartnerschaft: Das österreichische Modell. München 1970, 42832
  • Kocensky, Josef (Hg.): Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte: 1945–1955. 2. Aufl. Wien/München 1975, 56353:2
  • Kohlich, Herbert: Ernte eines politischen Lebens: Zum 75. Geburtstage Dr. Karl Renners. Wien 1946, Hf 3974:7
  • Koller, Christian: Das dramatische Duell der ungleichen Alpenrepubliken: Schweiz – Österreich 5:7 (26.6.1954), in: ders. (Hg.): Sternstunden des Schweizer Fussballs. Münster/Wien 2008. S. 77-88, 123072
  • Koller, Christian: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950). Münster/Wien 2009, 121626
  • Koller, Christian: Internationale Solidarität: Einführung, in: ders. und Raymond Naef (Hg.): Chronist der sozialen Schweiz: Fotografien von Ernst Koehli 1933–1953. Baden 2019. S. 203-205, Gr 14947
  • Kollmann, Eric C.: Theodor Körner: Militär und Politiker. München 1973, 52347
  • Konecny, Albrecht K. (Hg.): Modelle für die Zukunft: Die österreichische Sozialdemokratie und ihre Programme. Wien 1993, 99239
  • Konrad, Helmut und Wolfgang Maderthaner (Hg.): Das Werden der Ersten Republik: … der Rest ist Österreich, 2 Bde. Wien 2008, Gr 13252
  • Körner, Theodor: 2 Monate Aufbauarbeit in Wien. Wien 1945, Hf 3974:2
  • Korp, Andreas: Um unser tägliches Brot! Aus dem Inhalt, Staatssekretär Andreas Korp: Die grosse Rede in der Vertrauenspersonenversammlung in der Wiener Volksoper am 28. Juli 1945. Wien 1945, Hf 3974:3
  • Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten: Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Berlin 1986, 81530
  • Kreisky, Bruno: Im Strom der Politik: Erfahrungen eines Europäers. Berlin 1988, 88423
  • Kreisky, Bruno: Erinnerungen: Das Vermächtnis des Jahrhundertpolitikers. Hg. Oliver Rathkolb. Wien 2007, 117537
  • Kriechbaumer, Robert et al. (Hg.): Politik und Militär im 19. und 20. Jahrhundert: Österreichische und europäische Aspekte: Festschrift für Manfried Rauchensteiner. Wien 2017, 137826
  • Kriegsopfer- und Behindertenverband Österreich (Hg.): Verminte Kindheit: Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Graz 2015, 133296
  • Kroll, Thomas: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa: Frankreich, Österreich, Italien und Grossbritannien im Vergleich (1945–1956). Köln 2007, 117783
  • Kuba, Andreas: Wir Kinder des Krieges: Eine Generation erzählt ihre Geschichte. Salzburg 2014, 132565
  • Kunštát, Miroslav et al. (Hg.): Krise, Krieg und Neuanfang: Österreich und die Tschechoslowakei in den Jahren 1933–1948. Berlin/Münster 2017, 136550
  • Lackinger, Franz-Josef: Die Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung in der Zweiten Republik. Wien 2018, 142911
  • Lackner, Herbert: 1945: Schwerer Start in eine neue Zeit. Berlin 2025, erwartet
  • Langer, Edmond: Die Verstaatlichungen in Oesterreich. Wien 1966, 38001
  • Langthaler, Ernst und Josef Redl (Hg.): Reguliertes Land: Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930–1960. Innsbruck 2005, 114415
  • Leidinger, Hannes und Verena Moritz: Die Republik Österreich 1918/2008: Überblick, Zwischenbilanz, Neubewertung. Wien 2008, 120074
  • Leidinger, Hannes und Verena Moritz: Umstritten, verspielt, gefeiert: Die Republik Österreich 1918/2018. Innsbruck/Wien 2018, 139845
  • Leitner, Tarek: Augenblicke der Republik. Wien 2025, erwartet
  • Lewis, Jill: Workers and Politics in occupied Austria 1945–55. Manchester/New York 2007, erwartet
  • Ludwig, Michael et al. (Hg.): Der Oktoberstreik 1950: Ein Wendepunkt der Zweiten Republik: Dokumentation eines Symposiums der Volkshochschulen Brigittenau und Floridsdorf und des Instituts für Wissenschaft und Kunst. Wien 1991, Gr 7567
  • Maderthaner, Wolfgang (Hg.): Auf dem Weg zur Macht: Integration in den Staat, Sozialpartnerschaft und Regierungspartei. Wien 1992, Hf 415
  • Mähr, Wilfried: Der Marshallplan in Österreich. Graz 1989, 87523
  • Maimann, Helene (Hg.): Die ersten 100 Jahre: Österreichische Sozialdemokratie 1888–1988. Wien München 1988, Gr 6837
  • Marboe, Ernst (Hg.): Das Oesterreich-Buch. Wien 1948, Hf 1419
  • Markova, Ina: Die NS-Zeit im Bildgedächtnis der Zweiten Republik. Innsbruck 2018, 140328
  • Marschalek, Manfred (Hg.): Untergrund und Exil: Österreichs Sozialisten zwischen 1934 und 1945. Wien 1990, 90655
  • März, Eduard: Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West: Eine sozialistische Analyse. Wien 1965, 34427
  • Meissl, Sebastian et al. (Hg.): Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne: Entnazifizierung in Österreich 1945–1955. München 1986, 80934
  • Meisterwerke aus Oesterreich: Abteilung Freie Kunst, Kunsthaus Zürich, 27. Oktober 1946 bis 2. März 1947: Verzeichnis, mit Einführungen. Zürich 1946, VE 72
  • Mesner, Maria (Hg.): Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg: Das Beispiel der SPÖ. Wien 2005, 115959
  • Mißlbeck, Johannes: Der Österreichische Gewerkschaftsbund: Analyse einer korporatistischen Gewerkschaft. Frankfurt 1983, 76660
  • Molden, Fritz: Besetzer, Toren, Biedermänner: Ein Bericht aus Österreich, 1945–1962. Wien 1980, 68177
  • Moos, Carlo (Hg.): (K)ein Austrofaschismus? Studien zum Herrschaftssystem 1933–1938. Wien 2021, 146964
  • Moser, Aurél B. J.: Die Stellung der Kommunistischen Partei Österreichs zur österreichischen Neutralitätspolitik von 1955–1972. Wien 1974, 54501
  • Mueller, Wolfgang: Die gescheiterte Volksdemokratie: Zur Österreich-Politik von KPÖ und Sowjetunion 1945 bis 1955, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005. S. 141-170, D 5369
  • Mugrauer, Manfred: Die Politik der KPÖ in der Provisorischen Regierung Renner. Innsbruck 2006, 117264
  • Mugrauer, Manfred: Die Politik der KPÖ 1945–1955: Von der Regierungsbank in die innenpolitische Isolation. Göttingen 2020, 144734
  • Mulley, Klaus-Dieter und Sabine Lichtenberger: Die sozialpolitischen Errungenschaften des ÖGB: Eine kommentierte Chronik 1945–2015. Wien 2015, 133989
  • Nasko, Siegfried (Hg.): Karl Renner in Dokumenten und Erinnerungen. Wien 1982, 76629
  • Nick, Rainer und Anton Pelinka: Bürgerkrieg – Sozialpartnerschaft: Das politische System Österreichs, 1. und 2. Republik: Ein Vergleich. München 1983, 73904
  • Niederkofler, Heidi: Mehrheit verpflichtet! Frauenorganisationen der politischen Parteien in Österreich in der Nachkriegszeit. Wien 2009, 122987
  • Nowak, Katarzyna: Kingdom of barracks: Polish displaced persons in allied-occupied Germany and Austria. Montreal 2023, 152535
  • Nussbaumer, Josef: Vergessene Zeiten in Tirol: Lesebuch zur Hungergeschichte einer europäischen Region. Innsbruck 2000, 107661
  • Olah, Franz: Die Erinnerungen. Wien 1995, 99218
  • Orwell, George: Reise durch Ruinen: Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. München 2021, 146716
  • Pape, Matthias: Ungleiche Brüder: Österreich und Deutschland 1945–1965. Köln 2000, 107488
  • Partl, Anton und Walter Pohl (Hg.): Verschickt in die Schweiz: Kriegskinder entdecken eine bessere Welt. Wien 2005, 115094
  • Pelinka, Anton: Karl Renner zur Einführung. Hamburg 1989, 89081
  • Pelinka, Anton und Manfried Welan: Demokratie und Verfassung in Österreich. Wien 1971, 42871
  • Pelinka, Peter: Österreichs Kanzler: Von Leopold Figl bis Wolfgang Schüssel. Wien 2000, 106577
  • Pelinka, Peter und Gerhard Steger (Hg.): Auf dem Weg zur Staatspartei: Zu Geschichte und Politik der SPÖ seit 1945. Wien 1988, 84796
  • Pellar, Brigitte: Eine andere Geschichte Österreichs: Gewerkschaft, soziale Verantwortung und menschliche Politik. Wien 2008, Gr 12402
  • Pittler, Andreas: Geschichte Österreichs: 1918 bis heute. Köln 2018, 145852
  • Proft, Gabriele: Der Weg zu uns! Die Frauenfrage im neuen Österreich. Wien 1945, Hf 3974:4
  • Proksch, Anton: Gewerkschaft und Wirtschaft. Wien 1954, 331/127-7
  • Raab, Julius: Selbstporträt eines Politikers. Wien 1964, 32621
  • Radspieler, Tony: The ethnic German refugee in Austria 1945 to 1954. Den Haag 1955, 22234
  • Rathkolb, Oliver: Die Zweite Republik (seit 1945), in: Winkelbauer, Thomas (Hg.): Geschichte Österreichs. Stuttgart 2015. S. 525-609, 132437
  • Rathkolb, Oliver: Fiktion «Opfer» Österreich und die langen Schatten des Nationalsozialismus und der Dollfuss-Diktatur. Innsbruck 2017, 140331
  • Rathkolb, Oliver: The paradoxical republic: Austria, 1945–2020. New York/Oxford 2021, 146930
  • Rauchensteiner, Manfried: Der Krieg in Österreich, 1945. Wien 1970, 53466
  • Rauchensteiner, Manfried: 1945: Entscheidung für Österreich: Eine Bilddokumentation. Graz 1975, Gr 2732
  • Rauchensteiner, Manfried: Die Zwei: Die Grosse Koalition in Österreich 1945–1966. Wien 1987, 84152
  • Rauchensteiner, Manfried: Unter Beobachtung: Österreich seit 1918. 2. erw. Aufl. Wien/Köln 2021, 146395
  • Rauscher, Hans: 1945: Die Wiedergeburt Österreichs: Die dramatischen Tage vom Kriegsende bis zum Anfang der Republik. Wien 1995, Gr 8483
  • Rauscher, Walter: Karl Renner: Ein österreichischer Mythos. Wien 1995, 98732
  • Reichhold, Ludwig: Geschichte der ÖVP. Graz 1975, 54741
  • Reiter, Margit: Antisemitismus in der FPÖ und im «Ehemaligen»-Milieu nach 1945, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 27 (2018). S. 117-149, D 6274
  • Reiter, Margit: Die Ehemaligen: Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ. Göttingen 2019, 142584
  • Renner, Karl: Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Oesterreichs (und Bericht über drei Monate Aufbauarbeit). Zürich o. J. [1946], 14200
  • Renner, Karl: Die neue Welt und der Sozialismus: Einsichten und Ausblicke des lebenden Marxismus. Salzburg 1946, Hf 3041
  • Renner, Karl: An der Wende zweier Zeiten: Lebenserinnerungen. Wien 1946, Hf 1522
  • Riemer, Hans: Ewiges Wien: Eine kommunalpolitische Skizze. Wien 1945, 36067
  • Riemer, Hans: Perle Wien: Ein Bilderbuch aus Wiens schlimmsten Tagen. Wien 1946, Gr 1973
  • Riemer, Hans: Auf dem Wege zur Mehrheit: Die ersten freien Wahlen im befreiten Österreich: eine Untersuchung der Ergebnisse der Wahlen zum Nationalrat und zu den Landtagen vom 25. November 1945 mit 26 Tabellen. Wien 1946, Hf 3974:17
  • Riemer, Hans: Wien baut auf: Zwei Jahre Wiederaufbau. Wien 1947, 44269
  • Riemer, Hans: Album vom roten Wien. Wien 1947, Gr 2011
  • Rotter, Manfred: Bewaffnete Neutralität: Das Beispiel Österreich. Frankfurt 1984, D 4862:38
  • Saage, Richard: Karl Renner (1870–1950): Österreichischer Staatskanzler nach zwei Weltkriegen, in: Brandt, Peter und Detlef Lehnert (Hg.): Sozialdemokratische Regierungschefs in Deutschland und Österreich 1918–1983. Bonn 2017. S. 187-207, 140033
  • Schärf, Adolf: Zwischen Demokratie und Volksdemokratie: Österreichs Einigung und Wiederaufrichtung im Jahre 1945. Wien 1950, 39549
  • Schärf, Adolf: Die Lage des demokratischen Sozialismus: Referat des Parteivorsitzenden Adolf Schärf auf dem Parteitag 1953. Wien 1953, Hf 4746
  • Schärf, Adolf: Österreichs Erneuerung 1945–1955: Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik. 2. Aufl. Wien 1955, 21482
  • Schärf, Adolf: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien 1963, 32021
  • Schärf, Adolf: Der Teil und das Ganze: Reden und Schriften. Hg. Jacques Hannak. Wien 1965, 35104
  • Scheuch, Manfred: Österreich im 20. Jahrhundert: Von der Monarchie zur Zweiten Republik. Wien 2000, Gr 10058
  • Schlesinger, Thomas O.: Austrian neutrality in postwar Europe: The domestic roots of a foreign policy. Wien 1972, 48359
  • Schmidl, Erwin A. (Hg.): Die Ungarnkrise 1956 und Österreich. Wien 2003, 110762
  • Schmidlechner, Karin M.: Frauenleben in Männerwelten: Kriegsende und Nachkriegszeit in der Steiermark. Wien 1997, 102893
  • Schmit, Georg-Hans: Die christliche Arbeiterbewegung in den Jahren 1933–1946: Vom Untergang der Demokratie bis zum Beginn der Zweiten Republik. Wien 2013, 129719
  • Schneeberger, Paul: Der schwierige Umgang mit dem «Anschluss»: Die Rezeption in Geschichtsdarstellungen 1946–1995. Innsbruck 2000, 108955
  • Die Schweizer Spende 1944–1948: Tätigkeitsbericht. Bern 1949, K 680 A
  • Serloth, Barbara: Nach der Shoah: Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945. Wien/Berlin 2019, 142904
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  • Stadler, Karl R.: Adolf Schärf: Mensch, Politiker, Staatsmann. Wien 1982, 73007
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  • Weigl, Andreas: Migration und Integration: Eine widersprüchliche Geschichte. Innsbruck 2009, 140211
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  • Yugoslav War Crimes Commission (Hg.): Report on the crimes of Austria and the Austrians against Yugoslavia and her peoples. Belgrad 1947, Gr 4306
  • Ziak, Karl (Red.): Wiedergeburt einer Weltstadt: Wien 1945–1965. Wien 1965, Gr 1436
  • Zimmermann, Rupert: Verstaatlichung in Österreich: Ihre Aufgaben und Ziele. Wien 1964, 33221
  • Zucker-Schilling, Erwin: Er diente seiner Klasse: Eine Biographie mit Reden und Schriften von Johann Koplenig. Wien 1971, 43849
  • Zvacek, Mela: … wie es weiterging: Bericht über die Jugendfürsorgeaktion des Österr. Gewerkschaftsbundes im Jahre 1947. Wien 1948, Hg 567

Periodika

  • Arbeit und Wirtschaft, N 1055
  • Arbeiterzeitung AZ: Organ der österreichischen Sozialdemokratie, ZZ 33
  • Frauenarbeit in den Gewerkschaften, SGB 0001/PE 1274
  • Gewerkschaftliche Rundschau, N 621
  • Gewerkschaftlicher Nachrichtendienst, N 1395
  • Der jugendliche Arbeiter, N 727
  • Mitteilungsblatt: Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten, N 1327
  • Der neue Vorwärts, Z 237
  • Der österreichische Arbeiter, Z 1065
  • Solidarität, G 159
  • Stenographisches Protokoll des Kongresses des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, K 202 A
  • Tätigkeitsbericht des österreichischen Gewerkschaftsbundes, K 202
  • Weg und Ziel, N 2297

Vor 120 Jahren: Revolution im Zarenreich

«Die russische Revolution ist ein reines Kinderspiel gegenüber derjenigen in Albisrieden!», schrieb das Zürcher «Volksrecht» am 7. Juli 1906. Das sozialdemokratische Parteiblatt machte sich damit lustig über die Aufregung bürgerlicher Blätter wegen eines Streiks bei der Automobilfabrik Arbenz in einer Zürcher Vorortsgemeinde. Der Arbeitskampf eskalierte in der Folge tatsächlich, es gab unter anderem eine Massenschlägerei mit Schusswaffengebrauch zwischen Arbeitern und Albisrieder Bauern, zahlreiche, teils gewaltsame Strassenproteste im Arbeiterviertel Aussersihl und ein Militäraufgebot mit Kavallerie aus der Zürcher Landschaft. Und immer wieder wurden krass übertriebene Parallelen zum Zarenreich gezogen. So schrieb das «Volksrecht» unter Bezugnahme auf das behördliche Aufgebot von Ordnungstruppen von einem «Kosakenregiment» und beklagte die «Rücksichtslosigkeit und Brutalität […] wie sie sich selbst in den rückständigsten Staaten Europas nicht ungenierter ausprägt» (Volksrecht, 18.8.1906 und 31.7.1906). Der «Neue Postillon», eine dem reformistischen Grütliverein nahestehende karikaturistische Zeitschrift, publizierte im August 1906 unter dem Titel «Die Schlacht bei Albisrieden» ein Gedicht mit dem folgenden Vers: «Wir wollen jetzt beweisen, Dass in der freien Republik, Dem Herrscher aller Reussen, Wir über sind mit Knut’ und Strick».

Die Bezugnahme auf die zeitgleichen Vorgänge im Zarenreich, die die Auslandsberichterstattung der Schweizer Presse dominierten, war indessen mehr als nur rhetorisch. Tatsächlich gab es vielfältige Bezüge der Schweiz und auch der Streikunruhen von 1906 zur Revolution im Zarenreich von 1905/06. Die Streikwelle, die damals über Europa und die Schweiz brauste, hatte eine Entsprechung im Zarenreich. Dort gab es im revolutionären Geschehen auch mehrere Generalstreiks, was die Massenstreikdebatte in der europäischen Arbeiter:innenbewegung befeuerte und dazu beitrug, dass auch die Zürcher Gewerkschaften im als «Kosakenzeit» in die Erinnerung eingehenden Streiksommer 1906 mehrfach mit einem Generalstreik drohten. Auch persönliche Verbindungen gab es. Der Zürcher Arbeiterarzt Fritz Brupbacher, den die «Neue Zürcher Zeitung» im Juli 1906 fälschlicherweise als Drahtzieher der Unruhen in Aussersihl bezichtigte, war mit einer russischen Ärztin verheiratet, die sich just zu jener Zeit ins revolutionäre Getümmel in ihrer Heimat stürzte. Der Aussersihler Pfarrer und Lokalpolitiker Paul Pflüger, der 1906 nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Streikunruhen die «Zentralstelle für Soziale Literatur der Schweiz», das heutige Sozialarchiv, gründete, um gesellschaftliche Probleme faktenbasiert auf reformistischem und demokratischem Wege und nicht mit Gewalt und Revolutionen angehen zu können (s. SozialarchivInfo 3/2021), hatte sich im Jahr zuvor stark in der Solidaritätsbewegung für die russländische Opposition engagiert. Darüber hinaus hatten viele führende Figuren der Revolution von 1905 in der Schweiz studiert oder hier im Exil gelebt oder flüchteten bei der Niederschlagung der Proteste in die Eidgenossenschaft.

Eine Imperialmacht mit Modernisierungsproblemen

Die innere und äussere Verfassung des Zarenreichs am Vorabend der Revolution von 1905 war widersprüchlich. Im Zuge der imperialistischen Ausbreitung europäischer Länder im 19. Jahrhundert hatte auch das russländische Riesenreich sein Territorium nochmals erheblich erweitert. Anders als bei den anderen Kolonialmächten ging es dabei nicht um die Eroberung überseeischer Gebiete – die einzige grössere Überseekolonie Alaska wurde 1867 für 7,2 Millionen Dollar an die USA verkauft – , sondern die immer weitere Ausdehnung und Russifizierung eines zusammenhängenden eurasischen Landblocks. Dies schuf für die Kolonisierten, aber auch für die russische Gesellschaft, die um 1900 nur etwa 44 % der Gesamtbevölkerung des Reiches ausmachte, enorme Kosten, zementierte den autoritären Zentralismus des Herrschaftssystems und erschwerte im 20. Jahrhundert dann eine territoriale und mentale Dekolonisation – mit fatalen Auswirkungen bis in die Gegenwart.

Vom 16. bis 18. Jahrhundert hatte das Zarenreich Sibirien erobert und umfangreiche nord- und osteuropäische Territorien erworben, etwa den ukrainischen Kosakenstaat sowie grosse Teile Finnlands und Polen-Litauens. Die Fläche des Reiches versechsfachte sich von 1505 bis 1796 von 2,5 auf 15,5 Millionen Quadratkilometer. Im 19. Jahrhundert erfolgte die Expansion im Kaukasus, in Zentralasien und der Mandschurei mit einer weiteren Ausdehnung des imperialen Territoriums um die Hälfte auf 22,8 Millionen Quadratkilometer. Die Eroberung des Nordkaukasus in einem von 1817 bis 1864 dauernden Krieg war begleitet von umfangreichen Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen grosser Bevölkerungsteile, die heute teilweise als Genozid diskutiert werden und gewissermassen die Blaupause zu den ethnischen Deportationen im Stalinismus bildeten. Sie stehen im 19. Jahrhundert als Gewaltpraktiken in einer Reihe mit den Massakern und Genoziden in den Imperialkriegen und aktuellen oder unabhängig gewordenen Siedlerkolonien der westlichen Kolonialmächte sowie den «ethnischen Säuberungen» im Gefolge des schrittweisen Zusammenbruchs der osmanischen Herrschaft über Südosteuropa und deren Ablösung durch Nationalstaaten in sprachlich, religiös und kulturell sehr heterogenen Gebieten. Mit der Erlangung der Kontrolle über den Kaukasus verschob sich der russländische Expansionsfokus auf Zentral- und Ostasien.

Nach umfangreichen Eroberungen in Zentralasien wurde 1868 das «Generalgouvernement Turkestan» mit der Hauptstadt Taschkent geschaffen. 1882 folgte das «Generalgouvernement der Steppe» mit der Hauptstadt Omsk, das grosse Teile des heutigen Kasachstan umfasste. 1858 zwang das Zarenreich das kaiserliche China mit dem Vertrag von Aigun zur Abtretung von über einer halben Million Quadratkilometern seines mandschurischen Territoriums. Wenig später brach das Zarenreich diesen Vertrag und erhielt 1860 auf Grundlage der Pekinger Konvention, die den zweiten Opiumkrieg beendete, die gesamte Äussere Mandschurei zugesprochen. Aus der chinesischen Siedlung Hǎishēnwǎi wurde dadurch die russländische Stadt Vladivostok – «Beherrsche den Osten».

Die asiatische Expension brachte das Zarenreich allerdings nicht nur in Gegensatz zum geschwächten China, sondern auch zu zwei anderen Imperialmächten: dem britischen Empire mit seinen umfangreichen Besitzungen in Südasien (unter anderem Indien) und dem kaiserlichen Japan. Durch das ganze 19. Jahrhundert herrschte in Asien eine Art britisch-russländischer Kalter Krieg, das sogenannte «Great Game». Japan durchlief ab 1868 mit der Meiji-Restauration einen forcierten Modernisierungsprozess, besiegte 1894/95 das Kaiserreich China im ersten chinesisch-japanischen Krieg, übernahm daraufhin Taiwan als Kolonie und geriet mit seinen Expansionsgelüsten in Ostasien in direkten Gegensatz zum Zarenreich.

Zugleich war das Zarenreich Teil des im 18. Jahrhundert herausgebildeten und auf dem Wiener Kongress 1814/15 wiederhergestellten Gleichgewichtssystems der fünf europäischen Grossmächte («Pentarchie», zusammen mit Grossbritannien, Frankreich, der Habsburgermonarchie und Preussen bzw. dem Deutschen Reich) und bildete darin das konservativste Element. Seine Rolle als antiliberaler «Gendarm Europas» wurde durch die Niederlage im Krimkrieg von 1853 bis 1856 gegen eine Koalition aus dem Osmanischen Reich, Grossbritannien, Frankreich und Sardinien-Piemont allerdings geschwächt. Durch die Intervention in die Balkankrise ab 1875 und den Sieg im Krieg gegen das Osmanische Reich von 1877/78 konnte sich das Zarenreich im Zeichen des aufkommenden Panslawismus jedoch zur (darin im Gegensatz zum Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie stehenden) Schutzmacht der südslawischen Völker aufschwingen. Zugleich kam es dadurch seinem strategischen Ziel der Kontrolle über den Bosporus und des Zugangs zum Mittelmeer ein Stück näher. 1893 schloss das Zarenreich mit der Französischen Republik trotz der starken politischen und ideologischen Unterschiede eine hauptsächlich gegen das Deutsche Reich gerichtete Militärallianz als ein früher Schritt zur bündnispolitischen Polarisierung Europas, die dann im Sommer 1914 eine katastrophale Dynamik entfalten sollte.

Vor diesem Hintergrund einer chronischen «imperialen Überdehnung» (Paul Kennedy) führte die innenpolitische Entwicklung im Zarenreich weder zu einer evolutionären Konstitutionalisierung, Liberalisierung und schliesslich Demokratisierung wie in Grossbritannien noch zu revolutionären Umstürzen wie mehrfach in Frankreich, sondern im Verhältnis zwischen russischen Unterschichten und Kolonisierten zu einer Nivellierung nach unten. Beim Thronantritt von Zar Nikolaus I. 1825 hatte die Offiziersbewegung der «Dekabristen» sich gegen Zensur, Polizeiwillkür und die Leibeigenschaft (der zu jener Zeit etwa die Hälfte der Bevölkerung unterlag) aufgelehnt und eine konstitutionelle Monarchie gefordert. Der Zar unterdrückte diese Rebellion energisch und baute in der Folge den Polizei- und Geheimdienstapparat aus. Die europäische Revolutionswelle von 1830 beschränkte sich im Zarenreich auf einen polnischen Aufstand, nach dessen Niederschlagung der Zar den verfassungsrechtlichen Sonderstatus Russisch-Polens aufhob.

Die Revolutionswelle von 1848 griff kaum auf das Zarenreich über. Vielmehr halfen russländische Interventionstruppen 1848/49 bei der Niederschlagung der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung von der Donaumonarchie sowie der Unterdrückung der Revolutionen in den unter osmanischer Oberhoheit stehenden Donaufürstentümern Moldau und Walachei. Ebenso suspendierte das Zarenreich nach dem Sonderbundskrieg seine am Wiener Kongress gegebene Garantie der schweizerischen Neutralität und territorialen Integrität – dies gleichsam als Einladung an die Nachbarstaaten, in der Eidgenossenschaft zu intervenieren (s. SozialarchivInfo 2/2023). Erst die Revolution von 1905 zeigte im Zarenreich dann das gemeinsame Auftreten konstitutionalistischer, liberaler, sozialistischer, nationalistischer und autonomistischer bzw. antiimperialer Kräfte, wie es in West-, Zentral- und Teilen Ostmitteleuropas bereits 1848 zutage getreten war. Wenn Lenin später 1905 als «Hauptprobe» für 1917 bezeichnete, so war es aus einer transnationalen Perspektive eher eine Art anachronistischer Epilog zu 1848.

Der Schock der Niederlage im Krimkrieg führte dann unter Zar Alexander II. zu einer Reihe von Reformen. Neben der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 gehörten dazu in den 1860er und frühen 1870er Jahren Reformen in den Bereichen des Finanzwesens, der Universitäten, der Lokal- und Stadtverwaltung, der Justiz, der Sekundarschulbildung und des Militärs. Bereits gegen Ende der Regierungszeit des 1881 von Mitgliedern der sozialrevolutionären Geheimgesellschaft «Norodnaja volja» ermordeten Alexanders II. sowie unter seinem Nachfolger Alexander III. wurden Teile der Reformen wieder eingeschränkt. Zugleich kam es 1863 zu einem erneuten Aufstand in Russisch-Polen, der abermals niedergeschlagen wurde. Dem entstehenden antiimperialen Nationalismus auch in anderen westlichen und südwestlichen Randgebieten setzte die zaristische Regierung eine forcierte Russifizierung in Verwaltung, Bildungssystem und Kultur entgegen. Dazu gehörten Massnahmen zugunsten des Russischen und zur Unterdrückung der anderen Sprachen, die Forcierung der seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Ideologie des «dreieinigen russischen Volkes» aus «Gross-, Weiss- und Kleinrussen» als versuchter Einbezug von Belaruss:innen und Ukrainer:innen in einen ostslawisch-orthodoxen bzw. grossrussischen Nationalismus, aber auch, insbesondere in den neu unterworfenen asiatischen Gebieten, ein russischer Siedlungskolonialismus. Hinzu kam die Instrumentalisierung des Antisemitismus als Ablenkung von gesellschaftlichen Problemen und antiimperialen Tendenzen (s. SozialarchivInfo 1/2021).

Neben den antiimperialen Strömungen entstanden im späten 19. Jahrhundert auch russische Oppositionskräfte, die dann in der Revolution von 1905 eine Rolle spielen sollten. Vor allem auf der Basis der alexandrinischen Reform der Lokalverwaltung mit regionalen Ständeversammlungen («Zemstvo») bildete sich eine reformistische Elite mit konstitutionalistischen und liberalen Ideen. Radikalere Oppositionskräfte, die sich oft auch terroristischer Methoden bedienten, agierten hauptsächlich aus dem Untergrund, dem Exil (unter anderem in der Schweiz) oder befanden sich in der Verbannung in Sibirien. Sie hingen dem Nihilismus, Anarchismus oder einem spezifisch russischen Agrarsozialismus (Narodniki, ab 1901 Partei der Sozialrevolutionäre) an, ab den 1880er Jahren zunehmend auch dem Marxismus. Die 1898 gegründete marxistische Russländische Sozialdemokratische Arbeiterpartei spaltete sich 1903 in die Flügel der Bolschewiki um Lenin, die auf eine Elite von Berufsrevolutionär:innen setzte, und der Menschewiki, die im Sinne westlicher Sozialdemokratien eine Arbeiter:innenbewegung mit Massenbeteiligung und Gewerkschaften anstrebten. Ebenso trat 1903 der «Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland» (kurz «Bund») aus, nachdem Bolschewiki wie Menschewiki dessen Autonomiestatus innerhalb der Gesamtpartei abgelehnt hatten.

Die wirtschaftliche Modernisierung machte im späten 19. Jahrhundert zwar Fortschritte, das Zarenreich hinkte ökonomisch aber weiter hinter den Grossmächten West- und Mitteleuropas und Nordamerikas her. Neue Bahnlinien verbanden die schnell wachsenden Städte und die Zahl der Fabrikarbeiter:innen nahm 1890 bis 1900 von 1,4 auf 2,4 Millionen zu. Dies waren aber weniger als 2 % der Gesamtbevölkerung. Die grosse Mehrheit blieb kleinbäuerlich und oft am Rand des Existenzminimums. Im Jahr 1900 lebten nur 4,8 % der Bevölkerung des Zarenreiches in Städten gegenüber 32,8 % in Grossbritannien, 18,7 % in den USA, 15,5 % im Deutschen Reich und 13,3 % in Frankreich. Selbst in Italien, Österreich-Ungarn und Japan war der Urbanisierungsgrad höher als im Zarenreich. Die Produktivität der Landwirtschaft nahm zwar zu, blieb aber deutlich unter derjenigen in Westeuropa.

Von 1880 bis 1900 gelang es dem Zarenreich, die industrielle Kapazität Frankreichs zu überholen, zugleich vergrösserte sich aber der Rückstand auf die drei führenden Industriestaaten USA, Grossbritannien und Deutschland. Auch wurde das vor allem durch ausländisches Kapital angetriebene industrielle Wachstum durch eine zunehmende Auslandverschuldung erkauft, insbesondere in Frankreich. Die Lage der Fabrikarbeiter:innen war vielfach erbärmlich. Die zaristische Regierung erlaubte die Bildung von Gewerkschaften nicht, sondern versuchte, durch polizeilich kontrollierte Organisationen die Arbeiterschaft zu vereinnahmen. Als im Juni 1896 bis zu 30’000 Textilarbeiter:innen in 18 Petersburger Fabriken für drei Wochen streikten, wurden rund 1’000 Personen verhaftet.

In den Jahren vor 1905 spitzte sich die gesellschaftliche Krise zu, insbesondere in den westlichen und südwestlichen Randgebieten. Von den 59 Demonstrationen, die 1895 bis 1900 im Zarenreich registriert wurden, fanden 25 in Polen statt, 9 in der Ukraine, 9 im Baltikum, 7 in Belarus, 6 in Finnland und nur 3 in Gebieten mit russischer Bevölkerungsmehrheit. 1902 bis 1904 gab es eine Bauernrevolte in der Ukraine. Im georgischen Gurien schuf eine bäuerliche Protestbewegung 1902 die Gurische Republik mit einer revolutionären Selbstverwaltung, die von den zaristischen Streitkräften erst 1906 niedergeschlagen werden konnte. 1903/04 entfaltete sich eine Welle von Massenstreiks und städtischen Unruhen zunächst in Baku, Tiflis und Batumi, dann in Odessa, Kyjiw und anderen Städten der Ukraine sowie in Russisch-Polen.

Krieg als Auslöser revolutionärer Unruhen

Zu den vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Problemen kam im Februar 1904 der Ausbruch des russisch-japanischen Krieges, der sich bereits in den Vorjahren abgezeichnet hatte, dennoch aber die zaristische Regierung überrumpelte. Ab 1898 pachtete das Zarenreich von China Port Arthur als Flottenstützpunkt im Gelben Meer. 1900/01 intervenierten Russland und Japan zusammen mit Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien und den USA in einer gemeinsamen Strafaktion gegen den Boxeraufstand in China, wobei das Zarenreich zum Unmut Japans die südöstliche Hälfte der Inneren Mandschurei über das Ende der Intervention hinaus besetzte. Am 13. Januar 1904 forderte der japanische Botschafter in St. Petersburg eine Abgrenzung der ostasiatischen Einflusssphären: Gegen die russländische Anerkennung der japanischen Vorherrschaft in Korea wollte Japan erklären, dass die Mandschurei ausserhalb ihres Einflussbereichs liege. Die zaristische Regierung lehnte ab, worauf die japanische Flotte in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar Port Arthur angriff.

In den folgenden Tagen wurde die russländische Pazifikflotte zerstört oder in Port Arthur blockiert. Die zaristische Regierung ging dennoch von einem leichten Sieg aus und erhoffte sich vom Krieg eine Stärkung ihres internationalen Prestiges und Schwächung der innenpolitischen Opposition. Die erste Landschlacht im April am Yalu-Fluss an der Grenze zwischen Korea und China endete aber mit einem japanischen Sieg und auch der weitere Kriegsverlauf war für die russländische Seite ein Debakel. Die meisten Land- und Seeschlachten wurden von den Japanern gewonnen. Im Juli 1904 begann die japanische Belagerung von Port Arthur. Dabei entspann sich ein Stellungskrieg mit Schützengräben, wie er zehn Jahre darauf für die Westfront des Ersten Weltkriegs charakteristisch werden sollte. Im Dezember zerstörte die japanische Artillerie die verbliebenen Schiffe der russländischen Pazifikflotte und am 2. Januar 1905 kapitulierte die Besatzung von Port Arthur. Die Nachricht vom Fall der Hafenstadt schockierte die russländische Öffentlichkeit und demoralisierte die verbliebenen Truppen. Ende Mai erlitt die Baltische Flotte, die zum «Zweiten Pazifik-Geschwader» umfunktioniert worden war, in der Seeschlacht bei Tsushima eine vernichtende Niederlage.

Kurz darauf übernahm US-Präsident Theodore Roosevelt eine Vermittlungsmission und am 5. September 1905 wurde der Friedensvertrag von Portsmouth unterzeichnet. Dieser sprach die Souveränität über die Innere Mandschurei China zu, so dass die russländischen Truppen die 1900 besetzten Gebiete räumen mussten. Das russländische Pachtgebiet auf der chinesischen Liaodong-Halbinsel mit dem Kriegshafen Port Arthur ging an Japan, das auch den Süden der Insel Sachalin, die im Juli 1905 von japanischen Truppen besetzt worden war, sowie die vormals russländische Konzession für einen Teil der chinesischen Osteisenbahn erhielt. Japan, das im August 1905 seine Allianz mit Grossbritannien erneuert und vertieft hatte und im November gleichen Jahres ein Protektorat über Korea errichtete, wurde damit zur ostasiatischen Grossmacht. Das Zarenreich hingegen, das bei einer Gesamtzahl von 1,36 Millionen mobilisierten Soldaten und Matrosen etwa 70’000 Tote, 146’000 Verwundete und 74’000 Gefangene zu beklagen hatte, sich für die Kriegsfinanzierung in Frankreich und Deutschland verschuldete und nach der faktischen italienischen Niederlage gegen Äthiopien im Krieg von 1895/96 eine der ganz wenigen Niederlagen europäischer Grossmächte gegen aussereuropäische Gegner erlitt, war trotz der im Verhältnis zum militärischen Desaster relativ milden Friedensbedingungen tief gedemütigt. Präsident Roosevelt erhielt für seine Vermittlerrolle 1906 den Friedensnobelpreis.

Der «Blutsonntag» und seine Folgen

Der Krieg gegen Japan verschärfte auch die wirtschaftlichen Probleme. Produktion und Aussenhandel gingen zurück, die Lebensmittelpreise in den Städten stiegen massiv, die Reallöhne schrumpften um 20 % und viele Industriebetriebe bauten Stellen ab. Die Depression der russländischen Industrie hielt bis 1908/09 an, ohne dass der Staat wesentliche wirtschafts- oder sozialpolitische Gegenstrategien entfaltet hätte. Schon lange vor Kriegsende regte sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und in verschiedenen Reichsteilen Opposition und Protest. Kreise aus der kritischen Intelligencija entfalteten nach dem Vorbild der französischen Opposition von 1847/48 die sogenannte «Bankettbewegung» und veranstalteten Festessen, an denen politische Resolutionen verabschiedet wurden. Am 4. Januar 1905 traten die Arbeiter:innen in den auf Eisenbahn- und Waffenproduktion spezialisierten Petersburger Putilov-Werken in den Ausstand. In den folgenden Tagen weitete sich der Streik aus und umfasste bald 140’000 Arbeiter:innen.

Am 9. Januar 1905, wenige Tage nach der Kapitulation von Port Arthur, zog eine Demonstration von Zehntausenden Menschen vor den Zarenpalast, um dem Autokrator eine Bittschrift zu überreichen. Organisiert hatte die Kundgebung der Pope Georgij Gapon, der seit 1903 eine zarenfreundliche Arbeiterorganisation leitete und zugleich Agent der Geheimpolizei Ochrana war. Ab Ende 1904 arbeitete Gapon aber zunehmend mit radikaleren Kräften der Arbeiter:innenbewegung zusammen. Der Demonstrationszug war keineswegs umstürzlerisch gesinnt. Vielmehr wurden Ikonen und Zarenbilder mitgetragen. Die Petition zielte allerdings auf eine radikale Veränderung des politischen Systems ab, war ihre zentrale Forderung doch die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung nach allgemeinem, direktem, geheimem und gleichem Wahlrecht: «Es ist notwendig, dass das Volk sich selbst hilft, denn nur es kennt die wahren Bedürfnisse. Lehnen Sie seine Hilfe nicht ab, sondern nehmen Sie sie an!» Des Weiteren forderte die Petition als «Massnahmen gegen die Unwissenheit und Entmündigung des russischen Volkes» bürgerliche Rechte wie die Rede-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, die Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, ein obligatorisches und kostenloses Bildungssystem, die Regierungsverantwortlichkeit gegenüber dem Volk, Rechtsgleichheit und Befreiung der politischen Gefangenen, ebenso wirtschafts- und sozialpolitische Reformen wie die Gewerkschaftsfreiheit, den Achtstundentag, das Streikrecht, Sozialversicherungen und angemessene Löhne.

Am Ende formulierte die Bittschrift eine klare Alternative: «Wir haben nur zwei Wege: entweder in die Freiheit und ins Glück oder ins Grab.» Eintreffen sollte für viele Demonstrationsteilnehmer:innen das zweitere: Die Palastwache schoss in die Menge, tötete und verletzte viele Menschen. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt; die Angaben variieren von 130 bis über 1’000 Tote. Die psychologische Wirkung des Ereignisses war ungeheuer. Die Illusion, die Regierung sei grundsätzlich am Wohl des Volkes interessiert, zerbrach auf einen Schlag. An zahlreichen Orten kam es zu Unruhen und Arbeitsniederlegungen. Schon am Morgen nach dem Massaker von St. Petersburg gingen in Moskau 45’000 Menschen auf die Strasse. Im April streikten 80’000 Personen, im Mai bereits 200’000. Entlang der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn griff der Protest auch nach Osten über mit Eisenbahnerstreiks im Februar, Mai und August.

Schon im Januar 1905 bildeten sich in St. Petersburg aus Fabrikbelegschaften auch Arbeitermilizen, in den folgenden Wochen und Monaten auch in Moskau und anderen Regionen. Im Februar ermordete der sozialrevolutionäre Dichter Ivan Kaljaev in der Nähe des Moskauer Kremls den Grossfürsten Sergej Romanov, einen Onkel des Zaren. Diese Tat wurde 1949 von Albert Camus im Drama «Les justes» literarisch verarbeitet. Allenthalben entstanden Berufsverbände, die sich Anfang Mai zu einer Dachorganisation zusammenschlossen. Wissenschaftler und Lehrer forderten die Einrichtung einer frei gewählten Volksvertretung und zahlreiche Nationalitäten des Riesenreiches beriefen Kongresse ein, an denen Autonomieforderungen erhoben wurden. Ende Juli tagte der erste allrussische Kongress des neugegründeten Bauernverbandes. Ausserdem gab es Meutereien in Armee und Flotte sowohl in den europäischen Reichsteilen als auch in Fernost bis nach Vladivostok.

Im Sommer 1905 flauten die Proteste in den russischen Gebieten des Zarenreiches vorübergehend ab. Zeitgleich herrschten aber in Russisch-Polen, Transkaukasien und im Baltikum bürgerkriegsartige Zustände. Ab September gab es auch in den russischen Gebieten erneut zahlreiche Streiks, unter anderem in den Metropolen St. Petersburg und Moskau. Vom 7. bis 13. Oktober traten die Eisenbahner erneut in den Ausstand. Sogar in einem Priesterseminar brach ein Streik aus. Ende Oktober meuterten 13’000 Matrosen und Soldaten der Marinebasis Kronstadt. In den westlichen Reichsteilen kam es auch zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, die über 1’000 Menschenleben forderten. Sie gingen zum Teil von pro-zaristischen Demonstrationen aus und wurden von den Behörden als Ablenkung von den revolutionären Aktivitäten zumindest geduldet.

Als neue Organisationsform bildeten sich Arbeiterräte, die die Streikbewegung leiteten. Der am 13. Oktober zusammengetretene Petersburger Arbeiterrat rief in den folgenden Wochen mehrfach zum Generalstreik auf. Am 26. November wurde an seine Spitze Leo Trotzki gewählt, der damals zwischen Bolschewismus und Menschewismus lavierte und vor dem Hintergrund der Erfahrung von 1905 kurz darauf in der Schrift «Ergebnisse und Perspektiven» erstmals seine Theorie der permanenten Revolution formulierte. Am 3. Dezember 1905 liess die zaristische Regierung die Führer des Petersburger Arbeiterrats verhaften. Auch in Moskau kam es zu einem von einem Arbeiterrat geleiteten Generalstreik. Unter dem Einfluss der Bolschewiki brach am 9. Dezember in Moskau sogar ein bewaffneter Aufstand aus, der nach einer Woche blutig niedergeschlagen wurde. Das System der Arbeiterräte, deren Deputierte von der Basis jederzeit abberufen werden konnten, galt in der Folge als anzustrebende Idealform der Arbeiterdemokratie. Im Revolutionsjahr 1917 sollte es eine wichtige Rolle spielen, wurde dann aber von den Bolschewiki bald als pseudodemokratische Fassade ihrer Parteidiktatur missbraucht. Im Protestzyklus um das Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in etwa 30 Ländern Europas, Asiens, Nord- und Lateinamerikas Arbeiterräte, die in den Revolutionen in Deutschland und Österreich-Ungarn 1918/19 eine wichtige Rolle spielten.

Auch auf dem Land kam es zu Unruhen, die ab Oktober 1905 zunahmen. Bei gewaltsamen bäuerlichen Protesten wurden allein in den letzten zwei Monaten des Jahres 1905 2’000 Landgüter niedergebrannt. Bauern plünderten und brandschatzten adlige Gutshöfe, ermordeten Gutsherren, teilten die Nahrungsmittelvorräte unter sich auf, raubten Getreide und Futter, schlugen in grundherrlichen Wäldern Holz und trieben ihr Vieh auf fremde Weiden. Die Bauernaufstände gingen 1906 weiter, bevor sie blutig niedergeschlagen wurden. Dabei brannten vor allem die gefürchteten Kosakenregimenter Bauernhäuser nieder, töteten Vieh, liessen oft die ganze Dorfversammlung auspeitschen und töteten, verstümmelten oder verhafteten wahllos Menschen. Von Oktober 1905 bis April 1906 wurden dabei 34’000 Personen erschossen, 14’000 erlagen ihren Verletzungen, 70’000 wurden in den Kerker geworfen. In den Städten gab es im Frühjahr 1906 noch durchschnittlich fünf politische Attentate pro Tag, häufig verübt durch Anarchist:innen, und zahlreiche Banküberfälle sollten Geld für die Revolution beschaffen. Erst 1907 waren die revolutionären Unruhen vollständig unterdrückt.

Revolution und Antiimperialismus

Besonders heftig waren die Unruhen und Streiks in den westlichen und südwestlichen Randgebieten, wo sich Sozialprotest und der Ruf nach politischen Reformen mit antiimperialem Aufbegehren gegen die als Fremdherrschaft empfundene zaristische Administration vermischte und teilweise in bürgerkriegsartige Zustände mündete. So finden sich in der Sachdokumentation des Sozialarchivs Berichte an die Zweite Internationale von Arbeiterparteien der Ukraine, Polens, Finnlands und Lettlands sowie des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes zu ihren Aktivitäten in der Revolutionsphase 1905 bis 1907.

Im Baltikum verbanden sich Streiks der teilweise sozialistisch organisierten Arbeiter:innen mit Bauernrebellionen gegen die zaristische Verwaltung und den grossgrundbesitzenden deutschbaltischen Adel. Neben den städtischen und ländlichen Unter- und Mittelschichten beteiligten sich auch bürgerliche und adlige Liberale am revolutionären Geschehen. In Riga kam es bereits im Januar 1905 zu bewaffneten Zusammenstössen, die 73 Opfer forderten. Im Frühjahr und Sommer traten lettische und estnische Landarbeiter:innen in den Streik, Bauern verweigerten Abgaben und schufen in Kurland und Südlivland revolutionäre Selbstverwaltungen. Bei einer Demonstration in Tallinn am 16. Oktober 1905 eröffnete das Militär das Feuer und tötete etwa 100 Menschen. Im November tagte eine All-Estnische Versammlung mit 800 Delegierten, Anfang Dezember forderte in Vilnius ein Landtag von 2’000 Personen nationale Autonomie, das Litauische als Amtssprache und eine gesetzgebende Versammlung. Bis Ende 1905 wurden 563 Rittergüter des deutschbaltischen Adels, über 20 % des Gesamtbestandes, von Aufständischen zerstört, zahlreiche Gutsbesitzer vertrieben und einige ermordet.

In Russisch-Polen, wo die grossen Aufstände von 1830/31 und 1863/64 hauptsächlich von den einheimischen Eliten getragen gewesen waren und das nun ein industrielles Zentrum des Zarenreichs war, fand 1905 eine Demokratisierung des antizaristischen Protests statt. Diese legte auch soziale Spannungen innerhalb der polnischen Gesellschaft frei. Erstmals gab es Arbeiter:innenaktivismus auf der Strasse. Ein Drittel aller Streiks im Zarenreich während der Revolutionsphase fanden in Polen statt. 90 % der polnischen Arbeiter:innen streikten 1905 mindestens einmal. Zugleich zeichneten sich die Ereignisse durch eine besondere Gewaltsamkeit aus.

Bereits im November 1904 kam es im Anschluss an eine Massendemonstration zu Kampfhandlungen zwischen dem zaristischen Militär und sozialistischen Milizen. Ende Januar 1905 demonstrierten Arbeiter:innen in Łódź gegen den Zaren und den Krieg. Ähnliche Proteste folgten in Warschau, über das die zaristischen Behörden schon am 17. Januar den Belagerungszustand verhängt hatten und wo bewaffnete Zusammenstösse mindestens 90 Todesopfer forderten, und anderen industriellen Zentren. Ende Januar riefen die sozialistischen Parteien zum Generalstreik auf, der während vier Wochen andauerte und an dem sich 400’000 Arbeiter:innen beteiligten. Auch gab es Proteste an Schulen und Universitäten gegen die Unterdrückung des Polnischen als Unterrichtssprache, unter anderem einen sieben Monate andauernden Schulboykott der Mittelschüler:innen. Am 1. Mai 1905 wurden in Warschau 30 Demonstrant:innen erschossen. Ende Juni kam es in Łódź zu einem mehrtägigen Aufstand mit Barrikadenkämpfen, bei dessen Niederschlagung 150 bis 500 Menschen ums Leben kamen.

Trotz des Krieges gegen Japan sah sich die zaristische Regierung gezwungen, die 250’000 Mann starken Truppenkontingente in Russisch-Polen zu verstärken. Politische Parteien wie die von Rosa Luxemburg mitgegründete Sozialdemokratie des Königreichs Polen-Litauen, Józef Piłsudskis Polnische Sozialistische Partei (deren bewaffneter Arm ab 1904 Überfälle auf russländische Banken und Postzüge verübte), der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund und die Nationaldemokratische Partei wurden während der Revolution von kleinen Zirkeln zu Massenorganisationen. Etwa 20 % der polnischen Arbeiter:innen traten Gewerkschaften bei, deren Mitgliedschaft zu etwa einem Fünftel weiblich war (gegenüber damals unter einem Zehntel im Schweizerischen Gewerkschaftsbund). Die Polnische Sozialistische Partei, die auf über 50’000 Mitglieder anwuchs, versuchte im Dezember 1905 erfolglos, in Warschau die Macht zu ergreifen, und setzte danach den Widerstand mit Terroranschlägen fort. Noch 1906 und 1907 gab es verschiedene Unruhen mit Todesopfern. Am 15. August 1906, dem sogenannten «Blutmittwoch», verübten Mitglieder der Kampforganisation der Polnischen Sozialistischen Partei in einer konzertierten Aktion rund 100 Anschläge auf Behörden und Polizeistellen in 20 Ortschaften Russisch-Polens und töteten etwa 80 Polizisten und Spitzel. Das Scheitern der Revolution stärkte dann innerhalb des polnischen politischen Spektrums die nationalistischen und konservativen Kräfte.

Am erfolgreichsten war die Revolution in Finnland, das seit der Jahrhundertwende einer (im Vergleich zu anderen Reichsteilen noch relativ milden) «administrativen Russifizierung» ausgesetzt gewesen war. 1899 hatte der Zar in seinem Februarmanifest die finnische Ständeversammlung zu einem blossen Beratungsorgan abgewertet. Im selben Jahr kam es zu passivem Widerstand gegen die Ausweitung der Wehrpflicht. Im folgenden Jahr wurde die Verwendung des Russischen in der finnischen Verwaltung ausgebaut. Erstmals versuchten die in verschiedene politische Gruppen gespaltenen finnischen Eliten nun breite Bevölkerungskreise zu mobilisieren, bereits 1899 mit einer Massenpetition und 1905 dann durch Unterstützung des allgemeinen Wahlrechts. Im Juni 1904 wurde der verhasste, mit Sondervollmachten regierende Generalgouverneur Nikolaj Bobrikov von einem finnischen Nationalisten ermordet.

Der Petersburger Generalstreik vom Oktober 1905 sprang nach zehn Tagen aufs benachbarte Finnland über und mündete in spektakuläre Reformen. Am 4. November 1905 genehmigte der Zar einen fundamentalen und im ganzen Imperium einmaligen Wechsel vom ständischen zum parlamentarischen System und suspendierte darüber hinaus das Rekrutierungsgesetz und andere unpopuläre Massnahmen. Das neue finnische Parlament wurde erstmals 1907 gewählt, wobei als europaweites Novum neben den Männern auch die Frauen wahlberechtigt waren (s. SozialarchivInfo 6/2020). Stärkste Kräfte wurden die Sozialdemokratische Partei mit 37 % und die konservative Finnische Partei mit 27 %. 19 der 200 Abgeordneten waren Frauen. Der Zar löste das Parlament bereits 1908 wegen «staatsfeindlicher Gesinnung» auf, startete im selben Jahr eine zweite Russifizierungswelle Finnlands und intervenierte auch in der Folgezeit mit Einschränkungen der parlamentarischen Kompetenzen und beinahe jährlichen Parlamentsauflösungen massiv in den demokratischen Prozess. Dennoch ermöglichten die 1905 erkämpften Reformen die Etablierung einer neuen politischen Kultur und eines relativ stabilen Parteiensystems als Grundlage für die demokratische Entwicklung Finnlands nach der Unabhängigkeit und dem Bürgerkrieg von 1918.

In der Ukraine spielten die Eisenbahner im revolutionären Geschehen eine wichtige Rolle. Im Donbass-Gebiet gab es bewaffnete Auseinandersetzungen, in Odessa zahlreiche Streiks und Demonstrationen. Knechte und Tagelöhner auf Gutsbetrieben verweigerten die Arbeitsleistung. Auch auf die am Krieg gegen Japan nicht beteiligte Schwarzmeerflotte sprang der Funke der Rebellion über. Schon im November 1904 gab es eine Meuterei in der Marinebasis Sevastopol’. Am 14. Juni 1905 meuterte dann die Besatzung des Panzerkreuzers Potemkin. Auslöser war die Verabreichung verfaulten Fleisches an die Matrosen. Nach dem Einlaufen des Panzerkreuzers in Odessa, wo gerade ein Generalstreik stattfand, richteten Kosakentruppen in den folgenden Tagen bei der Niederschlagung der Aufstände ein Blutbad an, das über 1’000 Menschenleben kostete. Die Besatzung der Potemkin flüchtete ins rumänische Constanța. Diese Ereignisse dienten als Grundlage für Sergej Ėjzenštejns Stummfilmepos «Panzerkreuzer Potemkin» von 1925. Die ukrainische Intelligenz schuf im Zuge der Revolution eine Reihe neuer Organisationen und Zeitschriften. Die wichtigste politische Partei, die 1900 entstandene Revolutionäre Ukrainische Partei, nannte sich 1905 um in Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei.

Auch im Kaukasus und Transkaukasien wurde es unruhig. Im späten 19. Jahrhundert waren antiimperiale Kräfte erstarkt und um 1900 entstanden politische Parteien, die sich für mehr Autonomie einsetzten und teilweise Kontakte zu anderen Peripherien des Zarenreiches pflegten. In Baku erzielten 1905 Arbeiter:innen mit Protestaktionen Lohnerhöhungen. Die Streikbewegung griff dann auf Tiflis, Batumi und andere Städte über. Im August töteten Truppen in Tiflis bei der Auflösung einer Protestversammlung mehrere Dutzend Menschen. Im Sommer 1905 entglitt dem zaristischen Statthalter für den Kaukasus die Kontrolle über weite Gebiete, etwa Ossetien, vollständig. Der Gouverneur von Baku förderte im Sinne einer klassischen imperialistischen Divide-and-rule-Strategie aserbaidschanische Pogrome gegen Armenier:innen, die zuvor seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von den zaristischen Machthabern gezielt als Gegengewicht gegen die muslimische Bevölkerung in der Region angesiedelt worden waren. In der Folge kam es bis Frühjahr 1906 zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen aserbaidschanischen Muslimen und Armeniern, die mehrere Tausend Opfer forderten. Der seit 1902 in Gurien schwelende Bauernaufstand weitete sich auf ganz Westgeorgien aus und es schlossen sich ihm meuternde Armeeeinheiten an. Führende politische Kraft Georgiens wurden die Menschewiki, die ab 1918 auch die erste unabhängige und demokratische Republik dominierten, bis diese 1921 von der Roten Armee zerstört wurde.

In den während des 19. Jahrhunderts kolonisierten Gebieten Zentralasiens blieb es vergleichsweise ruhig, aber auch hier kamen politische Prozesse in Gang. Im Generalgouvernement Turkestan traten vor allem die russischsprachigen Eisenbahner mit zahlreichen Streiks als tragende Kraft der Revolution hervor und der liberale Teil der Kolonialelite beteiligte sich an der Bankett-Bewegung. Ausserhalb des Eisenbahnwesens gab es keine Streiks. Die kolonisierte muslimische Landbevölkerung betrachtete die Revolution als innerrussische Angelegenheit und blieb ruhig. Auch die städtischen Muslime beteiligten sich nicht an Streiks und Demonstrationen, wurden aber politisiert und diskutierten diverse politische und gesellschaftliche Reformprojekte. Auf zwei Kongressen im August 1905 und Januar 1906 entstand die «Union der Muslime Russlands», die Demokratie sowie die Gleichberechtigung der Muslime forderte.

Auch die kleinen ethnischen Gruppen Sibiriens und des Wolga-Uralgebiets schlossen sich der in diesen Gebieten in russisch besiedelten Städten ausbrechenden Revolution kaum an. Die jakutischen und burjätischen Nationalbewegungen artikulierten sich aber mit Versammlungen und Publikationen. Anfang 1906 erhob ein Kongress von 400 jakutischen Delegierten radikale politische und soziale Forderungen.

Bei der Niederschlagung der Revolution waren die zaristischen Behörden in den Peripherien des Reiches noch repressiver als in den russischen Gebieten. Die Strafexpeditionen im Baltikum forderten 2’000 Menschenleben. Von den im Zuge der Konterrevolution ausgesprochenen Todesurteilen entfielen rund 25 % auf Russisch-Polen, über 15 % auf das Baltikum und über 5 % auf das kleine Gurien.

Scheinkonstitutionalismus und Repression mit Vorbildwirkung

Die zaristische Regierung reagierte auf die Proteste und Aufstände nicht nur mit Repression, sondern auch mit vagen Versprechungen. Im August 1905 erschien eine Proklamation des Zaren über die Schaffung einer rein beratenden Reichsvertretung, was die liberale Opposition enttäuschte und auch zu einer neuen Streikwelle führte. Am 17. Oktober kündigte Nikolaus II. dann im sogenannten Oktobermanifest die Einführung von Meinungs-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie neben dem vom Zaren ernannten Staatsrat die Einrichtung einer gewählten zweiten Kammer (Staatsduma) an. Gleichzeitig wurde der Emser Erlass von 1878 aufgehoben, der die öffentliche Verwendung der (als «kleinrussischer Dialekt» bezeichneten) ukrainischen Sprache und Publikationen auf Ukrainisch verboten hatte. Das Wahlgesetz vom Dezember 1905 sah eine indirekte Wahl nach sehr ungleichem Wahlrecht vor. Männer unter 25, Frauen, Arbeiter mittlerer und kleinerer Betriebe, Studenten, Dienstboten, landlose Bauern und Soldaten blieben vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die Stimme eines Grundbesitzers wog so viel wie die Stimmen von 2 Stadtbewohnern, 15 Bauern oder 45 Arbeitern.

Das Oktobermanifest spaltete die Opposition. Einer Mehrheit, die sich in der neugegründeten liberalen Partei der Konstitutionellen Demokraten («Kadetten») oder den verschiedenen sozialistischen Parteien organisierte, gingen die angekündigten Reformen zu wenig weit. Die Liberalen lösten sich indessen aus der revolutionären Front, um ihren Kampf ins versprochene Parlament zu verlegen. Es entstand aber auch die vor allem von Grossgrundbesitzern und Grossindustriellen getragene Partei der Konstitutionellen Monarchisten («Oktobristen»), die sich hinter das neue System stellten.

Die ersten Duma-Wahlen fanden im Frühjahr 1906 statt. Trotz des ungleichen Wahlrechts, aufgrund dessen die meisten sozialistischen Gruppierungen die Wahl boykottierten, wurden die liberalen Kadetten und die bäuerlich-demokratisch-agrarsozialistischen Trudoviki klare Sieger. Hinzu kam eine grosse Zahl von zarismusskeptischen Abgeordneten der nichtrussischen Nationalitäten. Noch vor dem ersten Zusammentritt der Duma erliess die Regierung die «Staatsgrundgesetze des Russländischen Kaiserreiches», die den Zaren als «Oberste Selbstherrschende Gewalt» bezeichneten und die Kompetenzen des Zweikammerparlaments stark beschnitten. Über wichtige Entscheidungen wie den Militär- und Hofetat sollte nicht abgestimmt werden, der Zar besass das Vetorecht gegen alle Parlamentsentscheidungen und konnte die Duma auch jederzeit auflösen. Ausserdem behielt er das Recht zur Kriegserklärung, setzte weiterhin die Minister nach eigenem Gutdünken ein und ab und kontrollierte immer noch die Russisch-Orthodoxe Kirche als ideologische Basis des Regimes. Der berühmte liberale Soziologe Max Weber kritisierte dieses System im Sommer 1906 als «Scheinkonstitutionalismus».

Als die Duma im Frühjahr 1906 ein vom Zaren abgelehntes Agrarreformprogramm in Angriff nahm, wurde sie schon nach 72 Tagen wieder aufgelöst. Geplante Protestversammlungen der Abgeordneten und Anhänger der Mehrheitsfraktionen konnten nicht stattfinden, da das Parlamentsgebäude und das Parteilokal der Kadetten von Polizei und Militär umstellt wurden. Kadetten und Trudoviki protestierten daraufhin schriftlich in Form des Vyborger Manifests. Gegen dessen Unterzeichner wurden Strafverfahren eingeleitet. Die meisten wurden zu Haftstrafen verurteilt und durften für die folgenden Wahlen nicht mehr kandidieren.

Aus den zweiten Duma-Wahlen Anfang 1907 gingen die sozialistischen und bäuerlich-demokratischen Kräfte als klare Sieger hervor und auch die Kadetten blieben stark. Da die neue Duma in noch stärkerer Opposition zur Regierung stand als die alte und weiterhin auf einer Agrarreform beharrte, wurde sie bereits im Sommer 1907 abermals aufgelöst. Zudem setzte der Zar per Dekret eine Änderung des Wahlrechts durch, das nun Städter, Bauern und die nichtrussischen Nationalitäten gegenüber dem russischen Adel und Grossbürgertum noch stärker benachteiligte. Die Neuwahl im Herbst 1907 sowie die folgenden, letzten Duma-Wahlen von 1912 ergaben dadurch die von der Regierung gewünschte Mehrheit von konservativen Oktobristen, Nationalisten und Rechtsextremen. Letztere hatten sich als pro-zaristische, antisemitische, ultranationalistische und protofaschistische Gruppierungen ab 1905 in Ablehnung der Revolution organisiert und rasch bedeutende Mitgliederzahlen erlangt.

Mit der Unterdrückung eigenständiger parlamentarischer Regungen durch den Regierungsapparat und anschliessenden Manipulation der Wahlen zur Herbeiführung regierungsfreundlicher Mehrheiten bei gleichzeitiger Unterdrückung antiimperialer Kräfte wurde Zar Nikolaus II. stilbildend für die Restabilisierung autoritärer und imperialer Herrschaft russländischer Machthaber ganz unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung in Umbruchsituationen. Im November 1917 fanden wenige Wochen nach der putschartigen Machtübernahme des bolschewistischen «Rats der Volkskommissare» in der Oktoberrevolution die noch von der vorangegangenen, aus der Februarrevolution hervorgegangenen Provisorischen Regierung anberaumten Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht statt. Dabei gingen rund 90 % der Stimmen an sozialistische Parteien. Lenins Bolschewiki errangen aber nur ein Viertel der Mandate, während die Partei der Sozialrevolutionäre die absolute Mehrheit gewann. Nachdem die bolschewistische Regierung bereits vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung Anfang Januar 1918 die Partei der Kadetten, die etwa 2 Millionen Stimmen erhalten hatte, als «Volksfeinde» verboten und für den Tag der Parlamentseröffnung 7’000 pro-bolschewistische Matrosen in Gefechtsbereitschaft versetzt hatte, verweigerte sie am zweiten Sitzungstag den Abgeordneten den Zutritt zum Parlamentsgebäude und löste die Nationalversammlung per Dekret auf. Nach Auffassung Trotzkis hatte damit «der Klassenkampf […] durch einen Ansturm von innenheraus die formalen Rahmen der Demokratie gesprengt».

Stattdessen tagte Mitte Januar 1918 der dritte Allrussische Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, bei dessen Wahl die städtischen Hochburgen der Bolschewiki stark bevorzugt worden waren. Er bestimmte das Rätesystem als definitive Staatsform. Schon im Sommer 1918 waren die als «konterrevolutionär» stigmatisierten gemässigt sozialistischen Parteien in den Räten nicht mehr vertreten und auch die nichtbolschewistischen linkssozialistischen Kräfte wurden immer spärlicher. Die Zerschlagung der Nationalversammlung mündete in den vierjährigen Bürgerkrieg zwischen bolschewistischen «Roten» und zaristisch dominierten «Weissen», auf deren Seite die letzten auf der Nationalversammlung beruhenden Strukturen im November 1918 durch einen Putsch rechtsgerichteter Offiziere beseitigt wurden. Ebenso eroberte die Rote Armee, obschon die bolschewistische Regierung unmittelbar nach der Oktoberrevolution das Selbstbestimmungsrecht der «Völker Russlands» (inklusive des Rechts auf Eigenstaatlichkeit) proklamiert hatte, die unabhängig gewordenen Staaten Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien und Ukraine mit ihrem parlamentarisch-demokratischen Charakter zurück und bolschewisierte sie, ebenso wie eine anarchistische Föderation selbstverwalteter Kommunen, die zeitweise weite Teile der Süd- und Ostukraine umfasste. Die letzten Parteistrukturen nichtbolschewistischer Kräfte wurden bis 1922 zerschlagen und die mit 99,9 %-Ergebnissen gewählten Räte als pseudodemokratische Fassade der kommunistischen Parteidiktatur bis in die 1980er Jahre reine Akklamationsorgane.

Erst als Folge der Reformpolitik Michail Gorbačevs fanden in der Sowjetunion ab 1989 halbwegs freie Wahlen statt. Der im März 1990 gewählte Volksdeputiertenkongress der Russländischen Föderation blieb dabei über die Auflösung der Sowjetunion hinaus im Amt. 1993 kam es aber zu einem Konflikt zwischen diesem Parlament und Präsident Boris El’cin über den wirtschaftspolitischen Kurs und den Erlass einer neuen Verfassung. Der Präsident löste daraufhin, bewusst oder unbewusst dem Muster von 1906/07 und 1918 folgend, das Parlament durch ein (vom Verfassungsgericht für illegal erklärtes) Dekret auf und liess das Parlamentsgebäude, in dem die meisten Abgeordneten ausharrten, von der Armee beschiessen. Bei diesen Vorgängen kamen gegen 200 Menschen ums Leben. In der Wahl des nun wieder Duma genannten Parlaments Ende 1993 gewannen die Gegner des Präsidenten erneut die Mehrheit. Die Regierung begann nun aber mit dem Aufbau kremlnaher Parteien und, verstärkt unter dem neuen Präsidenten Vladimir Putin ab 2000, mit der (teilweise auch physischen) Ausschaltung wirklich oppositioneller Kräfte und Manipulation der Wahlprozesse, so dass das Parlament, in dem ab 2007 stets die Regimepartei «Einiges Russland» die absolute Mehrheit innehatte und nur noch regierungsloyale Kräfte vertreten waren, in der als «gelenkte Demokratie» verschleierten Präsidialdiktatur als eigenständiger politischer Machtfaktor keine Rolle mehr spielte. Zugleich wurden Autonomiebestrebungen in Randgebieten wie Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan unterdrückt und setzte der hybride Krieg gegen demokratische oder sich demokratisierende ehemalige Sowjetrepubliken wie vor allem die Ukraine und Georgien, aber auch die baltischen Staaten und Moldawien ein.

Die Schweiz als Hub der versuchten Demokratisierung des Zarenreichs?

Die Bezüge der Schweiz zur Revolution von 1905 waren vielfältig und gingen weit über die eingangs zitierten Vergleiche mit den einheimischen Streikunruhen hinaus. Es lebten damals rund 8’000 Russlandschweizer:innen im Zarenreich (s. SozialarchivInfo 5/2018). Im Zuge der Modernisierungsbestrebungen hatte die zaristische Regierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezielt Fachkräfte in Westeuropa rekrutiert. Aus der Schweiz waren dies etwa Käser:innen, Erzieher:innen, Kaufleute und Industrielle. Insbesondere in den Regionen um Moskau und St. Petersburg sowie in der Ukraine entstanden rund 300 schweizerische Firmen in der Maschinen-, Lebensmittel- und Textilindustrie. Viele Russlandschweizer:innen erlebten die revolutionären Unruhen von 1905 bis 1907 hautnah mit.

Umgekehrt gab es eine grosse Community aus dem Zarenreich in der Schweiz. Dazu zählten polnische Flüchtlinge des Aufstands von 1863, Angehörige der unter sich zerstrittenen Gruppierungen und Fraktionen der sozialistischen Opposition, sogenannte «Ostjuden», die auf der Flucht vor Diskriminierung und sporadischen Pogromen definitiv oder als Durchgangsstation zur Weiterreise in die USA in die Schweiz gekommen waren, sowie Studierende, die das liberale Klima und die Möglichkeit des Frauenstudiums in der Schweiz sowie der antisemitische Numerus clausus an den russländischen Universitäten zum Studium an Schweizer Hochschulen geführt hatte. Etwa ein Viertel der Studierenden und gar drei Viertel der Studentinnen in der Schweiz stammten zu jener Zeit aus dem Zarenreich, mindestens die Hälfte von ihnen war jüdisch und viele mit den Kreisen des politischen Exils vernetzt. So entstand eine politisierte Bubble mit Zentren in Zürich, Bern und Genf, die mehrere Tausend Personen umfasste und von Spitzeln der zaristischen Geheimpolizei überwacht wurde, mit eigenen Diskussionszirkeln, Hilfsorganisationen, Bibliotheken und Druckereien.

Manche kehrten bei Ausbruch der revolutionären Unruhen in der Hoffnung auf Veränderungen ins Zarenreich zurück. Lenin, der seit 1903 in Genf lebte, ging Ende 1905 nach St. Petersburg, wo er aber nicht gross öffentlich in Erscheinung trat. Vera Zasulič, die 1878 ein missglücktes Attentat auf den wegen seiner besonderen Brutalität gegen aufständische Polen und politische Gefangene berüchtigten General Fjodor Trepov verübt hatte, dann in die Schweiz geflohen war, 1883 in Genf die erste russische marxistische Gruppe «Befreiung der Arbeit» mitgegründet hatte und ab 1903 die Menschewiki unterstützte, reiste 1905 ebenfalls nach Russland, betätigte sich aber kaum noch politisch.

Eine Reihe ehemaliger Studentinnen von Schweizer Hochschulen spielten in der Revolution von 1905 eine aktive Rolle. Um nur wenige zu nennen: Rosa Luxemburg aus dem polnischen Zamość, die 1889 bis 1897 an der Universität Zürich studiert und mit einer Dissertation über die industrielle Entwicklung Polens doktoriert hatte, ging Ende 1905 unter falschem Namen mit ihrem aus Vilnius stammenden Partner Leo Jogiches, der 1890 bis 1900 im Exil in Genf und Zürich gelebt hatte, ins revolutionäre Warschau, wo sie im März 1906 verhaftet wurde. Die Erfahrung der Vielvölkerrevolution verarbeitete sie 1908/09 in einer Artikelserie «Nationalitätenfrage und Autonomie». Vera Veličkina aus Moskau, die 1892 bis 1894 an den Universitäten Zürich und Bern Medizin und Naturwissenschaften studiert und dann 1902 bis 1905 als Mitarbeiterin verschiedener bolschewistischer Zeitschriften in Genf gelebt hatte, wurde 1905 in St. Petersburg verhaftet. Rosalija Hal’berstadt aus Ekaterinoslav (heute: Dnipro), die 1896 bis 1898 in Genf Medizin studiert hatte und dort mit dem Marxismus in Kontakt gekommen war, beteiligte sich als Menschewistin an der Revolution in St. Petersburg und Moskau. Aleksandra Kollontaj aus St. Petersburg, 1898 für kurze Zeit Hörerin der Nationalökonomie an der Universität Zürich, beteiligte sich am 9. Januar 1905 am Zug zum Winterpalast, war dann revolutionäre Agitatorin unter anderem in St. Petersburg, Litauen und Finnland und führte eine Kampagne zur Organisation sozialistischer Frauen. 1917 bis 1918 sollte sie in der bolschewistischen Regierung als weltweit erste Frau ein Ministeramt wahrnehmen. Anna Lifschitz aus Chełm studierte 1900/01 an der Universität Bern und war als Mitglied des «Bundes» während der Revolution und der Meuterei auf der Potemkin eine führende Persönlichkeit in Odessa, was ihr den Spitznamen «Mutter Gapon» eintrug. Sofia Bričkina aus Rostov am Don hatte 1902 bis 1904 in Bern studiert und war 1905/06 bolschewistische Aktivistin in Odessa und Moskau.

Lidija Kočetkova aus Samara studierte 1895 bis 1899 in Zürich und Bern Medizin und war 1901 bis 1916 verheiratet mit dem Arbeiterarzt Fritz Brupbacher, dessen Nachlass sich im Sozialarchiv befindet. Nach Tätigkeit als Ärztin in Russland war sie 1904 bis 1906 zur Weiterbildung in Hirnanatomie erneut an der Universität Zürich immatrikuliert. Zürich war damals international ein Zentrum der neurologischen Forschung dank des Arztes Constantin von Monakov, Sohn eines emigrierten Liberalen aus Vologda, der in den 1880er Jahren ein privates hirnanatomisches Labor mit umfangreicher Präparatesammlung sowie eine neurologische Poliklinik aufgebaut hatte und 1894 vom Regierungsrat gegen den Willen der Medizinischen Fakultät vom Privatdozenten zum Professor befördert wurde. Als Sozialrevolutionärin ging Kočetkova 1906 nach St. Petersburg und war dann, unterbrochen von mehrfachen Reisen nach Westeuropa zu Kuraufenthalten und Parteikonferenzen, Agitatorin in Atkarsk und Saratov. 1909 wurde sie verhaftet und ins Gouvernement Archangel’sk verbannt, wo Brupbacher sie 1910 und 1911 zweimal besuchte und sein bislang romantisches Bild vom «vorkapitalistischen» russischen Bauerntum revidierte. Im Gegensatz dazu entwickelte Kočetkova zunehmend antiwestliche Ressentiments und wurde dann im Ersten Weltkrieg zur fanatischen grossrussischen Nationalistin, worauf es zur Trennung von Brupbacher kam.

Trotzkis Freund Alexander Parvus hatte 1887 bis 1891 an der Universität Basel Wirtschaftswissenschaften studiert, ging 1905 nach St. Petersburg, wurde 1906 verhaftet, konnte aber auf dem Weg in die sibirische Verbannung flüchten und war 1917 dann eine wichtige Figur bei Lenins Rückkehr nach Russland. Der lettische Bauernpolitiker Kārlis Ulmanis, der 1902 bis 1903 am Eidgenössischen Polytechnikum Zürich Agronomie studiert hatte, wurde wegen Beteiligung an den revolutionären Ereignissen kurzzeitig inhaftiert und floh in die USA. Nach der Unabhängigkeit Lettlands war er dann als Vertreter des Lettischen Bauernverbandes mehrfach Ministerpräsident, errichtete 1934 in einem Staatsstreich ein autoritäres Regime und regierte diktatorisch bis zum sowjetischen Überfall auf die baltischen Staaten 1940 aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts. Dann wurde er, obwohl angeblich im Besitz einer Ausreiseerlaubnis in die Schweiz, nach Turkmenistan deportiert und starb 1942 im Gefängnis. Sein Schicksal zeichnete den Leidensweg von über 100’000 Lett:innen vor, die von den neuen sowjetischen Machthabern in zwei Deportationswellen 1941 und 1949 nach Sibirien oder Kasachstan verschickt wurden.

Auch einen nachmals prominenten Schweizer zog es ins revolutionäre Geschehen im Zarenreich. Fritz Platten beteiligte sich 1906 an der Revolution in Riga, wurde verhaftet und kam ins Gefängnis. Nach achtmonatiger Haft gelang ihm die Flucht in die Schweiz, wo er als Sozialdemokrat und dann Kommunist wichtige politische Ämter einnahm, 1916 als Bürge für Lenins Benutzung des Sozialarchivs fungierte und im Folgejahr eine wichtige Rolle bei der Organisation von Lenins Rückkehr nach Russland spielte (s. SozialarchivInfo 1/2016). 1919 gehörte er dem Gründungspräsidium der Kommunistischen Internationale an, 1923 emigrierte er in die Sowjetunion, wo er in den 1930er Jahren in den Strudel der stalinistischen Säuberungen geriet und 1942 im Gulag erschossen wurde.

Die schweizerische Öffentlichkeit nahm an den Ereignissen im Zarenreich lebhaften Anteil. In der Presse waren 1905 der russisch-japanische Krieg und die Revolution die dominierenden Ereignisse der Auslandsberichterstattung. Das Massaker am Blutsonntag stiess in den Schweizer Zeitungen unabhängig von deren politischer Ausrichtung auf Empörung. Ebenso wurde Ende Februar 1905 eine Klage der russländischen Gesandtschaft über die zarenkritische Berichterstattung der Schweizer Presse von den Zeitungen fast einhellig als Angriff auf die Pressefreiheit zurückgewiesen. Bei der ebenfalls breit beachteten Meuterei auf der Potemkin waren die Sympathien der Schweizer Presse dann geteilt. Das Oktobermanifest wurde von den sozialdemokratischen und auch vielen freisinnigen Blättern mit Skepsis aufgenommen.

Wenige Tage nach dem Blutsonntag organisierte die Arbeiterunion Zürich im Velodrom eine Protestversammlung mit Reden von Nationalrat Herman Greulich und Kantonsrat Paul Pflüger. Auch in Genf, Bern, Lausanne, Winterthur, Baden, Lugano und La Chaux-de-Fonds gab es Ende Januar oder Anfang Februar 1905 sozialdemokratische Kundgebungen. Im Februar und März veranstalteten viele Arbeiterorganisationen Vortragsabende zu den Ereignissen im Zarenreich. Greulich hatte sich schon vor dem Blutsonntag im Zürcher Stadtparlament für das «Recht auf Selbstbestimmung des russischen Volkes» ausgesprochen. Ende Januar 1905 stellte Pflüger im selben Rat Antrag auf eine Sympathiebekundung für die Protestbewegung. Die bürgerlichen Fraktionen lehnten dieses Ansinnen trotz teilweiser inhaltlicher Übereinstimmung mit Pflügers Standpunkt als nicht opportune Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ab. Der Aufruf der SP Schweiz zur Maidemonstration bezeichnete 1905 als das Jahr, «in welchem das Proletariat Russlands den Fuss auf den Zarismus, auf den Obergendarmen Europas, gesetzt hat und mit seinem Blute der internationalen Freiheit die Hauptgasse öffnet». Am ersten Jahrestag des Blutsonntags gab es 1906 Kundgebungen in Zürich, Bern, Genf, Basel, Lausanne, St. Gallen, Rorschach, Frauenfeld, Lugano und Davos, an denen sich Tausende beteiligten.

Ebenso veranstaltete ein sozialdemokratisch dominiertes «Hilfskomitee für die Opfer der russischen Revolution» eine Geldsammlung, was seitens der russländischen Gesandtschaft grosse Empörung hervorrief. Die in Genf ansässigen Menschewiki erliessen unter dem Titel «An die zivilisierte Welt» einen Spendenaufruf, welcher ausführte, am Blutsonntag habe «die Riesenhand des russischen Proletariates den absolutistischen Drachen an der Kehle erfasst»: «Der Kampf gegen den Zarismus, seine Vernichtung erscheint auch als Kampf gegen die wilde Barbarei […]. Was der Absolutismus in Finnland und Kischinew begangen, begeht er fortwährend in Polen und Litauen, in Sibirien und im Kaukasus; er hat es im Grossen gethan, als ihm das Volk der Hauptstadt die Forderungen von ganz Russland gestellt hat. […] Heute weiss die ganze Welt, dass der Zarismus sich bemüht, mit Hülfe von Bajonetten sein Leben zu verlängern. Aber das Regime der Bajonette ist ein fortwährendes militärisches Abenteurertum, eine ewige Gefahr für den Weltfrieden.»

Die Verteilung der gesammelten Mittel stiess indessen aufgrund der Zersplitterung der sozialistischen Kräfte des Zarenreichs entlang nationaler und ideologischer Grenzen auf Probleme. Der Nachlass von Herman Greulich im Sozialarchiv enthält ein Schreiben Greulichs an die Geschäftsleitung der SP Schweiz und das Bundeskomitee des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vom 31. Januar 1905, in welchem der Arbeitersekretär klagte: «Wegen der Verteilung der für die russischen Revolutionäre gesammelten Gelder bin ich in den letzten Tagen arg bestürmt worden. Nach aussen herrscht die Meinung, es gebe nur eine russische sozialdemokratische Partei. Leider ist das nicht so. Es gibt nicht nur Organisationen, die einen lokalen und nationalen Charakter tragen: Der jüdische Arbeiterbund. Die polnische sozialdem. Partei. Die lettische sozialdem. Partei, sondern es existiert noch eine selbständige Vereinigung: Die revolutionären Sozialisten. Damit aber noch nicht genug. Neben der Sozialdemokratischen Partei mit Axelrod, Plechanow und Vera Sassulitsch, gibt es noch eine zweite, mit dem ‚Vperiod’ unter Lenin in Genf an der Spitze, welche behauptet, die Mehrheit und den grössten Anhang in Russland zu haben. Auch sie beansprucht Anteil an der Sammlung. Diese arge Zersplitterung ist ein Unglück in der ganzen Situation, sie verursacht unnütze Opfer an Menschenleben und verhindert ein planmässiges Vorgehen. Sie setzt auch uns in grosse Verlegenheit.»

Die Revolution forderte auch ein Todesopfer auf Schweizer Boden. Am 1. September 1906 erschoss die Medizinstudentin Tat’jana Leont’eva im Speisesaal des noblen Grandhotel Jungfrau in Interlaken den französischen Geschäftsmann Charles Müller. Dabei handelte es sich um eine Verwechslung. Leont’eva, die 1905 Augenzeugin der Ereignisse des Blutsonntags gewesen und Mitglied der terroristischen «Kampforganisation» der Sozialrevolutionären Partei geworden war, hielt ihr Opfer für den zaristischen Innenminister Pëtr Durnovo, einer zentralen Person bei der Repression gegen die revolutionären Bewegungen Ende 1905 und Förderer der rechtsextremen, antisemitischen, polen- und ukrainefeindlichen «Schwarzen Hundertschaften». Im Mordprozess von 1907 wurde Leont’eva zwar schuldig gesprochen, ihre Strafe beschränkte sich aber wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit und mildernden Umständen auf nur vier Jahre Zuchthaus.

Massenstreiks und Kampflieder

Die verschiedenen Massenstreiks während der Revolution im Zarenreich liessen in der internationalen Arbeiter:innenbewegung die Debatten über Sinn und Unsinn des politischen Generalstreiks wieder aufflammen. Das Mittel des Generalstreiks war bereits im 19. Jahrhundert diskutiert und auch angewandt worden. 1868 bezeichnete die Erste Internationale den Generalstreik als geeignetes Mittel zur Verhinderung künftiger Kriege – eine Idee, die dann auch in der Zweiten Internationale wieder auftauchte (s. SozialarchivInfo 2/2024). 1893 fand in Belgien ein Generalstreik für die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts statt. Gewährt wurde schliesslich ein allgemeines, aber ungleiches Wahlrecht. Ein neuerlicher belgischer Generalstreik für das gleiche Wahlrecht wurde 1902 von Polizei und Militär unterdrückt.

In den theoretischen Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts fanden sich zur Massenstreikfrage grob drei Positionen: Marxistische Sozialdemokrat:innen sahen in ihm ein Abwehrmittel, für reformerische Syndikalist:innen war er sowohl Abwehrmittel als auch Mittel zur Durchsetzung noch nicht erreichter Rechte und die Anarchist:innen propagierten ihn als direkten Angriff auf den Klassenstaat und Beginn der sozialen Revolution. Die Zweite Internationale, in der sich vor allem französische Sozialist:innen für den Massenstreik stark machten, lehnte auf ihren Kongressen von 1896 und 1900 internationale Generalstreiks als Kampfmittel ab. Auf dem Kongress von 1904 erfolgte dann die Anerkennung des Massenstreiks als das «äusserste Mittel, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen».

Während und nach der Revolution von 1905 setzte namentlich in der deutschen Sozialdemokratie eine intensive Massenstreikdebatte ein. Auf dem Parteitag vom September 1905 rief Rosa Luxemburg als Befürworterin politischer Massenstreiks aus: «Wir sehen die russische Revolution, und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten.» Das Parteizentrum um August Bebel befürwortete den Massenstreik nur «im Notfalle» und setzte sich bei den Delegierten mit dieser Position durch. Im Jahr darauf warnte Karl Kautsky vor einer Parallelisierung Deutschlands und Russlands und sah im politischen Massenstreik in Russland gleichsam ein Naturereignis, das auf die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit des Zarenreiches zurückzuführen sei. Demgegenüber übte Rosa Luxemburg in einer Broschüre mit dem Titel «Massenstreik, Partei und Gewerkschaften» Kritik an SPD und Gewerkschaften: «Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend. Im ersteren Falle brechen Massenstreiks ‚von selbst’ und immer ‚rechtzeitig’ aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen der Leitung zum Massenstreik erfolglos. Und für beides liefert die russische Revolution sprechende Beispiele.» Das russländische Beispiel habe gezeigt, dass sogar ein wenig organisiertes Proletariat jahrelange Kämpfe auszufechten im Stande sei, während die wohlorganisierte deutsche Arbeiter:innenschaft nur sporadisch in Streiks in Erscheinung trete.

Auch in der Schweiz, wo es bereits 1902 im Anschluss an einen Arbeitskampf der Tramangestellten einen lokalen Generalstreik in Genf gegeben hatte, entspann sich eine ähnliche Diskussion. Es war vor allem der spätere Landesstreikführer Robert Grimm, der den Generalstreik als Mittel zur Systemveränderung befürwortete, wenn auch nur in Ergänzung zum Parlamentarismus und als Krönung der bisherigen Mittel und Methoden des Klassenkampfes. In einem 1906 gehaltenen Vortrag, der in der Folge auch als Broschüre verbreitet wurde, befürwortete er die Möglichkeit, durch einen Massenstreik die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen und der Arbeiterklasse zur Macht zu verhelfen. Die schweizerischen Gewerkschaften standen der Generalstreikidee zunächst indessen wie ihre deutschen Schwesterorganisationen sehr skeptisch gegenüber, dennoch gab es in den folgenden Jahren eine Reihe lokaler Generalstreiks, so 1912 in Zürich (s. SozialarchivInfo 4/2017).

Zu einer praktischen Anwendung, die direkt von den Ereignissen im Zarenreich beeinflusst war, kam es in der cisleithanischen (österreichischen) Reichshälfte der Donaumonarchie. Dort fanden Anfang November 1905 in zahlreichen Städten Strassenkundgebungen statt, die in Wien und Prag zu blutigen Zusammenstössen mit der Staatsgewalt führten. Zugleich weitete sich eine zunächst lokale Protestaktion der Eisenbahnarbeiter, die sich an den Eisenbahnerstreiks im Zarenreich orientierte, immer mehr aus und brachte die Regierung in arge Bedrängnis. Ab dem 26. Oktober übten die Eisenbahner in Nordböhmen «passive Resistenz», die darin bestand, die bestehenden Vorschriften peinlich genau zu beachten. Aufgrund des reglementarischen Gestrüpps im k. k. Eisenbahnwesen führte dies zu einem Kollaps des öffentlichen Verkehrs, ohne dass den Arbeitern irgendein Vorwurf wegen Dienstverletzung gemacht werden konnte.

Die sozialdemokratische Eisenbahnergewerkschaft stand der Aktion zunächst eher skeptisch gegenüber, übernahm aber Anfang November die Führung der Protestbewegung und hielt am 5. November in Prag eine Vertrauensmännerkonferenz ab, die dem Eisenbahnministerium einen Forderungskatalog mit folgenden Punkten übermittelte: 20 bis 30 % mehr Lohn, Mitspracherecht des Personals, Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts. Bereits 1894 hatte der sozialdemokratische Parteitag unter Androhung eines Generalstreiks die Ausweitung des auf eine schmale Schicht von Vermögenden beschränkten Wahlrechts gefordert. 1896 kam es zu einer Wahlrechtsreform mit Einrichtung einer fünften «Wählerkurie» für alle über 24 Jahre alten männlichen Staatsbürger, die jedoch nur 72 der 425 Parlamentsmandate wählen durften. Der Rest blieb den aristokratischen und bürgerlichen Eliten vorbehalten.

Vor diesem Hintergrund weiteten sich die Protestaktionen Ende 1905 in rasantem Tempo aus. Am 4. November erfassten sie bereits ganz Böhmen, am 6. November Salzburg und Oberösterreich, am 8. November Wien und am folgenden Tag ganz Cisleithanien. Insgesamt beteiligten sich am Protest etwa 25’000 Arbeiter:innen. Nach wenigen Tagen trat die Regierung mit den Gewerkschaften in Verhandlungen. Eine Übereinkunft am 12. November brachte den Eisenbahnern verschiedene Verbesserungen. Verklausuliert versprach die Regierung auch, dem Parlament eine Wahlreformvorlage zu unterbreiten. Als am 28. November 1905 das Parlament wieder zusammentrat, streikte in den österreichischen Städten der grösste Teil der Arbeiter:innen. In Wien zog eine Viertelmillion Menschen in wohlgeordneten Achterreihen fünf Stunden lang über die Ringstrasse schweigend am Parlamentsgebäude vorbei. In Prag demonstrierten am selben Tag 150’000 Menschen. Die Führung der tschechischen Sozialdemokratie erwog die Ausrufung eines Generalstreiks, wurde von der Gesamtparteileitung aber vorerst zurückgepfiffen.

Die Regierung legte in der Folge einen Gesetzesentwurf für die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts vor. Konservative und liberale Wahlreformgegner betrieben aber eine Obstruktionspolitik und versuchten die Reform mit Debatten um minimale Differenzen endlos hinauszuzögern. Teilweise handelte es sich dabei um einen Schacher um Wahlkreise, es war aber auch das offensichtliche Ziel vieler Abgeordneter, durch Verkomplizierung der Verhandlungen und Ausnützung des deutsch-tschechischen Gegensatzes die Reform scheitern zu lassen. Obwohl der parlamentarische Wahlreformausschuss im Mai 1906 einen ausgereiften Gesetzesentwurf zugewiesen erhielt, legte er erst im November nach 63 Sitzungen einen Bericht vor.

Angesichts dieser Verschleppungstaktik drohte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erneut mit Massenprotesten. Als im Juni 1906 eine sinnvolle Weiterarbeit im Wahlreformausschuss nicht mehr möglich schien, rüstete die Parteileitung zu einem Massenstreik, der zunächst drei Tage lang in Wien durchgeführt, dann wenn nötig in Böhmen fortgesetzt und schliesslich auf die ganze österreichische Reichshälfte ausgedehnt werden sollte. Unter dem Eindruck dieser Drohung beschleunigte der Reformausschuss seine Beratungen und fand schliesslich doch einen Konsens. In den ersten Wahlen nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht im Mai 1907, an denen von den nun 5,5 Millionen Wahlberechtigten 84 % teilnahmen, wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei mit 87 der total 516 Sitze zur stärksten Fraktion. Allerdings galt das allgemeine Männerwahlrecht nur in der österreichischen Reichshälfte, nicht aber für den ungarischen Reichsteil, der über ein eigenes Parlament verfügte. Hier war das Wahlrecht weiterhin an eine sehr hohe Steuerleistung geknüpft, so dass lediglich etwa sechs Prozent der Bevölkerung wählen durften. Zudem galt auch in der österreichischen Reichshälfte für die Landtage und Gemeindeparlamente bis zum Ende der Habsburgermonarchie 1918 das ungleiche Kurienwahlrecht.

Neben der Massenstreikdebatte hatte die Revolution von 1905 auch musikalische Auswirkungen auf die westlichen Arbeiter:innenbewegungen. Das in den 1890er Jahren von Leonid Radin in einem Moskauer Gefängnis gedichtete und zunächst vor allem von politischen Gefangenen in Sibirien gesungene «Smelo, tovarišči, v nogu!» wurde 1905 und erneut 1917 zur Revolutionshymne und dann 1920 vom deutschen Dirigenten Hermann Scherchen, der es in Kriegsgefangenschaft in Russland kennengelernt hatte, als «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit» ins Deutsche übersetzt und in den deutschsprachigen Arbeiter:innenorganisationen rasch so populär, dass sich auch die Nazis die Melodie anzueignen versuchten. Scherchen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg musikalischer Leiter und Dirigent des Deutschschweizer Radioorchesters und gründete den Zürcher Musikverlag «Ars viva». Das vom sozialistischen Poeten Wacław Święcicki 1879 in Gefängnishaft mit Referenz auf ein patriotisches Lied aus dem Aufstand von 1831 gedichtete polnische Freiheitslied «Warszawianka» war während der Revolution von 1905 in Russisch-Polen sehr populär und verbreitete sich von da aus ins Zarenreich wie auch nach Mittel- und Westeuropa. Unter dem Titel «A las Barricadas» war es im Spanischen Bürgerkrieg die anarchistische Hymne, unter dem Titel «Ánemoi thíelles» das Lied des antifaschistischen Widerstands in Griechenland während des Zweiten Weltkriegs.

Von der Revolution ins Schweizer Exil

Wie nach den europäischen Revolutionswellen von 1830 und 1848, dem polnischen Aufstand von 1863 oder dem Pariser Commune-Aufstand von 1871 flüchteten auch nach 1905 wieder zahlreiche geschlagene Rebell:innen in die Schweiz (s. SozialarchivInfo 2/2021 und 2/2023). In Genf gab es 1906 eine Versammlung von 600 revolutionären Emigrant:innen, worauf die Behörden vier Ausweisungen vornahmen. Lenin floh im Januar 1907 vor dem zaristischen Sicherheitsapparat nach Helsinki und kehrte im folgenden Jahr nach Genf zurück. Im Januar 1917, kurz vor Ausbruch einer neuerlichen Revolution im Zarenreich, sollte er dann im Zürcher Volkshaus ein Referat über die Revolution von 1905 halten. Der im Zuge der Repression gegen die Revolutionär:innen zu lebenslanger Verbannung nach Sibirien verurteilte Trotzki floh 1907 aus dem Zarenreich und hielt sich 1914 in der Schweiz auf, wo er dem Vorstand des Arbeiterbildungs-Vereins Eintracht Zürich angehörte und Benutzer des Sozialarchivs war.

Auch Georgij Gapon hielt sich vorübergehend in der Schweiz auf. Nach dem Blutsonntag exkommunizierte er den Zaren und flüchtete ins Ausland, wo er in Genf und London Kontakt zu wichtigen Figuren des sozialistischen Exils aufnahm. Nach dem Oktobermanifest kehrte er nach Russland zurück. Nachdem er gegenüber einem Weggefährten, dem Sozialrevolutionär Pinchas Ruthenberg, bekannt hatte, ein Ochrana-Agent zu sein, wurde er 1906 von Angehörigen der «Kampforganisation» der Sozialrevolutionären Partei ermordet. Einer der drei Mörder war selbst ebenfalls ein Undercover-Agent der Ochrana.

Verschiedene Flüchtlinge kamen aus dem Baltikum in die Schweiz. Der lettische Publizist Jānis Pliekšāns mit dem Pseudonym «Rainis» und seine Frau, die unter dem Pseudonym «Aspazija» schreibende Dichterin Elza Rozenberga, kamen 1905 ins Land und lebten dann bis 1920 in Castagnola, wo Rainis ein literarisches Werk schuf, das die lettische Unabhängigkeitsbewegung stark beeinflusste, unter anderem die dramatische Ballade «Daugava» («Dünawind», 1916). Nach der Unabhängigkeit war er ab 1920 als Vertreter der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Parlamentsmitglied und 1926 bis 1928 Bildungsminister. In Kontakt mit Rainis und Aspazija stand der lettische Bauernsohn und Sozialdemokrat Jānis Klawa, der 1898/99 als Fabrikarbeiter und Student in Bern geweilt hatte, von den zaristischen Behörden mehrfach verhaftet und jahrelang nach Sibirien verbannt worden war. Er konnte Anfang 1905 nach Lettland zurückkehren, beteiligte sich dort wie sein Vater, dessen Bauernhaus 1906 von Kosaken niedergebrannt wurde, und sein Bruder an der Revolution und reiste Ende 1905 erneut in die Schweiz aus. Hier arbeitete er als Schriftsetzer und heiratete 1921 die Textilarbeiterin Anny Morf. In deren Nachlass im Sozialarchiv befinden sich zahlreiche Fotografien aus Klawas Zeit in Lettland und Sibirien sowie das Originalmanuskript der Memoiren seines Lebens bis 1905, die 1958 unter dem Titel «Der Rebell» erschienen.

Aus Estland kam der bürgerlich-nationalistische Jurist Konstantin Päts, der 1905 stellvertretender Bürgermeister von Tallinn war, dann aus dem Zarenreich flüchtete und in Abwesenheit zum Tod verurteilt wurde. 1906 bis 1909 lebte er in der Schweiz, vor allem auf dem Gut Weissenstein bei Bern. 1918 war er an der Unabhängigkeitserklärung Estlands beteiligt und in der Folge Anführer des Bundes der Landwirte sowie mehrfacher Regierungschef. Nach einem Staatsstreich 1934 zur Verhinderung einer Machtübernahme des faschistischen «Bunds der Freiheitskämpfer» regierte er das Land autoritär. Die ab 1938 geplante Rückkehr zur Demokratie konnte aufgrund der sowjetischen Invasion von 1940 nicht mehr vollzogen werden. Päts wurde (wie in der Zeit bis in die frühen 1950er Jahre über 30’000 seiner Landsleute) nach Osten deportiert, kam ohne Anklage und Verurteilung in verschiedene Gefängnisse, Zwangsarbeitslager und psychiatrische Kliniken und starb 1956 nach 16 Jahren Haft. Während seines Exils in der Schweiz stand Päts im Austausch mit anderen Flüchtlingen aus dem Baltikum, beispielsweise dem estnischen Journalisten und Sozialdemokraten Mihkel Martna, der 1905 ebenfalls an der Revolution teilgenommen hatte und dann 1906 bis 1917 in der Schweiz lebte. Martna war 1907 Mitbegründer der Estnischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und spielte nach der Unabhängigkeit als Parlamentarier und Diplomat eine wichtige Rolle beim Aufbau des estnischen Staates.

1911 kam der polnische Neurologe Mieczyslaw Minkowski nach Zürich und wurde Assistenzarzt von Monakovs. Minkowski war 1905 als Medizinstudent von der Universität Warschau ausgeschlossen worden, weil er sich im Zuge der revolutionären Unruhen für die Wiedereinführung des Polnischen statt des 1870 aufgezwungenen Russischen als Unterrichtssprache eingesetzt hatte. Anschliessend setzte er seine Studien in München und Breslau fort. 1928 bis 1954 war er dann Direktor der Neurologischen Universitäts-Poliklinik und des Hirnanatomischen Instituts der Universität Zürich. Zugleich fungierte er ab 1925 als Präsident der Jüdischen Vereinigung Zürich.

Bestände zum Thema im Schweizerischen Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv:

  • Ar 101.30.7 Brupbacher, Fritz (1874–1945): Briefe K–M
  • Ar 127.10+11 Klawa-Morf, Anny (1894–1993): Janis (John) Klawa
  • Ar 170.15.11 Greulich, Herman (1842–1925): Zweite Internationale 1904–1911
  • Ar 198.7.2 Schweizer Kommunisten: M–Z
  • Ar 198.43 Kirschbaum, Familie
  • Ar 535 Publ 668 Russlandschweizer-Archiv RSA: Ordner mit Ausschnitten aus Schweizer Zeitungen zur Russischen Revolution 1905–1907

Sachdokumentation:

  • KS 32/46:1+2 Russland bis 1917
  • KS 331/257 Generalstreiks, Massenstreiks: Allg.
  • KS 335/275+276 Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre bis 1917: Russland
  • KS 335/442:1+2 Anarchismus; politische Gefangene: Russland & Sowjetunion

Bibliothek:

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  • Anweiler, Oskar: Die russische Revolution 1905–1921. 3. Aufl. Stuttgart 1971, 51693
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Vor 65 Jahren: Die Entstehung der Zauberformel

Auch nach den letzten Eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2023 gab es wieder Diskussionen über die parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates. Bei Überlegungen dazu standen in der Regel inhaltliche, programmatische Ideen hinter arithmetischen Argumenten zurück. Der dabei immer wieder angesprochene Grundgedanke, wie Parteistärken sich in Bundesratssitze transformieren sollten, greift auf ein Modell zurück, das vor 65 Jahren erstmals verwirklicht wurde: die sogenannte «Zauberformel». Dieser freiwillige Parteienproporz gilt als Kernelement der sogenannten Konkordanzdemokratie, die nicht wie die Konkurrenzdemokratie vom konfrontativen Wechselspiel zwischen Regierung und starker parlamentarischer Opposition lebt, sondern vom Einbezug aller wichtigen Kräfte in die Regierungsverantwortung und deren stetigem Aushandeln von Kompromissen.

Dieses System wurde durch verschiedene institutionelle Gegebenheiten begünstigt, bildete sich aber erst im Verlauf von 111 Jahren heraus. Gewisse Grundvoraussetzungen wurden bereits mit der Bundesstaatsgründung von 1848 geschaffen. Mit dem Direktorial- und Kollegialsystem ohne Regierungschef mit Richtlinienkompetenz oder einem institutionell über dem Regierungsgremium stehenden Staatsoberhaupt sowie der fehlenden Möglichkeit des parlamentarischen Misstrauensvotums waren wesentliche Elemente der Konkurrenzdemokratie nicht vorhanden. Hinzu kam die individualisierte Wahl der Mitglieder des Bundesrats anstelle eines kollektiven Vertrauensvotums durch das Parlament. Die Idee, statt der Einzelwahl das Gremium per Listenwahl in einem Durchgang zu wählen, taucht immer wieder auf und wurde bereits 1851 ein erstes Mal vom Parlament abgelehnt. Die Einführung eines kollektiven Vertrauens- oder Misstrauensvotums für die ganze Regierung wurde aber nie ernsthaft verfolgt.

Andere Reformideen tauchten sporadisch auf, setzten sich aber nie durch. Dazu gehörte die seit den 1870er Jahren diskutierte Volkswahl des Bundesrates, die 1900, 1942 und 2013 dreimal in Volksabstimmungen bachab geschickt wurde, die seit etwa 1900 immer wieder herumgeisternde Vergrösserung des Bundesrates auf neun Mitglieder oder in jüngerer Zeit die Einführung einer Geschlechterquote, die 2000 in einer Volksabstimmung deutlich verworfen wurde. Die einzige verwirklichte Reform zur Zusammensetzung der Regierung betraf 1998 die Lockerung der Kantonsklausel. Alle weiteren formalen Kriterien – Parteizugehörigkeit, Vertretung der Sprachregionen, in früheren Zeiten die Konfessionszugehörigkeit und seit der Jahrtausendwende das Geschlecht – sind ungeschriebene Gesetze.

Eine wesentliche Rolle auf dem Weg zum freiwilligen Parteienproporz in der Regierung spielte der Ausbau der direkten Demokratie. Mit der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums 1874 und der Volksinitiative 1891 erhielten nicht in der Regierung vertretene politische Kräfte starke ausserparlamentarische Oppositionsinstrumente (s. SozialarchivInfo 6/2021). Dadurch kam die Dynamik zur Einbindung der wichtigen politischen Kräfte in die Regierungsverantwortung in Gang, die erst nach Jahrzehnten zum Abschluss gelangte. Und dadurch kam auch die Vorstellung auf, in der Schweiz bilde nicht die parlamentarische Minderheit, sondern das «Volk» die Opposition zur Regierung.

Lange vor dem Bund gab es in verschiedenen Kantonsregierungen Modelle eines freiwilligen Parteienproporzes. Ein formalisierter Proporz nicht nur für die Parlamentswahl, sondern auch für die Regierung existierte im Kanton Tessin ab 1891. Er beseitigte die jahrzehntelange latente Bürgerkriegssituation zwischen Konservativen und Liberalen mit anhaltenden Wahlmanipulationen und sporadischen Gewaltausbrüchen und machte den Südkanton zu einem Laboratorium der Konkordanz. Der Wechsel vom Majorz- zum Proporzsystem für die Wahl des Nationalrats nach dem Ersten Weltkrieg intensivierte dann die Diskussionen über einen freiwilligen Proporz auch im Bundesrat (s. SozialarchivInfo 4/2019). Der Durchbruch dazu im und nach dem Zweiten Weltkrieg hing dann noch mit einem weiteren Faktor zusammen: Mit dem Übergang zur Sozialpartnerschaft und der Integration der Gewerkschaften in den auf verbandsstaatlichen Mechanismen beruhenden «Neo-Korporatismus» von den späten 30er bis in die frühen 50er Jahre (s. SozialarchivInfo 2/2017) erschien eine parallele Entwicklung auf der politischen Ebene und der Einbezug auch der SP in eine Regierung, die bereits alle wichtigen bürgerlichen Parteien umfasste, naheliegend.

Vom hegemonialen Pluralismus der Bundesstaatsgründer zum Bürgerblock

Die ersten Bundesratswahlen fanden am 16. November 1848 statt, ein Jahr nach dem Sonderbundskrieg. Alle sieben Sitze gingen dabei an Radikale und Liberale, die auch in beiden Parlamentskammern eine erdrückende Mehrheit hatten (s. SozialarchivInfo 2/2023). Diese absolute Dominanz der Sieger des Sonderbundskrieges im Bundesrat sollte bis 1891 anhalten. Trotzdem ist die traditionelle Vorstellung, diese Phase als Ära einer freisinnigen Einparteienregierung zu betrachten, zu stark vereinfacht. Urs Altermatt, der Doyen der Bundesratsgeschichtsforschung, spricht in seinen jüngsten Publikationen für die Zeit von 1848 bis 1891 sogar ausdrücklich von einer «Zweiparteienkoalition» zwischen Radikalen und gemässigt Liberalen und bezeichnet die Tendenz, alle Bundesräte bis 1891 unisono als «freisinnig» zu deklarieren, als «Geschichtskonstruktion» der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die FDP nach dem Verlust der Parlamentsmehrheit ihre starke Übervertretung im Bundesrat historisch zu begründen versuchte.

Vor der organisatorischen Verfestigung der Parteien im späten 19. Jahrhundert gab es bei den liberalen Kräften verschiedene Strömungen, die sich vor allem in den Kantonen teilweise heftig bekämpften, aber auch nicht eindeutig voneinander abgrenzen liessen. Die Geschichtsschreibung spricht in diesem Zusammenhang im Gefolge von Erich Gruner oft von der «freisinnigen Grossfamilie». Rechts von der radikal-liberalen «Linken», die in der Bundesversammlung stets die stärkste Gruppe stellte, gab es die gemässigt liberale und liberalkonservative «Mitte» (auch «Zentrum» genannt), links aussen die in den 1860er Jahren erstarkenden, auf direktdemokratische und sozialpolitische Reformen drängenden Demokraten, die auch einen Arbeiterflügel mit sozialistischen Tendenzen hatten (s. SozialarchivInfo 6/2018 und 2/2024). Die Radikal-Liberalen verloren 1863 erstmals die absolute Mehrheit im Nationalrat, während das Zentrum um wirtschaftsliberale «Bundesbarone» wie Alfred Escher vorübergehend stark zulegte. Erst 1881 eroberten die Radikal-Liberalen die absolute Parlamentsmehrheit zurück.

Dieser Pluralismus innerhalb des hegemonialen Liberalismus widerspielte sich auch in der Zusammensetzung des Bundesrats. Von den Bundesräten der ersten Stunde trat Ulrich Ochsenbein 1851 nicht mehr als Radikaler, sondern als gemässigt Liberaler zur «Komplimentswahl» in den Nationalrat an und wurde dann als Bundesrat bestätigt. Drei Jahre darauf schaffte er, politisch zwischen Stuhl und Bank, die «Komplimentswahl» nicht mehr und wurde dann auch aus dem Bundesrat abgewählt. Bis in die 1880er Jahre hielten sich im Bundesrat jeweils je drei bis vier Vertreter der Radikal-Liberalen und der liberalen Mitte in etwa die Waage – auch wenn die Zuordnung nicht immer eindeutig war. Hinzu kamen vereinzelte Bundesräte, die den Demokraten zugerechnet wurden.

Ausgeschlossen war in den ersten Jahrzehnten nach dem Sonderbundskrieg dagegen die Wahl von Katholisch-Konservativen, die im Parlament den rechten Flügel bildeten, in den Bundesrat. Ab den 1870er Jahren änderte sich die Situation aber allmählich. Mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 war das Instrument des fakultativen Gesetzesreferendums eingeführt worden, das die Katholisch-Konservativen, zum Teil im Verbund mit föderalistischen liberalen Kräften, geschickt dazu nutzten, um eine Reihe von Vorlagen zu Fall zu bringen. Zugleich verzeichneten sie in den Wahlen von 1875 und 1878 bedeutende Gewinne und wurden im Nationalrat bis zum Ende der Majorz-Ära dauerhaft zur zweitstärksten Fraktion. 1878 erhob das katholisch-konservative Parteiblatt «Vaterland» den arithmetischen Anspruch auf zwei Bundesratssitze. Ein Einbezug der Katholisch-Konservativen, die ab 1875 wiederholt Kampfkandidaturen für den Bundesrat aufstellten, in die Regierungsverantwortung erschien nun nur noch als Frage der Zeit. 1883 sprachen sich die Fraktionen der Demokraten und des liberalen Zentrums für einen Bundesrat der Katholisch-Konservativen aus, um deren Obstruktionspolitik zu beenden. Der Zeitpunkt dazu kam, als Emil Welti, letzter Bundesrat des liberalen Zentrums, 1891 nach einer Abstimmungsniederlage zurücktrat. Die liberalen Fraktionen boten nun den Katholisch-Konservativen einen Sitz im Bundesrat an und verhalfen dem Luzerner Josef Zemp zur Wahl.

Drei Jahre darauf erfolgte die Gründung der Freisinnig-Demokratischen Partei, die die Radikal-Liberalen, deren Parlamentsfraktion sich seit 1878 «radikal-demokratisch» nannte, sowie Teile des liberalen Zentrums und der Demokraten unter ein Dach brachte. Durch den Zuzug von gemässigt Liberalen erhielt die FDP einen starken Wirtschaftsflügel und rückte insgesamt nach rechts. Die parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates bis zum Ersten Weltkrieg lautete damit sechs Freisinnige und ein Katholisch-Konservativer.

Die ausserhalb der FDP verbliebenen Reste des ehemaligen Zentrums gründeten die liberal-demokratische Fraktion und 1913 dann die Liberale Partei, die aber nur in wenigen Kantonen Bestand hatte und nach erfolglosen Bundesratskandidaturen 1897 und 1902 mit Gustav Ador von 1917 bis 1919 nur noch einmal für kurze Zeit einen Bundesrat stellte. Diejenigen Kantonalparteien der Demokraten, die nicht der FDP beitraten, bildeten im Parlament ab 1896 die «Äusserste Linke» bzw. «Sozialpolitische Gruppe», der bis 1911 auch die zunächst noch wenigen sozialdemokratischen Nationalräte angehörten. Aus dieser Fraktion ging nie ein Bundesrat hervor. Bei einer Ersatzwahl 1897 schickten die Liberalen und die Demokraten je einen Kandidaten ins Rennen, im vierten Wahlgang setzte sich aber der offizielle FDP-Kandidat durch. Hingegen wurde 1902 mit Ludwig Forrer ein prominenter Vertreter der Zürcher Demokraten, die sich auf Bundesebene der FDP angeschlossen hatten, aber im Kanton weiterhin als eigenständige Partei links von den Freisinnigen politisierten, in den Bundesrat gewählt.

Die Dominanz der FDP, die von 1896 bis zum Ersten Weltkrieg mit Wähleranteilen zwischen 40 und 50% dank des Majorzwahlrechts eine komfortable absolute Mehrheit im Nationalrat hatte und im Bundesrat sechs Sitze beanspruchte, führte um die Jahrhundertwende zu gemeinsamen Aktionen der weltanschaulich stark verschiedenen «Minderheitsparteien». Ein heterogenes Bündnis aus Sozialdemokraten und Katholisch-Konservativen sowie vereinzelten Demokraten, Liberalen und Reformiert-Konservativen lancierte zwei Volksinitiativen, die sich gegen die Dominanz des Freisinns in den Bundesbehörden richteten und die Proporzwahl des Nationalrates sowie die Volkswahl des auf neun Mitglieder zu erweiternden Bundesrates forderten. Die beiden Vorlagen kamen 1900 vors Volk. Nach einem leidenschaftlichen Abstimmungskampf wurde die Proporzinitiative mit 59,1% und die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates mit 65% Nein-Stimmen abgelehnt. Immerhin 9,5 Stände stimmten der Proporzinitiative aber zu und die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates erreichte Ja-Mehrheiten in den Kantonen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Fribourg, Glarus, Zug, Tessin und Wallis. Ebenso spannte das Bündnis 1902 bei einer Bundesratsergänzungswahl zusammen. Gegen den von der FDP portierten Zürcher Demokraten Forrer nominierte die Sozialpolitische Gruppe den Glarner Landammann und Nationalrat Eduard Blumer, dessen Glarner Demokraten ausserhalb der FDP standen. Die Katholisch-Konservativen stellten keinen eigenen Kandidaten auf, sondern votierten zusammen mit der sozialpolitischen Linken und den Sozialdemokraten für Blumer, der dadurch mit 70 gegen 113 Stimmen nur relativ knapp gegen Forrer unterlag.

Mit den Erschütterungen um das Ende des Ersten Weltkriegs herum wurde die Zusammensetzung des Bundesrats erneut zum Thema. Bei den Nationalratswahlen 1917 hatte die FDP mit einem Stimmenanteil von 40,8% erneut die absolute Sitzmehrheit im Nationalrat gewonnen, während die SP zwar auf ein Rekordresultat von 30,8% kam, aber aufgrund des Majorzsystems fünfmal weniger Mandate als der Freisinn erhielt. Die Katholisch-Konservativen kamen auf 16,4%, die Liberalen und die Demokraten hatten mit 4,9 bzw. 3,3% nur noch den Status von Kleinparteien. Ein Jahr darauf stand die Abstimmung über die dritte Volksinitiative zur Einführung der Proporzwahl an. Entsprechende Initiativen waren 1900 und, nur noch knapp, 1910 abgelehnt worden. Das politisch heterogene «Aktionskomitee für den Nationalratsproporz» lancierte bereits 1913 die nächste Proporzinitiative, die nach wenigen Monaten eingereicht wurde. In den Beratungen im Frühjahr 1914 lehnten Bundesrat und Parlament auch diesen Vorstoss ab. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wurde die Vorlage dann für vier Jahre auf Eis gelegt und die Volksabstimmung fand erst am 13. Oktober 1918 statt. Das Ergebnis war eine schallende Ohrfeige für Bundesrat und Parlament: 66,8% der Stimmenden und 19,5 Stände stimmten der Vorlage zu. Damit war absehbar, dass die freisinnige Dominanz im Parlament mit den nächsten Wahlen enden würde. Dies verlieh auch den Diskussionen über die Zusammensetzung des Bundesrates Auftrieb, zumal der liberale Genfer Nationalrat Horace Micheli 1916 eine Motion für die Erhöhung der Zahl der Bundesräte auf neun eingereicht hatte.

Wenige Wochen nach der Proporzabstimmung erschütterte die schwerste innenpolitische Krise seit 1848 die Schweiz: der Landesstreik. Der Streikaufruf des Oltener Aktionskomitees nahm ausdrücklich auf die «denkwürdige Abstimmung vom 13. Oktober» Bezug, in der «Demokratie und Volk […] den gegenwärtigen verantwortlichen Behörden des Landes das Vertrauen entzogen» hätten, und forderte die «ungesäumte Umbildung der bestehenden Landesregierung unter Anpassung an den vorhandenen Volkswillen». In der ausserordentlichen Session der eidgenössischen Räte während des Landesstreiks stellte der freisinnige Bundespräsident Felix Calonder eine Regierungsbeteiligung der SP in Aussicht: «Die möglichst rasche Umgestaltung des Bundesrates in einer Weise, dass auch die sozialdemokratische Partei darin eine ihrer Bedeutung entsprechende Vertretung erhält, entspricht durchaus unserer Auffassung. Im Interesse des gesamten Staates und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft sollten die Führer dieser Partei an der Arbeit und an der Verantwortlichkeit der Landesregierung sich beteiligen. Nach der Auffassung des Bundesrates sollte die Mitgliederzahl der eidgenössischen Exekutive so rasch als möglich auf neun erhöht werden.» Einen sozialdemokratischen Antrag auf Einsetzung einer Kommission zur Vorbereitung dieser «Umwandlung des Bundesrates» lehnte das Parlament aber deutlich ab.

Die vorgezogenen Nationalratswahlen vom Oktober 1919 brachten aufgrund der erstmaligen Anwendung des Proporzsystems das erwartete Ende der freisinnigen Mehrheit. Von den bisherigen Regierungsparteien kamen die Freisinnigen auf 28,9% der Stimmen, die Katholisch-Konservativen auf 20,9% und die Liberalen auf 3,8%. Bei den nicht im Bundesrat vertretenen Parteien erhielt die SP 23,5%, die neu entstandenen Bauern- und Bürgerparteien 15,3%, die von der SP abgespaltenen Grütlianer 2,8%, die Demokraten 2% und die EVP 0,8%. Bei den darauffolgenden Bundesratswahlen waren aufgrund der Rücktritte von zwei freisinnigen und des einzigen liberalen Bundesrates drei Sitze neu zu besetzen. Die Sozialdemokraten, in deren Reihen die Ansichten über eine Regierungsbeteiligung gespalten waren, stellten keine eigenen Kandidaten auf. Freisinnige, Katholisch-Konservative und Bauern- und Bürgerparteien einigten sich auf eine gemeinsame Kandidatenliste.

Alle bisherigen Bundesräte wurden wiedergewählt und die beiden bisher freisinnigen vakanten Sitze verblieben bei der FDP – in einem Fall wurde allerdings nicht der parteioffizielle Kandidat gewählt. Der bisherige liberale Sitz ging an die Katholisch-Konservativen – nach dem Verlust der absoluten Mehrheit sahen sich die Freisinnigen gezwungen, den Juniorpartner stärker zu beteiligen. Aus Genfer Kreisen war eine Kampfkandidatur des parteilosen Wirtschaftshistorikers und Diplomaten William Rappard lanciert worden, insbesondere gegen die Kandidatur des weit rechts stehenden Katholisch-Konservativen Jean-Marie Musy. Rappard erhielt bei den Ersatzwahlen für die beiden Westschweizer Sitze die Stimmen der Sozialdemokraten und einiger Linksfreisinniger, blieb aber chancenlos. Für die nächsten zehn Jahre setzte sich somit der Bundesrat aus fünf Freisinnigen und zwei Katholisch-Konservativen zusammen. Die Katholisch-Konservativen gaben ihre antiliberalen Ressentiments aus dem 19. Jahrhundert zwar nicht völlig auf, profilierten sich nun aber in erster Linie als antisozialistisches Bollwerk. Aus der freisinnigen Hegemonie mit katholisch-konservativer Juniorbeteiligung wurde damit mehr und mehr eine Regierung des Bürgerblocks.

Demgegenüber blieb ein als «Linksblock» bezeichnetes potenzielles Bündnis zwischen FDP und SP, über das nach dem Wahlsieg des «Cartel des gauches» aus Radikalen (einer linksliberalen Partei) und Sozialisten in Frankreich 1924 bis Ende der 20er Jahre immer wieder spekuliert wurde, eine Schimäre und hatte keinen Einfluss auf die Bundesratswahlen. Das 1924 beschlossene Arbeitsprogramm der SP forderte die Wahl aller gesetzgebenden und Exekutivbehörden in Bund, Kantonen und Gemeinden, und damit auch des Bundesrates, «durch das Volk, unter Anwendung des Proporzes». Bei den Nationalratswahlen 1928 zog die SP wählermässig erstmals mit der FDP gleich, drei Jahre darauf wurde sie stärkste Partei und sollte diesen Rang bis 1979 ununterbrochen behaupten. Für die Gesamterneuerungswahl des Bundesrates 1928 stellte sie keine eigenen Kandidaten auf, unterstützte aber die Kandidatur des parteilosen Genfer Nationalrats und Rechtsprofessors Paul Logoz für einen vakant gewordenen freisinnigen Sitz. Ab 1929 meldete die SP bei Ersatz- und Gesamterneuerungswahlen dann regelmässig eigene Sitzansprüche an und nominierte teilweise auch Kampfkandidaturen gegen bisherige Bundesräte.

Einen Richtungsentscheid hatte die Bundesversammlung 1929 zu fällen, als zwei der fünf freisinnigen Bundesräte ihre Rücktritte erklärten. Angesichts der massiven arithmetischen Übervertretung des Freisinns meldeten die SP als wählerstärkste Partei wie auch die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerparteien als viertstärkste Kraft Ansprüche an. Der katholisch-konservative Fraktionschef Heinrich Walther, der in jenen Jahren als «Königsmacher» galt, erreichte mit formalen Argumenten, dass zuerst über den «Berner Sitz» abgestimmt wurde. Dieser ging weitgehend unbestritten von der FDP auf die BGB mit Rudolf Minger über. Bei der folgenden Ausmarchung über den «Zürcher» Sitz kam es zum Dreikampf zwischen dem von der FDP portierten demokratischen Regierungsrat und Ständerat Oskar Wettstein, dem sozialdemokratischen Zürcher Stadtpräsidenten und Nationalrat Emil Klöti sowie dem nicht nominierten Nationalrat, FDP-Präsidenten und NZZ-Chefredaktor Albert Meyer. Wettstein lag im ersten Wahlgang in Führung, wurde dann aber von Meyer überholt, der schliesslich im vierten Wahlgang das absolute Mehr erreichte. Anstatt einer Integration der Sozialdemokratie in die Regierungsverantwortung bedeutete diese Wahl also eine Erweiterung und Verfestigung des Bürgerblocks sowie Rechtsverschiebung des Bundesrats. Die Zusammensetzung des Bundesrats für die nächsten anderthalb Jahrzehnte lautete damit vier Freisinnige, zwei Katholisch-Konservative und ein Bauernparteiler.

Wenige Jahre darauf kam es angesichts der internationalen wirtschaftlichen und politischen Krisenakkumulation zu grundlegenderen Umgestaltungsüberlegungen zur schweizerischen Verfassung, die auch den Bundesrat bzw. eine neu zu gestaltende Exekutive miteinbezogen. Mit dem Aufkommen der Fronten, die sich teils am italienischen Faschismus, teils am deutschen Nationalsozialismus, teils an eigenständigen helvetischen Faschismusmodellen orientierten, und der Bewunderung vieler Katholisch-Konservativer für die in den frühen 30er Jahren errichteten korporatistischen Diktaturen in Portugal und Österreich erhielten rechte Fantasien über eine Liberalismus, Parlamentarismus und Parteienpluralismus überwindende autoritäre Neuordnung der Schweiz Auftrieb. Verhandelt wurden solche Ideen unter Schlagworten wie «autoritäre Demokratie» oder «berufsständische Ordnung». Da die Parteien in einem solchen System ohnehin stark an Bedeutung verlieren oder ganz beseitigt und durch berufliche Körperschaften ersetzt werden sollten, spielten Überlegungen zur parteimässigen Zusammensetzung der Regierung darin keine Rolle.

Die Exekutive in einem solchen System sollte von einer starken Führerfigur («Landammann») geleitet werden, der dem Bundesrat (sofern ein solcher überhaupt noch vorgesehen war) vorstehen und direkt vom Volk oder durch die Kantone für längere Zeit gewählt werden sollte. Demgegenüber sollte das Bundesparlament durch berufsständische Strukturen angereichert oder ersetzt oder aber gänzlich abgeschafft werden. Bei rechtskatholischen Planüberlegungen kamen noch theokratische Elemente dazu. So forderte Philipp Etter kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat 1934 den Einbau von «Autoritätskörpern» in die Staatsordnung: «Wenn wir eine ‹autoritäre Demokratie› an die Stelle der liberalen Demokratie setzen […] wollen, dann müssen wir den ersten und letzten, stärksten und mächtigsten Träger der Autorität, den Herrgott, wieder einbauen in den Staat!»

1934 lancierte die Nationale Front eine Volksinitiative für die Totalrevision der Bundesverfassung. Sie verlangte eine Neuwahl des Parlaments sowie die Erarbeitung einer neuen Bundesverfassung. Die Initianten erhofften sich dabei einen Rechtsrutsch bei den Wahlen und eine neue Verfassung im Sinne eines autoritären «Ständestaates». Bei der Abstimmung im folgenden Jahr empfahlen nebst den Initianten, zu denen ausser frontistischen Gruppierungen die rechtskatholisch-korporatistische Aufgebotsbewegung und die Jungkonservativen gehörten, auch die Katholisch-Konservativen und kleinere rechte Gruppierungen Zustimmung. Die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei des Kantons Bern gab Stimmfreigabe. Bundesrat und Parlament sowie FDP und SP gaben die Nein-Parole heraus. Im September 1935 wurde die Revisionsvorlage mit 72,3% Nein deutlich verworfen (s. SozialarchivInfo 5/2020).

Keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundesrates zeitigte andererseits auch die bis 1940 aktive «Richtlinienbewegung». Angesichts der antidemokratischen Umtriebe von Frontist:innen, autoritär gesinnten Rechtsbürgerlichen und Kommunist:innen initiierten Gewerkschaften und Angestelltenverbände 1936 ein Programm zur Verteidigung der Demokratie, Überwindung der Wirtschaftskrise und Schaffung einer neuen Mitte-Links-Mehrheit mit dem Titel «Richtlinien für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Sicherung der Demokratie». Von den Parteien schlossen sich der Richtlinienbewegung die SP, die Demokratischen Parteien verschiedener Kantone, die Jungbauernbewegung, der Freiwirtschaftsbund und die Schaffhauser Bauernpartei an, während die angefragte FDP eine Mitwirkung ablehnte und die Kommunistische Partei abgewiesen wurde. So blieb es während der 30er und frühen 40er Jahre bei weiteren Versuchen der SP, ohne ein lagerübergreifendes Bündnis in den Bundesrat einzuziehen.

Zangengeburt und Gehversuche der Allparteienregierung

Nach dem Scheitern von 1929 trat Emil Klöti noch zwei weitere Male erfolglos als Kampfkandidat für den Bundesrat an, bei einer Ergänzungswahl 1938 und bei der Gesamterneuerungswahl 1939. Weitere SP-Kampfkandidaten dieser Phase waren Henri Perret (Gesamterneuerungswahlen 1931, 1935 und 1943, Ergänzungswahlen 1935 und 1944), Johannes Huber (Ergänzungswahlen 1934 und 1940, Gesamterneuerungswahlen 1935 und 1939), Guglielmo Canevascini (Ergänzungswahl 1940), Gustav Wenk (Ergänzungswahl 1940) und Robert Bratschi (Ergänzungswahl 1940). Bei den Gesamterneuerungswahlen 1935 traten SP-Kampfkandidaten gegen alle sieben bisherigen Bundesräte an, vier Jahre darauf in gedanklicher Vorwegnahme der Zauberformel nur gegen zwei der vier bisherigen Freisinnigen. Als im Verlauf des Jahres 1940 vier Bundesräte zurücktraten, kam es jedes Mal zu einer Kampfwahl, bei der ein SP-Kandidat unterlag.

Bereits nachdem 1938 bei einer Ergänzungswahl das Parlament mit 117 gegen 98 Stimmen relativ knapp dem Freisinnigen Ernst Wetter gegenüber Klöti den Vorzug gegeben hatte, lancierte die SP eine zweite Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates und für die Erhöhung von dessen Mitgliederzahl auf neun. Bei der parlamentarischen Beratung sprach sich der Nationalrat mehrheitlich dafür aus, die Zahl der Bundesräte auf neun zu erhöhen, um ohne Sitzverlust für die anderen Parteien zwei Sozialdemokraten wählen zu können, der Ständerat lehnte dieses Ansinnen aber ab, so dass die Vorlage ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung gelangte. Ausser der SP sprachen sich sämtliche Parteien gegen die Initiative aus. Während Rechtsfreisinnige und Katholisch-Konservative darüber hinaus eine Einbindung der SP in den Bundesrat auch grundsätzlich ablehnten, sprachen sich Jungliberale und viele Freisinnige sowie die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei und der Landesring für eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung aus. Die Initiative, über die mitten im Krieg im Januar 1942 abgestimmt wurde, scheiterte mit 67,5% Nein und Ablehnung in sämtlichen Kantonen deutlich. Sie ebnete aber letztlich doch den Weg für die Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundesrats im folgenden Jahr.

Bei den Parlamentswahlen 1943 war die SP mit 28,6% klar wählerstärkste Partei und gewann elf Mandate im Nationalrat und zwei im Ständerat dazu. Die FDP verlor mit einem Wähleranteil von 22,5% in beiden Kammern je zwei Sitze und stellte in der Bundesversammlung hinter den Katholisch-Konservativen und der SP erstmals nur noch die drittstärkste Fraktion. Dieses Resultat sowie die Kriegssituation ermöglichten nun eine Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates.

Für die Nachfolge des zurücktretenden FDP-Bundesrates Wetter meldeten die Freisinnigen keine Kandidatur an und machten damit den Weg für den ersten sozialdemokratischen Bundesrat frei. Die SP, in deren Führungsgremien der Eintritt in den Bundesrat mit nur einem einzigen Vertreter durchaus kontrovers diskutiert wurde, nominierte für den «Zürcher» Sitz Ernst Nobs, der nach dem Landesstreik noch zu einer vierwöchigen Haftstrafe verurteilt worden war, dann aber als Regierungsrat des Kantons Zürich und Zürcher Stadtpräsident Exekutiverfahrung gesammelt hatte. Zudem trat mit Henri Perret ein weiterer Sozialdemokrat gegen den wegen seiner von vielen als anpasserisch empfundenen Rede nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich vom Sommer 1940 immer noch umstrittenen FDP-Magistraten Marcel Pilet-Golaz an, machte über seine Partei hinaus aber kaum Stimmen. Hingegen schaffte der ehemalige Bürgerschreck Nobs die Wahl gleich im ersten Wahlgang, obwohl zahlreiche Deutschschweizer Freisinnige die Stimme für ihren Parteikollegen Theodor Gut (senior) einlegten. Der Bundesrat setzte sich damit neu aus drei Freisinnigen, zwei Katholisch-Konservativen und je einem Vertreter von BGB und SP zusammen, womit die FDP im Gremium erstmals die absolute Mehrheit verlor.

Das «Volksrecht» bezeichnete anderntags den 15. Dezember 1943 als Tag, «der einen neuen Abschnitt unserer politischen Geschichte einleitet»: «Heute zieht nun ein Sozialist in den Bundesrat ein mit grundsätzlich andern Konzeptionen von Staat und Wirtschaft und ihrer gegenseitigen Abgrenzung. Bisher waren ausschliesslich Anhänger der bürgerlichen Ordnung im Bundesrat, jetzt sitzt in seiner Mitte ein grundsätzlicher Gegner» (Volksrecht, 16.12.1943). Zugleich betonte das Parteiblatt aber, dass der Anspruch der SP auf zwei Bundesratssitze nach wie vor nicht erfüllt sei.

Als ein Jahr später Pilet-Golaz seinen Rücktritt einreichte, nachdem er als Aussenminister mit dem Versuch der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion kläglich gescheitert war, trat die SP erneut mit Perret an. Weitere Kampfkandidaturen kamen von den Liberalen sowie vom Landesring, für den William Rappard nach einem Vierteljahrhundert zum zweiten Mal als Bundesratskandidat ins Rennen ging. Gewählt wurde aber mit den meisten Stimmen der bürgerlichen Regierungsparteien bereits im ersten Wahlgang der FDP-Kandidat Max Petitpierre. Im selben Jahr reichte der demokratische Nationalrat Albert Maag eine Motion für die Erhöhung der Mitgliederzahl des Bundesrats auf neun ein. Bei den Gesamterneuerungswahlen 1947 erhob die SP bei der Ersatzwahl für den zurückgetretenen Bundesrat Walther Stampfli erneut mit einer Kampfkandidatur Anspruch auf den dritten FDP-Sitz, scheiterte jedoch abermals.

Als am Ende der folgenden Legislaturperiode Ernst Nobs seinen Rücktritt erklärte, war der einzige SP-Sitz unbestritten. Bereits im ersten Wahlgang wurde der offizielle Kandidat, der Wirtschaftsprofessor und ehemalige Gewerkschaftsfunktionär Max Weber, dessen Nachlass sich heute im Sozialarchiv befindet, zum Bundesrat gewählt. Relativ viele Stimmen gingen indessen an den späteren SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi. Webers Stigma war seine Dienstverweigerung, zu der sich der Aktivdienstler des Ersten Weltkriegs 1930 unter dem Eindruck einer Besichtigung immer noch völlig verwüsteter ehemaliger Schlachtfelder in Frankreich entschlossen hatte. Sein Gesuch um Wiedereingliederung in die Armee wurde 1940 von General Guisan abgewiesen und in der Folge tat er mit einem selbstgekauften Karabiner in der Ortswehr Aktivdienst. Im Vorfeld der Bundesratswahl wurde Webers alte Dienstverweigerung von bürgerlichen Gegnern als Argument gegen ihn ins Feld geführt.

Nachdem Weber am Morgen des 13. Dezember 1951 in den Bundesrat gewählt worden war, hielt er am Nachmittag regulär seine Vorlesung an der Uni Bern. Mit dem Finanzdepartement übernahm er ein Schlüsselressort. 1953 legte er den Entwurf für eine kompliziert austarierte und von Kompromisslösungen geprägte Bundesfinanzreform vor, die trotz bürgerlicher Vorbehalte gegen die Verstetigung der direkten Bundessteuer das Parlament passierte. In der von Vorort und Gewerbeverband herbeigeführten Referendumsabstimmung kam das Reformwerk aber zu Fall. Daraufhin reichte Weber den Rücktritt ein.

Nach der überraschenden Demission des Finanzministers ging die SP freiwillig in die als «Jungbrunnen» bezeichnete Opposition und gab dann die Devise «zwei Sitze oder keinen» aus. Bei der Wahl von Webers Nachfolge besiegte der Freisinnige Hans Streuli im zweiten Wahlgang den Christlichsozialen Emil Duft, womit die Freisinnigen wieder die absolute Mehrheit im Bundesrat und doppelt so viele Bundesräte wie die Katholisch-Konservativen hatten – dies, obwohl die Sozialdemokraten wählerstärkste Partei waren und die Katholisch-Konservativen dank ihrer starken Vertretung im Ständerat die grösste Fraktion in der Vereinigten Bundesversammlung stellten. Die Kluft zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen, die sich bereits bei der Wahl eines freisinnigen Bundeskanzlers 1951 aufgetan hatte, vergrösserte sich dadurch noch mehr.

Es war nun vor allem Martin Rosenberg, der Generalsekretär der Katholisch-Konservativen und langjährige Bundeshausredaktor des Parteiblatts «Vaterland», der eine wahltaktische Annäherung seiner Partei an die SP zwecks Beendigung der freisinnigen Übermacht herbeiführte. In einem ersten Schritt und gemäss einer Absprache zwischen Katholisch-Konservativen und Sozialdemokraten ausdrücklich nur als Übergangsphase sollte im Bundesrat die Parität zwischen den beiden grossen bürgerlichen Parteien herbeigeführt werden. Dies gelang 1954, als zwei freisinnige und ein katholisch-konservativer Bundesrat vorzeitig zurücktraten. In der Ersatzwahl für den einen vakanten Sitz der Freisinnigen setzte sich der Katholisch-Konservative Giuseppe Lepori im zweiten Wahlgang mit SP-Unterstützung gegen den Freisinnigen Alfred Schaller durch. Damit setzte sich der Bundesrat neu aus je drei Freisinnigen und Katholisch-Konservativen und einem Vertreter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei zusammen.

Der magische Moment

Die Gelegenheit für eine Neuordnung der parteimässigen Zusammensetzung des Bundesrates ergab sich bei den Gesamterneuerungswahlen 1959, als sich alle drei katholisch-konservativen Bundesräte sowie der Freisinnige Streuli nicht zur Wiederwahl stellten. Aus den vorangegangenen Parlamentswahlen waren erneut die Sozialdemokraten als wählerstärkste Partei hervorgegangen, während in der Bundesversammlung die Fraktionen der Freisinnigen und der Katholisch-Konservativen, die sich im Zeichen einer gewissen Öffnung zur Mitte hin nun Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei nannten, mit je 64 Vertretern am stärksten waren. Nach den Diskussionen der vorangegangenen Jahre war in der Presse zum Teil bereits von der «bekannten Formel 2 : 2 : 2 : 1» die Rede. Die NZZ erwähnte drei Wochen vor der Wahl sogar eher spöttisch «die seit Jahren herumgebotene magische Formel 2 : 2 : 2 : 1» (NZZ, 26.11.1959). Gegner dieser Zusammensetzung des Bundesrates schrieben über eine Woche vor den Wahlen noch in Anführungszeichen von der «Zauberformel» (NZZ, 7.12.1959), wobei die Anführungszeichen kurz vor dem Wahltag teilweise bereits verschwanden (Die Tat, 15.12.1959).

Die SP nominierte den Zürcher Stadtrat und Ständerat Willy Spühler sowie den Schaffhauser Stadtpräsidenten und Nationalrat Walther Bringolf. Aus Kreisen des Rechtsfreisinns und des Vororts wurde der freisinnige Chefbeamte Hans Schaffner, der in den Vormonaten eine wesentliche Rolle in den Vorverhandlungen zur Errichtung der Europäischen Freihandelszone EFTA gespielt hatte, als «überparteiliche» Kandidatur lanciert, wobei das geplante Überraschungsmanöver bereits geraume Zeit vor dem Wahltag publik wurde. Während Spühler in bürgerlichen Kreisen guten Rückhalt besass, war Bringolf als ehemaliger Kommunist auch für viele Bürgerliche, die den Zweieranspruch der SP grundsätzlich anerkannten, unwählbar.

Bringolf war kurz nach dem Landesstreik der SP beigetreten und in Schaffhausen rasch zu deren Wortführer aufgestiegen. Bei der Parteispaltung 1921 trat unter seinem Einfluss als schweizerisches Unikum der grösste Teil der Schaffhauser SP in die Kommunistische Partei über. 1925 wurde Bringolf erstmals in den Nationalrat gewählt. Hier erregte er 1930 Aufsehen, als er den katholisch-konservativen Ratskollegen Ruggero Dollfus während einer Debatte zum Drogenhandel als Lügner titulierte und daraufhin von diesem eine Ohrfeige empfing. Ruggero beschimpfte Bringolf dann auch noch als «Tier», dieser seinen Kontrahenten als «Feigling» und revanchierte sich in der folgenden Sitzungspause ebenfalls mit einer Ohrfeige. Es war dies der wohl grösste Zusammenstoss zwischen zwei Parlamentariern, seit sich Ende 1848 der liberale Zürcher Nationalrat Rudolf Benz und sein radikaler Tessiner Ratskollege Giacomo Luvini im Anschluss an eine asylpolitische Debatte mit Säbeln duelliert hatten.

Ebenfalls 1930 entfremdete sich Bringolf zunehmend vom parteioffiziellen Kommunismus sowjetischer Prägung. Die von der Kommunistischen Internationale proklamierte «Sozialfaschismus»-These, gemäss der die Sozialdemokratie als angebliche «Hauptstütze» der Bourgeoisie von den Kommunisten trotz der faschistischen Gefahr vordringlich zu bekämpfen sei, lehnte er ab und wurde deswegen von Stalin nach Moskau zitiert und gerüffelt (s. SozialarchivInfo 2/2024). Nach seiner Rückkehr schloss er sich der antistalinistischen «Kommunistischen Partei-Opposition» an, die nun die stärkste linke Kraft in Schaffhausen wurde und 1935 in die SP zurückkehrte. Bringolf wurde 1932 Schaffhauser Stadtpräsident (bis 1968!), 1952 Präsident der SP Schweiz und entschiedener Gegner jeglicher totalitären Einflüsse von aussen. Im Zweiten Weltkrieg gehörte er der antidefätistischen Geheimorganisation «Aktion nationaler Widerstand» an, im frühen Kalten Krieg befürwortete er eine atomare Bewaffnung der Schweizer Armee (s. SozialarchivInfo 3/2022).

Die Bundesratswahl vom 17. Dezember 1959 vollzog sich unter Hochspannung. Diese widerspiegelt sich auch in der Zeitungsausschnittsammlung des Sozialarchivs. An den Vortagen hatte die Presse immer wieder über Strategiediskussionen in den Fraktionen, historische Präzedenzen und Winkelzüge hinter den Kulissen berichtet und ihre Artikel mit süffigen Schlagzeilen versehen: «Kritische Verwirrung um die Bundesratswahlen» (Neue Zürcher Nachrichten, 8.12.1959), «Schwierigkeiten» (National-Zeitung, 9.12.1959), «Wahlen mit Qualen…» (Berner Tagwacht, 11.12.1959), «Lage weiterhin ungeklärt – Die grosse Konfusion im Vorbereitungsstadium der Bundesratswahlen» (Tages-Anzeiger, 12.12.1959), «Bundesratswahl im Zwielicht» (National-Zeitung, 12./13.12.1959), «Zum Nervenkrieg rund um die Bundesratswahlen» (Volksrecht, 15.12.1959). Einen gewissen Kontrapunkt setzte die «Weltwoche», die unter dem Titel «Möchtest Du Bundesrat sein?…» die massive Arbeitsüberlastung der Bundesräte thematisierte (Weltwoche, 11.12.1959).

Vom Beginn des Wahltages berichtete die NZZ: «In herrlicher Klarheit hebt sich die silbergraue Silhouette der Berner Alpen vom blauen Morgenhimmel ab und präsentiert sich den Parlamentariern, die frühzeitig zum Bundeshaus streben, in strahlender Schönheit. Vor den Eingängen zur Publikumstribüne drängt sich eine Menschenmasse, die nur durch ein grosses Polizeiaufgebot davon überzeugt werden kann, dass die Tribünen für einen solchen Tag viel zu klein sind und dass sich die Besucher mit Vorteil in eines der öffentlichen Lokale der Stadt begeben, wo Fernsehübertragungen auch den Abwesenden Gelegenheit zum Miterleben dieses politischen Staatsaktes bieten» (NZZ, 17.12.1959). Tatsächlich wurde die Bundesratswahl 1959 erstmals live in Radio und Fernsehen übertragen. In Zürich gab es sogar ein «Public Viewing», das vom Publikum regelrecht überrannt wurde. Die Fernsehübertragung konnte im Kongresshaus mittels Grossbildprojektion des Schweizer «Eidophor»-Systems verfolgt werden. Rund 2’000 Personen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, wobei dem «Volksrecht»-Reporter die «Anwesenheit vieler fraulicher Elemente» auffiel, «die sich ebenfalls für die Vorgänge interessierten» (Volksrecht, 18.12.1959). Zahlreiche weitere Interessierte, darunter ganze Schulklassen, mussten wegen Überfüllung an den Pforten abgewiesen werden.

Nach Eröffnung des Wahlprozederes wurden zunächst die drei Bisherigen Max Petitpierre (FDP), Paul Chaudet (FDP) und Friedrich Traugott Wahlen (BGB) mit Glanzresultaten bestätigt. Bei der Ersatzwahl für den Katholisch-Konservativen Philipp Etter setzte sich dessen Parteikollege Jean Bourgknecht bereits im ersten Wahlgang gegen zwei starke Parteirivalen durch. Der fünfte, bisher vom Freisinnigen Streuli gehaltene Sitz ging ebenfalls bereits im ersten Wahlgang an Willy Spühler, der sich mit 149 von 226 gültigen Stimmen deutlich gegen verschiedene Sprengkandidaturen durchsetzte. Bei der Ersatzwahl für den sechsten, bisher vom Katholisch-Konservativen Thomas Holenstein gehaltenen Sitz reüssierte dessen Parteikollege Ludwig von Moos im ersten Wahlgang gegen dieselben Parteirivalen, die bereits bei der Wahl Bourgknechts viele Stimmen erhalten hatten.

Damit kam es bei der Ersatzwahl für den siebten, bisher vom Katholisch-Konservativen Giuseppe Lepori gehaltenen Sitz zum Showdown. Entsprechend den Absprachen von 1954 gaben die Katholisch-Konservativen diesen Sitz kampflos ab und unterstützten den Anspruch der SP, hatten aber zugleich grosse Mühe mit der Kandidatur Bringolf. Die Freisinnigen hatten sich zum Zweieranspruch der SP nicht eindeutig geäussert. Die BGB-Fraktion beschloss vorgängig Unterstützung von Spühler und Stimmfreigabe in Bezug auf die Kandidatur Bringolf.

Im ersten Wahlgang lag der freisinnige Sprengkandidat Hans Schaffner mit 84 Stimmen an der Spitze, hinter ihm folgte der sozialdemokratische Basler Regierungsrat und Ständerat Hans-Peter Tschudi mit 73 Stimmen und erst an dritter Stelle der offizielle SP-Kandidat Bringolf mit 66 Stimmen. Auch der zweite Wahlgang brachte noch keine Entscheidung, es schwenkte nun aber ein beträchtlicher Teil der SP-Fraktion von Bringolf auf Tschudi um. Nun stand Tschudi mit 107 Stimmen an der Spitze. Schaffner erhielt 91 und Bringolf nur noch 34 Stimmen. Bringolf gab daraufhin eine Verzichtserklärung ab. Im dritten Wahlgang setzte sich Tschudi mit 129 Stimmen gegen Schaffner mit 97 Stimmen durch, womit die von Rosenberg angestrebte Parität der drei grossen Parteien und die von der SP geforderte Zweiervertretung Realität wurden. Schaffner sollte dann bereits im Juni 1961 als offizieller FDP-Kandidat bei einer Ersatzwahl in den Bundesrat gewählt werden.

Die NZZ bedauerte Schaffners Nichtwahl und lamentierte, die «Zauberformel» sei «von der konservativen und der sozialdemokratischen Gruppe dekretiert und diktiert» worden, «und die übrigen Fraktionen konnten sich lediglich darüber schlüssig werden, ob sie Dekret und Diktat annehmen oder verwerfen wollten» (NZZ, 19.12.1959). Das «Volksrecht» begrüsste dagegen, dass «das freisinnig-liberalkonservativ-landesringliche Sprengmanöver mit der Kandidatur Schaffner» gescheitert war und jubelte: «Wieder einmal mehr hat sich der Freisinn durch seinen Sesselhunger zu einem Manöver verleiten lassen, das ihn in die politische Niederlage führen musste» (Volksrecht, 18.12.1959). Bringolfs Nichtwahl und das Wahlverhalten der SP-Fraktion gaben parteiintern allerdings unmittelbar nach dem Wahltag einiges zu reden und Bringolf kündigte zunächst sogar seinen unverzüglichen Rücktritt als Parteipräsident an, machte dann aber bis 1962 weiter. Der Begriff «Zauberformel» bzw. «formule magique» wurde nun rasch zu einem Schlüsselwort im helvetischen Politvokabular.

Entwicklung, Erschütterungen und Neujustierung der Zauberformel

Bis in die 90er Jahre blieb die Zauberformel von 1959 weitgehend unbestritten und entsprach den Stimmenanteilen der Parteien bei den Nationalratswahlen, wo jeweils SP, FDP und KCVPS (ab 1970: CVP) auf je rund 20% und die BGB (ab 1971: SVP) auf rund 10% kamen. Kritik am «Machtkartell» der vier Grossen gab es indessen immer wieder. So nahm der parteilose Nationalrat und streitbare Geschichtsprofessor Marcel Beck 1965 eine Ersatzwahl zum Anlass einer Fundamentalkritik am Wahlsystem. Zwei Kampfkandidaturen der Liberalen Partei bei Ersatzwahlen 1962 und 1965 blieben chancenlos. Beim Landesring, der bei den Wahlen 1967 mit einem Stimmenanteil von 9,1% in Greifnähe zur BGB (11%) aufrückte, war eine Regierungsbeteiligung sporadisch ein Thema. So warb Nationalrat Franz Jaeger in den 70er Jahren zuweilen für eine Mitte-Links-Koalition aus SP, CVP und Landesring, die zu jener Zeit eine knappe Parlamentsmehrheit gehabt hätte, und die Verbannung von FDP und SVP in die Opposition. Nach 1944 lancierte der Landesring aber erst 1989, als die Partei stimmenmässig schon seit geraumer Zeit auf dem absteigenden Ast war und aufgrund ihres ökoliberalen Kurses von der sie finanzierenden Migros zunehmend weniger Geld erhielt, wieder eine erfolglose Kampfkandidatur.

Zwar scheiterten mehrfach offizielle Kandidaturen der Bundesratsparteien. Das Parlament wählte in solchen Fällen aber andere Personen aus der innerhalb der Logik der Zauberformel anspruchsberechtigten Partei. Dies war etwa 1973 bei den Ergänzungswahlen für gleich drei Sitze der Fall, als je ein offizieller Kandidat der SP, FDP und CVP gegenüber nicht nominierten Parteikollegen das Nachsehen hatten. In den meisten Fällen führte dies zu keinen Erschütterungen der Zauberformel, wohl aber zum allmählichen Übergang von den bis in die 80er Jahre üblichen Einer- zu Zweier- oder Dreiertickets.

Dynamik in die Nichtwahl offizieller Kandidaturen und Erschütterungen der Zauberformel brachte dann ab den 80er Jahren zunächst deren Verknüpfung mit der Geschlechterfrage. Im Jahr 1983 wählte die Vereinigte Bundesversammlung nach einer konspirativen «Nacht der langen Messer» statt der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen, die die erste Frau im Bundesrat gewesen wäre, Otto Stich. Dies führte bei der SP zu einer heftigen Debatte über die eigene Bundesratsbeteiligung. Ein ausserordentlicher Parteitag beschloss im Februar 1984 schliesslich mit 773 gegen 511 Stimmen den Verbleib im Bundesrat, verbunden allerdings mit der Ankündigung von Parteipräsident Helmut Hubacher, die SP werde in Zukunft «schampar unbequem» sein.

1984 wurde dann mit der Freisinnigen Elisabeth Kopp die erste Frau in den Bundesrat gewählt. Nach deren skandalbehaftetem Rücktritt 1989 standen für die Nachfolge bei den Freisinnigen ausschliesslich Männer zur Debatte. Dies führte ausserhalb der Logik der Zauberformel zur Kandidatur der Landesring-Ständerätin Monika Weber, die aber keine Chance hatte.

1993 wählte die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat, der seit 1989 wieder ein reines Männergremium war, anstelle der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner Francis Matthey, der aber auf Druck seiner Partei und einer grossen ausserparlamentarischen Mobilisierung verzichtete. Die Wahlwiederholung mit dem SP-Zweierticket Christiane Brunner und Ruth Dreifuss nahm eine starke Minderheit bürgerlicher Parlamentarier:innen zum Anlass der Lancierung einer Sprengkandidatur der freisinnigen Nationalrätin Vreni Spoerry, die im ersten Wahlgang 54 Stimmen erhielt, dann aber erklärte, nicht zur Verfügung zu stehen. Unmittelbar danach reichte SP-Nationalrat Andrea Hämmerle einen Vorstoss für die Volkswahl des Bundesrates nach dem Proporzsystem mit Frauenquote und Minderheitenschutz ein. Die Nichtwahl von Christiane Brunner zog auch eine Volksinitiative nach sich, die unter anderem auf die Zusammensetzung des Bundesrats abzielte. Die von einem überparteilichen Komitee lancierte Initiative «für eine gerechte Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden (Initiative 3. März)», die dann als «Quoteninitiative» diskutiert wurde, forderte Frauenquoten für Regierung, Parlament und Bundesgericht. Für den Bundesrat wollte sie ein Minimum von drei Frauen vorschreiben. Bei der Abstimmung im Jahr 2000 erlebte diese Vorlage mit 82% Nein-Stimmen ein Fiasko.

Ab den 90er Jahren wurde das Phänomen koordinierter Proteststimmen für Personen in- oder ausserhalb der in der Logik der Zauberformel anspruchsberechtigten Partei häufiger. Diese in der Regel 10 bis 20 Stimmen gingen oft an Personen, die es entweder nicht aufs Ticket ihrer Partei geschafft hatten oder bereits bei früheren Bundesratswahlen einmal im Gespräch gewesen waren. Parallel zu Attacken gegen die Sozialpartnerschaft im Bereich der Arbeitsbeziehungen gab es seitens rechtsbürgerlicher Kreise nun aber auch Versuche, die Zauberformel zu Lasten der SP zu knacken. 1995 lancierte der Zürcher Freisinn für die Nachfolge von Otto Stich die Kandidatur von Vreni Spoerry, unterlag damit in der eigenen Fraktion aber knapp und erhielt von den anderen bürgerlichen Bundesratsparteien offiziell keine Unterstützung. Dennoch machte Spoerry im ersten Wahlgang 65 Stimmen und landete auf dem zweiten Platz, noch vor einem der zwei offiziellen SP-Kandidaten. Erst nach dem dritten Wahlgang schied sie aus dem Rennen aus.

Nachhaltig erschüttert wurde die 1959er Zauberformel durch Veränderungen der Stimmenstärken während der 90er Jahre, die sich erst nach der Jahrtausendwende in einer neuen Proportion wieder etwas stabilisierten. Bis 1999 stieg die SVP von 10% auf über 20% an, während die CVP auf unter 15% abstürzte. Als die SVP 1999 erstmals knapp vor der SP wählerstärkste Partei wurde, erhob sie mit Berufung auf die Zauberformel Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz, attackierte dann aber bei den Gesamterneuerungswahlen entgegen der Logik der Zauberformel mit ihrem Kampfkandidaten Christoph Blocher nicht einen der beiden CVP-Sitze, sondern erfolglos die beiden bisherigen SP-Bundesrät:innen. Ein weiterer SVP-Versuch, die Zauberformel zu knacken, erfolgte 2002 bei der Ersatzwahl für Ruth Dreifuss, als SVP-Kampfkandidat Toni Bortoluzzi gegen die beiden SP-Kandidatinnen über vier Wahlgänge im Rennen blieb.

Eine Neukalibrierung der Zauberformel erfolgte nach den eidgenössischen Wahlen 2003, die die Tendenz der vorangegangenen zwei Wahlen bestätigten. Entsprechend der Zauberformel-Logik, dass den drei wählerstärksten Parteien zwei und der viertstärksten Partei ein Bundesratssitz zustehe, wählte das Parlament die bisherige CVP-Bundesrätin Ruth Metzler ab und ersetzte sie durch den SVP-Vertreter Christoph Blocher. Diese neue Zauberformel hielt aber zunächst nur für vier Jahre und vermochte fortgesetzte Turbulenzen um die Verteilung der Bundesratssitze nicht nachhaltig zu beruhigen.

Nach den eidgenössischen Wahlen 2007, bei der die SVP einen stark auf Bundesrat Blocher personalisierten Wahlkampf geführt hatte, landete bei der Gesamterneuerungswahl des Bundesrates eine konspirative Mitte-Links-Allianz einen Überraschungscoup und wählte für den zweiten SVP-Sitz statt Blocher die Bündner SVP-Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf, die nach einem Tag Bedenkzeit die Wahl annahm. Dieser formal in der Logik der Zauberformel-Arithmetik verlaufende, aber dennoch einmalige Vorgang führte zum vorläufigen Ende der neuen Zauberformel. Die SVP hatte zuvor Mitgliedern, die eine Wahl ohne Nomination durch die Partei annähmen, den «Ausschluss» aus der Fraktion angedroht. Dieses Verdikt traf nun nicht nur Widmer-Schlumpf, sondern auch den vor ihr gewählten Samuel Schmid, der gegen den Willen der Partei die Wiederwahl annahm. Schmid war im Jahr 2000 ohne Nomination durch seine Partei gegen das offizielle SVP-Zweierticket gewählt und dann zunächst aus Kreisen seiner Partei als «halber» SVP-Bundesrat geschmäht worden. Nach der Wahl Blochers 2003 erfolgte seine semantische Aufwertung zum «ganzen» Bundesrat, unmittelbar nach der Bundesratswahl 2007 bezeichnete ihn die Parteileitung dann als «fraktionslosen» Bundesrat und einige Wochen darauf als «so gut wie klinisch tot».

Die Turbulenzen um die Blocher-Abwahl hatten Weiterungen. So wurde unter anderem die SVP Graubünden wegen ihrer Weigerung, Widmer-Schlumpf auszuschliessen, ihrerseits aus der SVP Schweiz ausgeschlossen. 2008 nahm die SVP Schweiz eine umstrittene Klausel in ihre Statuten auf, wonach nicht von der Fraktion nominierte Kandidat:innen bei einer Wahlannahme automatisch aus der Partei ausgeschlossen werden. Auch entstand mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei eine neue politische Kraft, der sich Widmer-Schlumpf und Schmid anschlossen. Zum ersten Mal seit 1959 war damit die wählerstärkste Partei nicht mehr im Bundesrat vertreten, dafür eine Kleinpartei gleich mit zwei Personen und die Zauberformel ausser Kraft gesetzt.

Bei der folgenden Serie von Bundesratswahlen versuchte die SVP den Wiedereinzug in die Regierung. Bereits 2008 trat Samuel Schmid zurück. In der Ersatzwahl war der Anspruch der SVP ausser seitens der mit einem eigenen Kandidaten antretenden Grünen unbestritten, das aus Christoph Blocher und Ueli Maurer bestehende Zweierticket stiess bei vielen Parlamentsmitgliedern aber auf wenig Begeisterung und Maurer setzte sich im dritten Wahlgang nur mit einer Stimme Vorsprung gegen den nicht nominierten Bauernverbandspräsidenten Hansjörg Walter durch, der in den ersten beiden Wahlgängen in Führung lag, aber auf Druck seiner Partei vorgängig erklärt hatte, eine eventuelle Wahl abzulehnen.

Bei der nächsten Ergänzungswahl 2009 für die Nachfolge des freisinnigen Pascal Couchepin entbrannte die Interpretationsfrage, ob bei der für die Zauberformel massgeblichen Parteistärke der Stimmenanteil oder die Fraktionsgrösse entscheidend seien. Die FDP hatte bei der vorangegangenen Wahl 2007 mit 15,8% gegen 14,5% zwar leicht vor der CVP gelegen, beide hatten aber 31 Nationalratssitze erhalten und im Ständerat war die CVP um einen Sitz stärker. Ebenso war die Fraktion von CVP-EVP-GLP grösser als diejenige von FDP-LPS, und die Rückeroberung des 2003 verlorenen zweiten Bundesratssitzes war 2007 erklärtes CVP-Wahlziel gewesen. Beide Fraktionen nominierten offizielle Kandidaturen. Bei der Wahl setzte sich der freisinnige Didier Burkhalter durch, der vom dritten Platz im ersten Wahlgang zur absoluten Mehrheit im vierten Wahlgang aufstieg und den CVP-Kandidaten Urs Schwaller, der in den ersten drei Wahlgängen an der Spitze lag, auf der Zielgerade überholte.

In den folgenden Jahren versuchte die SVP den zweiten Bundesratssitz mit Kampfkandidaturen zurückzuholen. Bei der Ersatzwahl für den Sozialdemokraten Moritz Leuenberger und den Freisinnigen Hans-Rudolf Merz griff sie 2010 beide Sitze erfolglos mit Jean-François Rime an. Aus dieser Wahl ging erstmals eine Frauenmehrheit im Bundesrat hervor. Rime war im folgenden Jahr auch SVP-Kampfkandidat bei den Gesamterneuerungswahlen und griff sämtliche Sitze von SP, FDP und BDP an. Gegen BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf trat zudem mit Hansjörg Walter noch ein zweiter SVP-Kampfkandidat an. Als 2015 Eveline Widmer-Schlumpf zurücktrat, war der SVP-Anspruch auf diesen Sitz unbestritten. Mit der Wahl von Guy Parmelin wurde die modifizierte Zauberformel von 2003 mit je zwei Sitzen für SVP, SP und FDP und einem für die CVP wiederhergestellt.

Als Reaktion auf die Abwahl Blochers lancierte die SVP 2009 auch die Initiative «Volkswahl des Bundesrates», die 2011 eingereicht wurde und 2013 zur Abstimmung gelangte. Mit 76,3% Nein-Stimmen und Ablehnung in sämtlichen Kantonen scheiterte die Initiative deutlicher als ihre Vorgängerinnen von 1900 und 1942. Als weitere Reformideen tauchten in jenen Jahren die Listenwahl des Bundesrats, eine offene Bundesratswahl mit qualifiziertem Mehr, das Vertrauensvotum durch das Volk, das «Bravo-Sympa-Verfahren» (Volk bestimmt parteimässige Zusammensetzung des Bundesrats, Parlament wählt die Personen) oder das Volksveto (50’000 Stimmberechtigte können gegen das Ergebnis der Bundesratswahl das Referendum ergreifen) auf.

Ab der Jahrtausendwende brachten sich auch mehrfach die Grünen aktiv in die Bundesratswahlen ein. Seit den späten 80er Jahren hatten sie sich mit einem Stimmenanteil von um die 5% im Nationalrat etabliert, nach der Jahrtausendwende nahm dieser trotz der Abspaltung der Grünliberalen im Jahr 2004 auf 7 bis 13% zu und die Grünen gewannen nun auch vereinzelte Ständeratsmandate. Bei der turbulenten Ersatzwahl für SVP-Bundesrat Adolf Ogi stellten die Grünen im Jahr 2000 mit Cécile Bühlmann erstmals eine Kampfkandidatin auf, die bei einem breiten Bewerberfeld mit einem offiziellen SVP-Zweierticket und drei aussichtsreichen inoffiziellen SVP-Kandidaturen im ersten Wahlgang auf beachtliche 54 Stimmen und den zweiten Platz kam und erst nach dem vierten Wahlgang ausschied.

Für die Gesamterneuerungswahl 2007 nominierten die Grünen Ständerat Luc Recordon als Kampfkandidaten gegen Blocher, zogen ihn jedoch zugunsten des Überraschungscoups mit der Wahl Widmer-Schlumpfs zurück. Im folgenden Jahr ging Recordon auch ins Rennen um die Nachfolge von Samuel Schmid gegen das SVP-Zweierticket Blocher/Maurer, machte im ersten Wahlgang aber wenig Stimmen und zog sich dann zugunsten der Sprengkandidatur Walter zurück. 2010 griffen die Grünen bei der Ersatzwahl für Hans-Rudolf Merz den auch von der SVP attackierten zweiten FDP-Sitz mit Brigit Wyss an. Diese machte im ersten Wahlgang mit 57 Stimmen hinter dem SVP-Kampfkandidaten das zweitbeste Resultat und schied dann nach dem dritten Wahlgang aus, nachdem viele linke Stimmen auf die offiziellen FDP-Kandidaturen übergegangen waren.

Eine Intensivierung erlebten die Diskussionen um eine grüne Regierungsbeteiligung durch die Nationalratswahlen 2019, als die Grünen mit einem Stimmenanteil von 13,2% die Einbundesratspartei CVP (11,4%) überholten und nur knapp hinter der Zweibundesratspartei FDP (15,1%) lagen. Hinzu kamen noch 7,8% für die anderthalb Jahrzehnte zuvor abgespaltene GLP sowie der Umstand, dass SVP und FDP, die im Bundesrat die absolute Mehrheit stellten, nur auf einen kombinierten Stimmenanteil von knapp 42% gekommen waren. Das Wahlresultat führte zu angeregten Debatten, bei denen verschiedene originelle Vorschläge für eine neue Zauberformel eingebracht wurden. Je nach Belieben wurden dabei auch unterschiedliche Parteien zusammengezählt, um die arithmetischen Ansprüche einzelner «Lager» zu berechnen. Auch die uralte Idee einer Aufstockung des Bundesrats auf neun Mitglieder zwecks Gewinnung zusätzlicher Manövriermasse tauchte wieder auf, ebenso aber das Argument, dass eine Veränderung der parteimässigen Zusammensetzung des Bundesrats nicht aufgrund eines einmaligen Wahlresultats vorgenommen werden sollte. Die Grünen griffen bei der Gesamterneuerungswahl 2019 mit Regula Rytz den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis an, wurden dabei von der SP unterstützt, unterlagen aber mit 82 gegen 145 Stimmen.

Bei den nächsten Nationalratswahlen fielen die Grünen mit 9,8% der Stimmen wieder auf den fünften Platz zurück, hatten arithmetisch aber damit immer noch den grösseren Anspruch auf einen Bundesratssitz als die FDP auf ihre zwei. Kompliziert wurde die Lage noch durch die Unklarheit, wer als drittstärkste Partei zu gelten habe. Die aus der Fusion von CVP und BDP hervorgegangene Mitte gewann im Nationalrat 29 Mandate gegenüber 28 der FDP. Auch beim Stimmenanteil lag sie mit 14,1% nach dem vorläufigen Endergebnis knapp vorne, bevor derjenige der FDP nachträglich auf 14,3% korrigiert wurde. Im Ständerat lag die Mitte mit 15 gegenüber 11 freisinnigen Mandaten neu deutlich vorne. Vor diesem Hintergrund stellte die Mitte für die Gesamterneuerungswahlen, bei denen nur ein unbestrittener SP-Sitz neu zu besetzen war, keine Kampfkandidaturen auf. Hingegen griffen die Grünen mit Gerhard Andrey beide FDP-Sitze an. Andrey machte gegen Ignazio Cassis beachtliche 59 Stimmen, hingegen nur 15 gegen Karin Keller-Sutter und erhielt zudem im ersten Wahlgang für die Nachfolge von SP-Bundesrat Alain Berset 30 Stimmen.

Die Diskussionen über die zukünftige parteimässige Zusammensetzung des Bundesrates gingen danach weiter. Ihr Ausgangspunkt blieb aber weiterhin die Zauberformel, die mit Erreichen des Rentenalters von 65 immer noch eine gewisse Magie auszustrahlen scheint.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.140.2 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesrats-Ersatzwahlen 1929–1940
  • Ar 1.140.3 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesrat 1931–1966
  • Ar 1.230.10 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesratswahlen 1983
  • Ar 1.230.13+14 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Bundesratswahlen 1993
  • Ar 1.240.1-3 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Volkswahl des Bundesrates
  • Ar 1.734.4 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: SPS Fraktion, Bundesratswahl 2010 (Rücktritt Leuenberger/Wahl Sommaruga)
  • Ar 103.70.2 Weber, Max (1897–1974): Bundesratswahl und Rücktritt, Tod
  • Ar 1038.13.2 Hubacher, Helmut (1926–2020): Bundesratsbeteiligungs-Debatte

Sachdokumentation

  • KS 32/66 Schweizerischer Bundesrat
  • KS 32/67 Schweizerischer Bundesrat
  • KS 34/73 Proporzwahl des Nationalrates; Volkswahl des Bundesrates
  • QS 31.2 Schweizerischer Bundesrat
  • ZA 31.2 Schweizerischer Bundesrat
  • DS 655 Junge Grüne Schweiz: Offener Brief: Kandidatur für den Bundesrat

Bibliothek

  • Altermatt, Urs (Hg.): Die Schweizer Bundesräte: Ein biographisches Lexikon. Zürich/München 1991, Gr 7499
  • Altermatt, Urs (Hg.): Das Bundesratslexikon. Basel 2019, 140755
  • Altermatt, Urs: Vom Unruheherd zur stabilen Republik: Der schweizerische Bundesrat 1848–1875: Teamplayer, Schattenkönige und Sesselkleber. Basel 2020, 144782
  • Altermatt, Urs: Der lange Weg zum historischen Kompromiss: Der schweizerische Bundesrat 1874–1900: Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle. Basel 2021, 146852
  • Altermatt, Urs: Von der freisinnigen Vorherrschaft zum Proporz: Der schweizerische Bundesrat 1900–1919: Bundespräsident als Primus inter Pares und Departementalisierung. Basel 2023, 152587
  • Bircher, Silvio: Wahlkarussell Bundeshaus: Umstrittene Bundesratswahlen und Schweizer Politik. Baden 2007, 118681
  • Böschenstein, Hermann (Hg.): Buch der Freunde: alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen zum 80. Geburtstag am 10. April 1979. Zürich 1979, 64337
  • Brassel, Ruedi et al. (Hg.): Zauberformel: Fauler Zauber? SP-Bundesratsbeteiligung und Opposition in der Schweiz. Basel 1984, 75349
  • Bringolf, Walther: Der Bundesrat ohne Sozialdemokraten. Zürich o. J., Hf 4738
  • Burgos, Elie et al.: La formule magique: Conflits et consensus dans l’élection du Conseil fédéral. Lausanne 2011, 126144
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  • De Pretto, Renato: Bundesrat und Bundespräsident: Das kollegiale Regierungssystem schweizerischer Prägung. Grüsch 1988, 87942
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  • Ebnöther, Christoph: Leitfaden durch das politische System der Schweiz. Zürich 2017, 137803
  • Festschrift Bundesrat H.P. Tschudi: Zum 60. Geburtstag am 22. Oktober 1973. Bern 1973, 51343
  • Fisch, Arnold: Meine Bundesräte: Von Etter bis Aubert. Stäfa 1989, 89043
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  • Gross, Andreas und Fredi Krebs (Hg.): Élections au Consel Fédéral: … pas un show électoral! St-Ursanne 2009, D 6212:6
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  • Gysin, Nicole: Angst vor Frauenquoten? Die Geschichte der Quoteninitiative 1993–2000. Bern 2007, 118226
  • Hämmerle, Andrea: Die Abwahl: Fakten & Figuren. 2. Aufl. Glarus 2011, 125665
  • Kästli, Tobias: Ernst Nobs: Vom Bürgerschreck zum Bundesrat: Ein politisches Leben. Zürich 1995, 97953
  • Keller, Willy (Hg.): Alt Bundesrat Prof. Dr. Max Weber zum 60. Geburtstag am 2. August 1957: Biographische Daten und bibliographisches Verzeichnis seiner wichtigsten Publikationen. Bern 1957, Hf 2357
  • Krebs, Ernst: Die Volkswahl des Bundesrates, mit besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Volkswahl der Exekutive in Stadt und Kanton Zürich: Eine geschichtliche und staatsrechtlich-politische Untersuchung. Zürich 1968, 39296
  • Linder, Wolf: Schweizerische Demokratie: Institutionen, Prozesse, Perspektiven. Bern 1999, 104179
  • Linder, Wolf und Sean Mueller: Schweizerische Demokratie: Institutionen – Prozesse –Perspektiven. 4. akt. Aufl. Bern 2017, 138093
  • Menz, Peter: Der «Königsmacher» Heinrich Walther: Zur Wahl von vierzehn Bundesräten 1917–1940. Fribourg 1976, 58540
  • Metzler-Arnold, Ruth: Grissini & Alpenbitter: Meine Jahre als Bundesrätin. Herisau 2004, 113627
  • Moeckli, Silvano: Der Bundesrat: Das politische System der Schweiz, in Romanform spannend erklärt. Mörschwil 2014, 131472
  • Reber, Arthur Fritz: Der Weg zur Zauberformel: Die Bundesratswahlen der Vereinigten Bundesversammlung seit der Wahl des Nationalrates nach dem Verhältniswahlrecht 1919 bis zur Verwirklichung eines «freien Proporzes» für die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung 1959. Bern/Frankfurt 1979, 65772
  • Rhinow, René: Wie weiter mit dem Bundesrat? Zürich 2011, 124770
  • Richoz, Claude: Paul Chaudet …que nous aimions. Vulliens 1982, Gr 4478
  • Ritz, Adrian et al. (Hg.): Blackbox Exekutive: Regierungslehre in der Schweiz. Basel 2019, 141938
  • Rosenberg, Martin: Sinn und Zweck der «Zauberformel», in: Hartmann, Alois (Hg.): Im Spannungsfeld der Politik: Festgabe für Dr. Martin Rosenberg, Generalsekretär der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei der Schweiz, zu seinem 60. Geburtstag. Luzern 1968. S. 158-162, 38592
  • Schiller, Felix: Die Volkswahl des Bundesrates seit 1848: Ein staatsrechtliches Problem zwischen direkter Demokratie, Parlamentarismus, Föderalismus und dem Schutz von Minderheiten. Zürich 2021, 146238
  • Senti, Martin (Hg.): Konkordanz: Zwischen Arithmetik und Verantwortung. Zürich 2011, N 4376:48
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  • Vatter, Adrian: Der Bundesrat: Die Schweizer Regierung. Basel 2020, 144906
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  • Zumstein, Hansjürg: Die Abwahl: Die Geheimoperation gegen Christoph Blocher. Zürich 2008, DVD 55

Vor 15 Jahren: Die Finanzkrise

Die Vorgänge um die Credit Suisse vor anderthalb Jahren liessen Begriffe wieder auftauchen, die im Jahrzehnt zuvor beinahe alltäglich gewesen waren, etwa «bailout», «temporary public ownership» und vor allem: «too big to fail». Die Finanzkrise, die vor 15 Jahren ihren Höhepunkt erreichte, ist zwar aufgrund der seitherigen Krisenakkumulation bereits ein bisschen in Vergessenheit geraten, viele der damals offenbarten und verschärften Problemlagen sind aber bis heute nicht wirklich bewältigt.

Von der Hypotheken- über die Banken- zur Weltwirtschaftskrise

Wie frühere Wirtschaftskrisen entstand die Finanzkrise aus einer Reihe sich gegenseitig verstärkender Faktoren. Eine wesentliche Ursache war die sogenannte Subprime-Krise im spekulativ aufgeblähten Immobilienmarkt der USA. Beim Subprime-Markt handelte es sich um Hypothekarkredite an Schuldner:innen mit geringer Kreditwürdigkeit. Sein Marktanteil am gesamten Hypothekenmarkt wuchs von knapp 5 Prozent im Jahr 2001 auf über 14 Prozent im Jahr 2006. Über zwei Drittel aller Subprime-Kredite wiesen einen variablen Zins auf und waren also mit einem Zinsänderungsrisiko verbunden. Als Ursachen dieser Immobilienblase gelten etwa die Niedrigzinspolitik im Nachgang des Platzens der Dotcom-Blase von 2000, die laxe Regulierung des amerikanischen Bankensektors, falsche Bewertungen durch Ratingagenturen sowie die steigende Ungleichheit der Einkommensverteilung. Als die amerikanische Zentralbank Anfang 2007 die Leitzinsen leicht erhöhte, flaute der Immobilienboom ab. Bald waren aufgrund der variablen Zinsen viele Hausbesitzer:innen nicht mehr in der Lage, ihre Schulden zu bedienen.

Die Immobilienkredite waren in komplexe, scheinbar sichere Finanzprodukte verpackt und weiterverkauft worden. Dadurch entwickelte sich das Platzen der Subprime-Blase unmittelbar zur Bankenkrise mit internationalen Kettenreaktionen. Im Juni 2007 gingen zwei von der Investmentbank Bear Stearns verwaltete Hedgefonds bankrott. Verstärkt wurde die prekäre Situation durch den Umstand, dass viele Banken mit einem sehr geringen Eigenkapitalanteil arbeiteten, um eine höhere Gewinnquote zu erzielen. In der Krise funktionierte diese «Hebelwirkung» dann in die umgekehrte Richtung. Als Grund für dieses riskante Verhalten wurden in der Krise die gewinnbasierten Bonussysteme der Spitzenmanager:innen kritisiert.

Den Beginn der Finanzkrise markierte der 9. August 2007, als die Zinsen für Interbankfinanzkredite vor allem in den USA, aber auch international sprunghaft anstiegen. Die Wertverluste der Subprime-Kredite verringerten das Eigenkapitel der Banken weiter. Die dadurch erforderlich gewordenen Refinanzierungsbemühungen wurden behindert durch eine abnehmende Risikobereitschaft von Investor:innen und schwindendes gegenseitiges Vertrauen zwischen den Banken. Einen Höhepunkt erreichte diese Krise am 15. September 2008 mit dem Kollaps der amerikanischen Grossbank Lehman Brothers. Kurz darauf mussten die Investmentbanken Goldman Sachs, Merrill Lynch und Morgan Stanley von Geschäftsbanken übernommen werden. Bis Ende 2008 meldeten in den USA 21 Banken Konkurs an und 62 Hedgefonds gingen bankrott. Der Interbankenmarkt kam weltweit praktisch zum Erliegen. Kurzfristig überschüssige Liquidität wurde nicht mehr bei anderen Geschäftsbanken, sondern bei den Zentralbanken angelegt.

Im Verlauf des Jahres 2008 wirkte sich die Finanzkrise zunehmend auf die Realwirtschaft aus, zunächst in den USA, dann in Westeuropa und Japan sowie ab Herbst 2008 weltweit. Zu diesem Zeitpunkt gaben die Aktienmärkte nach dem Rückgang des Vorjahres infolge der Bankenkrise ein zweites Mal stark nach. Am 3. April 2009 schätzte der Internationale Währungsfonds (IWF) die weltweiten Wertpapierverluste infolge der Krise auf vier Billionen Dollar. Zeitgleich kam es auf den Rohstoffmärkten zu starken Preisrückgängen. Die Industrieproduktion in der Eurozone brach vom Frühjahr 2008 bis Frühjahr 2009 um mehr als 20 Prozent ein – ein mit der Grossen Depression der frühen 1930er-Jahre vergleichbarer Absturz. Das reale Bruttoinlandsprodukt der wirtschaftlich entwickelten Länder schrumpfte 2009 um 3,4 Prozent.

Fast überall auf der Welt führte die Finanzkrise zur Rezession oder einem deutlich abgeschwächten Wirtschaftswachstum. Der globale Warenhandel verringerte sich zwischen 2008 und 2009 um 12,4 Prozent. Auch auf den Arbeitsmärkten schlug sich die Krise nieder. War in der Europäischen Union die Arbeitslosenquote 2004 bis 2008 von 9,3 auf 7 Prozent gesunken, so stieg sie nun wieder an auf 9 Prozent im Jahr 2009 und 10,9 Prozent im Jahr 2013. Erst dann drehte der Trend erneut und ging die Arbeitslosenquote bis 2017 auf 7,6 Prozent zurück. In den USA stieg die Arbeitslosenquote von 4,6 Prozent im Jahr 2007 auf 9,6 Prozent im Jahr 2010 (den höchsten Stand seit 1982/83) an und ging dann bis 2016 sukzessive auf 4,9 Prozent zurück. Viele Menschen in den USA verloren ihr Haus und ihre Ersparnisse.

Die Länder, welche aufgrund der Finanzkrise zwar Wachstumseinbrüche verzeichneten, aber nicht in eine Rezession stürzten, lagen mehrheitlich in Afrika. Parallel zur Finanzkrise entfaltete sich aber auch eine Nahrungsmittelpreiskrise, die 2007/08 ihren Höhepunkt erreichte und auch mit dem im Zuge der Finanzkrise verstärkten Wechsel zu Grundnahrungsmittelspekulationen in Verbindung gebracht wurde. Andere ökologische, demografische, kulturelle und wirtschaftliche Ursachen standen nicht direkt mit der Finanzkrise im Zusammenhang. Verschiedene Grundnahrungsmittel, deren Preise sich bereits von 2002 bis 2004 verdoppelt hatten, verteuerten sich bis 2008 weiter. So verdreifachten sich 2005 bis 2008 die Preise von Reis, Mais, Weizen und Sojabohnen. Dies hatte insbesondere in Teilen Asiens und im subsaharischen Afrika gravierende Auswirkungen. Nach Schätzungen der UNO-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO stieg die weltweite Zahl der Hungernden in der Krise bis 2009 um 75 bis 100 Millionen auf eine Milliarde Menschen.

Am schärfsten im Vergleich zur Bevölkerungszahl war die Krise in Island. Seit der Jahrtausendwende hatten die drei grossen Geschäftsbanken dieses Landes stark ins Auslandsgeschäft expandiert. So hatte die zur grössten isländischen Bank Landsbanki gehörende Online-Bank Icesave mit Sparangeboten viele Gelder aus Grossbritannien und den Niederlanden angelockt. Im Herbst 2008 konnten die drei Grossbanken aufgrund der Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten ihre kurzfristigen Schulden nicht mehr refinanzieren und wurden unter staatliche Insolvenzverwaltung gestellt. Die isländische Krone verlor massiv an Wert und konnte schliesslich nicht mehr frei gehandelt werden. Die Marktkapitalisierung der isländischen Börse fiel um mehr als 90 Prozent. Bis Ende 2008 verdreifachte sich die Arbeitslosigkeit. Die ausländischen Geschäftsbereiche der drei Grossbanken meldeten Konkurs an, die ausländischen Bankkonten wurden eingefroren, was einen diplomatischen Streit Islands mit Grossbritannien und den Niederlanden nach sich zog. Das isländische Bruttosozialprodukt sank in den ersten sechs Monaten des Jahres 2010 um 5,5 Prozent, das Haushaltsdefizit wuchs 2009 und 2010 auf 10 Prozent des Bruttosozialprodukts und die Staatsschulden erreichten 2011 101 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Die Finanzkrise forderte die Zentralbanken und Regierungen stark. Als «lender of last resort» versorgten die Zentralbanken Finanzinstitutionen mit Liquidität. Ebenso senkten sie zur Stimulierung der Wirtschaft die Leitzinsen sukzessive auf ein rekordniedriges Niveau. Diverse Regierungen griffen Banken mit Finanzspritzen und Bürgschaften unter die Arme und beschlossen Konjunkturpakete. Anfang November 2008 musste die US-Regierung mit der American International Group auch den grössten Versicherungskonzern des Landes mit 150 Milliarden Dollar stützen. Die deutsche Bundesregierung schuf im Oktober 2008 einen Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS) von 100 Milliarden Euro. Verschiedene Banken wurden vorübergehend vollständig oder teilweise verstaatlicht («temporary public ownership»), so in Grossbritannien im Februar 2008 Northern Rock und im Oktober 2008 die Royal Bank of Scotland, in Island im Oktober 2008 die Kaupthing Bank, Landsbanki und Glitnir, in Irland im Januar 2009 die Anglo Irish Bank oder in den Benelux-Staaten im September 2008 die Fortis-Gruppe und im Februar 2013 SNS Reaal. Von 2008 bis 2012 wandten die EU-Staaten zur Rettung ihrer Banken 5,1 Billionen Euro Steuergelder auf. In den USA kostete die Stabilisierung maroder Finanzhäuser in den Krisenjahren 5 Prozent der Wirtschaftsleistung, in Deutschland sogar 12 Prozent.

Auch setzten Bestrebungen ein, zukünftigen Finanzkrisen vorzubeugen. Die EU schuf auf 2011 hin das Europäische Finanzaufsichtssystem mit drei Finanzaufsichtsbehörden für das Bankwesen, das Versicherungswesen und das Wertpapierwesen sowie den «Europäischen Ausschuss für Systemrisiken» zur Früherkennung, Prävention und Bekämpfung von systemischen Risiken innerhalb des EU-Finanzmarktes. 2014 entstand die Europäische Bankenunion mit dem «Einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus», der in der Eurozone eine zentrale Aufsicht der Grossbanken durch die Europäische Zentralbank (EZB) einführte, sowie dem «Einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus» mit Regeln für die geordnete Abwicklung oder Sanierung von illiquiden Banken. Der von den Zentralbanken zahlreicher Länder gebildete «Basler Ausschuss für Bankenaufsicht» legte Ende 2010 einen neuen Empfehlungskatalog («Basel III») für Eigenkapital- und Liquiditätsvorschriften vor. Anders als in der Grossen Depression der 1930er-Jahre, aus der die Wirtschaftstheorie und -politik des Keynesianismus erwuchs (s. SozialarchivInfo 5/2020), und der Ölpreiskrise der 1970er-Jahre, die den Übergang vom Keynesianismus zum Neoliberalismus nach sich zog (s. SozialarchivInfo 4/2023), ging aus der Finanzkrise aber kein neues dominantes Paradigma der Wirtschaftspolitik hervor.

Von der Finanzkrise zur Eurokrise

Ab 2009 entstand aus der Finanzkrise die Eurokrise. Die öffentlichen Schulden der EU-Länder erhöhten sich im Zuge der Krise stark. Von 1996 bis 2007 hatte sich der Schuldenstand insgesamt verringert und betrug 2007 57,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Mit dem Einsetzen der Finanz- und Wirtschaftskrise erhöhte er sich aber über 60,8 Prozent (2008) und 78,9 Prozent (2010) auf 86,5 Prozent im Jahr 2014, um danach bis 2017 auf 81,6 Prozent zurückzugehen. Hinzu kamen strukturelle Ungleichgewichte in der Eurozone mit anhaltend hohen Leistungsbilanzdefiziten in einigen Euro-Ländern und anhaltend hohen Leistungsbilanzüberschüssen in anderen.

Als Beginn der Eurokrise gilt die Offenbarung der neugewählten sozialistischen Regierung Griechenlands im Oktober 2009, dass ihre konservative Vorgängerin in grossem Stil Haushaltsmanipulationen betrieben hatte und die Neuverschuldung im Jahr 2009 statt wie bisher angekündigt 3,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes 12,7 Prozent betragen werde. Daraufhin schossen die Zinsen für griechische Staatsanleihen in die Höhe, was den Schuldendienst verteuerte. Die griechischen Banken hatten anders als etwa in den USA, Irland oder Spanien nicht mit riskanten Immobiliengeschäften Verluste gemacht, gerieten nun aber aufgrund der Staatsschuldenkrise ebenfalls in einen Abwärtssog.

Im April 2010 wurde der erste europäische Hilfsplan für Griechenland verabschiedet. Die langsame Reaktion der EU auf die Griechenlandkrise förderte aber die «Ansteckung» Portugals und Irlands, die nun ihrerseits in einen Abwärtsstrudel gerieten. Im April 2010 stufte die Rating-Agentur Standard & Poor’s Portugal, dessen Haushaltsdefizit 2009 bei 9,4 Prozent lag, dessen Gesamtverschuldung mit 77 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aber nicht übermässig hoch war, als zweites Euro-Land nach Griechenland in seiner Kreditwürdigkeit herab. Damit erhöhten sich die Zinsen, die für neue Staatsanleihen gezahlt werden mussten, was die aktuelle Haushaltskrise verschärfte. Ein massives Sparprogramm der Regierung führte zu einer Protestwelle und 2011 zu einem Regierungswechsel.

In Irland, dessen Staatsverschuldung 2007 lediglich 25 Prozent betrug, führten fallende Immobilienpreise, die Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen sowie ein kaum reguliertes Bankenwesen zu einer Abwärtsspirale. Die umfangreichen staatlichen Massnahmen zur Stützung der Banken liessen die Staatsverschuldung bis 2011 auf 109 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen, worauf die Regierung mit einem Sparprogramm antwortete. Die Rezession in Irland wurde damit durch eine deflationäre Spirale verschärft. 2009 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um über 7 Prozent, die Arbeitslosenzahlen stiegen 2008 bis 2010 von 8 auf über 13 Prozent. Ab Anfang 2010 stuften die Ratingagenturen Irland mehrfach ab, wodurch die Zinsen für Staatsanleihen in die Höhe schossen. Vor diesem Hintergrund bat die irische Regierung im November 2010 die EU und den IWF um Hilfe.

Irland erhielt wie Griechenland und Portugal ein Hilfsprogramm der im Mai 2010 entstandenen, zeitlich befristeten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Als deren Nachfolger wurde 2012 der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) als dauerhafter «Euro-Rettungsschirm» geschaffen, der die EFSF-Programme für Irland (bis 2013) und Portugal (bis 2014) übernahm. Zugleich begann die EZB mit dem Aufkauf von Staatsanleihen der Krisenstaaten. Anfang 2012 beschlossen 25 der 27 EU-Staaten den Europäischen Fiskalpakt mit strengen Obergrenzen für die Staatsverschuldung und der Selbstverpflichtung, eine Schuldenbremse im nationalen Recht zu verankern. Dies war primär ein politisches Signal.

Die Griechenlandkrise flammte noch mehrfach wieder auf, so im Sommer 2011, als klar wurde, dass der durch die Rezession weiterwachsende Schuldenberg kaum je würde abbezahlt werden können, und im Mai 2012, als bei Neuwahlen die Parteien, die den mit der «Troika» aus EU-Kommission, IWF und EZB ausgehandelten Sparplan unterstützten, abgestraft wurden. Auch kamen Spekulationen über ein mögliches Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro («Grexit») auf. In der ab 2008 anhaltenden Rezession schrumpfte das griechische Bruttoinlandsprodukt bis 2013 um etwa ein Viertel. Die Staatsverschuldung wuchs von 2007 bis 2014 von 107 auf 177 Prozent des (kleiner gewordenen) Bruttoinlandsprodukts, die Arbeitslosigkeit stieg bis 2014 auf 26 Prozent. 2011 wies Griechenland in der Eurozone mit 31 Prozent die höchste Quote von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohter Personen auf. Die Selbstmordrate stieg von 2010 bis 2011 um über ein Viertel.

Zum Zeitpunkt des zweiten Hilfsplans für Griechenland im Oktober 2011 griff die Krise auch verstärkt auf Spanien, Italien und Zypern über. Nach einer Erholung 2010 wurden die von der Krise besonders betroffenen Staaten 2011 bis 2013 in eine erneute Rezession gestürzt. Die spanische Staatsverschuldung befand sich bei Ausbruch der Finanzkrise 2007 mit 36 Prozent auf einem niedrigen Stand. Die Finanzkrise schlug sich in Spanien stark auf die Immobilienpreise sowie den Arbeitsmarkt nieder. 2007 bis 2010 stieg die Arbeitslosenquote von 8 auf 20 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit betrug auf dem Höhepunkt der Krise sogar 42 Prozent. Massnahmen gegen die Rezession und zur Stützung von Finanzinstitutionen liessen die Staatsverschuldung bis 2014 auf 118 Prozent ansteigen. Italien war dagegen mit einer Staatsschuld von 103 Prozent des Bruttoinlandsprodukts schon vor der Krise hoch verschuldet. Bis 2014 stieg die italienische Staatsverschuldung auf 132 Prozent. In Zypern wirkten die engen Verflechtungen mit dem griechischen Finanzsystem sowie die umfangreichen Einlagen russischer Geschäftsleute als Risikofaktoren des Bankwesens. Der ESM stabilisierte 2012 bis 2014 Spanien und 2013 bis 2016 Zypern sowie 2015 bis 2018 erneut Griechenland mit Hilfsprogrammen.

Zivilgesellschaftlicher Protest und politische Auswirkungen

Die Finanzkrise erschütterte nicht nur die Wirtschaft und stürzte Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut, sondern hatte auch politische Rückwirkungen und führte zur Entstehung neuer sozialer Bewegungen. Ab Sommer 2011 entfaltete sich in den USA die Protestbewegung «Occupy Wall Street» mit ihren zentralen Forderungen nach einer stärkeren Kontrolle des Banken- und Finanzsektors, Verringerung des Einflusses der Wirtschaft auf politische Entscheidungen und Reduktion der sozialen Ungleichheit. Die Bewegung, die unter dem Motto «We are the 99 percent» stark über die Social Media mobilisierte, hatte von Beginn weg prominente Fürsprecher:innen wie die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, den New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg sowie die Ökonomen Jeffrey Sachs und Joseph E. Stiglitz und wurde von zahlreichen Intellektuellen, Schauspieler:innen, Filmschaffenden und Schriftsteller:innen sowie Gewerkschaften und der hackaktivistischen Szene «Anonymous» unterstützt. Die eigentlichen Proteste begannen am 17. September 2011 mit der Besetzung des Zuccotti-Parks in der Nähe der New Yorker Wall Street. Ab 1. Oktober erschien die Protestzeitung «Occupied Wall Street Journal». Am 5. Oktober fand eine Demonstration von etwa 10’000 Personen mit Unterstützung und Beteiligung zahlreicher Gewerkschaften statt. Bald gab es auch «Occupy»-Aktionen in anderen amerikanischen Städten, etwa Protestcamps, die auch Obdachlose aufnahmen, Demonstrationen sowie «Move Your Money»-Aktionen, bei denen «Occupy»-Gruppen ihre Guthaben von Geschäfts- auf Genossenschaftsbanken übertrugen. Im November 2011 wurden mehrere Camps, darunter dasjenige im Zuccotti Park, polizeilich geräumt. Daraufhin kam es am 17. November zu Zusammenstössen mit der Polizei, als Aktivist:innen den Zugang zur New Yorker Börse zu blockieren versuchten.

Rasch breiteten sich die «Occupy»-Proteste international aus. Grössere Aktionen gab es etwa in Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Grossbritannien, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Dänemark, Griechenland, Chile und Hongkong. An bundesweiten Demonstrationen in Deutschland nahmen am 15. Oktober 2011 rund 40’000 Personen in etwa 50 Städten teil. Aus der deutschen «Occupy»-Bewegung erwuchs ab 2012 das kapitalismus- und globalisierungskritische Netzwerk «Blockupy» mit Schwerpunkt in Frankfurt am Main. 2012 und 2013 rief «Blockupy» zu Aktionstagen gegen die EZB auf. 2014 gab es mehrere Aktionstage, etwa anlässlich der Europawahlen. Anlässlich der Eröffnung des EZB-Neubaus in Frankfurt am 15. März 2015 kam es nach einem «Blockupy»-Aufruf zu Blockaden und einer Demonstration von 17’000 Personen, in deren Verlauf auch Ausschreitungen stattfanden.

Schon vor «Occupy» gab es in verschiedenen von der Finanzkrise besonders stark betroffenen Ländern Protestbewegungen, die sich dann teilweise mit «Occupy» vermischten. In Island kam es im Winter 2008/09 zu wöchentlichen Protesten, an denen sich 3’000 bis 6’000 Menschen (1 bis 2 Prozent der Gesamtbevölkerung) beteiligten. Teilweise wurden staatliche Institutionen tagelang blockiert. In Griechenland entfaltete sich 2010 eine erste Protestwelle gegen die Sparmassnahmen und Steuererhöhungen im Gefolge der Schuldenkrise. Am 5. Mai fanden ein landesweiter Generalstreik und eine Massendemonstration mit 100’000 bis 500’000 Teilnehmenden in Athen statt, an deren Rand es zu Strassenschlachten kam. Am 23. Februar 2011 gab es erneut Proteste und Streiks, an denen bis zu 100’000 Menschen teilnahmen.

In Spanien mobilisierte seit Anfang 2011 die Graswurzelbewegung «¡Democracia Real YA!» («Echte Demokratie Jetzt!»). Am 15. Mai kam es zu Aufrufen und Protesten in 58 spanischen Städten, so dass fortan auch vom «Movimiento 15-M» bzw. den «Indignados» («Empörten») die Rede war. In Madrid wurde für fast einen Monat die zentrale «Puerta del Sol» besetzt. Am 19. Juni 2011 gab es Demonstrationen in mehr als 80 spanischen Städten, an denen sich allein in Madrid Hunderttausende beteiligten. Für den 15. Oktober 2011 rief «¡Democracia Real YA!» zu weltweiten Protesten auf, die dann teilweise mit Aktionen der «Occupy»-Bewegung zusammenfielen und in den folgenden Jahren am selben Datum wiederholt wurden. Aus diesen Protesten entstand Anfang 2014 die linke Protestpartei «Podemos», deren Popularität in den ersten Monaten rasch anstieg. Bei den Europawahlen im Mai 2014 kam sie auf 8 Prozent der Stimmen, bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 sogar auf knapp 21 Prozent. Das selbstgesteckte Ziel, die sozialistische PSOE als stärkste linke Kraft abzulösen, wurde damit knapp verfehlt. In der Folge stagnierte die Partei, die ab 2017 sozialistische Minderheitsregierungen stützte, erlebte in den späten 2010er-Jahren einen Rückgang der Wähler:innenstimmen und fusionierte mit anderen linken Gruppierungen.

Von den spanischen Protesten beeinflusst war die neuerliche griechische Protestbewegung der «Aganaktismenoi» («Empörten»), die ihren Höhepunkt von Mai bis August 2011 erlebte und sich sowohl gegen die einheimische politische Elite als auch gegen die Sparvorgaben der europäischen Institutionen richtete. An Grossdemonstrationen in Athen beteiligten sich am 29. Mai 2011 80’000 bis 100’000 Menschen, am 5. Juni gar zwischen 200’000 und 500’000. Am 7. Februar 2012 gab es einen 24-stündigen Generalstreik und fünf Tage darauf demonstrierten erneut eine halbe Million Menschen in Athen. Zeitgleich entfaltete sich in Portugal die «Geração à rasca» («Generation in der Bredouille»). Am 12. Mai 2011 demonstrierten in Lissabon 200’000 bis 300’000 Menschen, in Porto 80’000 und viele weitere in Funchal, Ponta Delgada und Viseu, gefolgt von Protesten der Gewerkschaften. In Grossbritannien gab es ab 2010 verschiedene Proteste gegen die Sparpolitik der neuen konservativ-liberalen Koalitionsregierung. Sie erreichten einen Höhepunkt am 26. März 2011 mit dem vom «Trades Union Congress» organisierten «March for the Alternative» in London, an dem sich 250’000 bis 500’000 Personen beteiligten.

Viele dieser Proteste waren beeinflusst vom Essay «Indignez-vous!», den der ehemalige französische Résistance-Kämpfer und UNO-Diplomat Stéphane Hessel im Oktober 2010 veröffentlicht hatte und der sofort zum Bestseller wurde. Hessel beklagte für Frankreich den Verlust des auf Menschenrechten und Sozialstaat beruhenden Konsens von 1945 und rief zum Widerstand gegen Unterdrückung und Sozialabbau sowie für Frieden, Zivilisation und Umweltschutz auf. Für den 14. November 2012 riefen auf Initiative der spanischen und portugiesischen Gewerkschaften Arbeitnehmer:innenorganisationen und soziale Bewegungen in den von der Krise am stärksten betroffenen Ländern Europas zu einem europaweiten Protesttag auf. Daran beteiligten sich Millionen von Menschen. In Spanien, Portugal, Italien, Zypern und Malta wurde zum Generalstreik aufgerufen, in Frankreich, Griechenland und Belgien zu Protestveranstaltungen. In Spanien und Portugal brachte ein 24-stündiger «gesamtiberischer» Generalstreik das Wirtschaftsleben teilweise zum Erliegen. In Belgien legten die Eisenbahner den Zugverkehr den ganzen Tag weitgehend lahm. In mehreren französischen und italienischen Städten gab es Demonstrationen, in Griechenland und Italien mehrstündige Streiks. In Deutschland solidarisierten sich der Gewerkschaftsbund, die SPD und die Linkspartei mit den Streikenden. Der Flugverkehr von und nach Südeuropa wurde beeinträchtigt.

Auch rechtsradikale und verschwörungstheoretische Kreise versuchten auf den Zug der Antikrisen-Proteste aufzuspringen, mit allerdings begrenztem Erfolg. An den «Occupy»-Protesten in den USA liessen sich zuweilen Exponenten der neonazistischen Organisation «New Order» blicken. Rechtsextreme Zeitschriften in Deutschland bedienten in ihren Beiträgen zur Finanzkrise klassische antisemitische Stereotypen. Auch in anderen Ländern waren verschwörungstheoretische Splittergruppen an den Protesten präsent. Die 2012/13 als explizite Anti-Euro-Partei gegründete Alternative für Deutschland (AfD) hatte zunächst eine marktliberale Ausrichtung, spielte bei den Antikrisen-Protesten keine Rolle und wurde wenig später von rechtsradikalen Kräften übernommen. Der putinistische Propagandasender «Russia Today» berichtete auffällig intensiv von den «Occupy»-Protesten, schwankte dabei zwischen vorgespielter Empörung über Polizeigewalt gegen Demonstrierende und Diskreditierung der Bewegung durch Hinweis auf «Drahtzieher» aus liberalen Polit- und Wirtschaftskreisen und griff das Thema, das die Gespaltenheit westlicher Gesellschaften offenbaren sollte, dann 2021 nochmals auf.

Bei Wahlen führte die Finanzkrise insbesondere in den besonders betroffenen Staaten Europas zu grossen Verschiebungen, die sich aber zunächst hauptsächlich innerhalb der etablierten Parteiensysteme vollzogen und die jeweiligen Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, und deren Sparprogramme abstraften. Erst in einer zweiten Phase traten auch neue, teilweise aus den Protestbewegungen hervorgegangene Akteur:innen auf den Plan. Die aufgrund der Protestwelle vorgezogenen Neuwahlen in Island führten im April 2009 zu einem Absturz der bisher regierenden konservativen Unabhängigkeitspartei und zur erstmaligen Mehrheit der Linksparteien. Die neue Regierung reichte im Juli ein EU-Beitrittsgesuch ein, das aber obsolet wurde, nachdem die isländischen Stimmberechtigten in zwei Referenden Entschädigungszahlungen an die vom Icesave-Bankrott Geschädigten ablehnten (März 2010: 93 Prozent Nein, April 2011: 57 Prozent Nein). Bei den nächsten Parlamentswahlen 2013 erlitten dann die linken Regierungsparteien massive Verluste. Ähnlich schlug das Pendel in Irland hin und her: Im Februar 2011 erzielte die bislang regierende liberalkonservative Fianna Fáil, die mehr als die Hälfte ihres Stimmenanteils verlor, das schlechteste Resultat ihrer Geschichte. Fünf Jahre darauf straften die irischen Wähler:innen dann die neuen Regierungsparteien Fine Gael und Labour ab.

In Portugal erlitt die regierende Sozialistische Partei im September 2009 zwar Verluste von 8,5 Prozent, blieb aber stärkste Partei und konnte weiterhin die Regierung stellen. Nach dem Scheitern eines Sparpakets, gegen das es starke Proteste gegeben hatte, im Parlament aufgrund der Verweigerung der bürgerlichen Opposition, gab es im Juni 2011 dann vorgezogene Neuwahlen, die zu einem Regierungswechsel führten. In Spanien hatten die Wahlen vom März 2008 nur geringfügige Verschiebungen ergeben und die sozialistische Regierung war im Amt geblieben. Vorzeitige Neuwahlen im November 2011 zeitigten dann massive Verluste für die Sozialistische Partei, wobei aber die anderen Parteien nur je geringe Gewinne verzeichneten. Bei den nächsten Wahlen 2015 erlitt dann die konservative Volkspartei, die 2011 die Regierung übernommen hatte, starke Verluste und es zogen zwei neue Kräfte, die aus den Antikrisen-Protestbewegungen hervorgegangene «Podemos» (20,7 Prozent) und die liberalen «Ciudadanos» (13,9 Prozent), ins Parlament ein. In Italien hatte im April 2008 die Rechtskoalition um Silvio Berlusconi die bisher regierende Mitte-Links-Koalition besiegt. Bei den nächsten Wahlen im Februar 2013 verlor Berlusconi dann fast die Hälfte der bisherigen Stimmen, während die im politischen Spektrum schlecht zu verortende, populistische Fünf-Sterne-Bewegung (die zur Frage der Beteiligung Italiens am Euro widersprüchliche Signale aussandte) aus dem Stand auf 25,6 Prozent kam.

In Griechenland gewann im Oktober 2009 die sozialistische PASOK die Wahlen und machte die Haushaltsmanipulationen der bisherigen konservativen Regierung publik. Bei der vorzeitigen Neuwahl nach zweieinhalb Jahren Krisenmanagement im Mai 2012 stürzte die PASOK dann von 44 auf 13 Prozent ab, aber auch die konservative ND verlor fast die Hälfte des bisherigen Stimmenanteils. Grosse Zuwächse erzielten die linkssozialistische SYRIZA (+12 Prozent), die rechtspopulistische ANEL (+10,6 Prozent) und die neonazistische Partei der «goldenen Morgenröte» (+7 Prozent). Da auf der Basis dieses Wahlresultats keine Regierungsbildung erfolgen konnte, gab es im folgenden Monat Neuwahlen, die grosse Gewinne für die ND und SYRIZA brachten. Daraufhin ging die ND eine Koalition mit kleinen Mitte-links-Parteien ein.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen im Januar 2015 verbuchte SYRIZA erneut starke Gewinne und wurde mit 36,4 Prozent klar stärkste Partei. Sie bildete daraufhin eine Koalition mit der rechtspopulistischen ANEL. Die beiden Parteien von gegensätzlichen Enden des politischen Spektrums verbanden die Ablehnung der Austeritätspolitik und eine Äquidistanz zwischen der EU und Russland. Die darauffolgenden Verhandlungen mit der «Troika» über einen neuen Reformplan führten zu keiner Einigung. Im Juli 2015 legte die griechische Regierung den Vorschlag der «Troika» den Bürger:innen in einem Referendum vor und empfahl Ablehnung. Dem folgte das Stimmvolk mit 61,3 Prozent Nein. Kurz darauf übermittelte die griechische Regierung der Euro-Gruppe indessen einen Plan, der weitgehend dem im Referendum abgelehnten Vorschlag entsprach und auf dessen Basis rasch ein Kompromiss gefunden werden konnte. Das griechische Parlament billigte den Kompromiss, allerdings nur dank der Stimmen der Opposition, da der linke Flügel der SYRIZA ausgeschert war. Dies führte zu einer Regierungsumbildung und Neuwahlen im September 2015, die kaum Verschiebungen brachten und in eine Weiterführung der bisherigen Regierungskoalition mündeten.

Die Schweiz in der Finanzkrise

Auch an der Schweiz ging die Finanzkrise nicht spurlos vorbei. Die spektakulärste Auswirkung auf die Schweiz war die UBS-Krise. Im Dezember 2007 musste die UBS, die in den Vorjahren eine risikoreiche Expansionsstrategie auf dem amerikanischen Markt verfolgt hatte und zur exponiertesten ausländischen Bank am US-Immobilienfonds- und Derivatemarkt geworden war, infolge der durch die Finanzkrise erlittenen Verluste Abschreibungen in Höhe von 10 Milliarden Dollar vornehmen. Bis März 2008 mussten weitere 25 Milliarden Franken abgeschrieben werden. Im April 2008 kündigte die UBS zusätzliche Abschreibungen von 19 Milliarden an und wies für das erste Quartal 2008 einen Reinverlust von 12 Milliarden aus. Zudem wurden verschiedene personelle Wechsel in der Führungsetage angekündigt.

Um einen drohenden Konkurs der UBS abzuwenden, sprachen am 16. Oktober 2008 Bund und Nationalbank der UBS bis zu 60 Milliarden Unterstützung zu: Davon sollte die Nationalbank toxische Wertpapiere der UBS übernehmen und in eine auf den Caymaninseln eingerichtete Zweckgesellschaft («Bad Bank») einbringen und der Bund stellte 6 Milliarden Franken in Form einer Pflichtwandelanleihe zur Verfügung. Für das Geschäftsjahr 2008 wies die UBS einen Reinverlust von 19,7 Milliarden Franken aus, das grösste je von einem Schweizer Unternehmen erlittene Defizit. Anschliessend stabilisierte sich die Situation allmählich. Mittelfristig erwies sich der Rettungsplan als für alle Beteiligten profitabel. Die Nationalbank nahm mit dem Verkauf der UBS-Wertpapiere in den folgenden Jahren bis zu 5 Milliarden Franken ein. Der Bund verdiente 1,2 Milliarden Zinseinnahmen auf dem der UBS gewährten Darlehen.

Die staatliche UBS-Rettung löste intensive öffentliche Debatten über die Bonussysteme der Banken aus, an denen sowohl eine Förderung riskanter Transaktionen als auch eine Mentalität des «Abzockens» kritisiert wurde. Zudem kamen Diskussionen über die «too big to fail»-Problematik auf. Dabei wurde die UBS-Rettung teilweise mit der nicht erfolgten staatlichen Rettung der Swissair sieben Jahre zuvor kontrastiert (s. SozialarchivInfo 4/2021). Im November 2009 beauftragte der Bundesrat eine Expertenkommission mit der Erstellung eines Berichts zu Möglichkeiten der Limitierung von Grossunternehmen ausgehender volkswirtschaftlicher Risiken. Daraus ging eine als «too big to fail»-Vorlage bezeichnete Revision des Bankengesetzes hervor, die im September 2011 von den Eidgenössischen Räten verabschiedet wurde und 2012 in Kraft trat. Sie verpflichtete die systemrelevanten Banken, bis 2018 höhere Eigenmittel aufzubauen, strengere Liquiditätsvorschriften zu erfüllen und ihre Risiken besser zu verteilen. 2012 beschlossen Bundesrat und Parlament ein weiteres Massnahmenpaket zur Bankenregulierung, mit dem ab 2013 Vorgaben von «Basel III» umgesetzt wurden.

Mit der UBS-Rettung waren die USA-Probleme dieser Bank freilich noch nicht ausgestanden. Wenige Monate später starteten die US-Behörden Ermittlungen gegen die UBS wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Dies setzte erneut politische Prozesse in Gang: 2012 stimmten die Eidgenössischen Räte sogenannten Gruppenanfragen nach dem amerikanischen «Foreign Account Tax Compliance Act» (FATCA) zu. 2014 trat die Schweiz dann der Erklärung der OECD über den automatischen Informationsaustausch (AIA) in Steuerangelegenheiten bei, der das Bankgeheimnis in Bezug auf ausländische Kund:innen abschaffte.

Die realwirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzkrise waren in der Schweiz weniger gravierend als in anderen Ländern. 2008 verzeichnete die Schweizer Volkswirtschaft noch ein Wachstum von 2,2 Prozent. 2009 erfolgte dann ein Einbruch um 2,2 Prozent, aber ab dem Folgejahr wurden wieder positive Wachstumsraten erzielt. Auch schaffte es die Schweiz, ohne zusätzliche Staatsschulden durch die Krise zu kommen. Sie profitierte dabei nicht zuletzt von den Massnahmen der Zentralbanken und Regierungen der EU und USA zur Wirtschaftsankurbelung in den Gebieten, in welche fast 70 Prozent der Schweizer Exporte gehen. Auch die Schweizerische Nationalbank war in der Krise aber über die UBS-Rettung hinaus aktiv. Ende 2008 reduzierte sie im Gleichschritt mit den Zentralbanken der führenden Wirtschaftsgebiete ihre Zinssätze. Im Zuge der Eurokrise führte sie dann 2011 zur Stützung der Schweizer Export- und Tourismusindustrie einen Mindestwechselkurs von 1.20 Franken pro 1 Euro ein, der bis 2015 durch Interventionen in den Devisenmarkt verteidigt wurde. Dadurch erhöhten sich die Devisenreserven der Nationalbank stark.

Die Arbeitslosenquote sprang 2008 bis 2009 von 2,6 auf 3,7 Prozent, ging aber bereits im folgenden Jahr leicht zurück und pendelte sich dann wieder bei um die 3 Prozent ein. Im Januar 2009 stellten die Gewerkschaften den Plan für ein 5-Milliarden-Konjunkturprogramm des Bundes vor, das die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich durchgerechnet hatte. Das Programm hatte den Schwerpunkt auf Investitionen in den ökologischen Umbau, so in den Bereichen Öffentlicher Verkehr, Lärmsanierung, Hochwasser-, Gewässer- und Lawinenschutz, öffentliche Gebäudesanierung und erneuerbare Energien. Am 19. September 2009 organisierten der Schweizerische Gewerkschaftsbund und Travail.Suisse einen «nationalen Aktionstag gegen die Krise», bei dem auf dem Bundesplatz rund 30’000 Menschen gegen Sozialabbau und Manager-Lohnexzesse sowie für ein Konjunkturpaket demonstrierten. Bei der offiziellen Politik drangen sie damit aber nicht durch.

Als Ableger der internationalen «Occupy»-Bewegung entstand im Herbst 2011 «Occupy Paradeplatz». Am 15. Oktober besetzten rund 1’000 Personen für mehrere Stunden den zentralen Platz des Zürcher Finanzviertels mit Transparenten wie «Banken in die Schranken – Transaktionssteuer jetzt», «Schluss mit der Raffgier» oder «Rettet Menschen, nicht Banken». Neben Juso, Jungen Grünen und globalisierungskritischen Linken beteiligte sich an den Protesten unter anderem auch «We are Change Switzerland», der Schweizer Ableger einer internationalen Bewegung um den rechtslibertären und als Verschwörungstheoretiker kritisierten Investigativjournalisten Luke Rudkowski. Anschliessend entstand auf dem Lindenhof ein Protestcamp von etwa 70 Aktivist:innen in 35 Zelten, das rund einen Monat bestand. Am 15. November 2011 wurde es von der Polizei geräumt. In der Folge führte der harte Kern der Bewegung den Protest vor der St.-Jakobs-Kirche am Stauffacher fort, verlor jedoch rasch an Beachtung und löste das Camp nach zwei Wochen auf. Auch auf dem Berner Bundesplatz, in Genf, wo im Parc des Bastions unweit des Bankenviertels ein Protestcamp entstand, und Basel gab es «Occupy»-Proteste.

Schliesslich manifestierte sich der Unmut über die Finanzkrise auch mehrfach mit direktdemokratischen Mitteln. Noch vor Ausbruch der Finanzkrise hatte ein Komitee um den Schaffhauser Unternehmer Thomas Minder die eidgenössische Volksinitiative «gegen die Abzockerei» lanciert, die eine Verbesserung der Corporate Governance im Bereich der Vergütungspolitik des obersten Kaders forderte. Aktionär:innen börsenkotierter Unternehmen sollten an der Generalversammlung jährlich über die Vergütungssummen der Geschäftsleitung abstimmen und die Mitglieder des Verwaltungsrates einzeln wählen können. Die Initiative wurde 2008 eingereicht. 2011 wurde Minder als Parteiloser in den Ständerat gewählt, wo er sich der SVP-Fraktion anschloss. Bundesrat und Parlamentsmehrheit lehnten die Initiative ab und einigten sich 2012 auf einen Gegenvorschlag. In der Abstimmungskampagne wurde die Initiative von den rot-grünen Parteien unterstützt, von den bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbänden dagegen abgelehnt. Allerdings gab es abweichende Ja-Parolen zahlreicher SVP-Kantonalparteien. Die Gewerkschaften waren gespalten. Im März 2013 wurde die Initiative mit knapp 68 Prozent Ja-Stimmen und Zustimmung in sämtlichen Kantonen deutlich angenommen. Besonders stark war die Zustimmung gemäss Nachwahlbefragung bei SP- und SVP-Wähler:innen.

Vor dem Hintergrund der durch Finanzkrise und Minder-Initiative intensivierten Debatte um Managerlöhne lancierten die Juso 2009 die Volksinitiative «1:12 – Für gerechte Löhne», die den Unternehmen eine maximale innerbetriebliche Lohnspanne vorschreiben wollte und im März 2011 eingereicht wurde. Auch im Zusammenhang mit dieser Initiative bedienten sich die Befürworter:innen häufig des «Abzocker»-Begriffs. Bundesrat, Parlamentsmehrheit, bürgerliche Parteien und Wirtschaftsverbände lehnten die Initiative ab. Unterstützung kam von den rot-grünen Parteien, Gewerkschaften und einigen Splittergruppen am rechten Rand. Im November 2013 wurde die Initiative mit 65,3 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.

Die Finanzkrise gab auch den Anstoss zur Lancierung der Volksinitiative «Für krisensicheres Geld: Geldschöpfung allein durch die Nationalbank! (Vollgeld-Initiative)» durch den Verein «Monetäre Modernisierung», der 2012 einige gemeinsame Veranstaltungen mit der «Occupy»-Bewegung durchführte. Die Initiative, die im Mai 2014 eingereicht wurde, forderte, der Nationalbank das Monopol zur Schaffung von Buchgeld zu übertragen und ihr so eine direkte Steuerung der Geldmenge zu erlauben. Geschäftsbanken sollten Kredite nur noch vergeben können, wenn diese voll durch Spareinlagen oder Darlehen der Nationalbank gedeckt sind. Damit sollte die Geldschöpfung durch Geschäftsbanken via Kredite ausgeschlossen werden, wodurch sich die Initiant:innen einen Schutz vor zukünftigen Finanzkrisen erhofften. Beide Parlamentskammern lehnten die Initiative ab. Rot-grüne Minderheitsanträge für einen Gegenvorschlag, der von «systemrelevanten» Banken eine höhere Eigenkapitalquote verlangen sollte, blieben chancenlos. Für die Abstimmung gab es Nein-Parolen aller Bundesratsparteien, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften. Die Grünen beschlossen Stimmfreigabe. Zustimmung kam von Splittergruppen am rechten und linken Rand sowie wenigen Kantonalparteien von SP und Grünen. Im Juni 2018 scheiterte die Initiative in der Volksabstimmung mit 75,7 Prozent Nein-Stimmen.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.734.91 Sozialdemokratische Partei der Schweiz SP: SPS, Internationales, Provenienz P. Hug
  • Ar 1.734.92 Sozialdemokratische Partei der Schweiz SP: SPS, Internationales, Provenienz P. Hug
  • Ar 174.10.4 Aeschbach, Karl (1935), Vorlass: Reden, Artikel: 1997–2010 Ar 177.20.35 Strahm, Rudolf (1943): Schriften
  • Ar 197.10.1 Spieler, Willy (1937–2016): Gespräche/Interviews/Vorträge
  • Ar 481.10 Zürcher Bankpersonalverband: Vorstandsprotokolle 1979–2009
  • Ar 483.16.8 Schweizerischer Bankpersonalverband SBPV: SBPV, Delegiertenversammlungen
  • Ar 483.16.18 Schweizerischer Bankpersonalverband SBPV: SBPV, Geschäftsleitung: SBPV, Delegiertenversammlungen
  • Ar 483.16.58 Schweizerischer Bankpersonalverband SBPV: SBPV, Verhandlungen Sozialplan Banca Commerciale di Lugano BCL anlässlich Übernahme durch die Hinduja Bank
  • Ar 483.16.59 Schweizerischer Bankpersonalverband SBPV: SBPV, Verhandlungen Sozialplan Lloyds Bank anlässlich Übernahme durch die UBP (Union Bancaire Privée)
  • Ar SGB G 646/3 Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): Pressekonferenzen 2009
  • Ar SGB G 652/2 Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): Pressekonferenzen 2010
  • Ar SGB G 677/2 Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): Pressekonferenzen 2011

Sachdokumentation

  • QS 72.0 C Löhne in der Schweiz
  • QS 81.1 Weltwirtschaft; Globalisierung
  • QS 81.4 Aussenwirtschaft: Welthandel
  • QS 83.0 Geld; Geldwesen: Allg. & Ausland
  • QS 83.2 Internationale Währungsfragen
  • QS 89.0 C Wirtschaftspolitik, Konjunkturpolitik: Schweiz
  • QS 96.1 Banken: Allg. & Ausland
  • QS 96.1 C Finanzplatz Schweiz; Banken in der Schweiz

Bibliothek

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  • Ackermann, Josef: Mein Weg. München 2024, 151902
  • Admati, Anat und Martin Hellwig: The Bankers’ New Clothes: What’s Wrong with Banking and What to Do about It. Princeton 2024, erwartet
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  • Verhofstadt, Guy: Le mal européen. Paris 2016, 135133
  • Vey, Judith: Gegen-hegemoniale Perspektiven: Analyse linker Krisenproteste in Deutschland 2009/2010. Hamburg 2015, 132178
  • Vittori, Davide: Southern European challenger parties against the mainstream: Podemos, SYRIZA, and MoVimento 5 Stelle in comparative perspective. London/New York 2024, 151694
  • Vogel, Steffen: Europas Revolution von oben: Sparpolitik und Demokratieabbau in der Eurokrise. Hamburg 2013, 128161
  • Vogel, Steffen: Europa im Aufbruch: Wann Proteste gegen die Krisenpolitik Erfolg haben. Hamburg 2014, 131243
  • Vogl, Joseph: Der Souveränitätseffekt. Zürich 2015, 131294
  • Wagenknecht, Sahra: Kapitalismus, was tun? Schriften zur Krise. Berlin 2013, 128132
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  • Wahren, Heinz-Kurt: Gier: Der menschliche Faktor der Finanzkrise. München 2011, 124524
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  • Wittmann, Walter: Superkrise: Die Wirtschaftsblase platzt. Zürich 2012, 126068
  • Wittmann, Walter: Soziale Marktwirtschaft statt Wohlfahrtsstaat: Wege aus der Krise. Zürich 2013, 129907
  • Writers for the 99%: Occupying Wall Street: The inside story of an action that changed America. Chicago 2012, 126974
  • Zeise, Lucas: Ende der Party: Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft. Köln 2008, 120049
  • Zelik, Raul: Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien. Berlin 2015, 133393

Periodika

  • Geschäftsbericht Credit Suisse Group, K 276
  • Jahresbericht UBS AG, K 58

Vor 160 Jahren: Die Internationale Arbeiter-Assoziation

Am 28. September 1864 wurde in der Londoner St. Martin’s Hall die «International Workingmen’s Association», zu Deutsch «Internationale Arbeiter-Assoziation», aus der Taufe gehoben. Die im Rückblick als «Erste Internationale» bezeichnete Organisation existierte nur ein gutes Jahrzehnt, dennoch hatte sie – abseits von der auf sie gedichteten sozialistischen Hymne «Die Internationale» und der schwierigen Deklination des substantivierten Adjektivs im Deutschen – Nachwirkungen, die bis in die Gegenwart reichen. Die Geschichtsschreibung hat sich mit der Ersten Internationale seit langer Zeit befasst. Beginnend mit dem Schweizer Anarchisten James Guillaume, der selbst in der Internationale mitgewirkt hatte und im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg ein mehrbändiges Werk zu deren Geschichte herausbrachte, hat sich die Historiographie lange Zeit vor allem mit den einzelnen Kongressen und wichtigen Figuren der Internationale sowie den organisatorischen und doktrinären Konflikten zwischen Karl Marx und Michail Bakunin befasst. In jüngerer Zeit wurde die Geschichte der Ersten Internationale vermehrt in sozial-, kultur-, geschlechter- und globalhistorische Zusammenhänge eingeordnet und stehen die Entstehung einer neuen politischen Kultur sowie transnationale Vernetzungen im Zentrum des Forschungsinteresses.

Vorgeschichte und Gründung

Die Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation hatte eine jahrzehntelange, bis in die Frühindustrialisierung zurückreichende Vorgeschichte. Im Kontinentaleuropa der Restaurationszeit konnten internationale politische Organisationen grösstenteils nur in der Illegalität oder im Exil in den wenigen liberalen Ländern existieren und nahmen häufig die Gestalt von Geheimbünden an. Der liberaldemokratische italienische Revolutionär Giuseppe Mazzini gründete 1834 zusammen mit sieben Italienern, fünf Deutschen und fünf Polen den Geheimbund «Junges Europa», der unter dem Motto «Freiheit – Gleichheit – Humanität» ein Europa der Völker und Republiken statt der Fürsten anstrebte. Neben den drei von Mazzini initiierten Sektionen «Junges Italien», «Junges Deutschland» (das in der Schweiz die Bildung deutscher Arbeiter- und Handwerkervereine förderte) und «Junges Polen» entstanden in der Folgezeit in dieser Bewegung auch ein «Junges Frankreich», eine «Junge Schweiz» (vor allem in der Romandie) sowie ansatzweise ein «Junges Belgien» und «Junges Spanien». Diese Bewegung existierte nur bis 1836/37.

1835 gründete der britische Industrieunternehmer und Frühsozialist Robert Owen, der zuvor in Grossbritannien und den USA mehrere Muster-Produktions- und Lebensgemeinschaften initiiert hatte, in London die «Association of All Classes of All nations», die Sektionen in Grossbritannien und den USA sowie Korrespondenzpartner in Frankreich, Belgien und deutschen Staaten hatte. Die im Wesentlichen als Propaganda- und Hilfsorganisation konzipierte Assoziation kam faktisch aber nie wirklich gross über London hinaus und löste sich nach wenigen Jahren auf. 1843 entwarf die kurz darauf verstorbene französische Frühsozialistin Flora Tristan die Idee einer internationalen, politischen und gewerkschaftlichen «Union ouvrière».

Ebenso entstand ab Mitte der 1830er-Jahre eine Reihe deutscher Exilorganisationen, die einen internationalen Anspruch hatten und von denen aus es dann direkte personelle Kontinuitäten zur Ersten Internationale gab. 1834 gründeten deutsche Emigranten in Paris den «Bund der Geächteten», der auf etwa 500 Mitglieder wuchs und konspirativ arbeitete. Führendes Mitglied war der Jurist Jacob Venedey, der 1832 nach seiner Teilnahme am frühliberalen Hambacher Fest verhaftet worden und aus dem Gefängnis nach Frankreich geflohen war. Nach Teilnahme an der 1848er-Revolution war er dann in den frühen 1850er-Jahren kurze Zeit Privatdozent für mittelalterliche Geschichte an der Universität Zürich. Als radikale Abspaltung eines grossen Teils der Mitglieder vom «Bund der Geächteten» entstand 1836 der «Bund der Gerechten». Dessen führender Kopf war zunächst der Handwerker und Frühsozialist Wilhelm Weitling. 1839 verlegte der Bund seine Zentrale von Paris nach London. 1841 bis 1844 weilte Weitling in der Schweiz, wo er Handwerkervereine zum Kampf ermutigte und seine beiden Hauptwerke «Garantien der Harmonie und Freiheit» und «Evangelium des armen Sünders» publizierte. 1843 wurde er in Zürich festgenommen, inhaftiert und in der Folge ausgewiesen.

1846 lernte Weitling Karl Marx kennen. Bald kam es zwischen den beiden aber zum Konflikt und Weitling und seine Anhänger wurden aus dem «Bund der Gerechten» verdrängt. 1847 erfolgte die Umwandlung des «Bundes der Gerechten» in den «Bund der Kommunisten». Am zweiten Kongress dieses Bundes, der zu jenem Zeitpunkt etwa 500 Mitglieder, vor allem deutsche Exilanten, zählte, nahmen Ende 1847 Delegierte von 30 Ortsgruppen von Grossbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, den deutschen Staaten, Schweden, der Schweiz und den USA teil. Der Kongress beauftragte Marx und Engels mit der Abfassung des Kommunistischen Manifests, das mit seinem Schlussaufruf «Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!» die Bildung einer internationalen Organisation zum programmatischen Auftrag machte. 1850 spaltete sich der Bund, der in den 1848er-Revolutionen eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, in zwei Fraktionen. 1852 wurde er im Kölner Kommunistenprozess faktisch zerschlagen und in der Folge von Marx aufgelöst.

Zuvor war 1844/45 in London die Organisation der «Fraternal Democrats» entstanden. An der Gründung waren die Deutsche Demokratische Gesellschaft Londons (inklusive Mitglieder des «Bundes der Gerechten»), Mitglieder der britischen Reformbewegung der Chartisten sowie französische und polnische Flüchtlinge beteiligt. Auch gab es italienische und schweizerische Mitglieder. Schon vor der offiziellen Gründung protestierte die Organisation 1844 an einem Meeting gegen den Besuch des wegen seiner gnadenlosen Politik gegen alle oppositionellen Regungen sowie antiimperialen, liberalen und demokratischen Bewegungen als «Gendarm Europas» verschrienen russländischen Zaren Nikolaus I. in England. An der Vorbereitung der Gründung beteiligten sich auch Marx und Engels, die dann aber an der Gründungsversammlung am 22. September 1845 wegen Ortsabwesenheit nicht dabei waren. 1847 schlossen sich die «Fraternal Democrats» dem «Bund der Kommunisten» und der Chartistenbewegung an, 1853 stellten sie aber ihre Aktivitäten ein. 1854 entstand ebenfalls in London das «International Committee», aus dem 1855/56 die «International Association» hervorging. Sie bestand aus Chartisten sowie französischen, polnischen und deutschen Exilanten und gilt als unmittelbare Vorläuferin der Internationalen Arbeiter-Assoziation. 1859 löste sie sich auf.

Zur Internationalisierung der sich formierenden Arbeiterbewegung trugen verschiedene Faktoren bei. Neben dem durch politische Verfolgungen erzwungenen Exil verschiedener Exponent:innen in unterschiedlichen Ländern zählte dazu die transnationale Arbeitsmigration vieler Mitglieder, die oft noch dem handwerklichen Bereich mit ihrer traditionellen Walz entstammten, sowie im Falle der Intellektuellen die akademische Mobilität. Hinzu kam, dass ab den 1840er-Jahren verschiedene radikaldemokratische Blätter in unterschiedlichen Ländern Europas (unter anderem der «Schweizerische Republikaner» in Zürich) zunehmend über Arbeiterbewegungen in anderen Ländern berichteten und damit eine transnationale mediale Öffentlichkeit schufen.

Dass die Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864 dann in London erfolgte, war kein Zufall. Die britische Kapitale war seit der Restaurationszeit eine Zufluchtsstätte von politisch Verfolgten aus ganz Europa. Ähnlich wie in den liberalen Kleinstaaten Belgien und Schweiz suchten hier Liberale, Sozialist:innen und antiimperiale Unabhängigkeitskämpfer:innen vor den autoritären Regimen auf dem Kontinent Schutz. Zugleich war in Grossbritannien die Gewerkschaftsbewegung, etwa im Zusammenhang mit einer Streikwelle 1859/60, früher als auf dem Kontinent erstarkt. Am Rande der Londoner Weltausstellung von 1862 kam es zu Treffen zwischen britischen Gewerkschaftern und französischen Arbeitervertretern. Dasselbe wiederholte sich im folgenden Jahr im Umfeld einer internationalen Kundgebung in London zur Unterstützung des grossen Aufstandes im russländischen Teil Polens.

Der Gründungskongress der Ersten Internationale 1864 war vordergründig als Solidaritätsveranstaltung aus Anlass der Niederschlagung des polnischen Aufstandes deklariert. Am von britischen und französischen Arbeitervertretern organisierten Anlass nahmen auch Sozialisten und Republikaner aus Italien, Deutschland, der Schweiz und Polen teil. Schweizer Gründungsmitglieder der Internationale waren der Mechaniker Edmund Nüsperli, der 1878 dann nach der Verabschiedung des eidgenössischen Fabrikgesetzes einer der ersten drei Fabrikinspektoren des Bundes wurde, und der in London lebende jurassische Uhrmacher Hermann Jung. Jung wurde Mitglied des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation und deren korrespondierender Sekretär für die Schweiz, später auch deren Kassier und Präsident mehrerer Kongresse. Dominierende Figur im Generalrat der neuen Organisation wurde der seit 1849 im Londoner Exil lebende Marx. Marx verfasste auch die Statuten der Arbeiter-Assoziation, die am 5. November 1864 publiziert wurden.

Sektionen, Kongresse und Konflikte

In den folgenden Jahren breitete sich die Internationale Arbeiter-Assoziation in Grossbritannien, Kontinentaleuropa sowie einigen Gebieten Nord- und Lateinamerikas aus. Bereits im Oktober 1864 entstand in Genf die erste kontinentaleuropäische Sektion. Im Januar 1865 wurde eine Sektion in Paris gegründet, ein halbes Jahr darauf folgte Brüssel. In den deutschen Staaten soll es 1865 66 illegale Sektionen gegeben haben, unter anderem in Berlin, Köln und Solingen. Die Gründung südeuropäischer Sektionen folgte wenige Jahre darauf. Die erste Sektion in Italien entstand im Januar 1869 in Neapel, die erste in Spanien im Dezember gleichen Jahres in Madrid. Bereits 1865 wurde in London eine exilpolnische Sektion gegründet, 1871 gab es dann eventuell Sektionen in Krakau und Poznań. Die einzige russische Sektion der Internationale wurde im März 1870 im Genfer Exil gegründet. Sie hatte nur wenige Mitglieder und stand in scharfer Opposition zur ebenfalls in Genf domizilierten «Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie» von Michail Bakunin, dem 1861 nach zwölfjähriger Haft und Verbannung die Flucht aus Sibirien über Japan und die USA nach Westeuropa geglückt war.

In den USA entstand im Dezember 1869 eine deutsche Sektion der Internationale in New York. Im Sommer 1870 wurden dort auch eine französische und eine tschechische Sektion gegründet. Im Dezember 1870 entstand ein Zentralkomitee der US-Sektionen, die von sechs im Mai 1871 auf 50 in 18 Städten im April 1872 anwuchsen. Im Jahr 1872 entstand auch eine Sektion in Montevideo, gefolgt von je einer französischen, spanischen und italienischen Sektion in Buenos Aires 1873. Aus Mexico City wurde 1876, als sich die Internationale bereits gespalten hatte, von der einen Fraktion eine Sektion anerkannt. Die Präsenz der Internationale an anderen Orten in Lateinamerika ist umstritten. Am Kongress der Internationale von 1872 nahm auch ein Delegierter aus Australien teil. Die Kontinente Afrika und Asien waren in der Internationale, die eine «weisse» Organisation blieb, nicht vertreten.

Die Mitgliederzahlen der einzelnen Sektionen lassen sich nur ungefähr abschätzen. Die maximale Mitgliederzahl in Grossbritannien betrug 50’000 (im Jahr 1867), in Italien 32’000 (1874), in Frankreich 30’000 (1871), in Belgien 10’000 (1869), in Spanien 10’000 (1874), in der Schweiz 6’000 bis 10’000 (späte 1860er-Jahre), in den USA 4’000 (1872), jeweils wenige Tausend in den deutschen Staaten (1870), Dänemark (1872) und Österreich-Ungarn (1872), jeweils weniger als tausend in den Niederlanden (1872), Portugal (1872) und Irland (1872) sowie 250 in Argentinien (1872). Die Zahlen für Uruguay, Mexiko und eventuelle weitere lateinamerikanische Länder sind nicht bekannt.

Der erste ordentliche Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation fand im September 1866 in Genf statt. Der Anlass begann mit einem Umzug der Arbeiterorganisationen durch die Stadt und wurde von der Bevölkerung mehrheitlich mit Sympathie empfangen. Auch die Presse der freisinnigen Genfer Radicaux stand dem Kongress wohlwollend gegenüber, während ihm das «Journal de Genève» als Sprachrohr des liberalkonservativen «Parti indépendant» nichts Positives abgewinnen konnte. Am Kongress waren Anhänger des im Vorjahr verstorbenen französischen Mutualisten Pierre-Joseph Proudhon einflussreich, während die Anhänger des französischen Sozialisten Louis-Auguste Blanqui von der Internationale ausgeschlossen wurden. Ein wichtiger Beschluss dieses Kongresses war die Forderung nach dem Achtstundentag. Auch gab es stundenlange Diskussionen über ein von den Proudhonisten gefordertes Verbot der ausserhäuslichen weiblichen Lohnarbeit. Nur zwei Redner machten sich für Frauenarbeit unter gleichberechtigten Bedingungen stark. Die Mehrheit unterstützte schliesslich sowohl den Antrag des Generalrats auf Verbot von Nachtarbeit und gefährlicher Arbeit für Frauen als auch den damit in Widerspruch stehenden proudhonistischen Antrag für ein vollständiges Verbot der ausserhäuslichen Lohnarbeit für Frauen.

Der Kongress des folgenden Jahres fand in Lausanne statt. Marx, der mit der Drucklegung des ersten Bandes seines «Kapitals» beschäftigt war, nahm nicht teil. Mit der britischen Freidenkerin Harriet Law war erstmals eine Frau im Generalrat vertreten. Der Kongress bestätigte die Beschlüsse des Vorjahres. Ausserdem sprach er sich für kostenlose, obligatorische und weltliche Schulbildung aus, ebenso für die Verstaatlichung des Transportwesens und verabschiedete eine Resolution, die die Emanzipation der Arbeiterschaft und die politische Freiheit als untrennbar bezeichnete. Der Versuch der Proudhonisten, die Kontrolle über den Generalrat zu erlangen, scheiterte. Am dritten Kongress von 1868 in Brüssel bestätigte sich die Dominanz von Marx und seinen Anhängern. Die Zusammenarbeit mit der Internationalen Friedens- und Freiheitsliga wurde wie schon am Kongress von Lausanne bekräftigt, ein formeller Beitritt aber abgelehnt.

Die Friedens- und Freiheitsliga war 1867 vom späteren Friedensnobelpreisträger Frédéric Passy initiiert worden, vereinigte bürgerliche, republikanische und sozialistische Reformer:innen und forderte die Überwindung nationaler Konflikte durch Schaffung einer republikanischen Europa-Union, die Abschaffung der stehenden Heere und die europaweite Verwirklichung der Prinzipien der Französischen Revolution. In der Liga waren Frauen tendenziell stärker vertreten als in der Ersten Internationale. Am Friedensliga-Kongress im September 1868 in Bern forderte Bakunin die «ökonomische und soziale Gleichmachung der Klassen und der Individuen», was die Mehrheit der Delegierten aber ablehnte. Daraufhin traten Bakunin und seine Anhänger aus der Liga aus und gründeten in Genf die «Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie», deren Mitglieder trotz der Skepsis von Marx von der Ersten Internationale aufgenommen wurden.

Der vierte Kongress der Internationale tagte 1869 in Basel. Hier gab es für Marx und seine Mitstreiter erstmals bedeutenden Gegenwind. Neben den Proudhonisten vertraten nun auch Bakunin und seine Anhänger protoanarchistische Positionen, die teilweise bei den Delegierten auf Anklang stiessen. Der Kongress beschloss unter dem Eindruck der deutschen Einigungskriege von 1864 und 1866 auch eine Anti-Kriegs-Deklaration und rief für den Kriegsfall die Arbeiter zum Streik auf. Der Fourierist, Genossenschaftspionier und Direktdemokrat Karl Bürkli hielt am Kongress namens der Zürcher Sektion ein Referat zum Thema «Direkte Gesetzgebung durch das Volk».

Der für September 1870 vorgesehene Kongress in Mainz musste wegen des Ausbruchs des Deutsch-Französischen Krieges abgesagt werden. Dies kam Marx, der ein weiteres Vordringen seiner Gegner:innen befürchtete, entgegen. Erst Monate nach Kriegsende fand im September 1871 wieder ein Kongress statt. Zuvor hatte der Pariser Commune-Aufstand vom Frühjahr 1871 Europa erschüttert (s. SozialarchivInfo 2/2021). Von den 92 Mitgliedern des Rates der Commune gehörten nicht weniger als 32 der Internationalen Arbeiter-Assoziation an. Die Rolle der Internationale in dem Aufstand, der nach der Kriegsniederlage Frankreichs und der Belagerung von Paris durch die Deutschen gesellschaftlich von Arbeiter:innen, unteren Mittelschichten und Intellektuellen und politisch von Vertretern unterschiedlicher sozialistischer Richtungen sowie Radikalrepublikanern getragen war, wurde aber bei den von den Vorgängen in Paris geschockten europäischen Eliten dennoch stark überschätzt. Dazu trugen nicht zuletzt die Solidaritätsbekundungen zahlreicher sozialistischer Organisationen bei sowie Marx’ Schrift «Der Bürgerkrieg in Frankreich», der am 30. Mai 1871, zwei Tage nach dem Ende der Commune, vom Generalrat der Internationale als Stellungnahme angenommen wurde. Auf der Flucht vor Regierungstruppen dichtete der Communard und Transportarbeiter Eugène Pottier den Text «Die Internationale», der dann 1888 von Pierre Chrétien Degeyter, dem Dirigenten des Arbeitergesangsvereins Lille, vertont und zur Hymne der internationalen Arbeiterbewegung wurde.

Zur Londoner Konferenz im Herbst 1871 lud der Generalrat nur ausgewählte Sektionen ein. Die Konferenz beschloss ihre Solidarität mit der niedergeschlagenen Commune. Auch fasste sie Beschlüsse zur organisatorischen Zentralisierung der Internationale. Die Konflikte zwischen den Anhängern von Marx und Bakunin brachen erneut auf. Zum definitiven Bruch kam es auf dem Haager Kongress vom September 1872. Organisatorisch schwenkte der Kongress ganz auf die Linie von Marx ein. Die Kompetenzen des Generalrats wurden ausgeweitet und die Sektionen zum Aufbau nationaler Parteien verpflichtet. Ebenso wurde beschlossen, den Sitz des Generalrats von London nach New York zu verlegen. Auch erfolgte der Ausschluss der antiautoritären Sozialisten Bakunin und James Guillaume sowie der US-amerikanischen feministischen «Sektion 12» um Victoria Woodhull (1872 dann erste weibliche Präsidentschaftskandidatin der USA, s. SozialarchivInfo 6/2020), der vorgeworfen wurde, sich zu sehr für die Frauenemanzipation einzusetzen und sich nicht als Arbeiterorganisation zu verstehen.

In der sehr heterogen zusammengesetzten Ersten Internationale gab es neben dem Konflikt zwischen der zentralistischen Linie der Anhänger:innen von Marx und der föderalistisch-autonomistischen Linie der Anhänger:innen von Bakunin und den sich daraus entwickelnden Doktrinen des Marxismus und Anarchismus mehrere weitere, damit nicht kongruente Konfliktlinien und Ambivalenzen. In der Geschlechterfrage waren innerhalb der protoanarchistischen Gruppierungen die Positionen der Proudhonisten und der auf Gleichberechtigung pochenden Anhänger:innen Bakunins einander diametral entgegengesetzt. Differenzen gab es auch bezüglich des Standpunktes zu antiimperialen Nationalbewegungen. Marx und einige britische Gewerkschaftsvertreter sprachen sich für die polnische Unabhängigkeit aus, während unter dem Einfluss von Proudhon stehenden Kontinentaleuropäern aufgrund einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Institution Staat eine polnische Eigenstaatlichkeit nicht prioritär erschien. Die irische Nationalbewegung war für Marx ebenfalls unterstützenswert, während britische Vertreter in diesem Punkt aufgrund befürchteter negativer Reaktionen aus der englischen Öffentlichkeit Zurückhaltung anmahnten.

Die Erste Internationale in der Schweiz

Die Ausstrahlung der Ersten Internationale auf die Schweiz ging weit über ihre hierzulande abgehaltenen Kongresse hinaus. Die im Oktober 1864 gegründete Genfer Sektion zählte im Januar 1866 bereits 200 Mitglieder. Treibende Kraft war Philipp Becker, ein deutschstämmiger «1848er», der in der Calvinstadt am linken Flügel der Radicaux politisierte (s. SozialarchivInfo 2/2023). Unter Genfer Einfluss entstanden im Frühjahr 1865 Sektionen in Lausanne, Montreux und Vevey. Im Herbst gleichen Jahres wurden Sektionen in La Chaux-de-Fonds, Bern und Neuchâtel aus der Taufe gehoben. Anfang 1866 entstanden Sektionen in der Zürcher Oberländer Industriegemeinde Wetzikon, in Basel und Saint-Imier, im August 1867 in der Stadt Zürich unter Karl Bürkli und dem aus Schlesien stammenden Herman Greulich, der später zur Vaterfigur der Zürcher Arbeiterbewegung und 1887 eidgenössischer Arbeitersekretär wurde. Es gab aber auch verschiedene kleinstädtische und ländliche Sektionen.

Die erste Sektion in der italienischen Schweiz entstand 1871 in Onsernone. 1868 trat die Vereinigung der Deutschen Arbeiterbildungsvereine in der Schweiz der Internationale bei, ebenso einige Lokalsektionen des Schweizerischen Grütlivereins. Der Grütliverein als Ganzes lehnte 1868 den Beitritt ab. Unter dem Druck der Internationale wandelte er sich in der Folgezeit aber immer mehr zu einer Arbeiterorganisation. 1838 in Genf als vaterländischer Diskussionszirkel gegründet, zählten zu seiner Mitgliedschaft zunächst vor allem Handwerksgesellen. Die Internationale stellte das Selbstverständnis als Handwerkerverein in Frage und rückte in der Vereinstätigkeit die «Arbeiterfrage» immer mehr ins Zentrum seiner Diskussionen. So wurde der Grütliverein bis in die 1890er-Jahre zur mitgliederstärksten Arbeiterorganisation der Schweiz.

Nach dem Kongress von 1866 erlebte die Genfer Sektion einen beträchtlichen Mitgliederzuwachs. Im Januar 1868 hatte die Internationale in Genf bereits 14 Untersektionen, im Jahr darauf 24 und 1870 30. In Genf gab es ab 1868 auch die einzige Frauensektion der Schweiz. 1869 bildeten die Westschweizer Sektionen die «Fédération Romande». Auf ihrem Höhepunkt zwischen 1868 und 1870 zählte die Internationale in der Schweiz rund 120 Sektionen. Allein die Genfer Sektionen hatten 3’000 bis 4’000 Mitglieder, die Basler 3’000. Die Internationale hatte auch Einfluss auf die Gründung lokaler Gewerkschaftsorganisationen ab den späten 1860er-Jahren. Besonders die von der Internationale getragenen ersten grossen Streiks der Schweiz (Genfer Bauarbeiterstreiks 1868, 1869 und 1870 sowie Basler Bandweberstreik 1868/69) führten zu einem Schub an Verbandsgründungen und bald auch zu ersten lokalen Dachorganisationen («Arbeiterunionen»). Die Gründung eines ersten gesamtschweizerischen Dachverbandes der Arbeiterbewegung, des «alten» Arbeiterbundes, erfolgte im Oktober 1873 auf einem Arbeitertag in Olten, an dem sich Schweizer Sektionen der Internationale, Gewerkschaften, die deutschen Arbeiterbildungsvereine sowie die Grütlivereine aller grösseren Städte beteiligten.

Politisch arbeiteten die Sektionen der Internationale mit Parteien des fortschrittlichen Bürgertums zusammen. In Zürich waren führende Internationalisten wie Bürkli und Greulich Teil der demokratischen Bewegung, die als breites Bündnis aus Mittelschichten, Arbeitern und Bauern in den späten 1860er-Jahren das «System Escher» stürzte und eine direktdemokratische Verfassungsrevision durchführte (s. SozialarchivInfo 6/2018). In Basel hatte die Internationale enge Beziehungen zu den oppositionellen Radikalen. Die Basler Sektion der Internationale ernannte den radikalen Parteiführer Wilhelm Klein zum Ehrenmitglied. 1868 wurde der Sektionspräsident der Internationale, der Posamenter Josef Heinrich Frey, mit Unterstützung der Radikalen in den Grossen Rat gewählt.

Auch in der Romandie gab es Wahlallianzen zwischen Internationalisten und Radikalen. In Genf war einer der führenden Köpfe der Internationale, Jacques Grosselin, zugleich Grossrat der Radicaux um James Fazy. Für die Genfer Parlamentswahlen im Herbst 1868 konstituierte sich im Nachgang zum ersten Bauarbeiterstreik eine von den Radikalen unabhängige sozialistische Partei mit dem Namen «République démocratique et sociale» und der Zeitung «Liberté», die sich als Organ der «Radicaux progressistes» bezeichnete. Sie machte nur rund 200 Stimmen. Hingegen erzielten die drei Internationalisten auf der radikalen Liste, unter anderem Grosselin, gute Resultate. Als Grosselin im Jahr darauf von den Radikalen auch als Staatsratskandidat portiert wurde, landete er allerdings auf dem letzten Platz. Der Armenarzt und Gründer der Sektion von La Chaux-de-Fonds Pierre Coullery war 1862 bis 1865 radikaler Grossrat des Kantons Neuchâtel.

Das Wirken der Schweizer Sektionen der Internationale war in der Presse insbesondere im Zusammenhang mit den ersten grossen Streiks in den späten 1860er-Jahren ein Thema. Während das Parteiorgan der Genfer Radikalen mehrfach für die Streikenden Stellung bezog, wandten sich andere freisinnige sowie liberalkonservative Zeitungen scharf gegen die Internationale. Das «Journal de Genève» schrieb von einer angeblichen «autorité dictatoriale» der Internationale, die die individuelle Freiheit der Arbeiter missachte, und monierte, es handle sich dabei um eine «société étrangère dont le siège est à Londres et dont nous cherchons vainement la place normale dans nos institutions républicaines» (Journal de Genève, 24.3.1868). In der Deutschschweiz forderten liberale Blätter, dem «Terrorismus» (NZZ, 29.3.1868) beziehungsweise «despotischen, die Freiheit des Einzelnen negierenden und unterdrückenden Treiben des von London aus herrschenden internationalen Vereins» (Der Bund, 28.3.1868) energisch entgegenzutreten.

Die NZZ bezeichnete die Internationale als «einen Staat im Staate» (NZZ, 13.6.1870) und meinte zu den Ursachen des ersten Genfer Bauarbeiterstreiks: «Hüte man sich wohl zu glauben, dass die Genfer Arbeitseinstellung eine durch einen Streit zwischen Arbeitgebern und Arbeitern hervorgerufene Krise sei. Dieses bedenkliche Ereignis ist nur ein grosser Versuch, welchen die europäische internationale Gesellschaft macht, und für welchen sie den Boden von Genf als den günstigsten, vielleicht als den einzig günstigen erachtet hat, weil er wahrscheinlich der einzige ist, auf welchem sie die volle Freiheit der Aktion, deren sie sich hier bedienen konnte, zu finden im Stande war. Schon seit mehreren Monaten haben die fremden Komites gearbeitet, um die eben ausgebrochene Krise zu organisiren» (NZZ, 2.4.1868). Die Gründung der Ersten Internationale sei ein Versuch der englischen Arbeiter gewesen, «ihre Mitbrüder auf dem europäischen Kontinent von einer ihnen unbrüderlich erscheinenden Konkurrenz zurückzuhalten». Nachdem sich diese Strategie als wenig wirksam erwiesen habe, seien sie nun dazu übergegangen «ihr Geld zur Anzettelung von Arbeitseinstellungen auf dem Kontinent zu verwenden» (NZZ, 9.4.1868).

Auch im Genfer Bürgertum gab es solche Vorstellungen. Zu Beginn des ersten Bauarbeiterstreiks schrieb im März 1868 ein «ami de l’ordre» anonym an Bundespräsident Jakob Dubs, die Internationale plane einen «coup d’état» gegen den Genfer Staatsrat, wolle die Zeughäuser plündern, die Kantonsregierung zwingen, die Bauarbeiten für die Hochschule im Volumen von 1,8 Millionen Franken an die Internationale zu vergeben oder die Regierung durch eine andere, «plus à la dévotion» zu ersetzen. Ein paar Tage später druckte die Londoner «Times» eine anonyme Zuschrift aus Genf, welche klagte: «Sad to say, Geneva evidently owes the honour of having been singled out by the London Committee for their first attempt to revolutionise labour on the Continent to its being, next to England, the freest State in Europe. Thus do foreign demagogues repay Swiss hospitality» (The Times, 27.3.1868).

Effektiv war die Richtung aber umgekehrt: Der Streik war nicht von aussen inszeniert worden, sondern die Streikenden warben erst nach dessen Beginn grenzüberschreitend um Unterstützung. Ein Delegierter der Streikenden wurde von den Pariser Sektionen der Internationale begeistert empfangen, während er in London keine grosse Resonanz erzielte. Ende Mai 1868 wurde dann in einem Verbotsprozess gegen die Pariser Sektionen die Agitation für den Genfer Streik und die Sammlung von Unterstützungsgeldern, die etwa 10 Prozent der gesamten Streikkosten deckten, von der Anklage besonders hervorgehoben. Am Brüsseler Kongress der Internationale waren die Genfer Sektionen mit vier Delegierten vertreten, die über den Streik berichteten. Von den 60’000 Franken, die der Streik von 1868 kostete, wurden 52’000 Franken durch Sammlungen im In- und Ausland beglichen. Die Berliner Sektion der Internationale organisierte sogar ein Solidaritätskonzert, das 120 Taler Erlös erzielte. Dies war kein Sonderfall. In der internationalen Streikwelle der späten 1860er-Jahre gab es immer wieder durch die Internationale vermittelte grenzüberschreitende Unterstützungen bei Streiks und Aussperrungen zwischen Grossbritannien, Frankreich, der Schweiz, Belgien und Italien.

Agonie und Nachleben

Eine Woche nach dem Haager Kongress von 1872 fand in Saint-Imier ein Gegenkongress statt, zu dem die italienische Landesföderation aufgerufen hatte. Diese hatte den Kongress in den Niederlanden aus Protest gegen die Londoner Beschlüsse von 1871 boykottiert. Der Gegenkongress lehnte in Resolutionen die Macht des Generalrats ab, betonte den föderalistischen Charakter der Internationale und sprach sich für gewerkschaftliches statt parteipolitischem Handeln aus. Der Generalrat schloss daraufhin die Landesföderationen, die sich hinter die Beschlüsse von Saint-Imier stellten, aus. Der Kongress von Saint-Imier besiegelte so die Spaltung der Internationale.

Beide Organisationen hielten im September 1873 Kongresse in Genf ab. Derjenige der Antiautoritären umfasste 27 Delegierte, die die Landesföderationen aus Italien, Spanien, Grossbritannien, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz repräsentierten. Er befasste sich mit organisatorischen Fragen und beschloss eine versöhnliche Adresse an den Kongress des Generalrats, der zwei Tage später mit 28 Delegierten ausschliesslich aus der Schweiz, Deutschland und Österreich begann. Für Marx war die Internationale nun faktisch gescheitert. Im September 1874 hielt die antiautoritäre Internationale, die noch immer nicht ausschliesslich aus Anarchist:innen bestand, einen Kongress in Brüssel ab. Der nächste, für 1875 in Barcelona geplante Kongress musste wegen organisatorischer Probleme abgesagt werden.

Im Juli 1876 veranstaltete der Generalrat in Philadelphia eine Konferenz mit 10 Generalratsmitgliedern und 14 ausschliesslich nordamerikanischen Delegierten, die die Internationale für aufgelöst erklärte. Die antiautoritäre Organisation hielt dagegen drei Monate später in Bern einen weiteren Kongress ab, der mit der «Propaganda der Tat» eine neue Strategie beschloss, welche die Völker durch Handstreiche, Aufstandsversuche und Attentate wachrütteln sollte. Ebenso wurde beschlossen, im folgenden Jahr einen allgemeinen sozialistischen Kongress zu organisieren.

So fanden im September 1877 unmittelbar nacheinander zwei Kongresse statt: Zunächst derjenige der antiautoritären Internationale in Vervier, dann, teilweise mit denselben Delegierten, der allgemeine Kongress in Gent, auf dem ein letzter Versöhnungsversuch zwischen Anarchist:innen und Sozialdemokrat:innen unternommen wurde. Der Kongress stellte jedoch die Unvereinbarkeit der beiden Strömungen fest und beschloss, getrennte Wege zu gehen. Die damals bereits geäusserte Absicht, eine marxistische Internationale zu gründen, konkretisierte sich zunächst nicht. Aber auch der für 1878 in der Schweiz geplante Kongress der antiautoritären Internationale kam nicht zustande. Ein 1881 in London abgehaltener internationaler sozialistisch-revolutionärer Kongress war keine offizielle Konferenz der antiautoritären Internationale mehr, sondern eine allgemeine anarchistische Zusammenkunft. Am im selben Jahr aufgrund eines Verbots durch die Zürcher Regierung statt in der Limmatstadt in Chur abgehaltenen «Weltsozialistenkongress» mit 20 Delegierten aus 14 europäischen Ländern und den USA blieben die Anarchist:innen fern.

In der Auflösungsphase der Ersten Internationale erlebten auch die Sektionen und Landesföderationen einen Niedergang oder transformierten sich in neue Organisationen. In Frankreich wurde 1872 die Internationale verboten und in der Folgezeit kam es zu Verhaftungen und Prozessen. Die Sektionen in der Deutschschweiz erlebten in den frühen 1870er-Jahren einen Niedergang und lösten sich weitgehend auf. In der Romandie führte der Streit um den Umgang mit Bakunins «Allianz der sozialistischen Demokratie» 1870/71 zur Abspaltung der antiautoritären «Fédération Jurassienne» von der «Fédération Romande». Die Gespaltenheit der Schweizer Sektionen der Internationale zeigte sich 1872 bei der ersten Abstimmung über eine Totalrevision der Bundesverfassung. Die Sektionen der Romandie gaben die Nein-Parole heraus, die Sektion Zürich die Ja-Parole und die «Fédération Jurassienne» empfahl Stimmverweigerung. Die wenige Jahre zuvor noch sehr mitgliederstarken Genfer Sektionen erlebten ihren Niedergang um 1875.

Am längsten überlebte die «Fédération Jurassienne», die zum Zentrum der antiautoritären Internationale wurde und 1874 bis 1877 deren Bundesbüro führte. Die Organisation war relativ klein. Auf dem Höhepunkt 1873/74 gehörten ihr 300 bis 400 Personen in etwa 20 Sektionen an. Hochburgen waren Saint-Imier, Sonvilier, Neuchâtel, Le Locle, La Chaux-de-Fonds und Genf. Die Mitgliedschaft bestand vor allem aus in Ateliers arbeitenden Uhrmachern, die in einer hochgradig in den Weltmarkt integrierten Branche tätig waren und sich gegen den Einbezug in hierarchisierte und standardisierte Produktionsprozesse mit Zeitdiktat wie bei der Fabrikarbeit wehrten. Die zweite wichtige Gruppe der Mitgliedschaft waren politische Flüchtlinge, insbesondere Pariser Communards und russische Revolutionäre. Die «Fédération Jurassienne» war international gut vernetzt, ihr «Bulletin», das auch über Aktivitäten in anderen Ländern berichtete, ging an etwa 600 Abonnent:innen in zehn verschiedenen Ländern. Das von der «Fédération Jurassienne» geführte Bundesbüro der antiautoritären Internationale versandte jährlich etwa zehn Zirkularschreiben an die Mitgliedsföderationen in den verschiedenen Ländern.

Mit der Weiterentwicklung des antiautoritären Sozialismus zur auch Terrorismus einschliessenden anarchistischen «Propaganda der Tat» setzte der Niedergang der «Fédération Jurassienne» ein. Im März 1876 organisierte der Communard Paul Brousse, der den Begriff «Propaganda der Tat» mitgeprägt hatte, zum fünften Jahrestag des Commune-Aufstandes eine anarchistische Demonstration in Bern, die zu Zusammenstössen mit Bürgern der Bundesstadt führte. Im folgenden Jahr wurde die Demonstration wiederholt. Dieses Mal war auch der russische Anarchist Pjotr Kropotkin dabei und die Demonstranten hatten sich mit Dolchen, Schlagringen und Totschlägern ausgerüstet. Es kam zu einer Strassenschlacht zwischen Demonstranten, der Polizei und Bürgern, an der mehrere Personen verletzt wurden. Viele Uhrmacher trugen diese Radikalisierung nicht mit, wandten sich von der «Fédération Jurassienne» ab und engagierten sich in der Folge in der aufstrebenden Gewerkschaftsbewegung. Ebenso zum Niedergang trug die Emigration James Guillaumes im Jahre 1878 bei. Der letzte Kongress der «Fédération Jurassienne» fand 1880 statt.

Gezählte und ungezählte Internationalen und der Internationalismus

Trotz ihrer Kurzlebigkeit war die Internationale Arbeiter-Assoziation stilbildend und durch ihre rückblickende Zählung als «Erste Internationale» auch namensgebend für spätere Organisationen. Zum 100. Jahrestag des Beginns der Französischen Revolution fand im Juli 1889 in Paris ein sozialistischer Kongress mit etwa 400 Delegierten aus 20 Staaten statt. Neben west- und mitteleuropäischen Ländern waren auch die USA, Russland, Argentinien und Ägypten vertreten. Der Kongress grenzte die sozialistische Bewegung vom Anarchismus ab, sprach sich für die Stärkung der sozialistischen Parteien und den Achtstundentag aus, forderte internationale Regelungen für den Arbeitsschutz sowie zur Frauen- und Kinderarbeit (etwa entlang der Linien des eidgenössischen Fabrikgesetzes) und die Ersetzung der stehenden Heere durch Milizsysteme nach Schweizer Vorbild. Der 1. Mai wurde zum internationalen Kampftag für den Achtstundentag erklärt und erstmals 1890 begangen. Der Kongress gilt als Beginn der «Zweiten Internationale», die bis 1900 aber keine feste Struktur hatte, sondern nur aus einer Serie von internationalen Kongressen bestand: 1891 in Brüssel, 1893 in Zürich, 1896 in London und 1900 in Paris.

Am Pariser Kongress wurde das «Internationale Sozialistische Büro» als permanente Exekutive geschaffen. Danach fanden ordentliche Kongresse 1904 in Amsterdam, 1907 in Stuttgart und 1910 in Kopenhagen statt. Am Stuttgarter Kongress wurden eine Frauen- und eine Jugend-Internationale geschaffen. An den Kongressen von 1904 und 1907 waren Imperialismus und Kolonialismus wesentliche Themen. 1904 wurde auch eine Resolution gegen den Militarismus beschlossen. Angesichts der zunehmenden Gefahr eines allgemeinen europäischen Krieges nach Ausbruch der Balkankriege fand im November 1912 in Basel ein ausserordentlicher, dem Thema Krieg und Frieden gewidmeter Kongress der Zweiten Internationale statt. Insgesamt waren 1889 bis 1914 in der Zweiten Internationale über 80 sozialistische Parteien und Arbeiterorganisationen aus Europa, Nord- und Lateinamerika, Asien und Australien vertreten.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kamen die Aktivitäten der Zweiten Internationale weitgehend zum Erliegen. Der für Ende August 1914 in Wien geplante Kongress konnte nicht mehr stattfinden. Schon im Herbst 1914 gab es seitens der Arbeiterparteien neutraler Länder aber Bestrebungen, die Internationale als Organisation der Völkerverständigung wieder aufzubauen. Im September 1914 fand in Lugano ein Treffen der Geschäftsleitungen der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und des Partito Socialista Italiano statt, das einen Aufruf zur Reanimierung der Internationale lancierte. Im Januar 1915 trafen sich in Kopenhagen Vertreter der niederländischen und skandinavischen Arbeiterparteien. Ein Treffen der Arbeiterparteien aller neutralen Länder, wie es die SPS für Frühjahr 1915 in Zürich projektierte, kam nicht zustande.

Im März 1915 fand in Bern die massgeblich von Clara Zetkin organisierte «Internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg» statt, die die dritte sozialistische Frauenkonferenz ersetzte, die 1914 im Anschluss an den Kongress der Zweiten Internationale hätte stattfinden sollen. Am Treffen beteiligten sich 25 Frauen aus Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Russland, Polen, den Niederlanden, Italien und der Schweiz. Damit waren Vertreterinnen aus beiden kriegführenden Seiten anwesend, allerdings nicht als offizielle Delegierte ihrer Parteien. Eine Woche später tagte ebenfalls in Bern eine internationale Konferenz der Sozialistischen Jugend mit Delegationen aus Deutschland, Dänemark, Bulgarien, Italien, Norwegen, Polen, den Niederlanden, Russland, Schweden und der Schweiz.

Massgeblich von Robert Grimm organisiert fand im September 1915 in Zimmerwald eine Tagung sozialistischer Kriegsgegner:innen statt, an der Delegierte aus Deutschland, Frankreich, Italien, Russland, Polen, Rumänien, Bulgarien, Schweden, Norwegen, den Niederlanden und der Schweiz teilnahmen. Die Konferenz wählte eine «Internationale Sozialistische Kommission». An der Konferenz zeigte sich eine Kluft zwischen der pazifistischen Mehrheit mit dem Ziel einer möglichst raschen Beendigung des Krieges und der revolutionären Minderheit um Lenin, der ihn in einen revolutionären Weltbürgerkrieg transformieren wollte. Fast zeitgleich trafen sich in Kopenhagen Vertreter der niederländischen und skandinavischen Arbeiterparteien. Sie lehnten die Internationale Sozialistische Kommission als Konkurrenz zum vom kriegsversehrten Belgien in die Niederlande transferierten Internationalen Sozialistischen Büro der Zweiten Internationale ab. Der Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen schwelte in den folgenden Jahren weiter, ebenso der Gegensatz zwischen den beiden Fraktionen der Zimmerwalder Bewegung, die an der Folgekonferenz von Kiental im April 1916 erneut aufbrachen (s. SozialarchivInfo 5/2015).

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Russischen Revolution wurde im März 1919 die «Dritte Internationale» («Komintern») gegründet. Eine der massgeblichen Gründungsfiguren neben Lenin war der Schweizer Fritz Platten, der 1942 dann im Zuge der stalinistischen Säuberungen ermordet wurde (s. SozialarchivInfo 5/2018). Die Komintern hielt alle ihre «Weltkongresse» (1919, 1920, 1921, 1922, 1924, 1928 und 1935; hinzu kam 1920 in Baku ein «Kongress der Völker des Ostens») in Moskau ab und folgte eng der politischen Linie der russischen Bolschewiki beziehungsweise dann der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Der Weltkongress 1920 erhob den Lenin’schen «demokratischen Zentralismus», faktisch ein Top-down-Ansatz, zum Organisationsprinzip der Komintern und aller ihr angeschlossenen Parteien. In den «21 Prinzipien» wurden als Aufnahmebedingungen in die Komintern die Übernahme von Ideologie und Organisationsstrukturen des russischen Vorbilds verbindlich gemacht. Die Weltkongresse von 1921 und 1922 standen im Zeichen der angestrebten «Einheitsfront» mit anderen linken Kräften, die faktisch auf eine kommunistische Unterwanderung sozialdemokratischer Organisationen abzielte.

Mit dem Weltkongress von 1924 und dem Wechsel der aussenpolitischen Linie der Sowjetunion von der Weltrevolution zum Stalin’schen «Sozialismus in einem Land» wurde die Komintern noch stärker zum Vehikel der sowjetischen Aussenpolitik. Der Weltkongress von 1928 machte für die Kommunistischen Parteien die «Sozialfaschismus»-These verbindlich, der gemäss vordringlich die Sozialdemokratie als «Hauptstütze der Bourgeoisie» zu bekämpfen sei. Das katastrophale Scheitern dieses Ansatzes mit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland und der Errichtung weiterer rechter Diktaturen in Europa führte auf dem letzten Komintern-Weltkongress 1935 zu einer vollständigen strategischen Wende. Die nun gültige «Volksfront»-Strategie propagierte die Zusammenarbeit der Kommunistischen Parteien mit der Sozialdemokratie und demokratisch-bürgerlichen Kräften zur Abwehr des Faschismus.

Eine neuerliche Kehrtwende kam 1939 mit dem Hitler-Stalin-Pakt und dem geheimen Zusatzprotokoll über die deutsch-sowjetische Aufteilung Ostmitteleuropas, als der kommunistische Antifaschismus dem sowjetischen Eroberungsdrang in Ostmittel- und Nordeuropa geopfert wurde. Den Komintern-Sektionen wurde in dieser Phase eine Reihe kurz aufeinander folgender propagandistischer Verrenkungen abgefordert. So befürwortete die Presse der Kommunistischen Partei der Schweiz im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt, gab ab September nach dem deutschen Überfall auf Polen und der deutsch-sowjetischen Aufteilung dieses Landes den Antifaschismus temporär auf und erklärte den ausgebrochenen Weltkonflikt zum «imperialistischen Krieg», in dem sich das Proletariat neutral zu verhalten habe, und unterstützte ab November 1939 den sowjetischen Angriffskrieg gegen Finnland. 1943 schliesslich löste Stalin im Zeichen der durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion ab Juni 1941 entstandenen «Grossen Allianz» zwischen der Sowjetunion, den USA und Grossbritannien die Komintern als Konzession an die Westalliierten auf. Mit dem Einsetzen des Kalten Krieges wurde zur Unterstreichung des sowjetischen Führungsanspruchs im kommunistischen Lager als Komintern-Nachfolge 1947 das «Kommunistische Informationsbüro» («Kominform») gegründet. Es erlangte aber nie die Bedeutung der Vorgängerin und wurde bereits 1956 aufgelöst.

Das Wirken der Komintern zog die Gründung einer Reihe weiterer internationaler Organisationen nach sich. 1924 initiierte Théodore Aubert, Romandie-Sekretär der Bürgerwehr-Dachorganisation «Schweizerischer Vaterländischer Verband», die «Entente Internationale Anticommuniste», die Ableger in 20 Ländern erhielt, in den 1930er-Jahren von Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien finanziell unterstützt wurde und bis etwa 1950 existierte. Aber auch aus dem kommunistischen Lager führte Opposition gegen Lenins diktatorischen Kurs und dann den Stalinismus zur Entstehung neuer Internationalen. 1922 schufen rätekommunistische Gruppen aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Bulgarien, Grossbritannien, Frankreich, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Südafrika sowie sowjetischen linkskommunistischen Oppositionszirkeln die «Kommunistische Arbeiter-Internationale», deren Aktivitäten um 1927 einschliefen und die 1933 aufgelöst wurde. Von 1930 bis 1939 waren in der «Internationalen Vereinigung der Kommunistischen Opposition» rechtskommunistische, gegen die «Sozialfaschismus»-These opponierende Parteien aus Schweden, Deutschland, den USA, der Schweiz («Kommunistische Partei-Opposition» um den Schaffhauser Stadtpräsidenten und späteren SPS-Vorsitzenden Walther Bringolf), der Tschechoslowakei, Frankreich, Indien und weiteren Ländern zusammengeschlossen. Teilweise damit überlappend bestand von 1932 bis 1940 das «Internationale Büro für Revolutionär-Sozialistische Einheit» («Londoner Büro», «Dreieinhalbte Internationale») aus rechtskommunistischen sowie linkssozialistischen Kräften aus Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Spanien, Schweden, den USA, der jüdischen Community im Mandatsgebiet Palästina und der sowjetischen Exilopposition.

Während diese Organisationen ausserhalb der Zählung der Internationalen standen, hoben Anhänger:innen des von Stalin ausgebooteten und 1940 im mexikanischen Exil ermordeten Leo Trotzki im September 1938 in Paris die «Vierte Internationale» aus der Taufe. Trotzki hatte zunächst versucht, mit der «Internationalen Linken Opposition» innerhalb der Komintern gegen den Stalinismus zu opponieren, seine Anhänger:innen waren dort aber rasch ausgeschlossen worden. 1933 benannte sich die «Internationale Linke Opposition» um in «Internationale Kommunistische Liga», die zeitweise in Kontakt zum «Londoner Büro» stand und zur Vorläuferin der Vierten Internationale wurde. 1953 spaltete sich die Vierte Internationale zwischen «Pablist:innen» und «Orthodoxen» und in den folgenden Jahren gab es zwei parallele Organisationen. 1963 kam es zur teilweisen Wiedervereinigung, aber ab den 1970er-Jahren führte die trotzkistische Spaltungsfreudigkeit zu einer weiteren organisatorischen Zersplitterung. In der Gegenwart existiert über ein Dutzend Organisationen, die beanspruchen, die Vierte Internationale oder deren Nachfolgeorganisation zu sein, während manche trotzkistischen Gruppierungen die Vierte Internationale als nicht mehr existent betrachten. Aus diesen Kreisen und weiteren linksradikalen Splittergruppen gibt es seit einigen Jahrzehnten Bestrebungen zum Aufbau einer «Fünften Internationale».

Ausserhalb der Zählung der Internationalen stehen eine Reihe von anarchistischen Organisationen, die sich direkt in der Nachfolge der Ersten Internationale beziehungsweise der von ihr abgespaltenen antiautoritären Internationale sahen und sehen. Kurz nach dem Einschlafen der letzteren existierte von 1881 bis 1887 die «International Working People’s Association» («Schwarze Internationale»). Bis heute bestehen die 1922 gegründete «Internationale Arbeiter-Assoziation» als Vereinigung anarchosyndikalistischer Gewerkschaften sowie die 1968 entstandene «Internationale der Anarchistischen Föderationen». Eine Mischung aus künstlerischem, intellektuellem und linkspolitischem Aktivismus versuchte die «Situationistische Internationale», die von 1957 bis 1972 existierte und einen gewissen Einfluss auf die 68er-Bewegung ausübte.

Schon kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs gab es auch Bestrebungen für eine Wiederbelebung der Zweiten Internationale. Im Februar 1919 tagte zu diesem Zweck eine sozialdemokratische Konferenz im Berner Volkshaus. Aufgrund programmatischer Konflikte wurde auf eine unmittelbare Neugründung verzichtet, jedoch eine ständige Kommission («Berner Internationale») eingerichtet. Im Februar 1921 gründete eine Reihe sozialistischer Parteien (darunter die SPS) in Wien die «Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien», die sich um eine Wiedervereinigung der in sozialdemokratische, linkssozialistische und bolschewistische Gruppen gespaltenen internationalen Arbeiterbewegung bemühte. Die auch als «Wiener Internationale» oder, nach einem spöttischen Diktum des bolschewistischen Funktionärs Karl Radek, «Zweieinhalbte Internationale» bezeichnete Organisation veranstaltete im April 1922 einen Kongress mit Exekutivvertretern der Zweiten und der Dritten Internationale, die jedoch unüberbrückbare Differenzen zeigte. Neben fundamentalen ideologischen, strategischen und organisatorischen Meinungsverschiedenheiten stand auch die sozialdemokratische Kritik an den zunehmenden bolschewistischen Verfolgungen der in Russland verbliebenen Menschewiki und Sozialrevolutionäre, deren Exilorganisationen sich der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien angeschlossen hatten, sowie an den sowjetrussischen Eroberungen der sozialdemokratisch regierten beziehungsweise mitregierten Staaten Ukraine, Georgien, Armenien und Aserbaidschan zwischen 1919 und 1921.

Daraufhin vereinigten sich die Reste der Zweiten Internationale und die Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien im Mai 1923 zur «Sozialistischen Arbeiter-Internationale» (SAI). Diese hatte ihren Sitz zunächst in London, dann von 1925 bis 1935 in Zürich und in der Folge in Brüssel. Auf dem Höhepunkt Ende der 1920er-Jahre umfasste sie 45 Parteien aus Europa, Asien, Nord- und Lateinamerika mit 6,6 Millionen Mitgliedern. Ihre Kongresse fanden 1923 in Hamburg, 1925 in Marseille, 1928 in Brüssel, 1931 in Wien und 1933 in Paris statt. Mit der Ausbreitung faschistischer Regime in Europa ging die Stärke der SAI zurück, ihr Ende kam mit dem deutschen Westfeldzug im Frühjahr 1940.

1951 wurde die Organisation auf einem Kongress in Hamburg als «Sozialistische Internationale» (SI) neugegründet. Ihre Glanzzeit erlebte die SI in den 1970er-Jahren, als sie die Demokratisierungsprozesse Portugals und Spaniens unterstützte (s. SozialarchivInfo 1/2024). Ab Mitte der 1970er-Jahre wurden neben den traditionellen sozialdemokratischen Parteien des Nordens auch zunehmend ehemalige antikoloniale Befreiungsbewegungen des «Globalen Südens» in die SI aufgenommen, von denen sich manche allerdings im Verlauf der Zeit zu diktatorischen Staatsparteien entwickelten. Dies, zusammen mit der zunehmenden Machtfülle des chilenischen Langzeitgeneralsekretärs Luis Ayala (1989 bis 2022) führte ab 2013 zum teilweisen oder vollständigen Rückzug einer Reihe sozialdemokratischer Parteien Europas, darunter 2017 der SPS. Gegenwärtig umfasst die SI 87 Mitgliedsparteien aus allen Kontinenten ausser Australien. Im März 2013 wurde in Leipzig als Alternative zur SI die «Progressive Alliance» aus der Taufe gehoben. Sie umfasst zurzeit 166 Parteien (aus der Schweiz die SPS) aller Kontinente. Viele davon sind zugleich Mitglieder der SI.

Die verschiedenen Partei-Internationalen hatten jeweils eine Reihe ihnen verbundener Internationalen aus nahestehenden Organisationen, so den Gewerkschaften, Frauen-, Jugend-, Kultur- und Sportorganisationen, im Falle der Komintern auch der Landwirte («Rote Bauern-Internationale», «Krestintern»). Die 1923 gegründete Krestintern sollte nichtkommunistische Bauern an die Komintern heranführen und versuchte, dem «Internationalen Agrarbüro» («Grüne Internationale») die Basis abspenstig zu machen. Die bis zum Ende der Zwischenkriegszeit existierende Grüne Internationale war 1921 von Bauernparteien Bulgariens, der Tschechoslowakei, Polens und Jugoslawiens gegründet worden. Später gehörten ihr auch Parteien aus Rumänien, den Niederlanden, Österreich, Estland, Finnland, Lettland, Frankreich und der Schweiz (Bauern-, Gewerbe- und Bürgerparteien der Kantone Bern und Aargau) an.

Ab der Zwischenkriegszeit entstanden auch weitere Internationalen von Parteien des bürgerlichen Spektrums. 1924 bis 1938 existierte die «Entente Internationale des Partis Radicaux et des Partis Démocratiques Similaires», der die Schweizer FDP angehörte. Als Nachfolgerin wurde 1947 die «Liberale Internationale» gegründet, deren erster Präsident der exilspanische, proeuropäische Schriftsteller und Historiker Salvador de Madariaga wurde. Gegenwärtig umfasst sie 69 Mitgliedsparteien aus allen Kontinenten, aus der Schweiz die FDP. Die 1961 gegründete «Christlich-Demokratische Weltunion» benannte sich 1982 um in «Christlich Demokratische Internationale» und 1999 in «Zentristisch Demokratische Internationale». Sie umfasst 93 Parteien aus allen Kontinenten ausser Nordamerika und Asien (aus der Schweiz: Die Mitte). Als weiter rechts stehende Konkurrenz dazu entstand 1983 die «Internationale Demokratische Union». Sie umfasst 77 Parteien aus allen Kontinenten. Zwischen den beiden Organisationen gibt es zahlreiche Doppelmitgliedschaften.

War die Erste Internationale also stilbildend für eine grosse Zahl politischer Organisationen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, so war sie zugleich Element eines Phänomens, das in der jüngeren historischen Forschung als «Internationalismus» bezeichnet wird. Damit wird nicht wie im traditionellen Begriffsverständnis eine auf die Überwindung der Nationalstaaten und Imperien abzielende Weltanschauung verstanden, sondern eine Transnationalisierung politischen Handelns jenseits der klassischen Diplomatie und die Regelung grenzüberschreitender Fragen durch überstaatliche Organisationen, Konferenzen und Netzwerke. Dieser im späten 19. Jahrhundert aufkommende Internationalismus stand in einer dialektischen Wechselwirkung mit der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung der Zeit. Letztere schuf zunehmend das Bedürfnis nach grenzüberschreitenden Regulierungen, durch welche sie zugleich weiter befördert wurde. Beides wurde erst möglich durch technische und infrastrukturelle Innovationen, etwa in den Bereichen des Transports (Eisenbahn, Dampfschiff, Schienen- und Strasseninfrastruktur) und Kommunikation (Telegraph als das «Internet des viktorianischen Zeitalters», grenzüberschreitender Postverkehr).

Zahlreiche, oft in der Schweiz domizilierte Gründungen waren Ausdruck dieser Tendenz, etwa in den Bereichen Logistik und Kommunikation (1865 Internationaler Telegraphenverein, 1874 Weltpostverein, 1875 Internationales Büro für Mass und Gewicht, 1893 Zentralbüro des internationalen Eisenbahnverkehrs), humanitäres Völkerrecht und Völkerverständigung (1863 Internationales Komitee vom Roten Kreuz, 1873 «International Law Association», 1889 durch Frédéric Passy «Interparlamentarische Union») und Sport (1894 Internationales Olympisches Komitee, zwischen 1890 und 1914 internationale Verbände zahlreicher Disziplinen). Verschiedene soziale Bewegungen organisierten sich ebenfalls international. Neben der Arbeiterbewegung zu nennen sind – jeweils in einen bürgerlichen und sozialistischen Flügel aufgeteilt – die Friedensbewegung (1891 Internationales Ständiges Friedensbüro in Bern, Friedenssicherungsdebatten in der Ersten und Zweiten Internationale) und die Frauenbewegung (1904 Internationale Frauenwahlrechtsallianz, 1907 Sozialistische Fraueninternationale). Aber auch andere gesellschaftliche und politische Strömungen wie der Antisemitismus (internationale Antisemitenkongresse 1882 und 1883), die Impfgegnerschaft (1882 «Internationaler Verband der Impfgegner», s. SozialarchivInfo 1/2022) oder die Eugenik (1907 «Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene», 1912 «Permanent International Eugenics Committee») suchten nach internationaler Vernetzung.

Die für die Erste und Zweite Internationale wichtige Sphäre der Arbeitsbeziehungen wurde ebenfalls von diesem Prozess erfasst. 1897 fand auf Anregung des (zweiten) schweizerischen Arbeiterbundes in Zürich eine Konferenz mit über 500 Teilnehmer:innen aus gemässigt sozialistischen Arbeiterverbänden, Vertretern der katholischen Sozialreform und reformbürgerlichen Ökonomen statt, die ein umfassendes Arbeiterschutzprogramm postulierte. Drei Jahre später wurde in Paris die «Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz» (IALL) aus der Taufe gehoben, deren erstem Vorstand mit dem freisinnigen Basler Ständerat Paul Scherrer auch ein Schweizer Politiker angehörte. Als Büro der IALL entstand das «Internationale Arbeitsamt», das 1901 als private, von einigen Staaten finanziell unterstützte Organisation mit Sitz in Basel seine Arbeit aufnahm. In 15 Staaten wurden IALL-Landessektionen gegründet. Sämtliche Vorkriegskonferenzen der IALL fanden in der Schweiz statt: 1904 in Basel, 1906 in Genf, 1908 in Luzern, 1910 in Lugano und 1912 in Zürich. 1919 ging das Internationale Arbeitsamt in den Strukturen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als Sonderorganisation des neugegründeten Völkerbundes auf (s. SozialarchivInfo 2/2019).

Auch die Arbeitsmarktparteien organisierten sich zunehmend international. In der Textilbranche fand der erste internationale Gewerkschaftskongress 1891 statt, wobei Vertreter:innen aus Frankreich, Deutschland, Belgien, Österreich, Grossbritannien, Böhmen, den USA und der Schweiz eine engere Kooperation beschlossen. Zwei Jahre später wurde auf dem zweiten Kongress ein internationales Sekretariat gegründet. Der vierte Kongress 1895 schliesslich hob die «Internationale Vereinigung der Textilarbeiter» aus der Taufe. 1893 erfolgte auf dem Kongress der Zweiten Internationale die Schaffung eines internationalen Büros der Metallarbeiter. Dieses wurde 1904 zum «Internationalen Metallarbeiterbund» («Eiserne Internationale») reorganisiert. 1889, 1893, 1900 und 1904 fanden internationale Holzarbeiterkongresse statt, die in der Gründung einer «Internationalen Union der Holzarbeiter» gipfelten. 1903 berief der deutsche Maurerverband wegen der grenzüberschreitenden Dimension der Streikbruchproblematik die erste internationale Maurerkonferenz ein. In den folgenden Jahren fanden weitere Maurerkonferenzen statt. 1903 erfolgte auch die Gründung der «Steinhauer-Internationale». 1911 fand in Zürich der erste internationale Malerkongress statt. Im folgenden Jahr wurde das internationale Sekretariat der Maler und verwandter Berufe aus der Taufe gehoben. Auch die Zimmerleute verfügten über ein internationales Sekretariat.

Nachdem 1903 ein Internationales Gewerkschaftssekretariat eingerichtet worden war, wurde 1913 als Dachverband der Dachverbände der «Internationale Gewerkschaftsbund» (IGB) aus der Taufe gehoben. Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte eine weltanschauliche Diversifizierung: 1920 wurde der «Internationale Bund Christlicher Gewerkschaften» gegründet, den bis 1928 der St. Galler Nationalrat und führende christlichsoziale Funktionär Josef Scherrer präsidierte. 1921 entstand die Komintern-nahe «Rote Gewerkschafts-Internationale» («Profintern»), die heftig gegen den IGB («Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale») polemisierte.

Die Arbeitgeber:innen organisierten sich ab der Jahrhundertwende ebenfalls grenzüberschreitend. 1906, in einem von einer internationalen Streikwelle geprägten Jahr, schlossen der Schweizerische Baumeisterverband und die Landesverbände für das Baugewerbe von Elsass-Lothringen, Baden, Nord- und Südbayern einen Kartellvertrag, der die gegenseitige Unterstützung in Streikfällen vorsah. 1908 erfolgte auf dem Zweiten Internationalen Bauarbeitgeberkongress die Gründung der «Internationalen Bauarbeitgeber-Union», der auch der Schweizerische Baumeisterverband beitrat. 1910 unterzeichneten die Baumeisterverbände Deutschlands, Österreichs und der Schweiz einen Kartellvertrag mit einem Verbot der Beschäftigung Streikender oder Ausgesperrter. In anderen Branchen entwickelten sich ähnliche internationale Vernetzungen. 1920 entstand, befördert durch die tripartite Struktur der ILO, aus den informellen internationalen Netzwerken der Arbeitgeberorganisationen die «International Organization of Industrial Employers». Etwa gleichzeitig initiierten deutsche Freikorpskreise die «Werkdienst-Internationale», die dem Ziel der Abwehr von Streiks und Arbeiter:innenunruhen diente und sich 1921 bis 1931 zu jährlichen Konferenzen traf. Aus der Schweiz gehörte ihr der Schweizerische Vaterländische Verband an (s. SozialarchivInfo 3/2019).

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.260.1-43 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Sozialistische Internationale
  • Ar 1.280.6 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Kommunistische Internationale
  • Ar 1.732.28-30 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Sozialistische Internationale
  • Ar 1.734.118 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: SPS, Progressive Alliance (Kongresse)
  • Ar 1.734.120 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: SPS, Sozialistische Internationale
  • Ar 65.17.1-9 Revolutionäre Marxistische Liga RML: IV. Internationale
  • Ar 106 Moses Mandel (1883–1938)
  • Ar 140 Edgar Woog (1898–1973)
  • Ar 148 Marino Bodenmann (1893–1964)
  • Ar 155.14.1-10 Jost von Steiger (1917–2007): IV. Internationale
  • Ar 170 Herman Greulich (1842–1925)
  • Ar 189 Karl Hofmaier (1897–1988)
  • Ar 198.7 Schweizer Kommunisten
  • Ar 201.26 Schweizerischer Arbeiterbund
  • Ar 686.10.2 Forschungsdokumentation Brigitte Studer: Dokumente zum Komintern-Apparat und zur KPS, Kopien aus dem Komintern-Archiv
  • Ar R 88 Schweizerischer Grütliverein
  • Ar SGB G 150/1-2 Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): IGB
  • Ar SGB G 151-155 Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): IGB
  • Ar SMUV 08D-0037 SMUV Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen: Internationaler Metallarbeiter Bund (IMB): IGB; IBFG; Internationale Arbeiter Assoziation; Sozialistische Arbeiter-Internationale; Internationale Berufssekretariate; ILO; OECE

Sachdokumentation

  • KS 32/168 Interparlamentarische Union
  • KS 331/128 Internationaler Gewerkschaftsbund
  • KS 331/129 Weltgewerkschaftsbund
  • KS 331/129b Internationaler Bund Freier Gewerkschaften (IBFG)
  • KS 331/136 Internationale Gewerkschaftsverbände
  • KS 331/136b Internationale Gewerkschaftsverbände
  • KS 331/219 Rote Gewerkschaftsinternationale
  • KS 331/219a Rote Gewerkschaftsinternationale
  • KS 331/220 Bibliothek der Roten Gewerkschaftsinternationale
  • KS 331/225 Christliche Gewerkschaften: Internationale Verbände
  • KS 335/31 Sozialistische Jugend-Internationale
  • KS 335/67 Pariser Kommune; Commune de Paris
  • KS 335/67a Pariser Kommune; Commune de Paris
  • KS 335/131 Sozialistische Internationalen: Erste Internationale: Berichte und Dokumente
  • KS 335/132 Sozialistische Internationalen: Erste Internationale: Geschichte
  • KS 335/132a Sozialistische Internationalen: Erste Internationale: Geschichte
  • KS 335/134 Zweite Internationale: I. und II. Kongress: 1889, Paris; 1891, Brüssel
  • KS 335/135 Zweite Internationale: III. Kongress: 1893, Zürich
  • KS 335/136 Zweite Internationale: IV., V. und VI. Kongress: 1896, London; 1900, Paris; 1904, Amsterdam
  • KS 335/137 Zweite Internationale: VII. Kongress: 1907, Stuttgart
  • KS 335/138 Zweite Internationale: VIII. Kongress: 1910, Kopenhagen
  • KS 335/139 Zweite Internationale: IX. und X. Kongress: 1912, Basel; 1914, Wien
  • KS 335/140 Zweite Internationale: Zusammenbruch; Konferenz von Zimmerwald, 1915; Konferenz von Kiental (Kienthal), 1916
  • KS 335/141 Zweite Internationale: 1917, Stockholm bis 1920, Genf
  • KS 335/142 Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI): Vorläuferkonferenzen; I. und II. Kongress: 1923, Hamburg; 1925, Marseille
  • KS 335/143 Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI): III. Kongress: 1928, Brüssel
  • KS 335/143a Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI): III. Kongress: 1928, Brüssel
  • KS 335/144 Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI): III. Kongress: 1928, Brüssel
  • KS 335/145 Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI): IV. Kongress: 1931, Wien
  • KS 335/146 Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI): IV. Kongress: 1931, Wien
  • KS 335/147 Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI): Konferenz: 1933, Paris
  • KS 335/148 Sozialistische Internationale
  • KS 335/148a Sozialistische Internationale
  • KS 335/149 Sozialistische Internationale
  • KS 335/149a Sozialistische Internationale
  • KS 335/149b Sozialistische Internationale
  • KS 335/285 Zweieinhalbte Internationale (Wiener Internationale)
  • KS 335/300 Kommunistische Internationale (Komintern): I. Kongress: 1919, Moskau
  • KS 335/301 Kommunistische Internationale (Komintern): II. Kongress: 1920, Moskau
  • KS 335/302 Kommunistische Internationale (Komintern): III. Kongress: 1921, Moskau
  • KS 335/303 Kommunistische Internationale (Komintern): Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI)
  • KS 335/304 Kommunistische Internationale (Komintern): IV. Kongress: 1922, Moskau
  • KS 335/305 Kommunistische Internationale (Komintern): Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI): 1922–1924
  • KS 335/306 Kommunistische Internationale (Komintern): V. Kongress: 1924, Moskau
  • KS 335/306a Kommunistische Internationale (Komintern): V. Kongress: 1924, Moskau
  • KS 335/307 Kommunistische Internationale (Komintern): Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI)
  • KS 335/308 Kommunistische Internationale (Komintern): Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI)
  • KS 335/309 Kommunistische Internationale (Komintern): Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI)
  • KS 335/310 Kommunistische Internationale (Komintern): VI. Kongress: 1928, Moskau
  • KS 335/311 Kommunistische Internationale (Komintern): Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI)
  • KS 335/312 Kommunistische Internationale (Komintern): VII. Kongress: 1935, Moskau
  • KS 335/313 Kommunistische Internationale (Komintern): Auflösung und Geschichte
  • KS 335/314 Kommunistische Internationale (Komintern): Verlag der Kommunistischen Internationale: Bibliografie
  • KS 335/315 Kommunistische Internationale (Komintern): Schriften
  • KS 335/316 Kommunistische Internationale (Komintern): Schriften
  • KS 335/316a Kommunistische Internationale (Komintern): Schriften
  • KS 335/327 Gewerkschaftspolitik der Dritten Internationale: 1919–1932
  • KS 335/328 Hilfsorganisationen der Dritten Internationale: 1920–1941
  • KS 335/410 Vierte Internationale; Trotzkismus: Schriften von Leo Trotzki
  • KS 335/410a Vierte Internationale; Trotzkismus
  • KS 335/411 Vierte Internationale; Trotzkismus
  • KS 335/412 Trotzkismus; IV. Internationale: Schweiz: Linksopposition der KPS
  • KS 335/412a Trotzkismus; IV. Internationale: Schweiz: Linksopposition der KPS
  • KS 335/413 Vierte Internationale; Trotzkismus: Schweiz: Trotzkistenprozess 1942
  • KS 335/414 Vierte Internationale; Trotzkismus: Schweiz: Proletarische Aktion
  • KS 335/415 Vierte Internationale; Trotzkismus: Deutschland & Österreich
  • KS 335/416 Vierte Internationale; Trotzkismus: Frankreich
  • KS 335/417 Vierte Internationale; Trotzkismus: Belgien; Niederlande (Holland)
  • KS 335/418 Vierte Internationale; Trotzkismus: Grossbritannien
  • KS 335/419 Vierte Internationale; Trotzkismus: USA
  • KS 335/420 Vierte Internationale; Trotzkismus: USA
  • KS 335/421 Vierte Internationale; Trotzkismus: diverse Länder
  • KS 335/422 Vierte Internationale; Trotzkismus: Schriften
  • QS 58.02 Vierte Internationale; Trotzkismus
  • QS 78.1 Z Internationale Gewerkschaftsverbände
  • ZA 55.1 Sozialistische Internationalen: Erste Internationale
  • ZA 55.2 Sozialistische Internationalen: Zweite Internationale
  • ZA 55.3 Sozialistische Internationale
  • ZA 58.0 *KIF Gründung und Auflösung der Kominform 1943–1958
  • ZA 58.02 Vierte Internationale; Trotzkismus
  • ZA 58.02 *CU Vierte Internationale; Trotzkismus: Konflikt China – Sowjetunion
  • ZA 58.02 C Vierte Internationale; Trotzkismus: Schweiz
  • ZA 78.1 Z Internationale Gewerkschaftsverbände
  • ZA 78.1 Z *IBFG Internationaler Bund Freier Gewerkschaften (I.B.F.G.)

Bibliothek

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  • Bakunin, Michael: Konflikt mit Marx, 2 Bde. Berlin 2004-2011, 100110
  • Bakunin, Michael: Die Politik der Internationale. Münster 2015, 131912
  • Bandelier, André (Hg.): La Première Internationale et le Jura: 2e colloque du Cercle d’études historiques de la Société jurassienne d’émulation. Moutier 1973, 50053
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  • Centenaire du Congrès de Lausanne 1867–1967: Première Internationale. Lausanne 1967, Hf 2942
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  • Devreese, Daisy F.: «Ein seltener Mann»: Johann Philipp Becker und die Internationale Arbeiter-Association, in: Hahn, Hans-Werner (Hg.): Johann Philipp Becker: Radikaldemokrat – Revolutionsgeneral – Pionier der Arbeiterbewegung. Stuttgart 1999. S. 113-128, 106213
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  • Welskopp, Thomas: Das Banner der Brüderlichkeit: Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Bonn 2000, 107344

Periodika

  • Bulletin de la Fédération jurassienne de l’Association internationale des travailleurs, ZZ 1036
  • Felleisen, ZZ 234
  • Der Grütlianer, ZZ 2
  • Le Progrès, SGB 0068/PE685
  • Die Tagwacht, ZZ 12
  • Der Vorbote, NN 192

Vor 50 Jahren: Die Nelkenrevolution

Am 24. April 1974 um 22:55 Uhr spielte der private portugiesische Rundfunksender «Rádio Clube Português» das unpolitische Liebeslied «E Depois do Adeus» («Und nach dem Abschied»), das am Grand Prix Eurovision auf dem letzten Platz gelandet war. Anderthalb Stunden später, um 0:25 Uhr, wurden im katholischen Sender «Rádio Renascença» die ersten Zeilen des verbotenen Kampfliedes «Grândola, Vila Morena» verlesen, im Anschluss erklang das Lied zweimal in voller Länge. Am Vorabend hatte die Zeitung «República» in einem kleinen Hinweis angekündigt, das Musikprogramm der Nacht sei besonders lohnend. Die beiden Liedausstrahlungen waren Signale des linksgerichteten «Movimento das Forças Armadas» (MFA, «Bewegung der Streitkräfte») zum Sturz der jahrzehntelangen portugiesischen Diktatur. Während «E Depois do Adeus» nur von Eingeweihten als Aufruf zum Abschied vom Faschismus verstanden werden konnte, machte das Abspielen von «Grândola, Vila Morena» einem breiteren Publikum klar, dass wichtige politische Veränderungen im Gange waren.

In den folgenden Stunden besetzten die Aufständischen im ganzen Land militärische Stützpunkte und Flughäfen. Um 4:20 Uhr wurde der portugiesische Luftraum gesperrt, wenige Minuten später sendete «Rádio Clube Português» die erste Verlautbarung des MFA. Als die aufständischen Truppen kurz nach 5:00 Uhr die ersten strategischen Ziele in Lissabon ansteuerten, waren die Strassen bereits von Tausenden begeisterter Unterstützer:innen gesäumt. «Grândola, Vila Morena», das seit 2014 auf der UNESCO-Liste des immateriellen Weltkulturerbes figuriert, wurde zur Hymne der Umwälzung, die bald den Namen «Revolução dos Cravos» (Nelkenrevolution) erhielt, da viele aufständische Soldaten rote Nelken in den Gewehrläufen oder am Revers trugen.

Die Aufständischen, zu denen die Mehrheit der Truppen überlief, besetzten am 25. April wichtige Ministerien und militärische Einrichtungen und begannen am Mittag die Belagerung der zentralen Polizeikaserne Lissabons, wo sich der starke Mann der Diktatur, Ministerpräsident Marcelo Caetano, verschanzt hatte. Gegen Abend erklärte sich Caetano zum Rücktritt bereit, allerdings unter der Bedingung, dass die Macht an General António de Spínola übergehe, der nicht Teil des MFA war. Anschliessend ging Caetano ebenso wie Staatspräsident Admiral Américo Tomás über Madeira ins Exil nach Brasilien, wo in jenen Jahren eine Militärdiktatur herrschte. War der wesentlich von Major Otelo Saraiva de Carvalho geplante Umsturz bis dahin friedlich verlaufen, so feuerten Mitglieder der für willkürliche Verhaftungen und Folter berüchtigten Geheimpolizei PIDE/DGS am Abend des 25. April bei der Belagerung ihres Hauptquartiers in die Menge und töteten vier Personen. Ein Geheimpolizist kam auf der Flucht ums Leben. Dies waren die einzigen Toten der Nelkenrevolution. Erst am folgenden Morgen ergaben sich die Geheimpolizisten. 18 Stunden nach dem ersten mysteriösen Rundfunksignal war die portugiesische Diktatur Geschichte.

Salazars «Neuer Staat»

Das gestürzte Regime reichte bis in die Zwischenkriegszeit zurück. Es war damit die am längsten existierende Rechtsdiktatur und nach der Sowjetunion die zweitälteste Diktatur im Europa des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1926 hatte General Manuel de Oliveira Gomes da Costa gegen die politisch sehr instabile Erste Republik geputscht und eine Militärdiktatur errichtet. Diese wurde in den frühen 1930er-Jahren von António de Oliveira Salazar, 1928 bis 1932 Finanzminister und danach Ministerpräsident, unter dem Schlagwort «Estado Novo» zu einem autoritären «Ständestaat» umgebaut. Die Verfassung von 1933 räumte dem auf jeweils sieben Jahre gewählten Staatspräsidenten de jure eine starke Stellung ein, faktisch lag die Macht aber für die folgenden fast vier Jahrzehnte beim Ministerpräsidenten Salazar. Das schwache Parlament bestand aus zwei Kammern: Das Wahlrecht für die Volkskammer war an Besitz und Bildung gebunden, so dass lediglich 15 bis 20% der erwachsenen Bevölkerung (darunter nur ganz wenige Frauen) wahlberechtigt waren. Ausserdem besass die 1930 gegründete Einheitspartei «União Nacional», in die auch die Einheitsgewerkschaft integriert war, bis 1945 das Monopol der Kandidatenaufstellung. Die Korporationenkammer bestand aus von der Regierung ernannten «Vertretern» der Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Landwirtschaft sowie kulturellen und regionalen Institutionen.

Die Ideologie des Regimes war recht schwammig, beruhte auf Nationalismus, Katholizismus und Kolonialismus, zielte aber vor allem auf eine Entpolitisierung der Bevölkerung ab. Einen Personenkult wie andere zeitgenössische Diktatoren lehnte Salazar, der recht asketisch lebte und zeit seines Lebens Junggeselle blieb, ab. Hinzu kamen eine strenge Pressezensur, die Kontrolle der Bevölkerung durch politische Polizei und Justiz, das Verbot oppositioneller Parteien und freier Gewerkschaften und die Abschaffung des Streikrechts. Gesellschaftliche Basis des Salazar-Regimes waren die Armee, die katholische Kirche, die Grossgrundbesitzer:innen, Teile des Bürgertums und die Siedler:innen in den Kolonien. Im Zuge einer weiteren Annäherung an ausländische faschistische Vorbilder entstanden 1936 die paramilitärische Miliz «Legião Portuguesa» und die Jugendorganisation «Mocidade Portuguesa». Im selben Jahr wurde auf den Kapverdischen Inseln das Konzentrationslager «Campo do Tarrafal» eingerichtet, das bald auch als «Lager des langsamen Todes» bekannt war. Auch wurde vom Mussolini-Regime der bei Aufmärschen und Massenversammlungen zu entbietende «römische Gruss» übernommen. Der Antisemitismus der anderen faschistischen Diktaturen spielte in der Ideologie und Propaganda des «Estado Novo» dagegen keine wesentliche Rolle.

Korporatistische Modelle hatten in den 1930er-Jahren auch in der Schweiz eine Anhängerschaft in katholisch-konservativen, frontistischen und gewerblichen Kreisen (s. SozialarchivInfo 5/2020). Neben dem faschistischen Italien und dem kurzlebigen österreichischen «Ständestaat» interessierten sich diese auch für den «Estado Novo» als potenzielles Vorbild. Der rechtskatholische Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker Gonzague de Reynold, Professor an der Universität Fribourg, publizierte 1936 ein Buch über Portugal. Den Militärputsch von 1926 bezeichnete er darin als «Ergebnis einer langen Bemühung um Ordnung und Sittlichkeit», Salazar als einen «Diktator aus Pflicht» und «grossen Staatserneuerer», der Portugal «nach sechzehn Jahren freimaurerischer Republik und einem Jahrhundert parlamentarischem Liberalismus», aus denen «wirtschaftlicher Ruin, politische Unordnung und sittliche Anarchie» resultiert hätten, «wiederaufgebaut» habe. 1938 wurde de Reynold für dieses Werk von Salazar persönlich ausgezeichnet.

Wirtschaftspolitisch verfolgte Salazar einen strikten Austeritätskurs und strebte eine «organische» Industrialisierung an. In der Realität bedeutete dies eine starke Abschottung von den internationalen Märkten und eine schwache industrielle Entwicklung auf Basis von Niedrigstlöhnen. Industrie und Bankwesen wurden von etwa 30 regimenahen Familien kontrolliert. Der Aussenhandel war auf Austausch mit den eigenen Kolonien sowie die britischen Handelsinteressen konzentriert. Zwar trat Portugal 1960 der Freihandelszone EFTA (bei der auch die Schweiz Mitglied wurde) bei und betrieb ab 1965 eine vorsichtige Öffnung für ausländische Investor:innen. Protektionismus, Bürokratie und Klientelismus behinderten aber eine wirtschaftliche Modernisierung. So blieb das Land bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte ein Agrarstaat. 1950 war noch fast die Hälfte, 1970 immer noch ein knappes Drittel der Erwerbstätigen in der notorisch unproduktiven Landwirtschaft beschäftigt. Im Norden bestand diese aus zersplittertem Kleinbesitz, im Süden dominierten wenige Grossgrundbesitzer:innen. Trotz des grossen Agrarsektors blieb Portugal so von Nahrungsmitteleinfuhren abhängig.

Entsprechend gross war die Armut breiter Bevölkerungsschichten. Ende der 1960er-Jahre hatte Portugal im nichtkommunistischen Europa das tiefste Pro-Kopf-Einkommen – weniger als ein Drittel desjenigen der Bundesrepublik Deutschland und immer noch etwa ein Viertel tiefer als in Spanien und Griechenland. Hinzu kam nach Albanien und Jugoslawien die dritthöchste Säuglingssterblichkeit Europas. Die Hälfte der portugiesischen Wohnungen verfügte auch um 1970 noch über kein fliessendes Wasser. Gezielt unterband der «Estado Novo» eine für dieses Wirtschaftsmodell nicht erforderliche Ausbildung breiter Bevölkerungsschichten. Ende der 1960er-Jahre hatte Portugal das relativ niedrigste Bildungsbudget und die mit 30% höchste Analphabet:innenrate aller Länder Europas. 90% der Bevölkerung besuchten lediglich die obligatorische Volksschule, die für Knaben vier, für Mädchen drei Jahre dauerte. Vor diesem Hintergrund emigrierten 1965 bis 1973 trotz zeitweiser staatlicher Restriktionen etwa eine Million Portugies:innen ins Ausland.

Politisch hatte das Salazar-Regime um das Ende des Zweiten Weltkriegs eine oberflächliche Entfaschisierung vollzogen, die aber keine Demokratisierung bedeutete. 1944 brach das formal neutrale Land auf britischen Druck hin die zuvor recht intensiven Wirtschaftsbeziehungen zu Nazi-Deutschland ab. 1945 wurde das Monopol der «União Nacional» auf Kandidatenaufstellung bei Wahlen abgeschafft. Die Bildung oppositioneller Parteien und die freie Wahlwerbung für Oppositionskandidat:innen blieben aber verboten, so dass die Opposition bis zum Ende der Salazar-Zeit die Parlamentswahlen boykottierte und manchmal bereits angemeldete Kandidaturen vor den Wahlen wieder zurückzog. Bei den Präsidentschaftswahlen 1949 und 1951 wurden oppositionelle Kandidaten entweder disqualifiziert oder zogen sich nach Repressionen zurück. 1958 hielt der unabhängige General Humberto Delgado, der für den Fall seiner Wahl die Entlassung Salazars angekündigt hatte, seine Kandidatur aufrecht und erhielt offiziell 23% der Stimmen. Nach dieser Erfahrung schaffte das Salazar-Regime die Volkswahl des Präsidenten ab. Weil Delgado den Vorwurf des Wahlbetrugs erhob, wurde er 1959 aus der Armee entlassen und flüchtete nach Brasilien, wo er 1964 eine Exilorganisation gründete. 1965 wurde er von der portugiesischen Geheimpolizei in Spanien in eine Falle gelockt und ermordet. Bei dem Attentat erwürgte ein Geheimpolizist auch Delgados Sekretärin.

Kurz nach der Ermordung Delgados verfasste der Schriftsteller Hugo Loetscher zum Dokumentarfilm «Salazar und Portugal» des Schweizer Fernsehens den Begleitkommentar «Ach Herr Salazar». Darin kritisierte Loetscher in Form eines politischen Klagegedichts die Inhaftierung von Oppositionellen, die Ermordung Delgados, das rückständige Schulsystem, die Armut breiter Bevölkerungsschichten und die Kolonialpolitik. Wenige Augenblicke vor der Ausstrahlung setzte das Schweizer Fernsehen die Sendung ab, da Loetschers Kommentar, den zu ändern der Schriftsteller verweigert hatte, «den Eindruck einer undokumentierten Anklagerede hervorrufe». Die Last-minute-Programmänderung wurde in der Schweizer Presse weitherum kritisiert, allerdings nicht primär wegen ihres möglichen Zensurcharakters, sondern wegen des durch die Kurzfristigkeit der Massnahme hervorgerufenen Eindrucks des Dilettantismus. Loetscher wurde vom portugiesischen Regime in der Folge zur persona non grata erklärt.

1968 erlitt der mittlerweile 79-jährige Salazar eine Hirnblutung und wurde in Erwartung seines baldigen Ablebens vom Staatspräsidenten durch Caetano ersetzt. Als sich Salazars Gesundheitszustand wieder etwas besserte, getraute sich niemand, ihn über seine Entlassung zu informieren, und so führte er im Glauben, immer noch Ministerpräsident zu sein, weiterhin «Kabinettssitzungen» durch. 1970 verstarb Salazar. Caetano setzte zögerlich ein paar Reformen um und gestattete einigen Oppositionellen die Rückkehr nach Portugal. An den Parlamentswahlen 1969 beteiligten sich erstmals drei oppositionelle, kurz nach dem Wahltag wieder verbotene «Wahlkommissionen» mit Kandidaturen. Trotz sehr limitierter Agitationsmöglichkeiten kamen diese auf 12% der Stimmen, erhielten aber aufgrund des Mehrheitswahlrechts keine Sitze. Den letzten Scheinwahlen des «Estado Novo» im Jahr 1973 blieb die Opposition nach der Disqualifikation zahlreicher Kandidaturen wieder fern. Im Juli 1973 entstand in der Armee die konspirative «Bewegung der Hauptleute», aus der wenige Monate später das MFA hervorgehen sollte.

Ein Entwicklungsland mit Kolonialreich

Obwohl Portugal am Vorabend der Nelkenrevolution faktisch ein strukturschwaches Entwicklungsland war, dessen Wirtschaft durch den Ölpreisschock von 1973 (s. SozialarchivInfo 4/2023) einen zusätzlichen Schlag erhielt, pflegte das Regime das rückwärtsgewandte Image kolonialistischer Glorie und hielt daran auch mit militärischen Mitteln fest. Der Höhepunkt des portugiesischen Kolonialreichs lag bereits mehrere hundert Jahre zurück. Angefangen mit den Entdeckungsfahrten von Heinrich dem Seefahrer im 15. Jahrhundert, dem das Salazar-Regime 1960 zum 500. Todestag verschiedene Denkmäler widmete, baute Portugal in der frühen Neuzeit einen umfangreichen Kolonialbesitz mit Territorien und Küstenstützpunkten in Amerika, Afrika und Asien auf. Der interkontinentale Fernhandel mit Gewürzen und anderen Gütern, aber auch Sklav:innen war integraler Bestandteil dieser frühen Globalisierung. 1494 grenzten die Kronen Portugals und Spaniens im Vertrag von Tordesillas mit päpstlichem Segen ihre Ansprüche im Atlantikraum und den Amerikas ab. Auf dieser Basis entstand mit Brasilien die grösste und reichste portugiesische Kolonie, die 1822 aber unabhängig wurde.

Noch zu Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Portugal umfangreichen Kolonialbesitz in Afrika (Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, São João Baptista d’Ajudá, Kap Verde, São Tomé und Príncipe) und Asien (Macau, Osttimor, «Portugiesisch-Indien» mit den Gebieten Dadrá e Nagar-Aveli, Goa, Diu und Damão). Für das Regime waren diese Territorien, obwohl Salazar selber in seiner Regierungszeit nie eine Kolonie besuchte, integraler Bestandteil Portugals und Begründungsfaktor von dessen internationalem Sonderstatus. Ideologische Grundlage bildete die Vorstellung vom «Lusotropikalismus». Diese war vom brasilianischen Soziologen Gilberto Freyre begründet worden und behauptete eine bessere kolonisatorische und zivilisatorische Eignung des klimatisch warmen Portugals in den Tropen als anderer kapitalistischer oder kommunistischer Grossmächte und seine Fähigkeit, verschiedene Kulturen und «Rassen» zusammenzubringen und zu integrieren.

Die koloniale Realität sah allerdings weit weniger rosig aus. Insbesondere in den flächenmässig grössten Kolonien Angola und Mosambik beruhte die Wirtschaft immer noch stark auf Zwangsarbeit und war die Bevölkerung unterteilt in europäischstämmige portugiesische Bürger:innen (deren Zuwanderung vom Salazar-Regime in der Nachkriegszeit gefördert wurde), Einheimische und ganz wenige «Assimilierte» mit je unterschiedlichen Rechten und Pflichten. Schweizer:innen waren in den portugiesischen Kolonien in der Mission und als Geschäftsleute präsent. In Angola und Mosambik gab seit dem späten 19. Jahrhundert katholische und protestantische Schweizer Missionen. In beiden Kolonien fanden sich auch Schweizer Investitionen in Landwirtschaft und Bergbau. Die 1899 gegründete Schweizer Firma Boror bewirtschaftete in den 1960er-Jahren in Mosambik Weideland und die grösste Kokosplantage der Welt und eine weitere, 1922 gegründete Schweizer Gesellschaft baute Sisal-Agaven an und produzierte ein Drittel des von Mosambik exportierten Sisals.

Zwischen 1954 und 1961 verlor Portugal die Kontrolle über seine Besitzungen in Indien, die in die neue Republik Indien eingegliedert wurden, anerkannte dies aber bis zur Nelkenrevolution nicht. Ab 1961 starteten dann Unabhängigkeitskriege in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau und Kap Verde mit Angriffen verschiedener Guerillaorganisationen gegen die Kolonialmacht. In Angola gab es gleich drei, sich teilweise aus ideologischen, personellen und ethnischen Gründen auch gegenseitig bekämpfende Unabhängigkeitsbewegungen, die zeitweise auf Unterstützung der USA, der Sowjetunion, Kubas oder der Volksrepublik China und weiterer Länder zählen konnten. Einige führende Unabhängigkeitskämpfer hatten einen schweizerischen Bildungshintergrund. Eduardo Mondlane, Begründer der marxistischen FRELIMO in Mosambik, und weitere Mitglieder dieser Organisation waren ehemalige Schüler von Westschweizer Missionaren. Jonas Savimbi, zunächst maoistischer, dann antikommunistischer Anführer der angolanischen UNITA, hatte kurz an der Universität Fribourg Medizin und dann in Lausanne Politikwissenschaften studiert. Er war 1961 mit einer Gruppe von 19 aus Lissabon geflüchteten angolanischen Studenten durch kirchliche Vermittlung in die Schweiz gekommen.

Während in den 1950er- und 1960er-Jahren die französischen, britischen, belgischen und italienischen Kolonien in Afrika die Unabhängigkeit erlangten (s. SozialarchivInfo 3/2020), isolierte sich Portugal mit seiner Kolonialpolitik international immer mehr. Kritik kam nicht nur seitens der unabhängig gewordenen afrikanischen Länder (1963 bis 1975 wurden die portugiesischen Interessen im an Guinea-Bissau grenzenden Senegal mangels direkter Beziehungen von der Schweiz wahrgenommen) und des Ostblocks, sondern auch aus dem Westen, insbesondere von den USA. 1973 forderte die UNO-Vollversammlung den unverzüglichen Rückzug Portugals aus Guinea-Bissau.

Auch innenpolitisch war die fortgesetzte Kolonialpolitik für das Regime verheerend. Der Anteil der Militärausgaben am Staatshaushalt stieg 1960 bis 1974 von 25 auf 50%. Bis in die frühen 1970er-Jahre kamen Rüstungslieferungen auch aus der Schweiz. Um sich der vierjährigen Militärdienstpflicht mit Kriegseinsätzen in Afrika zu entziehen, setzten sich Zehntausende junger Portugiesen ins Ausland ab. Auch erodierten die Kolonialkriege die Unterstützergruppen des Regimes. Teile von Armee und Kirche forderten eine politische Lösung der Konflikte und Teile der Wirtschaftselite wollten statt dem Kolonialhandel eine Integration in den Gemeinsamen Markt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem ab 1973 auch Portugals wichtigster europäischer Handelspartner Grossbritannien angehörte, das der EFTA den Rücken gekehrt hatte.

Bereits im April 1961 gab es einen erfolglosen Staatsstreichversuch gegen das Salazar-Regime aus Teilen der militärischen und politischen Opposition, der von Verteidigungsminister Júlio Botelho Moniz angeführt wurde und sich hauptsächlich gegen die unnachgiebige Kolonialpolitik richtete. Im Februar 1974 publizierte der General und nachmalige Staatspräsident António de Spínola sein Buch «Portugal und die Zukunft», in dem er betonte, die Kolonialkriege seien für Portugal militärisch nicht zu gewinnen. Daraufhin wurde er seines Postens enthoben. Spínola entstammte einer aristokratischen, Salazar persönlich verbundenen Familie, hatte im Spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger auf der Seite Francos gekämpft und während des Zweiten Weltkriegs als Beobachter in der deutschen Wehrmacht an der mörderischen Belagerung Leningrads mitgewirkt. Von 1968 bis 1973 erhielt er als Militärgouverneur und Oberbefehlshaber in Guinea-Bissau direkten Einblick in die Zustände vor Ort. Obwohl Spínola also kein Linker war, wurde seine Absetzung ein Auslösefaktor für den wenige Wochen darauf erfolgenden Aufstand des MFA.

Nach der Nelkenrevolution beendete Portugal die Kolonialkriege und entliess 1974/75 fast alle Kolonien in die Unabhängigkeit. Dies brachte den meisten dieser Länder aber noch nicht den Frieden. In Mosambik ging der Unabhängigkeitskrieg fast nahtlos in einen bis 1992 dauernden Bürgerkrieg über, der etwa 900’000 Menschenleben forderte und in den direkt die Apartheidstaaten Rhodesien und Südafrika sowie indirekt die beiden Supermächte involviert waren. Ähnlich war die Entwicklung in Angola, wo der Bürgerkrieg zwischen den ehemaligen Unabhängigkeitsbewegungen gar bis 2002 anhielt und etwa 500’000 Menschenleben forderte. Direkt beteiligt waren auch Südafrika und Kuba, indirekt unter anderem die beiden Supermächte. Die Bürgerkriege in Mosambik und Angola hatten zeitweise stark den Charakter von «Stellvertreterkriegen», ihr Andauern über das Ende des Kalten Krieges hinaus zeigte aber, dass dies neben internen und regionalstrategischen Faktoren lediglich eine von mehreren Facetten dieser Konflikte war. Osttimor erlitt unmittelbar nach der Unabhängigkeit eine Invasion indonesischer Truppen. In den folgenden 24 Jahren indonesischer Besetzung kamen fast 180’000 Menschen, mehr als ein Viertel der Bevölkerung, durch Repressionen, Massaker und Guerillakämpfe ums Leben. Nach einer Übergangsphase ab 1999 unter UNO-Verwaltung wurde Osttimor 2002 ein zweites Mal unabhängig. Macau blieb als einzige Kolonie über die Nelkenrevolution hinaus in portugiesischem Besitz und wurde dann 1999 als «Sonderverwaltungszone» an die Volksrepublik China abgetreten.

Südeuropäische Demokratisierung

Am 26. April 1974 war die portugiesische Diktatur zwar beseitigt, die weitere Entwicklung des Landes aber noch nicht absehbar. Wenige Tage nach dem Umsturz kehrten die führenden Linksoppositionellen Mário Soares und Álvaro Cunhal nach Portugal zurück. Soares war ursprünglich Kommunist gewesen, hatte 1951 aber mit der Partei gebrochen. 1964 gründete er in Genf zusammen mit anderen nichtkommunistischen Salazar-Gegner:innen die sozialdemokratische «Acção Socialista Portuguesa», aus der 1973 die Sozialistische Partei Portugals hervorging. Nach der Ermordung Delgados wurde Soares 1965 Anwalt von dessen Familie. Mehrfach inhaftiert, wurde er zusammen mit seiner Familie 1968 nach São Tomé und Príncipe deportiert, durfte nach Caetanos Amtsantritt aber wieder zurückkehren. Bei den Wahlen 1969 kandidierte er für eine oppositionelle «Wahlkommission», anschliessend ging er ins Exil nach Rom und Paris. Kommunistenchef Cunhal war von 1949 bis 1960 inhaftiert gewesen, davon acht Jahre in Isolationshaft. Dann gelang ihm auf spektakuläre Weise die Flucht. In der Folge lebte er im Exil in der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Wegen seiner Ablehnung des Eurokommunismus (und später der Perestrojka) galt er als letzter westeuropäischer Stalinist.

Am 1. Mai 1974 fand in Lissabon eine riesige Demonstration statt. Der Abschlusskundgebung im Sportstadion, an der Soares und Cunhal Reden hielten, wohnten 100’000 Menschen bei. Am selben Tag erliess die provisorische Regierung ein Amnestiegesetz für die zahlreichen Fahnenflüchtigen und Kriegsdienstverweigerer. Wenige Tage darauf wurden Soares (als Aussenminister) und Cunhal (als Minister ohne Geschäftsbereich) in die provisorische Regierung aufgenommen. Insgesamt gab es bis zum 22. Juli 1976 sechs provisorische Regierungen, die aus Militärs wie auch Parteipolitikern bestanden. Parallel dazu spielte bis ins Frühjahr 1975 die aus Militärs bestehende «Junta de Salvação Nacional» eine wichtige Rolle.

Die zwei Jahre dauernde Transitionsphase war von verschiedenen Richtungskämpfen gekennzeichnet, in denen sich ideologische, auch auf die «Systemfrage» abzielende Gegensätze zwischen Militärs und ziviler Politik, zwischen den verschiedenen politischen Parteien und innerhalb der Streitkräfte ebenso manifestierten wie soziale Konflikte in einer extrem ungleichen und nach europäischen Standards «rückständigen» Gesellschaft. 1974/75 verfügten die provisorischen Regierungen Enteignung von Grossgrundbesitz und Verstaatlichungen von Banken und Grossbetrieben. Parallel dazu gab es viele illegale Landbesetzungen durch Landarbeiter:innen. In manchen Betrieben übernahmen Arbeiterkommissionen die Kontrolle. Der von Teilen des MFA zwischenzeitlich propagierte Aufbau eines Arbeiterrätesystems als Alternative zum Parlamentarismus konkretisierte sich aber nicht. Für den 28. September 1974 rief Staatspräsident António de Spínola zu einem «Marsch der schweigenden Mehrheit» auf. Dagegen mobilisierten die linken Kräfte, die einen rechten Staatsstreich befürchteten, und verhinderten die geplante Demonstration. Zwei Tage darauf trat Spínola zurück. Am 11. März 1975 war er dann in einen gescheiterten Putschversuch konservativer Kräfte involviert und floh in der Folge über Spanien nach Brasilien.

Am 25. April 1975, genau ein Jahr nach der Nelkenrevolution, fanden Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung statt. Am meisten Stimmen machte die Sozialistische Partei mit knapp 38%, dahinter folgte die bürgerlich-liberale Demokratische Volkspartei mit 26%. Die Kommunistische Partei schnitt unter den Erwartungen ab und kam als drittstärkste Kraft auf 12%, gefolgt von den konservativen Christlichsozialen mit 7%. Eine Reihe linksradikaler Splittergruppen blieb weit unter den eigenen Hoffnungen und gewann insgesamt nur einen einzigen Sitz. Die politischen Parteien waren nach fast einem halben Jahrhundert Diktatur schwach und mussten zunächst ihre Mitgliedschaften, nationalen und regionalen Strukturen aufbauen, um nach der initialen Mobilisierungsphase und Rückkehr aus dem Exil allmählich die Militärs als wesentliche politische Akteure ablösen zu können. Dabei spielte, auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, ausländische Unterstützung eine Rolle. Während die Kommunistische Partei auf Support aus dem Ostblock zählen konnte, genoss die Sozialistische Partei Unterstützung durch die Sozialistische Internationale und die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Der US-Geheimdienst CIA organisierte ebenfalls Finanzhilfen für die nichtkommunistischen Kräfte, namentlich jene auf der Linken, denen elektorale Erfolgschancen gegen die Kommunistische Partei zugetraut wurden.

Auch nach den Wahlen verlief die Entwicklung zunächst turbulent. Im «heissen Sommer» 1975 kam es zu verschiedenen Akten politischer Gewalt durch unterschiedliche Akteursgruppen, darunter von Spanien aus agierender Rechtsterroristen, die sogar Befürchtungen über einen Bürgerkrieg laut werden liessen. Am 10. November 1975 belagerte ein Demonstrationszug von Bauarbeitern für 36 Stunden das Parlamentsgebäude und setzte zentrale Forderungen zu ihren Arbeitsbedingungen durch. Am 25. November besetzten linksradikale Fallschirmjäger-Einheiten mehrere Luftstützpunkte. Im Gegenzug wurde in Lissabon der Ausnahmezustand ausgerufen und die militärische Hierarchie wiederhergestellt.

Im Februar 1976 gelangte Ex-Präsident Spínola in die Schweiz mit der Auflage, jegliche politische Tätigkeit zu unterlassen. Am 25. März kam er in Düsseldorf mit einem vermeintlichen Waffenhändler mit angeblichen Kontakten zu CSU-Chef Franz Josef Strauss zu Verhandlungen über Waffenlieferungen für einen rechten Putsch in Portugal zusammen. Bei seinem Gesprächspartner handelte es sich aber um den Investigativjournalisten Günter Wallraff, der zehn Jahre später durch seine Undercover-Recherche «Ganz unten» über die Lebens- und Arbeitsumstände türkischer Migrant:innen in der Bundesrepublik bekannt werden sollte. Nachdem Wallraff Spínolas Putschpläne am 7. April publik gemacht hatte, musste dieser die Schweiz unverzüglich verlassen und ging wieder nach Brasilien.

Am 2. April 1976 wurde die neue Verfassung verabschiedet. Nur die Christlichsozialen stimmten in der Versammlung dagegen. Die Verfassung sah ein Einkammerparlament und einen starken Präsidenten vor und wurde rückblickend als «semi-präsidial» charakterisiert. Von anderen westeuropäischen Verfassungen unterschied sie sich durch das Gremium des «Revolutionsrates» aus Vertretern der Armee sowie das Bekenntnis zum Sozialismus und zum Übergang zu einer klassenlosen Gesellschaft in den beiden einführenden Artikeln. Die erste Verfassungsrevision von 1982 schränkte dann die Macht des Präsidenten ein und schaffte den Revolutionsrat ab.

Die ersten Parlamentswahlen fanden am zweiten Jahrestag der Nelkenrevolution statt. Wiederum siegte die Sozialistische Partei mit knapp 35% vor der Demokratischen Volkspartei mit 24%. Die Christlichsozialen verzeichneten starke Gewinne und kamen auf 16% vor der Kommunistischen Partei mit 14%. Nach den Wahlen bildete Mário Soares die erste verfassungsmässige Regierung. Seinem Minderheitskabinett gehörten neben Sozialisten auch Militärs und unabhängige Fachleute an. In der Folgezeit etablierte sich ein relativ stabiles Mehrparteiensystem, bei dem sich die Sozialistische Partei und die stärkste bürgerliche Kraft regelmässig in der Regierungsverantwortung ablösten. Mit dem Ende der Amtszeit von Staatspräsident António Ramalho Eanes, der 1974 dem MFA angehört hatte und 1976 erstes demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt wurde, im Jahr 1986 ging auch dieses Amt in zivile Hände über.

Die Schweizer Medien berichteten über die Vorgänge in Portugal breit. Auf der Linken machten sich Hoffnungen auf einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» breit, nachdem in den Vorjahren entsprechende, allerdings von sehr verschiedenen Ausgangslagen gestartete Versuche in der Tschechoslowakei durch den Einmarsch des Warschauer Pakts (1968, s. SozialarchivInfo 1/2018) und in Chile durch einen Militärputsch (1973) gewaltsam unterdrückt worden waren. Auf der bürgerlichen Seite gab es dagegen Befürchtungen, Portugal könnte ins östliche Lager abgleiten. Das Berner «Ost-Institut» veröffentlichte 1975 und 1976 zwei Sonderpublikationen, die vor einer Machtergreifung der moskauhörigen Kommunistischen Partei warnten und dabei Parallelen zur kommunistischen Strategie und Taktik bei den Vorgängen in den ostmitteleuropäischen Ländern der späten 1940er-Jahre zogen. Die «Schweizerische Fernseh- und Radiovereinigung», nach ihrem Gründer, dem Berner SVP-Nationalrat und Geschichtsprofessor Walther Hofer, auch als «Hofer-Club» bekannt, die das Schweizer Fernsehen wegen seiner angeblichen Linkslastigkeit mit einer Flut von Programmbeschwerden eindeckte, publizierte 1977 ein 244-seitiges Buch über die Portugal-Berichterstattung der deutschsprachigen Tagesschau in den Jahren 1974/75 und monierte neben journalistischen Sorgfaltslosigkeiten insbesondere die ihres Erachtens ungenügende Thematisierung der «kommunistischen Frage».

Regen Anteil nahmen insbesondere die Kräfte der Neuen Linken, die bereits vor 1974 Kritik an der Diktatur in Portugal und den Kolonialkriegen geübt hatten. Auch waren seit den 1960er-Jahren besonders in der Romandie verschiedene Solidaritätskomitees für die portugiesische Opposition und die afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen entstanden. Die seit 1957 anhaltende Präsenz Portugals am jährlichen «Comptoir Suisse» in Lausanne wurde zunehmend kritisiert. Nach dem Umsturz organisierten neulinke Gruppierungen dann eine Vielzahl von Veranstaltungen und gaben eine Reihe von Broschüren über Portugal heraus. Die Zürcher «Arbeitsgruppe Portugal» lancierte die Solidaritätsaktion «Trinkt portugiesischen Wein» zwecks Verringerung des portugiesischen Aussenhandelsdefizits und listete auf einem Flugblatt entsprechende Angebote bei den Zürcher Detaillisten auf.

Der Übergang Portugals zur Demokratie war Teil eines Demokratisierungsprozesses, der Mitte der 1970er-Jahre mehrere südeuropäische Staaten erfasste, in der Rückschau dann aber hinter dem osteuropäischen Demokratisierungsprozess von 1989/90 in den Schatten trat. Anderthalb Jahre nach der Nelkenrevolution, am 20. November 1975, musste der spanische Ministerpräsident Carlos Arias Navarro am Fernsehen mit tränenerstickter Stimme bekanntgeben, dass Langzeitdiktator Francisco Franco nach wochenlangem Siechtum verstorben war. Der Generalissimus hatte das Land seit dem Bürgerkrieg von 1936 bis 1939, als er nach einem zunächst misslungenen Militärputsch mit Hilfe Hitlers und Mussolinis sowie logistischer Unterstützung Portugals die Republik zerstört hatte (s. SozialarchivInfo 1/2017), mit eiserner Faust regiert. Zu den Bewunderern Francos, der zwei Monate vor seinem Tod nochmals fünf politische Gefangene hatte hinrichten lassen, zählte im Ausland neben dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet auch der Schweizer Rechtspopulist James Schwarzenbach (s. SozialarchivInfo 2/2020). Francos Nachfolger, König Juan Carlos I., leitete einen zunächst behutsamen Veränderungsprozess ein. 1976 wurde die Bildung politischer Parteien wieder legalisiert und im Sommer 1977 fanden die ersten freien Wahlen seit 1936 statt. Ende 1978 hiessen die spanischen Bürger:innen in einem Referendum eine neue Verfassung gut, die Spanien zur parlamentarisch-demokratischen Monarchie machte. Nach einem misslungenen Putschversuch rechtsgerichteter Kreise aus Armee und Guardia Civil, die im Februar 1981 in einem theatralischen Auftritt die Mitglieder des Parlaments als Geiseln nahmen, führten die Wahlen vom Oktober 1982 zum ersten demokratischen Regierungswechsel vom zentristischen Regierungspräsidenten Leopoldo Calvo-Sotelo zum Sozialisten Felipe González, was gemeinhin als Abschluss der «Transición» gilt.

In Griechenland hatte am 21. April 1967 eine rechtsextreme Militärjunta in einem Putsch die Macht übernommen, um einem erneuten Wahlsieg des zentristischen Reformers Georgios Papandreou zuvorzukommen. Sofort wurden die Zensur eingeführt, Oppositionelle verhaftet und gefoltert, auf verschiedenen Inseln Lager mit Tausenden von politischen Gefangenen errichtet und oppositionelle Auslandsgriech:innen wie die Schauspielerin Melina Mercouri ausgebürgert und enteignet. König Konstantin II., dessen Verhältnis zum Obristenregime zwiespältig war, ging nach einem misslungenen Gegenputsch Mitte Dezember 1967 ins Exil. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung des Regimes verstärkten sich 1973 der internationale Druck wie auch die interne Opposition. Im Mai 1973 wurden Putschpläne von Marineoffizieren aufgedeckt. Im Sommer schaffte Oberst Georgios Papadopoulos, der starke Mann des Regimes, die Monarchie ab und machte sich selber zum Präsidenten. Mitte November kam es im Polytechnikum Athen zu einem dreitägigen Aufstand der Studierenden, den die Junta blutig niederschlug. Kurz darauf wurde Papadopoulos durch einen weiteren Putsch von Hardlinern des Obristenregimes gestürzt. Das Ende der Diktatur kam wenige Wochen nach der Nelkenrevolution durch die Zypern-Krise. Am 15. Juli 1974 putschte die zypriotische Nationalgarde in Absprache mit der griechischen Junta, die damit von ihren inneren Problemen ablenken wollte, mit dem Ziel eines völkerrechtswidrigen Anschlusses an Griechenland. Dies führte fünf Tage darauf aber zu einer Invasion türkischer Truppen auf der Insel und einige Monate später zur Etablierung der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern. Wenige Tage nach der türkischen Invasion holte die Junta den früheren konservativen Ministerpräsidenten Konstantin Karamanlis aus dem französischen Exil zur Bildung einer zivilen Regierung zurück. Als Resultat dieses «Regime change» («Metapolitefsi») fanden am 17. November 1974 in Griechenland, wo zweieinhalbtausend Jahre zuvor die Demokratie erfunden worden war, die ersten freien Wahlen seit 1964 sowie ein Referendum über die Staatsform statt.

Die Türkei ihrerseits war erst im Jahr zuvor zu einer parlamentarischen Regierung zurückgekehrt. Der 1923 vom General und Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches gebildete Einparteienstaat war 1945 unter dem Eindruck des Sieges der Westalliierten zu einem Mehrparteiensystem umgewandelt worden. Die Armeeführung verstand sich aber weiterhin als über dem Elektorat und den Parteien stehende Hüterin der kemalistischen Staatsideologie. 1960 putschte sie ein erstes Mal gegen eine unliebsame Regierung und übernahm für anderthalb Jahre die Macht. 1969 konnte ein geplanter Putsch im letzten Moment abgewendet werden. 1971 erfolgte der zweite Militärputsch. Nach Ausrufung des Kriegsrechts und Absetzung der parlamentarisch legitimierten Regierung setzte der Staatspräsident unter dem Druck der Generäle ein neues, «überparteiliches» Kabinett mit Politikern beider grosser Parteien sowie Technokraten ein. Parallel dazu erfolgten mehrere Verbote von Parteien, Vereinen und Zeitungen, Verhaftungen und Folter von Oppositionellen sowie Massenprozesse durch Militärgerichte. Im Oktober 1973 fanden einigermassen freie Wahlen statt, aber bereits 1980 erfolgte der nächste Militärputsch.

Die erfolgreichen Demokratisierungen in Griechenland, Portugal und Spanien ermöglichten in den 1980er-Jahren die sogenannte «Süderweiterung» der Europäischen Gemeinschaft. 1981 wurde, trotz gewisser Bedenken wegen des gespannten Verhältnisses zur Türkei, Griechenland als zehntes Mitglied in die EG aufgenommen. Fünf Jahre darauf folgten die beiden iberischen Staaten (s. SozialarchivInfo 4/2022).

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.260.54 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Portugal, Schweden
  • Ar 56.40.3 POCH Zürich: Produktion POCH Verlag Zürich, 1972–1976
  • Ar 66.20.1 POCH Bern: Theorie und Strategie
  • Ar 138.50.2 Max Arnold: Internationale der Oeffentlichen Dienste IOeD
  • Ar 165.10.15 Harry Gmür: Presseartikel von Harry Gmür in der Gewerkschaftszeitung «Der öffentliche Dienst» (VPOD), 1967–1975
  • Ar 165.10.16 Harry Gmür: Presseartikel von Harry Gmür in «Helvetische Typographia», 1971–1975

Sachdokumentation

  • KS 335/395 Kommunismus, kommunistische Parteien: Spanien & Portugal
  • KS 338/43 Agrarpolitik & Landwirtschaft: Westeuropa: diverse Länder
  • KS 338/284 Wirtschaftspolitik: Belgien, Spanien, Portugal
  • QS 34.1 Staatsformen: Demokratie
  • QS ESG Griechenland
  • QS ESP Portugal
  • QS ESS Spanien
  • QS OVC Zypern
  • QS OVT Türkei
  • QS SSA Angola
  • QS SSM Moçambique, Mozambique
  • ZA 34.1 Staatsformen: Demokratie
  • ZA 58.0 E Kommunismus, kommunistische Parteien in einzelnen Ländern Westeuropas
  • ZA 77.5 *ES Arbeitskonflikte & Streiks: Südeuropa ausser Italien
  • ZA 78.1 E Gewerkschaften: Europa
  • ZA 81.1 C *3 Aussenhandel der Schweiz: mit Spanien, Portugal und Italien
  • ZA ESG Griechenland
  • ZA ESP Portugal
  • ZA ESP *L Landwirtschaftskollektive in Portugal
  • ZA ESS Spanien
  • ZA OEMa Macao
  • ZA OSI *OT Indonesien: Osttimor
  • ZA OVC Zypern
  • ZA OVT Türkei
  • ZA SSA Angola
  • ZA SSM Moçambique, Mozambique
  • ZA SWP Guinea-Bissau

Bibliothek

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  • Révész, László: Moskau über Portugal: Taktische Fragen und Medienpolitik. Bern 1976, Gr 2848
  • Reynold, Gonzague de: Portugal gestern – heute. Salzburg 1938, 9934
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  • Sokol, Hans: Salazar und sein neues Portugal. Graz 1957, 23133
  • Sousa Ferreira, Eduardo de: Portugiesischer Kolonialismus zwischen Südafrika und Europa: Wirtschaftspolitische Analysen über die portugiesischen Kolonien, Südafrika und Namibia. Freiburg 1972, 49587
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  • Sperling, Urte: Portugal: Von Salazar zu Soares: Krise der Diktatur und Systemstabilisierung in einem europäischen «Entwicklungsland». Marburg 1987, 84624
  • Sperling, Urte: Die Nelkenrevolution in Portugal. Köln 2014, 129950
  • Spínola, António de: Portugal und die Zukunft. Düsseldorf 1974, 53178
  • Steiniger, Klaus: Portugal im April: Chronist der Nelkenrevolution. Berlin 2011, 129748
  • Stellungnahme zum Beitrittsantrag Portugals: Von der Kommission am 19. Mai 1978 dem Rat vorgelegt. Luxembourg 1978, 41638
  • Suisse – Portugal: De l’Europe à l’Afrique. Genf 1973, 50815
  • Thomashausen, André: Verfassung und Verfassungswirklichkeit im neuen Portugal. Berlin (West) 1981, 70125
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  • VII. Ausserordentlicher Parteitag der Portugiesischen Kommunistischen Partei, 20. Oktober 1974: Rede des Generalsekretärs der PKP, Alvaro Cunhal; Proklamation des Parteitages; Schlusswort des Genossen Alvaro Cunhal. Berlin (Ost) 1974, 54126
  • VIII. Parteitag der portugiesischen kommunistischen Partei, 11. bis 14. November 1976: Rede des Generalsekretärs der PKP, Alvaro Cunhal. Berlin (Ost) 1977, 60258
  • Wallraff, Günter: Aufdeckung einer Verschwörung: Die Spínola-Aktion. Köln 1976, 57794
  • Wohin treibt Portugal? Frankfurt 1975, 55093

Periodika

  • Portugal Nachrichten: Wochenzeitung für ein sozialistisches Portugal, D 4730
  • Sondernummer Portugal der Hochschul-Bresche, D 4141

Vor 50 Jahren: Die Erdölkrise

Am Sonntag, 25. November 1973, stand auf den Schweizer Strassen alles still. Dasselbe Phänomen wiederholte sich an den folgenden beiden Sonntagen. Auch in den Nachbarländern Deutschland und Österreich gab es in jenen Wochen autofreie Sonntage. Die Regierungen reagierten damit auf die von arabischen Ländern aus politischen Gründen verordnete Einschränkung der Ölfördermengen und den scharfen Anstieg der Ölpreise auf dem Weltmarkt. Letzterer trug massgeblich zur ersten grossen Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg bei. Dies hatte weitreichende, bis in die Gegenwart fortwirkende Folgen: Das Ende der durch stetiges Wirtschaftswachstum gekennzeichneten «Trente Glorieuses» erodierte den sozialpartnerschaftlich-keynesianischen Nachkriegskonsens und gab Stimmen von rechts und links Auftrieb, die alternative wirtschafts- und sozialpolitische Strategien propagierten. Zugleich wurde die politische Problematik der internationalen Energieabhängigkeit drastisch vor Augen geführt. Die scharfe Rezession beschleunigte in Ländern wie der Schweiz den bereits im Gang befindlichen Strukturwandel weg von der industriellen Produktion, hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Darüber hinaus stehen die Ereignisse vor einem halben Jahrhundert auch am Beginn verschiedener aktueller Themen: Von der Dominanz «neoliberaler» Wirtschaftspolitik über das klima- und versorgungspolitische Postulat der Dekarbonisierung und die energiepolitische Abhängigkeit von Russland bis hin zu den Terroranschlägen der Hamas zum 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges.

«Trente Glorieuses», «1950er-Syndrom» und die «Grenzen des Wachstums»

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von einem Wirtschaftsaufschwung mit weitgehender Vollbeschäftigung, stetigen Reallohnzuwächsen und nur gelegentlichen leichten Wachstumsdellen. Die als Lehre aus der Grossen Depression der 1930er-Jahre entstandene keynesianische Wirtschaftstheorie schien den Schlüssel zu einer krisenfreien Entwicklung zu bieten: Bei Wachstumseinbrüchen sollte der Staat zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und deflationärer Schrumpfung seine Ausgaben erhöhen, in starken Wachstumsphasen zur Inflationsbekämpfung dagegen finanz- und konjunkturpolitisch auf die Bremse treten (s. SozialarchivInfo 5/2020). Es fehlte allerdings auch in der Schweiz nicht an Unkenrufen, die prophezeiten, es könne nicht immer so weitergehen, und Kritik an der «wirtschaftlichen Aufblähung» und «Überkonjunktur» übten. Der Bund reagierte mehrfach mit Massnahmen zur «Konjunkturdämpfung» gegen die vermeintliche «Überhitzung» der Wirtschaft. Als Probleme wurden vor allem die mit dem Wirtschaftsaufschwung verbundene Teuerung sowie die angebliche «Überfremdung» durch immigrierte Arbeitskräfte betrachtet (s. SozialarchivInfo 2/2020), seit den 1960er-Jahren allmählich auch Luft- und Gewässerverschmutzung, Verkehrszunahme und wachsender Energiebedarf.

Tatsächlich führten das rasante Wirtschaftswachstum, der Durchbruch zur Massenkonsumgesellschaft und die Automobilisierung der Gesellschaft in der frühen Nachkriegszeit zu einem sprunghaften Anstieg des Energieverbrauchs – dies weltweit, auf der Ebene der industrialisierten Volkswirtschaften und dort auch pro Kopf. Den Löwenanteil des wachsenden Energiebedarfs, den die wirtschafts- und umwelthistorische Forschung später als «1950er Syndrom» pathologisiert hat, deckten dabei die fossilen Brennstoffe, insbesondere das Erdöl. In der Schweiz verdrängte das Erdöl in den ersten zehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die teurere Kohle als wichtigsten Energieträger. 1946 wurden noch 37 Prozent des Primärenergieverbrauchs mit Kohle gedeckt und nur 11 Prozent mit Erdöl. 1956 entfielen dann auf das Erdöl bereits 37 Prozent und auf die Kohle nur noch 24 Prozent. In absoluten Zahlen nahm indessen auch der Kohleverbrauch bis Ende der 1950er-Jahre noch zu, freilich bei Weitem nicht so rasant wie der Erdölverbrauch, der sich von 1945 bis 1973 mehr als verfünfhundertfachte. Dafür verantwortlich waren etwa eine Verdreifachung des Motorfahrzeugbestands allein in den 1950er-Jahren und eine massive Zunahme des Erdölverbrauchs bei Haushalten, Gewerbe, Landwirtschaft und Dienstleistungen.

Im Verhältnis zu den Preisen für die meisten anderen Güter und zu den Löhnen wurde das Erdöl in dieser Phase immer billiger, so dass ökonomische Anreize zu seinem sparsamen Einsatz fehlten und sich Rationalisierungsbemühungen auf andere Aspekte der Produktionsprozesse und des Konsumverhaltens konzentrierten. So sank in der Schweiz während der «Trente Glorieuses» die Energieeffizienz laufend. Zwar warnten seit den 1950er-Jahren Naturwissenschaftler:innen vor einem durch den wachsenden CO2-Ausstoss verursachten Temperaturanstieg und zirkulierten in der Presse auch bereits apokalyptische Zukunftsbilder überfluteter Grossstädte nach einem Abschmelzen der Polkappen. Wirklich wahrhaben wollten dieses Problem aber nur wenige (s. SozialarchivInfo 6/2019). Hinzu kam eine zunehmende weltwirtschaftliche Abhängigkeit von den Staaten des Persischen Golfs: Noch 1940 hatte diese Region lediglich etwa 5 Prozent der globalen Erdölproduktion beigesteuert, bis 1973 stieg dieser Anteil auf über 40 Prozent.

Anderthalb Jahre vor Beginn der Erdölkrise trat dann der «Club of Rome» mit seiner aufsehenerregenden Studie «Grenzen des Wachstums» an die Öffentlichkeit (s. SozialarchivInfo 1/2022). Die am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erstellte Studie beruhte auf einer kybernetischen Computersimulation, die in unterschiedlichen Szenarien fünf wesentliche Tendenzen mit globaler Wirkung analysierte: Zunahme der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion, Bevölkerungswachstum, Ausbeutung von Rohstoffreserven und Zerstörung von Lebensraum. Aufgrund der Modellrechnungen gelangten die Wissenschaftler:innen zum Schluss, dass mit unveränderten Zuwachsraten die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Lauf der nächsten hundert Jahre erreicht sein würden. Danach könnte es aufgrund der Erschöpfung der Rohstoffreserven (nicht zuletzt des Erdöls) und irreparabler Umweltschäden zu einem raschen Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität kommen. Der Bericht sah diese Entwicklung nicht als unabwendbar an. Eine Veränderung der Wachstumsvoraussetzungen in Richtung eines ökologischen und ökonomischen Gleichgewichtszustandes erschien möglich, allerdings wären dazu rasches und global koordiniertes Handeln und innovative Lösungsansätze Voraussetzungen.

Die geopolitische Problematik des wachsenden Erdölkonsums hatte sich schon in der ersten Hälfte der «Trente Glorieuses» mehrfach gezeigt. Bereits eine der ersten Ost-West-Konfrontationen des beginnenden Kalten Krieges drehte sich ums Erdöl. Nachdem während des Zweiten Weltkriegs Grossbritannien und die Sowjetunion gemeinsam den Iran besetzt hatten, um die dortigen Ölfelder für die Alliierten zu sichern, verweigerte der Kreml nach Kriegsende den Truppenabzug, versuchte, den Nordiran abzuspalten und dauerhaft unter die eigene Kontrolle zu bringen, und wälzte gar Pläne für einen kommunistischen Umsturz in Teheran. Dies führte zu amerikanischen Drohungen bis hin mit dem Einsatz von Atomwaffen sowie zur Einschaltung des eben erst geschaffenen UNO-Sicherheitsrates. Im Frühjahr 1946 zog die Rote Armee aus dem Iran ab und bis Ende 1946 unterdrückte die iranische Armee die separatistischen Bestrebungen im Norden.

Im Oktober 1947 lehnte das iranische Parlament die von Stalin geforderte Gründung einer sowjetisch-iranischen Ölgesellschaft ab, forderte aber auch eine Revision des Konzessionsvertrags mit der «Anglo Iranian Oil Company». 1949 wurde die staatliche «Iran Oil Company» gegründet, die unabhängig vom Einfluss der Grossmächte dem iranischen Staat Einnahmen bescheren sollte. Eine Gruppe von Petrogeologen erhielt den Auftrag, in verschiedenen Landesteilen nach Ölvorkommen zu suchen. Der Kern dieses Teams bestand aus Schweizern, die Leitung oblag dem Zürcher Geologen Arnold Heim. Nachdem die Verhandlungen über eine Revision der Konzession der «Anglo Iranian Oil Company» ergebnislos geendet hatten, verstaatlichte der Iran 1951 die gesamte Ölindustrie. Daraufhin organisierte Grossbritannien einen internationalen Boykott gegen iranisches Öl. Für Aufsehen sorgte, als die Briten im Juni 1952 in Aden den von einer Schweizer Tarnfirma gecharterten Öltanker «Rose Mary» kaperten, der im Auftrag einer italienischen Firma iranisches Rohöl getankt hatte. Im Frühjahr 1953 gab dann Gottlieb Duttweiler bekannt, dass auch die im Aufbau befindliche Migros-Tochter «Migrol» iranisches Öl beziehe.

Neben dem Ölboykott drängte die britische Regierung die USA zu einem gemeinsamen Umsturzplan gegen den iranischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh und spielte dabei die Karte des Antikommunismus. Im Sommer 1953 starteten die Geheimdienste CIA und MI6 die «Operation Ajax» zur Destabilisierung der iranischen Regierung durch Bestechung von Politikern, Journalisten und anderen Meinungsmachern und Anzettelung von Unruhen. Schliesslich wurde Mossadegh vom Schah entlassen und verhaftet. Die Förderung und Vermarktung des iranischen Öls ging 1954 auf ein westliches Konsortium über. Der Anteil der aus der «Anglo Iranian Oil Company» hervorgegangenen «British Petroleum Company» (BP) wurde auf 40 Prozent reduziert, dafür stiegen fünf US-Unternehmen sowie «Royal Dutch Shell» und die «Compagnie Française des Pétroles» ein. Schiedsinstanz zur Schlichtung eventueller Konflikte zwischen dem Konsortium und der iranischen Regierung wurde die Schweiz.

Die Ölwaffe im arabisch-israelischen Konflikt

Zeitgleich zu den Konflikten ums iranische Öl spielte das schwarze Gold auch im beginnenden arabisch-israelischen Konflikt eine Rolle. Während des grossen arabischen Aufstands im Völkerbund-Mandatsgebiet Palästina von 1936 bis 1939 hatten die Rebellen wiederholt die kurz zuvor eröffnete Kirkuk-Haifa-Pipeline attackiert, welche Erdöl vom Irak durch Jordanien und Galiläa zum Mittelmeer leitete. Die Pipeline wurde in dieser Phase von britischen Sicherheitskräften und jüdischen Paramilitärs bewacht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Erdölinfrastruktur dann Ziel zahlreicher Terroranschläge der rechtszionistischen Untergrundorganisationen Irgun und Lechi («Stern Gang»), die den Abzug der britischen Mandatsverwaltung beschleunigen wollten. So zerstörten Sternisten im Frühjahr 1947 zwei Öltransportzüge und verübten einen Brandanschlag auf die Raffinerie von Haifa, der 16’000 Tonnen an Ölprodukten zerstörte. Ende 1947 töteten Irgun-Mitglieder mit einem Granatenanschlag vor derselben Raffinerie sechs arabische Tagelöhner, die um Arbeit anstanden, aus Rache für arabische Angriffe auf Juden. Daraufhin attackierten arabische Raffineriearbeiter ihre jüdischen Kollegen und töteten 39 von ihnen. Als Vergeltung richtete die paramilitärische Organisation Haganah in der folgenden Nacht ein Massaker an der Bevölkerung des Dorfes Balad al-Sheikh an. Die von «Royal Dutch Shell» und der «Anglo-American Oil Company» (heute: ExxonMobil) betriebene Raffinerie befand sich am Ende der Kirkuk-Haifa-Pipeline, die ab 1945 zum Ziel zahlreicher Attacken wurde. Ein im November 1947 von der UNO verabschiedeter Teilungs- und Konföderationsplan für Palästina wurde von der «Jewish Agency» akzeptiert, von den meisten arabischen Regierungen aber abgelehnt. Nach der Gründung von Israel am 14. Mai 1948 und der Kriegseröffnung von Ägypten, Syrien, Jordanien, Libanon und Irak gegen den neuen Staat wenige Stunden danach verweigerte die irakische Regierung die weitere Belieferung der Kirkuk-Haifa-Pipeline.

Auch im nächsten arabisch-israelischen Krieg spielte das Erdöl eine Rolle und die Verknüpfung von Öl und Geopolitik wurde auch in Europa spürbar. Im Juli 1956 kündigte Ägyptens panarabisch-nationalistischer Präsident Gamal Abdel Nasser die Verstaatlichung der britisch-französischen Suezkanal-Gesellschaft an. Insbesondere für Grossbritannien war der Suezkanal in der Erdöllogistik von grosser Bedeutung. Grossbritannien, Frankreich (dem die ägyptische Unterstützung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung missfiel) und Israel (das sich mit Attacken von Ägypten ausgerüsteter palästinensischer Guerillas konfrontiert sah) vereinbarten daraufhin ein gemeinsames Vorgehen gegen Nasser. Dieses sollte mit einem israelischen Angriff auf Ägypten beginnen, einer als Vermittlungsmission getarnten britisch-französischen Luftlandeaktion am Suezkanal fortgesetzt werden und indirekt zu Nassers Sturz führen. Die Operation startete Ende Oktober 1956 und setzte sich Anfang November – zeitgleich zur sowjetischen Invasion in Ungarn (s. SozialarchivInfo 5/2016) – fort.

Die Weltöffentlichkeit und beide Supermächte reagierten auf das an Aktionen aus der Zeit des Hochimperialismus erinnernde Vorgehen der beiden ehemaligen europäischen Grossmächte empört. Die USA übten massiven diplomatischen Druck aus und stellten vorübergehend die Wirtschaftshilfe für Israel und Grossbritannien ein. Der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow stoppte die Öllieferungen an Israel und drohte gar mit Atomschlägen gegen London und Paris. Die NATO-Partner fühlten sich durch das eigenmächtige militärische Vorgehen Grossbritanniens und Frankreichs brüskiert. Und die UNO-Generalversammlung forderte einen unverzüglichen Abbruch der Militäraktion und einen Truppenrückzug und beschloss die Stationierung von «Peace Keeping»-Einheiten (den ersten ihrer Art) im ägyptisch-israelischen Grenzgebiet.

Ende Dezember 1956 bis März 1957 zogen die Invasionstruppen von ägyptischem Territorium ab. Parallel dazu verliess in diesen Monaten ein bedeutender Teil der jüdischen Gemeinschaft Ägyptens das Land – als Teil eines generellen Prozesses von Fluchten und Vertreibungen der jüdischen (v.a. sephardischen) Bevölkerungsgruppen aus arabischen Ländern vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu Beginn der 1970er-Jahre, der die ursprünglich europäisch bzw. aschkenasisch geprägte jüdische Mehrheitsbevölkerung Israels veränderte und vom offiziellen Israel teilweise mit der quantitativ vergleichbaren Flucht und Vertreibung von Palästinenser:innen in den Jahren 1947 bis 1949 (je etwa 800’000 Menschen) aufgerechnet und begrifflich gleichgesetzt wurde («jüdische Nakba»). Nasser ging aus der Suezkrise trotz der militärischen Niederlage politisch als Sieger hervor und stärkte seine Position als Anführer der arabischen Welt.

Wegen der Versenkung zahlreicher Schiffe durch Ägypten blieb der Verkehr durch den Suezkanal von Ende Oktober 1956 bis im April 1957 gesperrt. Ebenso sprengten syrische Kommandos Anfang November die als Ersatz für die Kirkuk-Haifa-Pipeline errichtete Kirkuk-Baniyas-Pipeline, die Erdöl vom Irak durch Syrien zum Mittelmeer leitete, und Saudi-Arabien verhängte ein Ölembargo gegen Grossbritannien und Frankreich. Die Erdölabhängigkeit der Industriestaaten war indessen noch zu gering, als dass dadurch eine Wirtschaftskrise verursacht worden wäre – die kurze Rezession von 1958 hatte andere Ursachen. Der Bundesrat erliess aber angesichts der Doppelkrise im Nahen Osten und Ungarn und der geringen Ölreserven im Inland für die vier Sonntage ab dem 18. November 1956 ein generelles Autofahrverbot. Andere europäische Länder führten vorübergehend die Benzinrationierung aus dem Zweiten Weltkrieg wieder ein. In verschiedenen europäischen Staaten starteten im Anschluss an die Suezkrise inländische Erdölexplorationen. In der Schweiz erfolgte 1959 die Gründung der Swisspetrol AG, die nach Erdöl und Erdgas suchte und bis 1966 siebzehn erfolglose Bohrungen durchführte.

Die Suezkrise sollte nicht der letzte arabisch-israelische Krieg bleiben. Die Attacken aus arabischen Staaten operierender palästinensischer Guerillas auf Israel setzten sich fort, hinzu kamen in den frühen 1960er-Jahren konkurrierende wasserwirtschaftliche Projekte Israels und der arabischen Staaten, die auch zu militärischen Grenzscharmützeln führten. Der von Nasser erzwungene Abzug der UNO-Blauhelmtruppen vom Sinai im Frühjahr 1967, die völkerrechtswidrige ägyptische Sperrung der Strasse von Tiran für die israelische Schifffahrt und damit deren Abschnürung vom Roten Meer und Indischen Ozean, falsche sowjetische Geheimdienstberichte an das militärisch unterstützte Ägypten über angebliche israelische Truppenkonzentrationen an der Grenze zu Syrien sowie ein massiver, von Vernichtungspropaganda begleiteter Truppenaufmarsch Ägyptens an den Grenzen Israels mündeten am 5. Juni 1967 in den Ausbruch des Sechstagekrieges. Dieser begann mit einem israelischen Luftschlag, der die gesamte ägyptische Luftwaffe ausschaltete, und bescherte Ägypten, Jordanien und Syrien eine schwere Niederlage. Am zweiten Kriegstag beschlossen mehrere arabische Staaten eine Einschränkung des Ölexports. Der Irak, Kuwait, Algerien und Bahrain verhängten ein Ölembargo gegen die USA und Grossbritannien, Syrien stellte den Ölexport ganz ein. Diese nur halbherzig befolgten Massnahmen dauerten über das Kriegsende hinaus bis zum 1. September 1967. Sie schadeten den USA und Westeuropa wirtschaftlich aber kaum.

Innert weniger Tage erlangten die israelischen Streitkräfte die Kontrolle über die ägyptische Sinaihalbinsel, den seit 1948 ägyptisch besetzten Gazastreifen, das seit 1948 jordanisch besetzte Westjordanland samt Ostjerusalem und die syrischen Golanhöhen. Damit gerieten alle Gebiete, die gemäss dem UNO-Plan von 1947 für einen arabischen Staat in Palästina vorgesehen gewesen waren, unter israelische Herrschaft, ebenso etwa eine Million Palästinenser:innen. Etwa ein Drittel von ihnen floh, hauptsächlich nach Jordanien. Zeitgleich intensivierten sich in verschiedenen arabischen Staaten die Verfolgungen der verbliebenen jüdischen Gemeinschaften, was deren Flucht nach Israel oder in westliche Länder nach sich zog. Auch die jüdischen Gemeinschaften im Ostblock wurden zum Ziel von Repressionen und ausser Rumänien brachen alle Ostblockstaaten die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. Am 1. September 1967 einigten sich die Regierungschefs der Arabischen Liga in der Resolution von Khartum auf die «drei Nein»: kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung Israels, keine Verhandlungen mit Israel. Damit wurde das israelische Angebot einer Rückgabe von Sinaihalbinsel und Golanhöhen gegen die Anerkennung Israels durch Ägypten und Syrien hinfällig.

Es folgte der sogenannte Abnützungskrieg, in dem Ägypten erfolglos den Sinai zurückzuerobern versuchte. Er dauerte bis zum Abschluss eines Waffenstillstands im August 1970. Ebenfalls in diese Zeit fielen das Aufkommen der palästinensischen Luftpiraterie, der Bürgerkrieg in Jordanien mit Gefechten jordanischer Sicherheits- und Streitkräfte gegen palästinensische Guerillas und syrische Truppen in den Jahren 1970/71 sowie die Geiselnahme des israelischen Teams an den Olympischen Spielen 1972 in München durch die palästinensische Terrororganisation «Schwarzer September», die mit siebzehn Toten endete.

Ebenso erfolgte ein Prozess, der zeitgenössisch als «Souveränitätswechsel beim Erdöl» weg von den westlichen Ölkonzernen, hin zu den Förderländern bezeichnet wurde. 1968 gründeten Kuwait, Libyen und Saudi-Arabien die Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Staaten (OAPEC) als Ergänzung zur Organisation erdölexportierender Länder (OPEC). Die 1960 entstandene OPEC verstand sich als Kartell zur Kontrolle der Fördermengen, Anhebung der Weltmarktpreise und Verhandlungsgegenspieler der grossen Ölkonzerne (sog. «sieben Schwestern»). 1967 verweigerte aber das OPEC-Mitglied Venezuela die Beteiligung an den Fördereinschränkungen der arabischen Staaten. Bis 1973 traten Algerien, Bahrain, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Irak, Syrien und Ägypten der OAPEC bei. Zwischen 1971 und 1973 kam es zudem zu einer Verstaatlichungswelle westlicher Erdölförderkonzessionen in Algerien, Irak, Kuwait, Katar, Abu Dhabi, Saudi-Arabien und im Iran. Dieser Umbruch führte auch zur Entstehung neuer Vertriebskanäle, wovon etwa der Rohstoffhändler Marc Rich profitierte, dessen Marc Rich + Co AG (heute: Glencore) ab 1974 in Zug domiziliert war.

Der nächste arabisch-israelische Krieg startete am 6. Oktober 1973 mit einem Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens auf Israel am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Während der ersten beiden Tage, als das völlig überrumpelte Israel seine Streitkräfte mobilisierte, rückten die arabischen Armeen so rasch vor, dass die israelische Regierung darüber diskutiert haben soll, Atombomben gefechtsbereit zu machen. Dann wendete sich das Blatt aber, die durch einen irakischen Panzerverband verstärkten syrischen Streitkräfte wurden am Golan schwer geschlagen und die ägyptischen Einheiten auf der Sinaihalbinsel teilweise eingekesselt. Am 16. Oktober überquerten israelische Verbände sogar den Suezkanal. Am 24. Oktober trat unter dem Druck der UNO ein Waffenstillstand in Kraft. Trotz der militärischen Niederlage stellten die Regime Ägyptens und Syriens diesen Krieg in der Folge als erfolgreiche Revanche für 1967 dar.

Dieses Mal wirkte die Ölwaffe aufgrund der neuen Strukturen des Ölmarktes weit stärker als während der vorangegangenen Nahostkriege. Bereits am ersten Tag des Jom-Kippur-Krieges beschlossen die Ölminister der arabischen Staaten einen Lieferboykott gegen den Westen. Am 16. Oktober hoben die Förderländer des persisch-arabischen Golfs die Rohölpreise um 70 Prozent an, weitere OPEC-Länder folgten diesem Vorbild. Am folgenden Tag beschloss die OAPEC eine Reduktion der Ölfördermenge um 5 Prozent für so lange, bis sich Israel aus den 1967 eroberten Gebieten zurückzöge. Auf Grundlage einer Einteilung der Verbraucherländer in «befreundet», «neutral» und «feindlich» erhielten erstere volle Lieferumfänge, die «Neutralen» die noch zur Verfügung stehenden Restmengen und die in arabischen Augen proisraelischen «Feinde» gar nichts mehr. Die Fördereinschränkung wurde zwar bereits Ende Dezember 1973 wieder aufgehoben. Am 23. Dezember beschlossen die Golfstaaten aber auch eine Verdoppelung des Ölpreises. Im März 1974 hoben die OAPEC-Staaten ihr Ölembargo gegen die USA als Anerkennung der amerikanischen Vermittlungserfolge zwischen Ägypten und Israel auf. Bei diesen Massnahmen der Ölförderländer gingen politische Absichten und das aussenwirtschaftliche Ziel einer langfristigen Anhebung der Weltmarktpreise Hand in Hand. Tatsächlich stieg der Ölpreis am 17. Oktober 1973 von 3 auf über 5 Dollar pro Barrel und steigerte sich im folgenden Jahr sogar auf über 12 Dollar.

Die Zuspitzung des Nahostkonflikts ab den späten 1960er-Jahren hatte auch abseits der Ölversorgung Rückwirkungen auf die Schweiz. Dreimal wurde das Land direkt von der Luftpiraterie betroffen (s. SozialarchivInfo 4/2021): Im Februar 1969 beschossen vier Attentäter:innen der «Volksfront zur Befreiung Palästinas» (PFLP) auf dem Flughafen Zürich-Kloten eine El-Al-Maschine und töteten den israelischen Co-Piloten. Die drei überlebenden Attentäter:innen, die sich nach ihrer Verhaftung auf Wilhelm Tell berufen hatten, wurden zu je zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Animiert durch diesen Terroranschlag schloss sich 1970 der junge Tessiner Linksradikale Bruno Breguet der PFLP an und wurde wenige Monate darauf nach einem von den israelischen Behörden vereitelten Sprengstoffattentat als erster Nichtaraber in Israel wegen Terrorismus verurteilt. Nach sieben Jahren Haft stiess Breguet dann zur Terrororganisation von «Carlos», bevor er sich vom CIA rekrutieren liess und 1995 unter mysteriösen Umständen verschwand.

Im Februar 1970 detonierte auf einem Swissair-Flug nach Tel Aviv eine PFLP-Briefbombe. Das Flugzeug stürzte bei Würenlingen ab, alle 47 Menschen an Bord kamen ums Leben. Im September gleichen Jahres entführten PFLP-Mitglieder einen Swissair-Flug nach New York und lenkten ihn nach Jordanien um. Zusammen mit zwei weiteren Flugzeugentführungen diente diese Aktion der Freipressung in verschiedenen Ländern inhaftierter palästinensischer Luftpirat:innen, darunter der drei Attentäter:innen von Zürich-Kloten. Nach langwierigen Verhandlungen, die zur Haftentlassung der drei in der Schweiz gefangenen Attentäter:innen führten, wurden die insgesamt rund 300 Geiseln freigelassen und die drei Flugzeuge gesprengt. Die 2016 vom NZZ-Journalisten Marcel Gyr formulierte These, dass kurz danach ein streng geheimes «Stillhalteabkommen» zwischen Aussenminister Bundesrat Pierre Graber und der «Palästinensischen Befreiungsorganisation» (PLO) abgeschlossen worden sei, liess sich quellenmässig nicht belegen. Hingegen arbeitete die Schweiz ab 1969 im «Club de Berne» mit den Geheimdiensten acht europäischer NATO-Staaten und indirekt auch Israels beim Informationsaustausch über Terrorismus und Spionage zusammen.

Die öffentliche Meinung der Schweiz war zu jener Zeit überwiegend israelfreundlich. Hunderte von jungen Schweizer:innen verbrachten eine Zeit in einem Kibbuz. Demgegenüber stellten die Schweizer Medien Nasser sowie die palästinensische Nationalbewegung überwiegend sehr negativ dar. Der Sechstagekrieg löste in der Schweiz eine Sympathiewelle zugunsten Israels aus, dessen militärische Stärke oft als Vorbild für andere Kleinstaaten angesehen wurde. Auch ein 1969 aufgedeckter Spionagefall zugunsten Israels («Frauenknecht-Affäre») vermochte das positive Israel-Bild nicht zu trüben. Zugleich wurden aber die Palästinenser:innen zunehmend nicht mehr lediglich als «Araber:innen», sondern als Leidtragende des arabisch-israelischen Konflikts wahrgenommen. Nach dem Sechstagekrieg entstanden verschiedene lokale Palästinakomitees, die sich 1976 dann zur «Gesellschaft Schweiz – Palästina» (GSP) zusammenschlossen. Auch erschienen vermehrt Publikationen zum Nahostkonflikt aus arabischer bzw. palästinensischer Perspektive in westlichen Sprachen.

Direkt mit den radikalen palästinensischen Organisationen arbeitete der Westschweizer Bankier und Altfaschist François Genoud zusammen, der seit 1934 mit dem nazifreundlichen Mufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini in Kontakt stand und 1961 den Rechtsbeistand für den NS-Verbrecher Adolf Eichmann beim Prozess in Jerusalem finanziert hatte. Aber auch innerhalb der Neuen Linken nach «68» gab es zunehmend Sympathien für die damals noch nicht islamistisch, sondern linksnationalistisch-«antiimperialistisch» dominierten palästinensischen Organisationen und Kritik an der israelischen Besatzungspolitik in den 1967 eroberten Gebieten. Daraus entwickelte sich auch ein linksradikaler Antizionismus, dessen Argumentationsmuster zuweilen die Grenzen zu antisemitischen Stereotypen und Interpretationen überschritten.

In den Schweizer Medien verschlechterte sich spätestens ab dem Jom-Kippur-Krieg das Image Israels. Umfragen zur Einstellung der Schweizer Bevölkerung zum Nahostkonflikt zeigten zwischen 1970 und 1975 einen leichten Trend zu einer positiveren Wahrnehmung der «Araber:innen», das überwiegend positive Bild von Israel und Verständnis für dessen Haltung im Nahostkonflikt veränderte sich dagegen zunächst kaum. Erst die israelische Intervention in den libanesischen Bürgerkrieg 1982 und die Erste Intifada ab 1987 führten zu einem gewissen Wandel.

Rezession und Desindustrialisierung

Die Liefereinschränkungen und der massiv ansteigende Ölpreis im Gefolge des Jom-Kippur-Krieges kamen für die westlichen Industrieländer als ein Schock und führten zu hastigen Gegenmassnahmen. Österreich und Schweden begannen mit der Rationierung von Heizöl und Benzin, die USA gaben Bezugsscheine aus. In fast allen westeuropäischen Ländern wurde für den Automobilverkehr die Höchstgeschwindigkeit begrenzt, hinzu kamen Sonntagsfahrverbote und Benzinrationierungen. Die deutsche Bundesregierung verabschiedete am 9. November 1973 das «Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Mineralöleinfuhren», das eine Reihe von Sparmassnahmen vorsah. Am 25. November folgte der Erlass eines Sonntagsfahrverbots für vier Wochen. Italien führte aus Sorge um einen Rückgang des Tourismus für Urlauber:innen Gutscheine ein, mit denen subventioniertes Benzin bezogen werden konnte.

Im weiteren Verlauf führte die Krise zur Entstehung eines informellen Zusammenschlusses der wichtigsten Industriestaaten. Im November 1975 trafen sich die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, der USA, Grossbritanniens, der Bundesrepublik, Japans und Italiens in Rambouillet zu Gesprächen über die wirtschaftspolitischen Herausforderungen angesichts der internationalen Rezession und bekannten sich in der Abschlussdeklaration zu Freihandel, Multilateralismus und wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern und dem Ostblock. Aus diesem Treffen entstand die «Gruppe der Sechs» (G6), die bereits im folgenden Jahr um Kanada erweitert zur G7 wurde. Eine indirekte Folge des Ölpreisschocks war die Wiedereinführung der Sommerzeit. Bereits in den beiden Weltkriegen hatten verschiedene Länder (so die Schweiz in den Jahren 1941 und 1942) zur besseren Ausnützung des Tageslichts aus Energiespargründen vorübergehend eine Zeitumstellung im Sommer eingeführt. Während der Erdölkrise kehrte Frankreich ab 1976 als Sparmassnahme zu diesem System zurück, im folgenden Jahr zogen mehrere EG-Länder nach, 1980 die beiden deutschen Staaten und 1981 im zweiten Anlauf auch die Schweiz.

Effektiv bestand zu keinem Zeitpunkt wirklich eine Mangellage in der Ölversorgung. Der Einsatz der Ölwaffe verursachte in den westlichen Ländern jedoch einen psychologischen Schock, aktualisierte er doch Befürchtungen, die bereits zuvor im Raum gestanden hatten und mit dem Begriff «Energiekrise» umschrieben worden waren. So hatte der Schweizerische Gewerkschaftsbund bereits in seinem Aufruf zum 1. Mai 1964 festgehalten: «Das rasche wirtschaftliche Wachstum lässt den Energiebedarf der Schweiz ständig ansteigen. Der nahende Vollausbau unserer wirtschaftlich nutzbaren Wasserkräfte und die starke Auslandsabhängigkeit in der Energieversorgung rufen gebieterisch nach einer vorausschauenden Energiepolitik.» Bundeskanzler Willy Brandt kündigte in seiner Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 ein Energieprogramm an und US-Präsident Richard Nixon hielt am 18. April gleichen Jahres vor dem Kongress eine ausführliche Rede zur Energieversorgung. Hinzu kamen seit 1972 die eindringlichen Warnungen des «Club of Rome» bezüglich der grundsätzlichen Endlichkeit der fossilen Ressourcen, von deren Erschöpfung nun gleichsam ein Vorgeschmack vermittelt wurde.

Die Thematik fand auch in cineastischen Produktionen der Zeit ihren Niederschlag. In der französisch-italienischen Komödie «Les Aventures de Rabbi Jacob» mit Louis de Funès in der Hauptrolle, deren Premiere am 18. Oktober 1973 just während des Jom-Kippur-Krieges über die Bühne ging, reichten sich der französisch-jüdische Chauffeur Salomon und der arabische Exilrevolutionär Mohamed Slimane als «cousins éloignés» die Hände, während sich der französische Minister nach Slimanes Machtübernahme sofort um die Weiterführung der Öllieferungen sorgte und Slimane einen roten Teppich ausrollen liess. Im 007-Film «The Man with the Golden Gun», dessen Dreharbeiten Anfang November 1973 begannen und der vom Kampf um einen hochwirksamen Solarenergie-Generator handelte, belehrte dann James Bond seinen Vorgesetzten «M»: «But Sir, the energy crisis is still with us.»

Die Vervierfachung der Erdölpreise innert Jahresfrist versetzte den Volkswirtschaften der westlichen Industriestaaten aber auch einen realen Schock. Sie war ein wesentlicher, wenn auch nicht der einzige Grund für die erste grosse Rezession der Nachkriegszeit und führte dazu, dass sowohl die Inflation als auch die Arbeitslosigkeit stark anstiegen (sog. «Stagflation») – ein Phänomen, gegen das die keynesianische Wirtschaftspolitik kein Rezept hatte. Die schon vor dem Ölpreisschock hohen Inflationsraten von um die 6 Prozent im Jahr 1972 kletterten auf um die 13 Prozent im Jahr 1974. Die Arbeitslosenquoten betrugen 1973 in den USA 4,9 Prozent und in der Bundesrepublik 1,2 Prozent, zwei Jahre darauf dann in den USA 8,4 Prozent und in der Bundesrepublik 4,7 Prozent.

In der Schweiz stieg die Arbeitslosenquote von 0,0% im Jahr 1973 über 0,3% im Jahr 1975 auf ein Maximum von 0,7% im Jahr 1976. Diese im internationalen Vergleich sehr tiefen Zahlen täuschten aber über das wahre Ausmass der Krise hinweg, die in der Schweiz schärfer war als in den meisten westeuropäischen Ländern. Von 1973 bis 1977 ging das Sozialprodukt um 4,5 Prozent zurück, die Industrieproduktion um 6 Prozent und die Beschäftigung gar um 12 Prozent. Allein in der Maschinen- und Metallindustrie wurden rund 50’000 Stellen abgebaut. Die Bauwirtschaft brach in der Krise regelrecht zusammen – die pro Jahr erstellten Wohnungen sanken in der Krise um mehr als die Hälfte. Weil aber bis 1977 eine obligatorische Arbeitslosenversicherung fehlte, reisten viele entlassene Ausländer:innen ab bzw. mussten das Land verlassen, wodurch die Schweiz einen grossen Teil ihrer Arbeitslosigkeit exportierte. Von den insgesamt 340’000 abgebauten Arbeitsplätzen betrafen nicht weniger als 230’000 ausländische Arbeitskräfte. Ebenso zogen sich ungeschützte Einheimische (vor allem Frauen, Jugendliche und Ältere) vom Arbeitsmarkt zurück und tauchten in den Statistiken nicht mehr auf.

Krisenverschärfend kam hinzu, dass wenige Monate vor dem Ölpreisschock das 1944 geschaffene Bretton-Woods-System fester Wechselkurse mit dem Dollar als Ankerwährung zusammengebrochen war. Seit den 1960er-Jahren hatten die Zahlungsbilanzdefizite der USA zu einer Dollarschwäche geführt und das System liess sich nur noch durch Stützungskäufe der europäischen Zentralbanken am Leben erhalten. 1971 gaben die USA die Dollar-Gold-Konvertibilität auf und die Bundesrepublik den D-Mark-Wechselkurs frei. In der Folge sank der Dollarkurs erheblich, was die OPEC-Länder zum Argument für die Erhöhung der Ölpreise machten. Im März 1973 erfolgte der definitive Ausstieg verschiedener europäischer Länder (darunter die Schweiz) aus dem System fixer Wechselkurse. Daraufhin kam es zunächst zu starken, dem Welthandel abträglichen Wechselkursschwankungen. Die Schweizerische Nationalbank setzte zur Eindämmung importierter Inflation auf eine restriktive Geldpolitik und einen starken Franken. Während der Krise stieg der reale Wechselkurs des Frankens um über 50 Prozent an, was die Exporte massiv verteuerte und den Werkplatz Schweiz zusätzlich schädigte.

Der massive Verlust von Arbeitsplätzen und die Betriebsschliessungen führten im Arbeitsfriedensland Schweiz zu einer, wenn auch im Vergleich zum frühen 20. Jahrhundert zahlenmässig bescheidenen, Streikwelle. 1976 wurden 19’586 Streiktage registriert, dies war der höchste Stand seit dreizehn Jahren. Eine Reihe dieser Arbeitskämpfe stellte dabei die vertragliche Friedenspflicht in Frage, die einen Eckpfeiler des sozialpartnerschaftlichen Systems der Nachkriegszeit bildete. Im Juni 1975 wurde bei der Genfer Firma SIP gestreikt, ohne dass die Gewerkschaft SMUV eine Rolle spielte. 1976 kam es in der durch die Krise schwer gebeutelten Uhrenindustrie zu einem spektakulären Arbeitskampf. Der amerikanische Uhrenkonzern Bulova-Watch hatte 1974/75 in seinen beiden Schweizer Filialen Biel und Neuchâtel 500 der 1’300 Stellen abgebaut und die Weiterbeschäftigten auf Kurzarbeit gesetzt. Als im Januar 1976 bekannt wurde, dass das Werk in Neuchâtel geschlossen und die Beschäftigten nach Biel versetzt würden, besetzten die Arbeiter:innen die Fabrik. Der SMUV handelte einen Kompromiss aus, der unter anderem die Verschiebung der Werkschliessung um ein Jahr vorsah und nach neun Tagen zum Abbruch der Besetzung führte.

Wenige Monate später kam es zum grössten Streik in der Maschinenindustrie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die kompromissbereite SMUV-Verhandlungstaktik gegenüber der Waadtländer Firma Matisa SA, die 1975 den Teuerungsausgleich gestrichen, Kurzarbeit eingeführt und über fünfzig Beschäftigte entlassen hatte, führte im März 1976 dazu, dass die Vertretung der Belegschaftsinteressen auf den Christlichen Metallarbeiter-Verband (CMV) überging. Dieser rief an einer Betriebsversammlung zum Streik auf, der von zwei Dritteln der Belegschaft befolgt wurde. Daraufhin lehnte das Unternehmen jegliche Verhandlungen mit der mehrheitlich mit SMUV-Leuten besetzten Betriebskommission ab, obwohl diese nicht streikte. Erst nach beschlossener Streikunterstützung gelang es dem SMUV, die Annahme eines Kompromissvorschlags zu erwirken. Kurz darauf kam es zu einem Arbeitskampf beim Strickmaschinenunternehmen Dubied, das drei Produktionsstätten in Couvet, Marin und Peseux unterhielt. Bis 1976 war die Belegschaft gegenüber dem Höchststand von 2’400 Beschäftigten bereits um 1’000 Personen reduziert worden. Als die Unternehmungsleitung nun auch noch den 13. Monatslohn abschaffen wollte, kam es im August 1976 zum Streik, der wiederum vom CMV sowie neulinken Gruppierungen forciert wurde. Der SMUV unterstützte den Streik abermals erst nach einigem Zögern. Die Vermittlung durch die Neuenburger Regierung führte nach ungefähr einem Monat zum Streikabbruch.

Aus einer längerfristigen Perspektive beschleunigte die Rezession in der Schweiz einen Prozess, der bereits zuvor begonnen hatte und sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzen sollte: Den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Der Anteil der in der Industrie Beschäftigten hatte seit der Wende zum 20. Jahrhundert relativ stabil bei etwa 45 Prozent gelegen. Mit dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit stieg er dann bis 1960 vorübergehend auf fast die Hälfte an. Die Zahl der in Fabriken Beschäftigten kletterte in dieser industriellen Spätblüte von einer halben Million 1941 auf 830’000 im Jahr 1960. Kurz danach drehte der Trend. 1970 waren nur noch knapp mehr Beschäftigte in der Industrie als im Dienstleistungssektor tätig (46,2 gegen 45,5 Prozent). 1990 arbeiteten dann bereits doppelt so viele Leute im Dienstleistungssektor wie in der Industrie (63,6 gegen 32,2 Prozent), im Jahr 2000 sogar dreimal so viele (71,9 gegen 24,0 Prozent). Allein in der Uhrenindustrie verschwanden zwischen 1970 und 1984 zwei Drittel der 90’000 Arbeitsplätze.

Zerfall des Nachkriegskonsens und Krisenbewältigungsstrategien

Die «Stagflation» führte international und auch in der Schweiz von verschiedenen Seiten zu Kritik am in den «Trente Glorieuses» dominanten Keynesianismus, dem sozialpartnerschaftlichen Neokorporatismus und dem in der Aufschwungsphase aufgebauten Wohlfahrtsstaat. Neulinke Intellektuelle interpretierten die Rezession als ursächlich kapitalistisches Krisenphänomen. In den Gewerkschaften wurde Kritik am vertragsbasierten Arbeitsfriedenskonzept laut. So gab es im SMUV 1973/74 anlässlich der Verhandlungen zur Erneuerung des «Friedensabkommens» von Westschweizer Seite Forderungen nach einer Abkehr von der Politik des absoluten Arbeitsfriedens, die am SMUV-Kongress 1976 erneut laut wurden. 1977/78 eskalierte der innergewerkschaftliche Konflikt in der Debatte um das «Manifest 77», in welchem Westschweizer Vertrauensleute vergeblich eine Lockerung des Arbeitsfriedens und militantere Vertretung der Arbeitnehmer:inneninteressen forderten. Ebenso wurden ab 1975 die ersten Arbeitslosenkomitees gegründet, die oft von den neuen sozialen Bewegungen und der Neuen Linken inspiriert waren, hauptsächlich aus ehemals in der Industrie tätigen Männern bestanden und sich organisatorisch zum Teil an kirchliche oder gewerkschaftliche Strukturen anlehnten. 1977 entstand mit der «Schweizerischen Interessengemeinschaft für eine neue Arbeitslosenpolitik» (SINAP) eine national tätige Arbeitslosenlobby.

Der internationale wirtschaftspolitische Trend lief mittelfristig aber in eine andere Richtung. Die Krise des Keynesianismus gab ökonomischen Denkschulen wieder Auftrieb, die eine aktive staatliche Konjunkturpolitik ablehnten, generell staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zugunsten eines Vertrauens auf die Kraft des freien Marktes zurückdrängen wollten und einen Abbau des Wohlfahrtstaates propagierten. Im Dilemma der «Stagflation» priorisierten sie die Inflationsbekämpfung klar gegenüber dem Problem der Arbeitslosigkeit. Zum Laboratorium solcher Ideen wurde zunächst unter autoritären Bedingungen Chile, wo ein Monat vor dem Beginn der Erdölkrise durch einen Militärputsch die Diktatur von General Augusto Pinochet errichtet worden war und ab Ende 1974 unter dem Einfluss der wirtschaftsliberalen «Chicago Boys» eine radikale Privatisierungs- und Sparpolitik umgesetzt wurde. Als Folge dieser Schocktherapie sank die Inflationsrate von über 500 Prozent im Jahr 1973 kontinuierlich auf knapp 40 Prozent am Ende des Jahrzehnts, allerdings sackte 1975 das chilenische Sozialprodukt um 15 Prozent ab, fielen die Reallöhne um 60 Prozent und verdoppelte sich die Arbeitslosigkeit. Unter demokratischen Bedingungen verfolgte diesen Ansatz ab 1979 die britische Premierministerin Margaret Thatcher, in deren erster Amtsperiode die Arbeitslosigkeit von 4,2 auf über 8 Prozent kletterte. Die verschiedenen wirtschaftspolitischen Rezepte der neoklassischen Ökonomie, des Monetarismus, «Thatcherismus» und der «Reaganomics» wurden ab den 1980er-Jahren zunehmend unter dem Begriff «Neoliberalismus» (der ursprünglich eine andere Bedeutung gehabt hatte) subsumiert und zum dominanten Paradigma der folgenden Jahrzehnte.

In der Schweiz zeigte bereits 1975 die Abstimmung über den Konjunkturartikel der Bundesverfassung eine gewisse Richtungsänderung. Die noch aus der Hochkonjunktur stammende, keynesianisch geprägte Vorlage wollte die bisher mit Dringlichkeitsrecht umgesetzte Konjunkturpolitik auf eine verfassungsrechtliche Grundlage stellen und dem Bund die Kompetenz geben, bei der Bekämpfung von Inflation und Arbeitslosigkeit nötigenfalls auch von der Handels- und Gewerbefreiheit abzuweichen. Die von allen Bundesratsparteien sowie den meisten Verbänden unterstützte Vorlage wurde neben der extremen Linken und Rechten auch vom Gewerbeverband, zahlreichen bürgerlichen Kantonalparteien sowie einem «Komitee gegen permanente Staatseingriffe» bekämpft. Sie erreichte zwar eine Volksmehrheit von 53 Prozent, galt aber wegen Gleichstands bei den Ständestimmen als abgelehnt. Drei Jahre später schaffte eine neue Vorlage, die die staatlichen Interventionsmöglichkeiten enger fasste, problemlos ein Volksmehr von 68 Prozent mit einem Ja in sämtlichen Kantonen. 1979 zog die FDP dann mit der Parole «Mehr Freiheit – weniger Staat» in den Wahlkampf. Erst in der langen Rezessions- und Stagnationsphase der 1990er-Jahre beherrschten die Konzepte «Deregulierung» und «Privatisierung» indessen die politische Agenda, wobei manche Projekte dieser Stossrichtung allerdings an den Hürden der direkten Demokratie scheiterten.

Neben der Wirtschafts- forderte der Ölpreisschock auch die Energiepolitik heraus. Die schon vor dem Jom-Kippur-Krieg zirkulierenden Diskurse über eine «Energiekrise», die apokalyptischen Szenarien des «Club of Rome» und das wachsende Bewusstsein für die ökologischen Folgen eines ungebremsten Verbrauchs nichterneuerbarer Energien erhielten durch die Krise einen weiteren Schub. 1979/80 kam es dann infolge der iranischen Revolution und des beginnenden Krieges zwischen dem Irak und dem Iran zu einem zweiten Ölpreisschock, bei dem sich die Preise vorübergehend verdoppelten. Dies stürzte erneut verschiedene Länder in die Rezession.

Am 15. November 1974 wurde die Internationale Energie-Agentur (IEA) als autonome Einheit der OECD gegründet, um ein funktionsfähiges System der Krisenvorsorge auszuarbeiten und die Energiepolitik ihrer Mitgliedstaaten zu koordinieren. Ebenfalls 1974 setzte der Bundesrat die Gesamtenergiekommission (GEK) ein, die erstmals eine langfristige Strategie für die Energieversorgung der Schweiz ausarbeitete. Auf deren Grundlage sollte dann ein Energieartikel für die Bundesverfassung formuliert werden. Zeitgleich entstanden verschiedene Organisationen, die sich für eine «Energiewende» stark machten, so 1974 die Schweizerische Vereinigung für Sonnenenergie (SSES) und 1976 die Schweizerische Energie-Stiftung (SES).

Der 1981 vom Bundesrat präsentierte Entwurf für einen Energieartikel enthielt eine Vollmacht zur Aufstellung von Grundsätzen für die sparsame und rationelle Energieverwendung, das Recht zum Erlass von Vorschriften über den maximal zulässigen Verbrauch von Anlagen, Fahrzeugen und Geräten sowie die Ermächtigung, die Entwicklung von sparsamen Verbrauchsmethoden und neuen Erzeugungstechniken zu fördern. Hingegen wurde zur Enttäuschung der Umweltverbände und Linksparteien auf eine verbrauchslenkende, technische Innovationen zur Steigerung der Energieeffizienz begünstigende und erratische Preisveränderungen abfedernde Energiesteuer verzichtet, obwohl diese Massnahme auch von der liberalen Umweltökonomie stark favorisiert wurde. Die Vorlage, die den einen zu weit, den anderen zu wenig weit ging, erzielte 1983 an der Urne zwar eine knappe Mehrheit, scheiterte aber am fehlenden Ständemehr.

Im folgenden Jahr erreichte die 1981 von Umwelt- und Anti-AKW-Organisationen eingereichte Volksinitiative «für eine sichere, sparsame und umweltgerechte Energieversorgung», die Energieeinsparungen, eine Neuverteilung der Mittel für Energieforschung zugunsten einheimischer und erneuerbarer Energien und die Erhebung einer zweckgebundenen Energiesteuer forderte, mit knapp 46 Prozent Ja-Stimmen an der Urne einen Achtungserfolg. Sechs Jahre zuvor hatte das Volk eine andere direkt aus der Erdölkrise hervorgegangene Vorlage versenkt: Inspiriert von den autofreien Sonntagen von 1973 hatte eine Gruppe von Burgdorfer Technikumsstudent:innen 1975 die Volksinitiative «Für zwölf motorfahrzeugfreie Sonntage pro Jahr» eingereicht, die 1978 an der Urne mit rund 63 Prozent Nein-Stimmen klar scheiterte.

International und in der Schweiz war die Energiepolitik nach der Erdölkrise vom Bemühen um Diversifizierung geprägt. Zur Reduktion der Abhängigkeit vom Erdöl sollte verstärkt auf Erdgas, Atomenergie sowie erneuerbare Energien gesetzt werden. Zugleich wurde die Suche nach neuen Ölvorkommen intensiviert. Der Begriff Diversifizierung konnte sich aber auch schlicht auf das Bemühen um den Erdölbezug aus unterschiedlichen Weltregionen beziehen. Demgegenüber traten Massnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Abkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Wachstum des Ressourcenverbrauchs, wie sie der in den 1970er-Jahren entstandene Begriff des «Qualitativen Wachstums» postulierte, eher in den Hintergrund. Ab der Erdölkrise blieb die Energieeffizienz in der Schweiz bis zur Jahrtauendwende stabil, was mit dem wieder einsetzenden Wirtschaftswachstum auch ein weiteres Wachstum des Energieverbrauchs bedeutete – dies insbesondere im Bereich des Verkehrs.

Die Diversifizierungsbestrebungen waren allerdings nicht frei von politischen Problemen. Gerade in den 1970er-Jahren nahm in manchen Ländern, so der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und Österreich, der Widerstand gegen die zivile Nutzung der Atomenergie stark zu (s. SozialarchivInfo 6/2016). Der Ersatz von Erdöl durch Erdgas wiederum führte zunehmend in eine energiepolitische Abhängigkeit von der Sowjetunion. Angesichts der Erfahrungen von 1973/74 erschien dies in Westeuropa trotz der Konstellation des Kalten Krieges vielen als geringeres Übel denn die Abhängigkeit von den Ländern des Nahen Ostens. Bereits in den 1960er-Jahren war die Sowjetunion zu einem wichtigen Erdöllieferanten für Europa aufgestiegen. Im Zuge der Erschliessung der westsibirischen Gasfelder schlossen 1970 die Sowjetunion und die Bundesrepublik den ersten «Gas für Röhren»-Deal ab und im Oktober 1973, just zur Zeit der Erdölkrise, gelangte über eine Erweiterung des osteuropäischen Pipelinesystems erstmals sowjetisches Erdgas nach Westdeutschland. Zu Mitte der 1970er-Jahre wurden solche Kooperationen westeuropäischer Länder mit der östlichen Supermacht dann ausgebaut.

Als nach dem zweiten Ölpreisschock die Erdölpreise in den frühen 1980er-Jahren wieder sanken und bis zur Jahrtausendwende tief blieben, erlahmte auch der Elan zum Ersatz des Erdöls wieder – dies trotz der Erfahrungen von 1973 und 1979 sowie des Wissens um die Endlichkeit der Ölvorräte und die Problematik des durch die Verbrennung fossiler Energieträger verursachten Klimawandels. Letzterer wurde von einigen Ölkonzernen trotz eindeutiger interner Studien noch jahrzehntelang öffentlich geleugnet – auch durch strategische Diskreditierung der Klimawissenschaft und Finanzierung von Desinformationskampagnen.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.510.9 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Wirtschaftskonzept SPS
  • Ar 40.70.6 Federazione Colonie Libere Italiane in Svizzera FCLIS: Politica comunale, cantonale e federale
  • Ar 57 Gesellschaft Schweiz – Palästina, Sektion Zürich (GSP)
  • Ar 73.30.15 Christlicher Holz- und Bauarbeiterverband der Schweiz (CHB): Wirtschaft- und Sozialfragen 2 1934–1983
  • Ar 74.30.1 Christlicher Metallarbeiter-Verband der Schweiz CMV: Streiks etc. 1976–1983
  • Ar 74.30.2 Christlicher Metallarbeiter-Verband der Schweiz CMV: Matisa S.A. / SIP Genève Matisa S.A. Crissier, 1976–1977
  • Ar 174.10.1 Karl Aeschbach: Reden, Artikel: 1964–1983
  • Ar 180.10.30 Rosmarie Hohl: Nahost Allgemein
  • Ar 510 Schweizerische Energie-Stiftung
  • Ar 673 Schweizerische Vereinigung für Sonnenenergie (SSES)
  • Ar 692 Burgdorfer Initiative (Eidgenössische Volksinitiative für 12 motorfahrzeugfreie Sonntage pro Jahr)
  • Ar SMUV 02A-0014 SMUV Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen: Manifest 77: Broschüre des Manifests zur Krise
  • Ar SMUV 10A-0015 SMUV Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen: Referate von Hans Mischler: 1951–1976

Sachdokumentation

  • QS 75.0 C Beschäftigungspolitik; Vollbeschäftigung; Arbeitsmarkt: Schweiz
  • QS 75.8 C Ausländische Arbeitskräfte, Gastarbeiter/-innen in der Schweiz
  • QS 89.0 C Wirtschaftspolitik, Konjunkturpolitik: Schweiz
  • QS 92.0 C Energiepolitik; Energiewirtschaft in der Schweiz
  • QS 92.5 Erdöl
  • QS 93.0 C Industrie in der Schweiz
  • QS 93.7 *1 Maschinen- & Metallindustrie; Elektroindustrie
  • QS OV *Pal Palästina; Israel und Palästina; Palästinenser/-innen
  • QS OVAR Arabische Halbinsel
  • QS OVJ Jordanien
  • QS OVP Iran
  • QS OVS Syrien
  • QS OVZ Israel: Allg.
  • QS OVZ 4 Israel: Aussen- & Sicherheitspolitik
  • ZA 73.0 *1 S Sommerzeit
  • ZA 75.0 C Beschäftigungspolitik; Vollbeschäftigung; Stellenmarkt (Arbeitsmarkt): Schweiz
  • ZA 75.8 C Ausländische Arbeitskräfte, Gastarbeiter/-innen in der Schweiz
  • ZA 89.0 C Wirtschaftspolitik, Konjunkturpolitik: Schweiz
  • ZA 92.0 *1 Energiepolitik; Energiewirtschaft: Ausland & Schweiz
  • ZA 92.5 Erdöl
  • ZA 93.0 C Industrie in der Schweiz
  • ZA 93.7 *1 Maschinen- & Metallindustrie; Elektroindustrie
  • ZA OVAR Arabische Halbinsel gesamt
  • ZA OVJ Jordanien
  • ZA OVP Iran
  • ZA OVS Syrien
  • ZA OVSA Saudi-Arabien
  • ZA OVZ Israel
  • ZA SNE Ägypten

Bibliothek

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  • Hussein, Mahmoud und Saul Friedländer: Arabes et Israéliens: Un premier dialogue. Paris 1974, 62454
  • Internationales Komitee für die Befreiung von Bruno Breguet (Hg.): Dossier Bruno Breguet, 70–77. Zürich 1977, Gr 3053
  • Jamal, Amal: The Palestinian national movement: Politics of contention, 1967–2005. Bloomington 2005, 114972
  • Jarausch, Konrad H. (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, 120265
  • Joesten, Joachim: Öl regiert die Welt: Geschäft und Politik. Düsseldorf 1958, 24339
  • Jost, Walter: Rufzeichen: Haifa: Ein Passagier erlebt die Entführung der Swissair DC-8 «Nidwalden» und als Geisel den Krieg der Fedayin. Zürich 1972, 49356
  • Karlsch, Rainer und Raymond G. Stokes: «Faktor Öl»: Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859–1974. München 2003, 116937
  • Keiser, Helen: Geh nicht über den Jordan: Schicksal Palästina. Luzern 1971, 59838
  • Kergomard, Zoé: «Mehr Freiheit, weniger Staat»: Zum Neoliberalismus als Patentrezept gegen die Krise der Schweizer Parteien um 1980, in: Ludi, Regula et al. (Hg.): Zwang zur Freiheit: Krise und Neoliberalismus in der Schweiz. Zürich 2018, S. 111-136, 139626
  • Khaled, Leila: Mein Volk soll leben: Autobiographie einer Revolutionärin. München 1974, 53733
  • Khouri, Fred J.: The Arab-Israeli dilemma Syracuse 1968, 39094
  • Konzelmann, Gerhard: Die Schlacht um Israel: Der Krieg der Heiligen Tage. München 1974, 52231
  • Konzelmann, Gerhard: Öl – Schicksal der Menschheit? Thalwil 1976, 60488
  • Koopmann, Georg et al.: Oil and the international economy: Lessons from two price shocks. Hamburg 1984, 78219
  • Krämer, Hans R.: Die Europäische Gemeinschaft und die Ölkrise. Baden-Baden 1974, 55695
  • Krause, Klaus Peter: Das grosse Rohstoffmanöver: Wie abhängig ist unsere Wirtschaft? Frankfurt 1975, 54173
  • Krause, Klaus Peter: Das grosse Rohstoffmanöver: Wie abhängig ist unsere Wirtschaft? Frankfurt 1975, 54173
  • Kreutner, Jonathan: Die Schweiz und Israel: Auf dem Weg zu einem differenzierten historischen Bewusstsein. Zürich 2013, 128778
  • Kühner, Claudia: Nahost: Geschichte einer Unversöhnlichkeit: Juden, Zionismus, Araber. Frauenfeld 1975, 54478
  • Laqueur, Walter: Nahost – vor dem Sturm: Die Vorgeschichte des Sechstage-Krieges im Juni 1967. Frankfurt 1968, 38306
  • Laqueur, Walter: Confrontation: The Middle-East war and world politics. London 1974, 53632
  • Laske, Karl: Ein Leben zwischen Hitler und Carlos: François Genoud. Zürich 1996, 100450
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  • Mafféï, Benoît: Les guerres du pétrole: Une histoire alternative des relations internationales au XXe siècle. Genf 2021, 148184
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  • Medzini, Meron: Golda Meir: A political biography. Berlin 2017, 138169
  • Meier-Cronemeyer, Hermann: Israel: Geschichte des Zionismus – Religion und Gesellschaft – der Nahost-Konflikt. Hannover 1970, 48549
  • Meir, Golda: Mein Leben. Hamburg 1975, 56174
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  • Merkli, Ugo: Die schweizerische Mineralölwirtschaft 1970 bis 1983: Branchenanalyse aus der Sicht der Inlandniederlassungen multinationaler Erdölkonzerne. Zürich 1985, 67930
  • Meyer, Werner und Carl Schmidt-Polex: Schwarzer Oktober: 17 Tage Krieg um Israel. Percha 1973, 51361
  • Michaelis, Alfred: Erdöl in der Weltwirtschaft und Weltpolitik. Berlin 1974, 53358
  • Mishan, E. J.: Die Wachstumsdebatte: Wachstum zwischen Wirtschaft und Ökologie. Stuttgart 1980, 68463
  • Mosley, Leonard: Weltmacht Öl: Der Kampf um das schwarze Gold: Boykott, Erpressung, Korruption, Wirtschaftskrisen, Krieg. München 1974, 52598
  • Müller, Felix et al.: Krise: Zufall oder Folge des Kapitalismus? Die Schweiz und die aktuelle Wirtschaftskrise: Eine Einführung aus marxistischer Sicht. Zürich 1976, 58465
  • Ortlieb, Sylvia: Palästinensische Identität und Ethnizität: Genese und Entwicklung des Selbstverständnisses der Palästinenser. Köln 1995, 99722
  • Oz, Amos und Avraham Shapira: Man schiesst und weint: Gespräche mit israelischen Soldaten nach dem Sechstagekrieg. Frankfurt 2017, 136822
  • Pabst, Martin: Der Nahostkonflikt: Eine Einführung. Stuttgart 2018, 138115
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  • Peter, Alfred: Wirtschaftliche Voraussetzungen und Folgen einer schweizerischen Erdöl- und Erdgasförderung. Zürich 1961, 28934
  • Pfister, Christian (Hg.): Das 1950er Syndrom: Der Weg in die Konsumgesellschaft. Bern 1995, 97678
  • Pirani, Simon: Burning up: A global history of fossil fuel consumption. London 2018, 144573
  • Quandt, William B. et al.: The politics of Palestinian nationalism. Berkeley 1973, 51763
  • Rodinson, Maxime: Israël et le refus arabe: 75 ans d’histoire. Paris 1968, 56527
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  • Rubinstein, Danny: Yassir Arafat: Vom Guerillakämpfer zum Staatsmann. Heidelberg 1996, 100651
  • Rühl, Walter: Energiefaktor Erdöl: In 250 Millionen Jahren entstanden – nach 250 Jahren verbraucht? Zürich 1989, 87767
  • Rustow Dankwart, A. und John F. Mugno: OPEC: Success and prospects. London 1977, 59614
  • Schliwski, Carsten: Nahostkonflikt: 100 Seiten. Ditzingen 2023, 150167
  • Schmassmann, Norbert: Verteilungswirkungen von Erdölpreissteigerungen: Versuch einer empirischen Analyse für die Schweiz: 1972–1980. Diessenhofen, 75613
  • Schmidt, Manfred G.: Der schweizerische Weg zur Vollbeschäftigung: Eine Bilanz der Beschäftigung, der Arbeitslosigkeit und der Arbeitsmarktpolitik. Frankfurt 1985, 78814
  • Schoppig, Josef: Israel im Spiegel der Schweizer Presse 1967–1977: Der Bund, Neue Zürcher Zeitung, Tages-Anzeiger, Vaterland. Konstanz 2022, 150037
  • Schubert, Alexander: Erdöl: Die Macht des Mangels. Berlin 1982, 72518
  • Segev, Tom: 1967: Israels zweite Geburt. München 2007, 119012
  • Seifert, Thomas und Klaus Werner: Schwarzbuch Öl: Eine Geschichte von Gier, Krieg, Macht und Geld. Wien 2005, 116177
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  • Shwadran, Benjamin: The Middle East, oil and the great powers. 3. erw. Aufl. Jerusalem 1974, 56776
  • Sirhan, Bassem: Die Generation der Befreiung: Palästinensische Kinder. Basel 1975, 56701
  • Späti, Christina: Die schweizerische Linke und Israel: Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991. Essen 2006, 115927
  • Starke, Peter: Krisen und Krisenbewältigung im deutschen Sozialstaat: Von der Ölkrise zur Finanzkrise von 2008. Bremen 2015, 131726
  • Stoffel, Mathis: «Die Grenzen des Wachstums»: Beurteilung der Kritik. Bern etc. 1978, 64423
  • Ströbele, Wolfgang: Das Wachstum der Weltwirtschaft: Untersuchungen mit Hilfe eines regionalisierten Weltmodells. Berlin 1976, 59413
  • Teveth, Shabtai: The cursed blessing: The story of Israel’s occupation of the West Bank. London 1969, 45317
  • Teveth, Shabtai: Moshe Dayan: Politiker, Soldat, Legende. Hamburg 1973, 50129
  • Tibi, Bassam: Konfliktregion Naher Osten: Regionale Eigendynamik und Grossmachtinteressen. München 1989, 88234
  • Tophoven, Rolf: Fedayin – Guerilla ohne Grenzen: Geschichte, soziale Struktur und politische Ziele der palästinensischen Widerstandsorganisationen: Die israelische Konter-Guerilla. Frankfurt 1974, 52008
  • Trost, Ernst: David und Goliath: Die Schlacht um Israel 1967. Wien 1967, 37435
  • Tugendhat, Christopher: Erdöl: Treibstoff der Weltwirtschaft – Sprengstoff der Weltpolitik. Reinbek 1972, 49348
  • Türk, Henning: Treibstoff der Systeme: Kohle, Erdöl und Atomkraft im geteilten Deutschland. Berlin 2021, 148599
  • Witassek, David: Zwischen Frieden und Krieg: Terrorismus und Terrorismusdiskurs in der Schweiz, 1969 bis 1980. Bern 2019, 143520
  • Yergin, Daniel: Der Preis: Die Jagd nach Öl, Geld und Macht. Frankfurt 1991, 92259
  • Zadoff, Noam: Geschichte Israels: Von der Staatsgründung bis zur Gegenwart. München 2020, 144579
  • Zahn, Anina: Wider die Verunsicherung: Arbeitslosenkomitees in der Schweiz 1975–2002. Zürich 2021, 145776
  • Zala, Sacha et al.: Die Debatte zu einem «geheimen Abkommen» zwischen Bundesrat Graber und der PLO: Eine Zwischenbilanz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 66/1 (2016). S. 80-103, D 4212
  • Zündorf, Lutz: Das Weltsystem des Erdöls: Entstehungszusammenhang, Funktionsweise, Wandlungstendenzen. Wiesbaden 2008, 120036

Periodika

  • Journal of Palestine studies: A quarterly on Palestinian affairs and the Arab-Israeli conflict, D 4002
  • Kämpfendes Palästina: Zeitschrift der Gesellschaft Schweiz – Palästina, D 3144
  • Palästina. Hg. Palästina-Komitee Zürich, D 3144
Piz-Margna-Tour, 1922 (© David Kobelt): «Wie das Bild entstanden ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich war nicht dabei. Die drei jungen Frauen erreichten mit dem Bergführer jedenfalls den Gipfel. Da gibt es weitere Aufnahmen.» (unseregeschichte.ch/entries/oRG0RWxzpjO)
Piz-Margna-Tour, 1922 (© David Kobelt): «Wie das Bild entstanden ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich war nicht dabei. Die drei jungen Frauen erreichten mit dem Bergführer jedenfalls den Gipfel. Da gibt es weitere Aufnahmen.» (unseregeschichte.ch/entries/oRG0RWxzpjO)

unsereGeschichte.ch

Eine neue historische Plattform – interaktiv und für alle offen

Wir wissen, dass die meisten Alltagserfahrungen nie den Weg in die Archive finden. Sie sind in den Köpfen der Menschen abgespeichert, sie stecken in privaten Fotoarchiven oder schlummern in Kisten auf Dachböden und warten auf eine Neubelebung. Schnappschüsse vom Dorffest oder von regionalen Ereignissen wie etwa der legendären Seegfrörni gehören genauso dazu wie private biografische Erinnerungen, die man bei sich zu Hause aufbewahrt, jedoch als unwichtig für das kollektive Gedächtnis erachtet. Wer erzählt schon von seiner Kindheit in einem Arbeiter:innenhaushalt der 1950er-/60er-Jahre, so dass dies der Nachwelt erhalten bleibt? Und wie lange ging es, bis die schlimmen Erfahrungen von administrativ versorgten Menschen den Weg in die offizielle Geschichtsschreibung gefunden haben!

Die partizipative Plattform unsereGeschichte.ch möchte der Öffentlichkeit einen neuen, virtuell organisierten Raum geben, wo Erinnerungen geteilt und gemeinsam Geschichte gestaltet werden kann. Hier können alle Interessierten ihre Erinnerungsschätze hochladen: das Video von den Jubiläumsfeierlichkeiten der Wohngenossenschaft, das zerknitterte Foto vom ersten eigenen Auto, der Film von der Abschlussfeier nach der Lehre als Krankenschwester oder die Fotogalerie mit Geschichten zur eigenen Familie. Texte, Videos, Fotos, Audioaufnahmen – alles ist willkommen und kann ohne journalistischen oder wissenschaftlichen Anspruch hochgeladen werden. Die Nutzung der Plattform ist einfach, die Beiträge können lose angelegt oder in Themengalerien einsortiert werden, in der Regel sollten sie in eine Geschichte eingebettet sein. Man kann auf Wunsch anonym veröffentlichen, einzig bei der Registrierung müssen Personendaten angegeben werden.

Die Sammelplattform funktioniert interaktiv, indem die einzelnen Posts von allen Nutzer:innen mit weiteren Posts ergänzt, aber auch in Chats kommentiert werden können. Oder es werden in Form von Blogs und gezielt eingerichteten Galerien Dialoge aufgegleist und angeregt. In diesem Zusammenwirken entsteht ein lebendiges Museum der Alltagsgeschichte, bewirtschaftet von all jenen, die ihre wertvollen Erfahrungen vor dem Vergessen retten wollen. Ein kleines redaktionelles Team sichtet alle Beiträge, um Missbrauch zu verhindern.

Zusammenarbeit mit Institutionen

Die Plattform unsereGeschichte.ch arbeitet mit Archiven, Museen und Vereinen zusammen, ein Beirat aus deren Kreis regt thematische Schwerpunkte an. Die mit uns verbundenen Institutionen stellen eigene Exponate ins Netz und nutzen die Plattform zum Sammeln von Materialien für ihre eigenen Projekte. Unter Einbezug der Partnerinstitutionen soll jeweils monatlich ein neues Fokusthema lanciert werden. So sammeln wir aktuell parallel zur Ausstellung des Landesmuseums Geschichten zum Thema «Italianità» und suchen aktiv das Mitwirken von Migrant:innen-Organisationen wie den Colonie Libere Italiane. Auf diesem Weg finden Erinnerungen und Dokumente der ersten und zweiten Generation der italienischen «Fremdarbeiter:innen» Eingang ins nationale Gedächtnis. Oder wir haben ergänzend zur Veranstaltungsreihe des Sozialarchivs «Schöner wohnen? Besser leben!» Dokumente zur Geschichte von Wohngemeinschaften gesammelt und Interviews geführt. So fand die Alters-WG in Tenna einen Platz auf unserer Plattform und war Gast bei einer Veranstaltung des Sozialarchivs.

Das Angebot von unsereGeschichte.ch ist in der Deutschschweiz einzigartig. Es wurden von Privatpersonen und Institutionen bereits über 800 Dokumente publiziert. Getragen wird unsereGeschichte.ch von der Stiftung FONSART, die mit notrehistoire.ch bereits eine entsprechende Plattform in der französischsprachigen Schweiz betreibt. Zudem gibt es eine intensive Zusammenarbeit mit lanostrastoria.ch in der italienischsprachigen Schweiz und nossaistorgia.ch im Bündnerland.

Neue Rolle für Historiker:innen

Historiker:innen können in diesem Projekt eine zentrale Rolle übernehmen, indem sie die Leute in ihrem privaten Umfeld zum Erzählen und zum Festhalten von Geschichten ermuntern oder vielleicht auch einmal Interviews mit Zeitzeug:innen führen. So könnten sie zum Beispiel die Nachbarin, die als Swissair-Angestellte das Grounding erlebt hat, dazu animieren, ihre Geschichte aufzuschreiben und zu publizieren, und sie dabei unterstützen.

Alle, die an Geschichte interessiert sind, können also ganz direkt dazu beitragen, das kollektive Gedächtnis der Deutschschweiz mit neuen Perspektiven zu ergänzen und gelebte Realitäten sicht- und verstehbar zu machen.

Links auf einige Galerien:

Vor 75 Jahren: Die Streikwelle nach dem Zweiten Weltkrieg

Zwei Daten tauchen in der Erinnerungskultur zur Geschichte der industriellen Beziehungen und Arbeitskonflikte der Schweiz immer wieder auf und sind bei runden Jahrestagen jeweils Gegenstand umfangreicher Gedenkaktivitäten: Das Jahr 1918 mit dem Landesstreik als grösster innerer Krise des Bundesstaats, Höhepunkt einer umfangreichen Streik- und Protestwelle und helvetischer Ausläufer der globalen Umbrüche um das Ende des Ersten Weltkriegs herum und das Jahr 1937 mit dem Abschluss des «Friedensabkommens» in der Maschinen- und Metallindustrie, das häufig als Geburtsurkunde des schweizerischen Arbeitsfriedens betrachtet wird und bereits an der Landi 1939 auf der «Höhenstrasse» an prominentem Ort ausgestellt wurde (s. SozialarchivInfo 2/2017 und 4/2018). Wenig im kollektiven Gedächtnis verankert ist dagegen eine Serie von Ereignissen, die die Chronologie vom konfliktiven, die Klassenkampfphase der Jahrhundertwende zum Höhepunkt bringenden «1918» zum kooperativen, den Arbeitsfrieden einläutenden «1937» in Frage stellt, mit den Geschehnissen beider Jahreszahlen aber vielfältig verknüpft war: die letzte grosse Streikwelle der Schweizer Wirtschaftsgeschichte zu Ende des Zweiten Weltkriegs.

Ein zweites «1918»?

In den Jahren 1945 bis 1949 gab es in der Schweiz 159 Streiks mit insgesamt 426’400 Beteiligten. Hauptforderungen bei den meisten Streiks waren der Ausgleich der kriegsbedingten Teuerung, der Abschluss von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) sowie die (oft erstmalige) Ausrichtung bezahlter Ferientage. Die Streikwelle um das Ende des Zweiten Weltkriegs blieb nach Anzahl der Streiks hinter derjenigen am Ende des Ersten Weltkriegs zurück, nicht aber nach Anzahl der Beteiligten. Von 1917 bis 1920 hatte es 830 Streiks mit 81’000 Beteiligten gegeben. Hinzu waren sechs lokale und drei überregionale Generalstreiks gekommen, darunter der dreitägige Landesstreik im November 1918 mit einer Viertelmillion Beteiligter.

Neben den offensichtlichen Parallelen der beiden Kriegsendstreikwellen zeigen sich auch deutliche Unterschiede: Die Streiks zu Ende des Zweiten Weltkriegs beschränkten sich weitestgehend auf die Arbeiter:innenschaft und verliefen im klassischen Rahmen konfliktiver industrieller Beziehungen. Ihre Vorläuferin ein Vierteljahrhundert zuvor war dagegen vielschichtiger gewesen: Parallel zu den klassischen Arbeiter:innenstreiks gab es Hungerproteste, die sich angesichts der Versorgungskrise in den Bereichen Lebensmittel, Energie, Kleidung und Wohnraum und der dadurch hervorgerufenen Teuerung nicht wie die Streiks nur an die Arbeitgeber, sondern hauptsächlich an die Behörden richteten. Auch weitete sich der Kreis der Protestierenden teilweise aus auf die Angestellten – spektakulär im Zürcher Bankangestelltenstreik vom September 1918, aber auch durch die Gründung der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) im Juli desselben Jahres und deren Eingaben an den Bundesrat mit Forderungen zur Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung und der Angestelltenlöhne sowie deren Verhandlungen über einen ersten landesweiten Angestellten-GAV, der Ende 1918 abgeschlossen wurde. Und schliesslich fehlte am Ende des Zweiten Weltkriegs auch das Element von branchenübergreifenden und mit politischen Forderungen verbundenen Generalstreiks auf lokaler und nationaler Ebene völlig.

Diese Unterschiede hingen sowohl mit der verschieden gravierenden Verschlechterung der materiellen Lage als auch mit Lehren aus den Ereignissen um 1918 zusammen. Von 1914 bis 1917 waren die Reallöhne durchschnittlich um rund 28% zurückgegangen, von 1939 bis 1944 betrugen die Reallohnverluste im Schnitt «lediglich» rund 6%. Die absoluten Zahlen machen den Unterschied der materiellen Lage am Ende der beiden Weltkriege noch deutlicher: Bei Kriegsausbruch 1939 waren die Reallöhne doppelt so hoch gewesen wie 1917, im Jahr 1944 lagen sie trotz der Verluste infolge Kriegsinflation immer noch etwa 89% über denjenigen von 1917. Die Reallohnentwicklung gibt aber die Veränderung der materiellen Situation noch nicht vollständig wieder. Während des Ersten Weltkriegs waren die Wehrmänner während des Aktivdienstes lediglich mit dem Sold entschädigt worden. Dadurch wurden die Arbeiter:innenfamilien stärker von weiblichen Einkommen abhängig, die durchschnittlich wenig mehr als die Hälfte der Männerlöhne betrugen. Viele Familien fielen deshalb unter die Armutsgrenze. Notstandsunterstützungen, von denen 1918 ein Sechstel der Bevölkerung abhängig war, wurden, wenn überhaupt, erst nach entwürdigenden behördlichen Prozeduren ausgerichtet. 1939 führte der Bundesrat dagegen kurz nach der Generalmobilmachung die Lohnersatz-Ordnung als Sozialversicherung ein, die während des Aktivdienstes eine Verarmung der Wehrmännerfamilien verhindern sollte.

Auch im Bereich der Grundversorgung mit Lebensmitteln lernten die Behörden aus dem Ersten Weltkrieg: Die Rationierung einiger Nahrungsmittel hatte damals erst im Frühjahr 1917 begonnen und wurde dann nach grossen überregionalen Teuerungsdemonstrationen während der Arbeitszeit am 30. August im Herbst 1917 und der ersten Jahreshälfte 1918 auf Brot, Mehl, Butter, Fett, Öl, Käse und Milch ausgeweitet. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bestanden dagegen umfangreiche kriegswirtschaftliche Vorbereitungen und bereits nach zwei Monaten setzten erste Rationierungen ein, die im Verlauf des Krieges flexibel an die Versorgungslage angepasst wurden. In der Wohnpolitik zeigten sich die Bundesbehörden ebenfalls agiler als während des Ersten Weltkriegs. Damals war die Wohnbautätigkeit fast vollständig zum Erliegen gekommen, was grosse Wohnungsnot, stark ansteigende Mieten und die Unterbringung ganzer Familien in Einzelzimmern oder Baracken nach sich zog. Der Bund handelte aber erst nach dem Landesstreik und sprach im März 1919 12 Millionen Franken für Arbeitsbeschaffungs- und Wohnbauförderungsmassnahmen, die dann bis 1922 mehrfach aufgestockt wurden. Auch im Zweiten Weltkrieg und den Jahren unmittelbar danach war die Wohnungsnot wieder ein Thema, neben Gemeinden und Kantonen unternahm der Bund jedoch bereits ab 1942 wieder Anstrengungen zur Steigerung der Wohnbautätigkeit (s. SozialarchivInfo 1/2023).

Im Bereich der industriellen Beziehungen hatte sich die Situation ebenfalls verändert. Der Schock des Landesstreiks hatte zu breiten Diskussionen über eine Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen geführt, die sich in den 1930er-Jahren angesichts der Weltwirtschaftskrise fortsetzten. Dabei wurden so unterschiedliche Konzepte wie die «Wirtschaftsdemokratie», die «berufsständische Ordnung» oder die «Betriebsgemeinschaft» in die Debatte eingebracht (s. SozialarchivInfo 5/2020). Vor allem aber lief der Trend zunehmend Richtung vertragliche Regelungen der Arbeitsbeziehungen. Bereits 1911 hatten GAV im Obligationenrecht eine gesetzliche Grundlage erhalten. In den Jahren 1917 bis 1920 kam es parallel zur Streik- und Protestwelle auch zu einer Welle von Vertragsabschlüssen, die sich jedoch stark auf das Gewerbe konzentrierten. Hingegen scheiterte das «Bundesgesetz betreffend Ordnung des Arbeitsverhältnisses», das die Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von GAV vorgesehen hätte, 1920 knapp an der Urne. Die erste amtliche Zählung im Jahr 1929 im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise ergab 303 GAV mit etwa 65’000 Arbeiter:innen. Neun Jahre darauf waren es bereits 417 GAV.

Kein GAV war dagegen das 1937 abgeschlossene «Friedensabkommen» der Maschinen- und Metallindustrie, das für zunächst zwei Jahre sämtliche Kampfmassnahmen (wie Streiks und Aussperrungen) verbot und dann im Vierjahresrhythmus erneuert und erst allmählich mit Regelungen zu Löhnen, Arbeitszeiten und weiteren materiellen Bestimmungen angereichert wurde. Im Jahr darauf erfolgte der Abschluss des ersten «Landesmantelvertrags» im Bauhauptgewerbe, der im Gegensatz zum «Friedensabkommen» keinen absoluten Streikverzicht enthielt, aber Regelungen zu Löhnen und Arbeitszeiten – dies insbesondere, weil das Baugewerbe nicht vom Fabrikgesetz mit seinen Bestimmungen zu den Arbeitsverhältnissen erfasst war. Ebenfalls 1938 kam im kaufmännischen Bereich erstmals seit 1921 wieder ein vertragliches Verhältnis zwischen der VSA, dem Kaufmännischen Verband und den Arbeitgebern zustande. Dieses «Richtlinienabkommen» hatte nicht die Qualität eines GAV, ermöglichte aber während des Zweiten Weltkriegs regelmässige Verhandlungen über den Teuerungsausgleich. 1941 gab ein Bundesbeschluss der Regierung dann die Kompetenz, GAV für allgemeinverbindlich zu erklären.

Zugleich wurden die staatlichen Schlichtungsmechanismen ausgebaut. Bereits um die Jahrhundertwende hatten verschiedene Kantone und Städte sogenannte «Einigungsämter» gegründet. 1918 wurden die Kantone durch eine Revision des Fabrikgesetzes zur Einrichtung solcher Ämter verpflichtet, und der Bundesrat erhielt die Kompetenz, bei überlokalen Konflikten eine interkantonale Einigungsstelle einzusetzen. 1936 ermächtigte der Bundesrat das Volkswirtschaftsdepartement zur Zwangsschlichtung. Dasselbe Departement erhielt im Frühjahr 1942 gestützt auf die Kriegsvollmachten die Kompetenz zur Einsetzung einer eidgenössischen Schlichtungsstelle auch für Kollektivkonflikte, die nicht Fabrikbetriebe betrafen. Dieses Notrecht wurde 1949 durch das «Bundesgesetz über die eidgenössische Einigungsstelle zur Beilegung kollektiver Arbeitsstreitigkeiten» abgelöst.

Ebenso zeigten sich die Behörden zurückhaltender als ein Vierteljahrhundert zuvor beim Aufgebot von Ordnungstruppen bei Arbeitskämpfen. Zwischen 1880 und 1914 war bei Streiks 38mal Militär aufgeboten oder auf Pikett gestellt worden, wobei die Einsätze in 22 Fällen über blosse Bewachungsaufgaben hinausreichten. In der Streik- und Protestwelle um das Ende des Ersten Weltkriegs gab es Ordnungstruppeneinsätze etwa 1917 in Chippis, La Chaux-de-Fonds, Zürich, Lugano und bei den überregionalen Demonstrationsstreiks vom 30. August, 1918 in Zürich, Lugano, Basel, Biel, mehrfach bei Arbeitsverweigerungen internierter ausländischer Deserteure und Refraktäre sowie landesweit vor und während des Landesstreiks und 1919 bei den Generalstreiks in Basel und Zürich. Die präventiven Ordnungstruppenaufgebote Anfang November 1918 waren dabei der unmittelbare Auslöser des Landesstreiks gewesen. Bei diesen Einsätzen gab es mehrfach Tote: 1917 in Zürich (4), 1918 in Biel (1), Zürich (1) und Grenchen (3), 1919 in Basel (5) und Zürich (1). Nach der Katastrophe der «fusillade» von Genf von 1932 mit 13 Toten beim Militäreinsatz anlässlich einer antifaschistischen Demonstration (s. SozialarchivInfo 2/2022) nahm die Zahl der Ordnungstruppeneinsätze massiv ab. Die beiden Einsätze während des Zweiten Weltkriegs bei Unruhen in Steinen im Kanton Schwyz 1942 und in Locarno 1945 standen in keinem Zusammenhang mit Arbeitskämpfen. Lediglich 1942 wurden bei einem Arbeitskonflikt in Chippis Truppen auf Pikett gestellt. Im Frühling 1946 gab es dann sowohl im Militärdepartement als auch bei den kantonalen Behörden Vorbereitungen für einen Truppeneinsatz bei befürchteten Streikunruhen in Zürich. In der gesamten Streikwelle am Ende des Zweiten Weltkriegs gelangten aber keine Ordnungstruppen zum Einsatz.

Ende 1943 gab es seitens der Bundespolitik zwei weitere Signale, es nicht zu einem neuen «1918» kommen lassen zu wollen. Bei den Nationalratswahlen im Oktober hatte die SP elf Sitze gewonnen und war klar zur stärksten Partei geworden. Daraufhin besann sich die Vereinigte Bundesversammlung des bereits in der Landesstreikdebatte 1918 von Bundespräsident Felix Calonder gemachten Versprechens eines Einbezugs der Sozialdemokraten in die Regierungsverantwortung und wählte im Dezember den Zürcher Stadtpräsidenten Ernst Nobs (der 1919 wegen seiner Rolle im Landesstreik für vier Wochen im Gefängnis gesessen hatte) zum ersten SP-Bundesrat. Von einer proportionalen Zusammensetzung des Bundesrates entsprechend der Wahlresultate war man damit noch weit entfernt: Mit einem Wähleranteil von 28,6% hatte die SP nun einen Bundesrat, die FDP, die erstmals seit 1848 die absolute Mehrheit in der Landesregierung verlor, mit einem Wähleranteil von 22,5% aber deren drei. Immerhin waren nun indessen alle bedeutenden politischen Kräfte in die Regierungsverantwortung eingebunden.

Zwei Wochen darauf gab Bundespräsident Walther Stampfli in seiner Neujahrsansprache das Versprechen ab, dass bis 1948 eine AHV eingeführt werde. Damit sollte eine zentrale Landesstreikforderung, die seit 1925 auch als Auftrag in der Bundesverfassung stand, endlich umgesetzt werden. Als Modell für das zukünftige Flaggschiff des schweizerischen Sozialstaats diente dabei die 1939 eingeführte Lohnersatz-Ordnung (s. SozialarchivInfo 3/2017). All dies schwächte bei Kriegsende die potenzielle Protestdynamik ab und fokussierte sie auf den engeren Bereich der industriellen Beziehungen.

Chemie: Der erste GAV einer Exportindustrie

In der Basler Chemieindustrie setzten Lohnbewegungen und Arbeitskonflikte bereits in der zweiten Kriegshälfte ein. Ab 1942 gab es unter dem Einfluss des neu gegründeten, kommunistisch dominierten Industriearbeiter-Verbandes Basel Lohnbewegungen und im November 1943 einen Streik in den Fluorwerken Pratteln. Daraufhin schlugen die Basler «Chemischen» den Gewerkschaften ein Friedensabkommen nach dem Vorbild der Maschinen- und Metallindustrie vor. Der in der chemischen Industrie schwach vertretene Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) und der LSFA, die beide Vertragspartner des Friedensvertrags der Maschinen- und Metallindustrie waren, begrüssten diese Idee. Hingegen forderten der Industriearbeiter-Verband und die christlichsozialen Gewerkschaften einen GAV mit materiellen Regelungen und konnten damit an den Belegschaftsversammlungen grosse Mehrheiten hinter sich scharen. Im Juni 1944 kam es in der Säurefabrik Schweizerhalle zu einem weiteren Streik. Kurz darauf wurden für die Säurefabrik, Geigy Schweizerhalle und die Fluorwerke erste Kollektivverträge abgeschlossen und begannen Verhandlungen für einen GAV der Basler Chemie. Dieser trat am 1. Januar 1945 in Kraft und war der erste GAV einer stark auf den Export ausgerichteten Industriebranche.

Im Juni 1946 kam es, nachdem Verhandlungen von fast einem Jahr keine Einigung erzielt hatten, auch zu einem Streik von rund 300 Beschäftigten in den beiden Chemiefabriken Siegfried und Landolt in Zofingen. Dabei forderten die Streikenden den Ausgleich der seit mehreren Jahren aufgelaufenen Teuerung sowie Minimalstandards bei Löhnen, Ferien und Feiertagsentschädigungen. Unterstützung erhielten sie vom Schweizerischen Textil- und Fabrikarbeiterverband (STFV), dessen Mitgliederzahl sich am Ende des Krieges beinahe verdoppelte. In Zofingen hatte der STFV seit der frühen Zwischenkriegszeit jeweils 100 bis 200 Mitglieder gezählt, 1945 sprang diese Zahl aber auf 700 und im folgenden Jahr gar auf 1’400. Der Streik, bei dem es verschiedentlich zu Auseinandersetzungen zwischen Streikposten und Streikbrechern kam, wurde in der Presse schweizweit beachtet. Am 23. Juni fand in Zofingen eine Kundgebung mit mehreren Tausend Teilnehmer:innen statt. Der Ausstand endete nach 16 Tagen mit einem vollständigen Erfolg für die Streikenden und dem Abschluss eines Kollektivvertrags.

Allerdings hatte der Zofinger Streik noch ein umfangreiches gerichtliches Nachspiel. Da die Streikenden in der Frühphase des Konflikts eine Aufforderung des Einigungsamtes missachtet hatten, bis zur Vorlage eines Kompromissvorschlags auf die Arbeitsniederlegung zu verzichten, leitete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren ein. Ende 1946 lehnte der Aargauer Grosse Rat eine Einstellung des Verfahrens via «Abolition» ab. Daraufhin kam es zu zwei grossen Prozessen mit jeweils rund 300 Angeklagten. Im Januar 1947 verurteilte das Bezirksgericht Zofingen die meisten angeklagten Chemiearbeiter:innen wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung zu Geldbussen von 10 bis 20 Franken. In der Revision sprach dann aber im April gleichen Jahres das Obergericht sämtliche Angeklagten frei und überbürdete die Kosten beider «Monsterprozesse» dem Kanton Aargau.

Knapp zwei Jahre nach dem Streik in der Zofinger Chemie fand im Kanton Aargau erneut ein aufsehenerregender Arbeitskampf statt. Am 18. März 1948 legten 200 Arbeiter:innen der Sprengstoff-Fabrik Dottikon die Arbeit nieder und streikten über drei Monate mit Unterstützung des Aargauer Gewerkschaftskartells. Am 7. Mai fanden Solidaritätskundgebungen in Aarau, Baden, Brugg, Reinach und Rheinfelden mit insgesamt 8’000 Teilnehmer:innen statt. Der Streik endete schliesslich erfolglos, da die Direktion auf viele Streikbrecher zurückgreifen konnte.

Raues Klima auf dem Bau

Das Baugewerbe war von der Streikwelle besonders stark betroffen. Die Bauarbeiter hatten während des Krieges erhebliche Reallohneinbussen hinnehmen müssen und waren nun in einer Phase des Baubooms – von 1942 bis 1946 sprang das Investitionsvolumen der jährlichen Bauvorhaben von 468 auf 1’089 Millionen Franken – und des Arbeitskräftemangels in einer starken Position. Bereits im Mai 1943 hatte der Schweizerische Bau- und Holzarbeiterverband (SBHV) angesichts der starken Teuerung die Lohnbestimmungen des Landesvertrags gekündigt. Nach verschiedenen regionalen Streikdrohungen willigten die Arbeitgeber in Lohnerhöhungen ein. Im Frühjahr 1944 kündigten der SBHV, der Verband evangelischer Arbeiternehmer (SVEA) und der Landesverband Freier Schweizer Arbeiternehmer (LFSA) die Lohnbestimmungen des Landesvertrags erneut, während der Christliche Holz- und Bauarbeiterverband (CHB) daran festhielt. In der Folge gab es an verschiedenen Orten Protestkundgebungen und es wurden Streikvorbereitungen getroffen. Nach bundesrätlicher Vermittlung und einem gewerkschaftlichen Ultimatum kam es zu einer neuen Übereinkunft, die erstmals auch Ferien für Maurer und Bauhandlanger vorsah. Im Frühjahr 1945 kündigte der Bau- und Holzarbeiterverband den im Vorjahr abgeschlossenen Vertrag und forderte den vollen Teuerungsausgleich. Ende April willigten die Arbeitgeber in eine Lohnerhöhung ein. Gleichwohl kam es im ersten Nachkriegsjahr zu kleineren Streiks in Fribourg, Solothurn, Stein am Rhein, Schaffhausen, Zürich und Lausanne. Von den insgesamt acht Streiks im Baugewerbe mit 562 Beteiligten waren 43 Betriebe betroffen.

1946 nahmen die Streiks im Baugewerbe massiv zu und erreichten eine neue Intensität. Im Frühjahr kündigten die Gewerkschaften den Landesvertrag erneut und forderten auch eine Verkürzung der Arbeitszeit. Im April und Mai fanden in der ganzen Schweiz Protestversammlungen statt, bei denen der SBHV, der CHB, der im Vorjahr nach einem Konflikt aus dem Christlichnationalen Gewerkschaftsbund ausgetreten war, sowie SVEA und LFSA zusammenwirkten. Auch kam es an verschiedenen Orten und in verschiedenen Segmenten der Baubranche zu Arbeitsniederlegungen, die der Kontrolle der Gewerkschaften teilweise entglitten. So streikten die Plattenleger, Bauanschläger und Schreiner in Zürich, die Plattenleger in Winterthur, die Gipser und Maler in Bern, die Holzarbeiter in Vevey und Montreux sowie mehrere Berufsgruppen im Jura. Im Februar wurde in Zürich statutenwidrig ein Gipserstreik ausgelöst. Erst nach langwierigen Verhandlungen erfolgte Mitte Mai der Abschluss eines neuen Landesvertrags, der eine Erhöhung der Stundenlöhne festsetzte.

Besonders heftig waren im Frühjahr 1946 die Bauarbeiterproteste in der Romandie. In Genf und Lausanne wurden Bauarbeiterversammlungen Ausgangspunkt von Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern, bei denen an Knotenpunkten der Verkehr für jeweils etwa eine Viertelstunde lahmgelegt wurde. In Genf kam es in der Folge auch zu Streiks und Ausschreitungen. Zu Ostern erfolgte ohne Bewilligung der Gewerkschaftszentrale die Arbeitsniederlegung. Bei der Mont-Blanc-Brücke wurden Karren, Bretter, Werkzeuge und eine Baumaschine in der Rhone versenkt. Verhandlungen vor dem Schlichtungsausschuss blieben am 24. April ergebnislos. Hauptforderung war die Gewährung bezahlter Feiertage, wofür die Bauarbeiter bereits zu Weihnachten 1945 demonstriert hatten und die Unterstützung breiter Kreise der Öffentlichkeit sowie des Konsistoriums der calvinistischen Kirche genossen.

Am 26. April 1946 leitete der Genfer Staatsrat im Stadthaus Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Zeitgleich fand auf der Place Cornavin eine Bauarbeiterversammlung statt, nach der sich ein spontaner Demonstrationszug von etwa 10’000 Personen zum Stadthaus formierte. Dort verbreitete sich das Gerücht, die Arbeitgeber zeigten sich bei den Gesprächen hartnäckig. Daraufhin drangen etwa 500 Manifestanten ins Stadthaus ein, wo die Gewerkschaftsvertreter sie vergeblich zu beruhigen versuchten. Die Arbeitgeberdelegation ergriff die Flucht. Drei Personen stürmten das Büro der Steuerverwaltung und warfen Akten aus den Fenstern. Auch wurden verschiedene Fensterscheiben eingeschlagen. Anschliessend entbrannte vor dem Stadthaus eine Strassenschlacht, bei der mehrere Gendarmen verletzt und einige Autos umgeworfen wurden. Einige Manifestanten warfen von Baugerüsten aus mit Ziegeln und Pflastersteinen nach der Polizei. Auch wurde die Hauswartswohnung geplündert. Hingegen schreckten die Demonstranten vor schwererer physischer Gewalt offenbar zurück. Als sie des Sekretärs des Unternehmerverbandes habhaft wurden, begnügten sie sich mit Anrempelungen. Zur Verhinderung grösserer Schäden an Leib und Leben der Beteiligten trug auch bei, dass die Polizei als Ergebnis eines Lernprozesses aus verschiedenen Vorfällen der vorangegangenen Jahrzehnte erstmals bei solchen Streikunruhen Tränengas einsetzte und dafür auf den Schusswaffengebrauch verzichtete. Schliesslich führten die Verhandlungen zu einer Übereinkunft, in der die Arbeitgeber erstmals sechs bezahlte Feiertage akzeptierten.

Im Frühjahr 1947 forderte der SBHV erneut Vertragsverbesserungen und kündigte den Rahmenvertrag auf den 14. Mai. Gleichzeitig fanden verschiedene kleinere Streiks statt. Vom 2. bis 20. Januar streikten die Plattenleger in Basel. Anfang April begannen in Locarno und Lugano Malerstreiks, die sich bis in den Sommer hinzogen. Im April streikten in Basel die Gipser und erneut die Plattenleger. Vom 8. bis 14. April traten die Zürcher Steinholzleger in den Ausstand, vom 8. bis 21. April die Gipser und Maler in Biel und Umgebung und vom 14. April bis 22. Mai die Gipser und Maler in Bern. Vom 16. April bis 2. Mai streikten auch die Maler im Kanton Luzern. Anlässlich der ersten Verhandlungen auf nationaler Ebene Ende März 1947 lehnten die Baumeister die Gewerkschaftsforderungen kategorisch ab. Auch in den Gesprächen der folgenden Wochen blieben die Fronten verhärtet.

Im April und Mai 1947 rüsteten beide Seiten für einen grossen Arbeitskampf. Der Zentralverband Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen beschloss auf Antrag des Baumeisterverbandes, auf einen eventuellen überregionalen Bauarbeiterstreik mit einer landesweiten Generalaussperrung der Bauarbeiter im Baugewerbe und darüber hinaus zu antworten. Im Mai fanden in der ganzen Schweiz Bauarbeiterversammlungen und -demonstrationen statt. Während diese in kleineren Ortschaften von einigen hundert Personen besucht wurden, waren es in Winterthur 4’000 bis 5’000 und in Zürich zwischen 12’000 und 15’000. In Basel organisierten SBHV und CHB am 21. Mai gemeinsam eine Demonstration. Während der Arbeitszeit zogen etwa 2’500 Bauarbeiter mit Tafeln und Transparenten durch die Stadt, an der Abschlusskundgebung beteiligten sich sogar etwa 5’000 Personen. In Lausanne fand ein spontaner Streik von 2’000 Bauarbeitern statt. In Bern kam es zu Teilstreiks auf mehreren Bauplätzen. In Genf legten die Bauarbeiter Ende Mai 1947 für eine Stunde die Arbeit nieder und es zirkulierten Handzettel, die zur Verlangsamung des Arbeitstempos bis zum Einlenken der Arbeitgeber aufforderten.

Vom 6. bis 17. Mai 1947 fanden im Auftrag des Bundesrates vor einer Eidgenössischen Schlichtungsstelle bestehend aus dem demokratischen Glarner Ständerat Melchior Hefti, dem sozialdemokratischen Zürcher Stadtpräsidenten Adolf Lüchinger und dem Genfer Oberrichter Charles Burde Verhandlungen statt, die ohne Ergebnis blieben. Auch bei neuerlichen direkten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern Ende Mai konnte keine Übereinkunft erzielt werden. Vom 4. bis 6. Juni 1947 lud daraufhin eine bundesrätliche Vermittlungsdelegation, bestehend aus Bundespräsident Philipp Etter und den Bundesräten Walther Stampfli (Volkswirtschaftsdepartement) und Ernst Nobs (Finanzdepartement) ins Bundeshaus zu Vermittlungsgesprächen, an denen ausser den Delegationen der Streitparteien auch die Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und des Schweizerischen Gewerbeverbandes sowie ein Vertreter des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit anwesend waren. Dabei schlug der Bundesrat ein Teilabkommen vor, das die strittigsten Punkte ausklammerte. Dieses Abkommen wurde von den Konfliktparteien angenommen und am 8. Juni von einer Landeskonferenz des SBHV gebilligt.

Damit war die Gefahr eines landesweiten Arbeitskampfes gebannt. Nicht zuletzt aufgrund der für den 6. Juli 1947 angesetzten Volksabstimmung über die Einführung der AHV waren Bundesrat und Konfliktparteien bemüht, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Die Diskussion der noch strittigen Punkte – vor allem der Arbeitszeitfrage – zog sich in der Folge hin. Erst 1950 konnte ein neuer Vertrag abgeschlossen werden. Zugleich rief die Spitze des SBHV mit Adresse an Kritiker in den eigenen Reihen die Zweckbestimmung des Streikens in Erinnerung: «Unser Verband führt Lohnbewegungen durch, um die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Arbeiter zu verbessern, und nicht, um eine Streikgymnastik zu betreiben, die entsprechend gewissen Theorien revolutionär sein sollte, in der Regel aber nur ‹konfusionär› ist. Der Zweck unserer Kämpfe ist die Verbesserung der materiellen und geistigen Lage der Arbeiter und nicht der Streik. Dieser letztere ist immer das äusserste Mittel, um das Ziel zu erreichen, aber nie das eigentliche Ziel selbst» (Bau- und Holzarbeiter-Zeitung, 24.7.1947).

Textilarbeiterinnen, Lageristen, Gärtner: Unterprivilegierte wehren sich

Auch in der Textilindustrie mit ihrem Übergewicht weiblicher Arbeitskräfte und traditionell schlechten Arbeitsbedingungen gab es um das Kriegsende zahlreiche Arbeitskonflikte. Für Aufsehen sorgte etwa der Streik in den Schappespinnereien von Arlesheim und Angenstein. Hier waren die Reallöhne seit Kriegsbeginn um 11% gesunken. Bereits im Frühjahr und Herbst 1944 gab es in diesen Spinnereien erfolglose Bewegungen des STFV für Lohnerhöhungen und einen Kollektivvertrag. Im April 1945 setzte die Gewerkschaft den Direktoren ein Ultimatum, aber auch ein anschliessender Vermittlungsversuch des Arlesheimer Gemeinderats fruchtete nicht. Am 4. Juni traten die Belegschaften, rund 400 Arbeiter:innen, in den Ausstand und forderten Lohnerhöhungen, Kollektivverträge und die Anerkennung der Gewerkschaft STFV. Der Streik zog sich bis in den Juli hin, dann gewährten die Direktoren Lohnerhöhungen von fast 30%.

Im folgenden Jahr kam es in der Bindfadenfabrik Arova in Flurlingen zu einem ebenfalls weitherum beachteten Arbeitskampf. Bereits im Herbst 1945 hatte eine erste, erfolglose Lohnbewegung stattgefunden. Im November 1945 gab es einen einstündigen Streik, nachdem die Betriebsleitung begonnen hatte, Grenzgängerinnen aus Deutschland zu Dumpinglöhnen anzustellen. Im Januar 1946 reichte der STFV nach Absprache mit dem Christlichen Textil- und Bekleidungsarbeiterbund (SVCTB) der Direktion einen Entwurf für einen Kollektivvertrag ein. Die Direktion reagierte darauf nicht und stellte weitere Grenzgängerinnen an. Im April fanden vor dem kantonalen Einigungsamt Verhandlungen statt und mündeten in eine Vereinbarung mit noch offenen Punkten. Gleichwohl engagierte die Direktion kurz darauf zusätzliche Grenzgängerinnen. Am 8. Mai trat die Mehrheit der 420-köpfigen Belegschaft in den Streik. Von den 360 Streikenden waren 226 beim STFV, 126 beim SVCTB und 8 beim SMUV organisiert. In den folgenden Wochen entfaltete sich eine massive Unterstützungsbewegung. Am 4. Juni gab es sogar einen eintägigen Solidaritätsstreik von etwa 4’000 Textilarbeiter:innen in Zürich, Basel, Liestal, Burgdorf und Schaffhausen und eine Unterstützungskundgebung auf dem Zürcher Helvetiaplatz mit 15’000 Teilnehmer:innen. Am 12. Juni stimmte die Betriebsversammlung einem Vermittlungsvorschlag des Einigungsamtes zu, die Direktion lehnte jedoch ab. Erst am 19. Juni, nach sieben Streikwochen, wurde eine Einigung mit Lohnerhöhungen erzielt und ein Kollektivvertrag unterzeichnet.

Im Anschluss daran führte der STFV in sechs Fabriken der Tuch- und Deckenindustrie Streiks durch. Auf die 450 Arbeiter:innen der Tuch- und Deckenfabrik Schild in Liestal am 24. Juni folgten zwei Tage später die rund 700 Arbeiter:innen der beiden Tuchfabriken in Wädenswil. Am 27./28. Juni legten die 160 Arbeiter:innen der Tuchfabriken Schild in Bern und die 90 Arbeiter:innen der Tuchfabrik Schaffhausen die Arbeit nieder. Die Tuchweber:innen in Cazis und Sils begannen ihre Streiks am 8. und 15. Juli 1946. Als Resultat dieser Streikwelle erfolgte im Sommer 1946 der Abschluss von GAV in der Leinen-, Tuch- und Decken-, Kammgarn- und Teppichindustrie. Auch im folgenden Jahr gab es in der Textilindustrie Arbeitskämpfe, so von Ende Mai bis Anfang Juli bei der Kunstseiden AG in Steckborn. In Genf legten im November 1947 250 Schneiderinnen der Haute-Couture die Arbeit nieder. Nach drei Streiktagen bewilligten die Arbeitgeber Lohnerhöhungen von 10 bis 15 Rappen pro Stunde und die Unterstellung unter einen GAV.

Andere Wirtschaftszweige und Berufsgattungen mit traditionell tiefen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen verzeichneten ebenfalls Arbeitskämpfe. Für Aufsehen sorgte beispielsweise im Oktober 1946 ein Streik der 34 Packer, Lageristen und Magaziner des an der Zürcher Bahnhofstrasse domizilierten Warenhauses Oscar Weber. Weber zahlte in diesen Berufen Löhne, die etwa 20% unter denjenigen der Grossdetaillisten LVZ (heute: Coop) und Migros lagen. Ende Juni 1946 lehnte Weber Lohnforderungen kategorisch ab, ebenso Anfang Oktober einen Kompromissvorschlag des kantonalen Einigungsamtes oder Verhandlungen mit dem Verband der Handels-, Transport- und Lebensmittelarbeiter (VHTL). Stattdessen wurde der VHTL-Vertrauensmann im Betrieb gefeuert und das Kündigungsschreiben zur Abschreckung am Schwarzen Brett angeschlagen. Die übrigen Packer, Lageristen und Magaziner wurden einzeln zur Direktion zitiert und mit Kündigung bedroht. Daraufhin kam es am 11. Oktober zur Arbeitsniederlegung. Am 19. Oktober organisierten die Gewerkschaften eine grosse Protestversammlung auf dem Lindenhof. Im Anschluss daran marschierten mehrere Tausend Personen zum Weber-Hauptsitz an der Bahnhofstrasse, buhten und pfiffen und blockierten die Eingänge. Zwei Tage später drohte der VHTL mit einem Solidaritätsstreik. Kurz darauf machte das Einigungsamt einen neuen Vorschlag, der Lohnerhöhungen und Verzicht auf Massregelungen vorsah und von beiden Seiten am 25. Oktober angenommen wurde.

Ein halbes Jahr später führte der VHTL in Zürich einen weiteren Arbeitskampf – denjenigen der Gärtner. Auch in diesem Sektor hatten sehr niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen Tradition. Im Juni 1946 kündigte der VHTL den bestehenden GAV. In den darauffolgenden Verhandlungen mit dem Gärtnermeisterverband zeigten sich die Arbeitgeber bereit, die Ferienansprüche auszudehnen und einen Beitrag an die Krankenversicherung zu leisten, in der zentralen Lohnfrage gab es aber keine Einigung. Anfang 1947 brach der VHTL die Verhandlungen ab, die Gärtnermeister verhandelten aber weiter mit den Verbänden der Christlichsozialen und der «Berufsgärtner». Anfang April unterbreitete das Einigungsamt einen Kompromissvorschlag, der nur wenig unter den gewerkschaftlichen Forderungen lag. Die 200 im VHTL organisierten Gärtner lehnten aber ab, stellten ein Ultimatum und traten am 16. April 1947 in den Streik. Durch Patrouillen mit Hilfe befreundeter Bau- und Holzarbeiter legten sie in der Folge etwa 90% der Gartenarbeiten lahm. Nach vier Streiktagen beschloss eine Berufskonferenz des VHTL die Unterstützung der Streikenden. Nach der ersten Streikwoche gab es auf dem Helvetiaplatz eine Kundgebung mit 3’000 Teilnehmer:innen. Zu jener Zeit verhandelte der sozialdemokratische Stadtrat und spätere Bundesrat Willy Spühler hinter verschlossenen Türen über einen neuen Kompromissvorschlag, der schliesslich von beiden Seiten akzeptiert wurde. Daraufhin kam der Streik nach zwei Wochen zu einem Ende. Im Herbst 1948 wurde dann ein neuer GAV für das Gärtnereigewerbe von Zürich und Umgebung unterzeichnet. Die beiden Streiks bei Oscar Weber und im Gartenbau wurden vom Fotografen Ernst Koehli, dessen Nachlass heute im Sozialarchiv liegt, umfassend dokumentiert.

Übergang zum Arbeitsfrieden der «Trente Glorieuses»

Die Streikwelle von 1945 bis 1949 hinterliess als Startphase der «Trente Glorieuses», einer bis zum Erdölschock von 1973 dauernden Phase wirtschaftlichen Aufschwungs, deutliche Spuren. Von den 159 Arbeitsniederlegungen am Ende des Zweiten Weltkriegs waren aus Sicht der Streikenden 52% vollständig und 44% teilweise erfolgreich. Dies führte zu einer raschen Überwindung der kriegsbedingten Reallohnverluste und einer Steigerung der Reallöhne über das Vorkriegsniveau hinaus. Im Jahr 1949 waren die Reallöhne der Schweizer Arbeiter:innenschaft im Schnitt 24% höher als ein Jahrzehnt zuvor beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Besonders zugelegt hatten die Arbeiterinnen, deren Reallöhne 1949 38% höher waren als bei Kriegsausbruch. Bei den Angestellten, die sich an der Streikwelle zu Kriegsende kaum beteiligten, lagen die Reallöhne 1949 lediglich 12% über dem Niveau bei Kriegsausbruch.

Langfristig wichtiger war aber die grossflächige Durchsetzung von GAV, die ebenfalls in vielen Streikforderungskatalogen figurierten. Von 1944 bis 1950 stieg die Zahl der GAV von 632 auf 1’447. Im Jahr 1951 verfügten 775’000 Arbeitnehmer:innen über einen GAV, zwölfmal mehr als bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929. In vielen GAV wurde erstmals der Anspruch auf bezahlte Ferien verankert. Als Standard etablierte sich dabei (wie auch in den ersten kantonalen Feriengesetzen 1946 in Solothurn, 1947 in Glarus, der Waadt und Genf, 1948 in Zug, 1949 in Basel-Land und Neuchâtel und 1950 in Schwyz) ein Anspruch von mindestens zwei Wochen. Ein wesentlicher Bestandteil vieler GAV war auch die – 1956 dann im Obligationenrecht geregelte – Friedenspflicht. Viele Verträge gingen dabei über die «relative» Friedenspflicht, welche Kampfmassnahmen zu nicht vertraglich geregelten Gegenständen erlaubt, hinaus und bekannten sich zur «absoluten» Friedenspflicht, die für die Zeit der Vertragsdauer sämtliche Kampfaktionen ausschliesst. Da zudem auch Arbeitskämpfe in der Phase der Vertragsverhandlungen selten wurden, ging die schweizerische Streikrate, auch im internationalen Vergleich, massiv zurück. Ab 1950 wurde jährlich nur noch eine einstellige Zahl von Streiks gezählt, im Jahr 1961 verzeichnete die Streikstatistik gar keine einzige Arbeitsniederlegung.

Parallel zur Streikwelle am Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dieser verbunden nahmen die Mitgliederzahlen der Arbeitnehmer:innenorganisationen (deren Dach- und Einzelverbandsakten heute zum grossen Teil im Sozialarchiv lagern) nach einem leichten Rückgang in den ersten Kriegsjahren bis Ende der 1940er-Jahre stark zu. Von 1941 bis 1949 stiegen sie beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) von 217’000 auf 381’000 Personen, bei der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) von 66’000 auf 75’000, beim Christlichnationalen Gewerkschaftsbund (CNG) von 36’000 auf 48’000, beim Verband evangelischer Arbeiternehmer (SVEA) von knapp 12’000 auf knapp 16’000 und beim Landesverband Freier Schweizer Arbeiternehmer (LFSA) von 8’000 auf 15’000. Zugleich wurden sie durch die neuen Wirtschaftsartikel, die 1947 im selben Urnengang wie die AHV angenommen wurden (allerdings weit weniger deutlich als diese) auch verfassungsrechtlich aufgewertet. Erstens überführten diese die Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeit von GAV ins ordentliche Recht und gaben dem Bundesrat die Kompetenz «die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen und von andern gemeinsamen Vorkehren von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden zur Förderung des Arbeitsfriedens» zu beschliessen. Zweitens hielten sie fest, die «zuständigen Organisationen der Wirtschaft» seien «vor Erlass der Ausführungsgesetze anzuhören und können beim Vollzug der Ausführungsvorschriften zur Mitwirkung herangezogen werden.» Dadurch wurde das in der Forschung als «Neo-Korporatismus» oder «liberaler Korporatismus» bezeichnete, für die Nachkriegsschweiz charakteristische Modell des Zusammenwirkens von Staat und Verbänden, dessen integraler Bestandteil die vertragsbasierte Sozialpartnerschaft war, sogar in der Bundesverfassung verankert.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.610.8 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Streiks und andere Gewerkschaftsfragen
  • Ar 18.301.1-9 Gewerkschaft Textil Chemie Papier GTCP: Streiks
  • Ar 18.304.46 Gewerkschaft Textil Chemie Papier GTCP: Branchenmappen Leinenindustrie
  • Ar 18.308.42 Gewerkschaft Textil Chemie Papier GTCP: Sekretariatsakten Gewerkschaftsgeschichte: Streik Zofingen 1946
  • Ar 22.50.31 Gewerkschaft Bau und Holz Sektion Zürich: Sektionsakten 1947–1970
  • Ar 22.60.10 Gewerkschaft Bau und Holz Sektion Zürich: Sektionsversammlungen 1959–1948
  • Ar 22.60.35 Gewerkschaft Bau und Holz Sektion Zürich: Vorstandssitzungen 1945–1946
  • Ar 22.60.36 Gewerkschaft Bau und Holz Sektion Zürich: Vorstandssitzungen 1947–1948
  • Ar 22.75.2 Gewerkschaft Bau und Holz Sektion Zürich: Streiks 1937–1951
  • Ar 22.75.5 Gewerkschaft Bau und Holz Sektion Zürich: Streiks
  • Ar 72.25.1 Landesverband freier Schweizer Arbeitnehmer LFSA: Akten Baugewerbe 1948–1974
  • Ar 72.72.15.6 Landesverband freier Schweizer Arbeitnehmer LFSA: Zentralvorstand: Protokolle 1946–1956
  • Ar 73.15.54 Christlicher Holz- und Bauarbeiterverband der Schweiz: Protokolle Zentralvorstand 1941–1948
  • Ar 73.30.2 Christlicher Holz- und Bauarbeiterverband der Schweiz: Streiks 1947–1950
  • Ar 73.30.3 Christlicher Holz- und Bauarbeiterverband der Schweiz: Schreinerstreik Tessin 1947
  • Ar 201.44 Oerlikoner Streik 1940
  • Ar 201.274 Streik in der Wolldeckenfabrik Schwendener in Sils im Domleschg
  • Ar 301.28 Manuskripte, Typoskripte: Eduard Kobelt: Das Streikverhalten der Arbeiter in der Ostschweiz 1927–1950
  • Ar 422.31.2 SMUV Sektion Zürich: Diverse Konfliktfälle 1931–1950
  • Ar 593 Dokumentation Arbeitskonflikte Ostschweiz
  • Ar GBI 04F-0067 Gewerkschaft Bau und Industrie: Sprengstofffabrik Dottikon: Streik
  • Ar GBI 04B-0101(1) Gewerkschaft Bau und Industrie: Baugewerbe: Berufskonferenzen, Korrespondenz, 1942–1949
  • Ar KV B 406 Kaufmännischer Verband Schweiz: Diverse Vereinbarungen, Abkommen, Richtlinien, Reglement
  • Ar SGB G 112/6 Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): SMUV/FTMH: Korrespondenz 1941–1949
  • Ar SMUV 05F-0010 SMUV Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen: Zusammenstellung der Bewegungen: Löhne; Zulagen; Ferien; Streik, 19371950
  • Ar VHTL 04A-0063 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): Warenhauspersonal: Oscar Weber AG
  • Ar VHTL 04D-0006 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): Gärtner und GartenarbeiterInnen: Vertragsbewegung
  • Ar VHTL 04D-0007 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): Gärtner und GartenarbeiterInnen: Berufskonferenzen
  • Ar VHTL 04D-0009 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): Gärtner und GartenarbeiterInnen: Lohnbewegungen
  • Ar VHTL 04D-0013 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): Gärtner und GartenarbeiterInnen: Streiks und Konflikte
  • Ar VHTL 08B-0038 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): GTCP (STFV): Konflikte, Streiks
  • Ar VHTL 08B-0045 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): SBHV: Streiks, Konflikte

Archiv Bild + Ton

  • F 5030 Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL)
  • F 5144 Koehli, Ernst (1913–1983)

Sachdokumentation

  • KS 331/29 Unternehmen und Beschäftigte; Friedensabkommen (1937): Schweiz
  • KS 331/30 Gesamtarbeitsverträge: Schweiz allg.
  • KS 331/32 Gesamtarbeitsverträge: Bekleidungs- & Textilindustrie
  • KS 331/32b Gesamtarbeitsverträge: Chemische Industrie
  • KS 331/32d Gesamtarbeitsverträge: Bekleidungs- & Textilindustrie
  • KS 331/33 Gesamtarbeitsverträge: Handel, Transport & Lebensmittel
  • KS 331/34 Gesamtarbeitsverträge: Bau & Holz
  • KS 331/34a Gesamtarbeitsverträge: Bau & Holz
  • KS 331/34b Gesamtarbeitsverträge: Bau & Holz
  • KS 331/35 Gesamtarbeitsverträge: Maschinen-, Metall- & Uhrenindustrie
  • KS 331/36:2 Gesamtarbeitsverträge: diverse Branchen
  • KS 331/256 Arbeitskonflikte & Streiks in der Schweiz
  • KS 331/256a Arbeitskonflikte & Streiks in der Schweiz
  • KS 331/262 Arbeitskonflikte & Streiks: Methoden der Arbeitgeber
  • ZA 71.2 Gesamtarbeitsverträge
  • ZA 77.5 C Arbeitskonflikte & Streiks in der Schweiz

Bibliothek

  • Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich: Schweizerische Arbeiterbewegung: Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart. Zürich 1975, 54290
  • Baumann, Hans et al.: 50 Jahre Friedensabkommen: Alte Rezepte für neue Herausforderungen? Neue gewerkschaftliche Alternativen zum «Wachstumspakt» sind nötig, in: Gewerkschaftliche Rundschau 79 (1987). S. 139-150, N 59
  • Baumgärtner, Alex: Industrial Relations in der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Baden-Baden 2013, 127832
  • Casutt-Schneeberger, Julia: Business cycles and strike activity: Labour conflicts across different economic regimes, 1945–2004. Marburg 2011, 126641
  • Conca-Pulli, Pälvi: Soldats au service de l’ordre public: La politique du maintien de l’ordre intérieur au moyen de l’armée en Suisse entre 1914 et 1949. Neuchâtel 2003, 134579
  • Degen, Bernhard: Von «Ausbeutern» und «Scharfmachern» zu «Sozialpartnern»: Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen im Wandel, in: Schweizerisches Sozialarchiv (Hg.): Bilder und Leitbilder im sozialen Wandel. Zürich 1991. S. 231-270, 91632
  • Deshusses, Frédéric: Mettre en œuvre la paix du travail, autour d’une grève des typographes genevois en 1948, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73/2 (2023). S. 146-162, D 6201
  • Fluder, Robert et al.: Gewerkschaften und Angestelltenverbände in der schweizerischen Privatwirtschaft: Entstehung, Mitgliedschaft, Organisation und Politik seit 1940. Zürich 1991, 92905
  • Gallati, Renatus: Der Arbeitsfriede in der Schweiz und seine wohlstandspolitische Bedeutung im Vergleich mit der Entwicklung in einigen anderen Staaten. Bern 1976, 57361
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Vor 175 Jahren: Die Schweiz und das Revolutionsjahr 1848

Der Schweizerische Bundesstaat feiert dieses Jahr seinen 175. Geburtstag. Seine Entstehung war mit vielfältigen innenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, zum Teil aber auch glücklichen Umständen verknüpft und lässt sich nur im gesamteuropäischen Zusammenhang des frühen 19. Jahrhunderts verstehen.

«Im Hochland fiel der erste Schuss»

Die Gründung des Bundesstaats beendete ein halbes Jahrhundert von Umbrüchen. Im Jahre 1798 war die auf einem komplizierten Bündnisgeflecht von Ständen mit unterschiedlichen politischen Systemen beruhende Alte Eidgenossenschaft zusammengebrochen und hatte zunächst einem parlamentarischen Einheitsstaat nach dem Vorbild der französischen Direktorialverfassung von 1795 mit bürgerlichen Freiheitsrechten, Aufhebung der Untertanengebiete und Herabstufung der Kantone zu Verwaltungseinheiten Platz gemacht. Dessen Verfassung begann mit den Worten: «La République helvétique est une et indivisible.» Die Helvetische Republik versank aber bereits nach kurzer Zeit in Parteikämpfe, Staatsstreiche und Rebellionen und wurde 1803 durch einen von Napoleon oktroyierten Staatenbund ersetzt. Der Untergang des Kaisers der Franzosen 1814/15 brachte in der Schweiz das Ende dieser sogenannten Mediationszeit. In verschiedenen Kantonen kehrte das Patriziat an die Macht zurück, alte Rechtsungleichheiten wurden zum Teil wiederhergestellt und die Verfassungen vieler Kantone erhielten eine strenge Beschränkung des Wahlrechts auf die Vermögenden und ein Übergewicht der Exekutive. Im Bundesvertrag von 1815 war die Zentralgewalt aus Tagsatzung und dem zwischen Zürich, Bern und Luzern rotierenden Vorort noch schwächer als in der Mediation.

In der Folgezeit wurden die als Opposition zur restaurativen Ordnung des Wiener Kongresses von 1814/15 in Europa um sich greifenden liberalen und nationalen Ideen nicht zuletzt unter dem Einfluss von Exilanten auch in der Eidgenossenschaft wichtig und wirkten auf das aufstrebende Wirtschafts- und Bildungsbürgertum sowie die ländliche Oberschicht. Verschiedene gesamteidgenössische Vereinigungen von Studenten, Wissenschaftlern, Schützen oder Turnern, die zwischen 1815 und den 1830er-Jahren entstanden, schufen eine gesamtschweizerische politische Öffentlichkeit. Auch das sich entfaltende Pressewesen trug dazu bei. So formierten sich im europäischen Revolutionsjahr 1830 in verschiedenen Kantonen oppositionelle Bewegungen. In Frankreich stürzte in jenem Jahr die Julirevolution die Restaurationsmonarchie Karls X. und ersetzte sie durch ein zunächst etwas liberaleres Königtum unter dem «Bürgerkönig» Louis-Philippe von Orléans. Daraufhin regten sich auch in anderen Regionen liberale Kräfte. Mit französischer und britischer Unterstützung spaltete sich Belgien von den Vereinigten Niederlanden ab und wurde zu einer liberalen konstitutionellen Monarchie. Einige Staaten des Deutschen Bundes erliessen neue Verfassungen, die jedoch im landständischen Rahmen blieben. Andernorts waren die gegen die restaurative Ordnung gerichteten Kräfte weniger erfolgreich. Erhebungen in Italien scheiterten ebenso wie der grosse Novemberaufstand in Kongresspolen gegen die Herrschaft des russländischen Zaren.

In der Eidgenossenschaft erfolgten 1830/31 in den Kantonen Tessin, Thurgau, Aargau, Luzern, Zürich, St. Gallen, Fribourg, Waadt, Solothurn, Bern und Schaffhausen nach Massenpetitionen und Volksversammlungen liberale Verfassungsänderungen, welche die alten Eliten entmachteten und das Wahlrecht auf breitere Schichten der männlichen Bürgerschaft ausdehnten (allerdings zum Teil einen gemässigten Zensus vorsahen und Juden, Armengenössige sowie häufig Knechte und Gesellen weiterhin von den politischen Rechten ausschlossen). In Zürich beruhten die an der Volksversammlung in Uster vom 22. November 1830 verabschiedeten Forderungen wesentlich auf dem «Küsnachter Memorial» des hessischen Flüchtlings Ludwig Snell. In Basel führten die Bemühungen um eine Verfassungsreform, welche die politische Benachteiligung der Landschaft beseitigen sollte, 1833 zur Trennung in zwei Halbkantone. Die sogenannt «regenerierten» Kantone führten parlamentarische Systeme mit Gewaltenteilung und direkten Wahlen sowie Presse-, Handels- und Gewerbefreiheit ein und bauten ein staatliches Bildungssystem mit obligatorischer und unentgeltlicher Volksschule, Kantonsschule, Lehrerseminar sowie (in Zürich und Bern) Hochschule auf.

Gleichzeitig setzten Bestrebungen zu einer Revision der Bundesordnung ein. Einen vom italienischen Juristen und Ökonomen Pellegrino Rossi (der dann Ende 1848 während der revolutionären Wirren in Rom ermordet werden sollte) ausgearbeiteten Tagsatzungsentwurf für eine leichte Stärkung der Bundesbehörden lehnte 1833 die Mehrheit der Kantone aber ab. Ab Ende der 1830er-Jahre polarisierte sich die politische Landschaft mehr und mehr. 1839 setzten in Zürich Reformiert-Konservative mit Hilfe bewaffneter Bauern die liberale Regierung ab und begründeten damit die internationale Karriere des Dialektbegriffs «Putsch», während im Tessin die Liberalen die katholisch-konservative Regierung stürzten. Auch wurden die Konflikte zunehmend von konfessionellen Gegensätzen überlagert. Der radikale Flügel des Liberalismus richtete sich mit seinem Antiklerikalismus besonders gegen die katholische Kirche. 1841 führten demokratische Verfassungsreformen im Aargau zu einer Mehrheit der Liberalen und Radikalen im Grossen Rat, in Luzern dagegen zu einem Sieg der Katholisch-Konservativen. Die von der radikal-liberalen Mehrheit im Aargau verfügte Aufhebung von acht Klöstern zog eine langwierige Auseinandersetzung nach sich. In Genf gab es 1841 und 1846 Revolutionen unter dem Anführer der Radicaux James Fazy. Im Wallis erfolgte 1843 ein konservativer Umschwung, welcher bürgerkriegsähnliche Unruhen nach sich zog. 1844 berief die Luzerner Regierung die Jesuiten an die höheren Schulen, was zu heftiger Kritik führte, galt der Jesuitenorden doch als Inbegriff der Reaktion. 1844/45 unternahmen Radikale zwei gescheiterte Freischarenzüge nach Luzern. Der zweite Zug wurde vom späteren Berner Regierungsrat, Tagsatzungspräsidenten und Bundesrat Ulrich Ochsenbein angeführt. Unter den Teilnehmern befand sich Gottfried Keller.

In der Waadt kam es im Februar 1845 zu einer Revolution gegen die liberalkonservative Regierung. Im neu gewählten Verfassunggebenden Grossen Rat gaben die Radicaux den Ton an. Sie bewahrten die Freiheitsrechte aus der Regenerationsverfassung und erweiterten die direktdemokratischen Instrumente, waren hingegen bezüglich der Verwirklichung des von Rousseau inspirierten Gleichheitsgedankens und der Einführung sozialer Rechte («garanties sociales») gespalten. Der radikale Führer und spätere Bundesrat Henri Druey, der das frühindustrielle Elend britischer Grossstädte aus eigener Anschauung kannte, kritisierte in den Ratsdebatten sowohl die markwirtschaftliche Nationalökonomie von Adam Smith und Jean-Baptiste Say als auch den französischen Frühsozialismus als je zu einseitig und empfahl einen Mittelweg zwischen Individualismus und Sozialismus. Seine Bemühungen, das Recht auf Arbeit in der Verfassung zu verankern und «Nationalwerkstätten» einzurichten, scheiterten aber deutlich. Die Debatten über soziale Rechte nahmen Konflikte vorweg, die dann die 48er-Revolution in Frankreich entscheidend prägen sollten. In Zürich gelangten wieder die Liberalen an die Macht, zu deren Anführer rasch der junge Alfred Escher aufstieg. Ebenfalls 1845 wurde der Luzerner Grossbauer und Ratsherr Joseph Leu von Ebersol, Anführer des konservativen Umschwungs von 1841, von einem radikalen Bauern «gemeuchelt».

In der Folge schlossen sich Ende 1845 die katholisch-konservativ regierten Kantone Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Luzern, Zug, Fribourg und Wallis zu einem Sonderbund mit eigenem, gegen den Bundesvertrag verstossenden Kriegsrat unter dem Präsidium des Luzerner Regierungsrats Constantin Siegwart-Müller zusammen. Nachdem in Bern, Genf und St. Gallen die Radikalen an die Macht gelangt waren, bestand 1847 eine radikal-liberale Tagsatzungsmehrheit, welche die Auflösung des Sonderbunds, die Entfernung der Jesuiten aus der Schweiz und die Einleitung einer Revision des Bundesvertrags von 1815 beschloss. Daraufhin mobilisierte der Kriegsrat des Sonderbunds die kantonalen Milizen und eröffnete am 3. November 1847 Feindseligkeiten mit einem Angriff auf das Tessin. Ziel war, die liberale Tessiner Regierung zu stürzen und Nachschubwege aus der österreichisch beherrschten Lombardei zu schaffen. Alle liberal-radikalen Kantone, unabhängig ob reformiert oder katholisch, unterstützten ein militärisches Vorgehen gegen den Sonderbund. Hingegen blieben die reformiert-konservativen Kantone Basel-Stadt und Neuchâtel sowie das katholisch-konservative Appenzell-Innerrhoden neutral.

Die konservativen Grossmächte, die schon Regeneration und Freischarenzüge mit Unbehagen beobachtet hatten, verfolgten die Entwicklung in der Schweiz missbilligend. Ihres Erachtens war die von ihnen auf dem Wiener Kongress unterzeichnete Garantie der Schweizer Neutralität und Unverletzbarkeit des Territoriums an die Staatsform des lockeren Staatenbundes geknüpft und sie nahmen sich das Recht heraus, gegen jede Veränderung zu intervenieren. Bereits im Sommer 1847 skizzierte die russländische Diplomatie die Idee, nach militärischer Machtdemonstration eine Vermittlungskonferenz durchzuführen, die unter Aufsicht der Grossmächte eine Revision des Bundesvertrags erarbeiten sollte. Der König von Preussen schrieb von einer «Seuche des Radikalismus, d. h. einer Sekte, welche wissentlich vom Christentum, von Gott, von jedem Rechte, das besteht, von göttlichen und menschlichen Gesetzen abgefallen» sei und nach einem Sieg in der Schweiz ganz Europa gefährden würde. Mit der Zuspitzung der Lage befürchteten Preussen, Österreich und Frankreich bei einem Sieg der Liberalen den Auftrieb oppositioneller Kräfte in den eigenen Ländern und stellten dem Sonderbund finanzielle und waffenmässige Unterstützung in Aussicht. Allein aus Österreich kamen 100’000 Gulden. 3’000 für den Sonderbund bestimmte Gewehre aus Mailand wurden dagegen in Lugano abgefangen. Auch zog Österreich in Vorarlberg Truppen zusammen. Eine gemeinsame Aktion der fünf europäischen Grossmächte gegen die Schweiz wurde aber von der britischen Diplomatie unter dem liberalen Aussenminister Lord Palmerston hinausgezögert.

Der Sonderbund ersuchte Österreich auch um Entsendung eines Generals für das Kommando seiner Truppen. Metternich schlug den Fürsten Friedrich Karl zu Schwarzenberg vor, der zwar ablehnte, jedoch privat beim Sonderbundüberfall auf Airolo sowie als Adjutant des Oberkommandierenden Johann Ulrich von Salis-Soglio an den entscheidenden Gefechten von Gisikon und Meierskappel teilnahm. Die eidgenössischen Truppen unter dem Kommando des gemässigt konservativen Genfers Guillaume Henri Dufour, der Angebote von Exilanten zum Eintritt in die Armee ablehnte und eine den Gegner schonende Kriegführung anordnete, errangen rasch die Oberhand. Bis Ende November kapitulierten sämtliche Sonderbundkantone. Deren Kriegsrat löste sich panikartig auf und die meisten Sonderbundführer setzten sich ins Ausland ab. Mit 93 gefallenen und 510 verwundeten Soldaten war der Sonderbundskrieg der wohl unblutigste Bürgerkrieg der modernen Geschichte – am anderen Ende der Skala rangiert der vier Jahre später in China ausgebrochene Bürgerkrieg zwischen Taiping-Bewegung und Quing-Dynastie mit 20 bis 30 Millionen Todesopfern.

Die Niederlage des Sonderbunds rief ein internationales Echo hervor. Während und nach dem Krieg gingen bei der Tagsatzung zahlreiche Unterstützungs- und Gratulationsschreiben von demokratischen Vereinen aus verschiedenen europäischen Ländern ein. Auf der anderen Seite unterbreiteten die konservativen Grossmächte noch am 30. November 1847 ein Vermittlungsangebot, das die siegreiche Tagsatzung zurückwies. Daraufhin drohten Österreich, Frankreich, Preussen und Russland am 18. Januar 1848 mit einer Interventionsnote. Die Tagsatzung antwortete Mitte Februar selbstbewusst und verwahrte sich gegen jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Eidgenossenschaft. Die kurz darauf ausbrechenden Revolutionen in Frankreich, Preussen und Österreich verhinderten dann eine Aktion der Grossmächte gegen die Schweiz.

Am 25. Februar 1848 jubelte der oppositionelle deutsche Dichter Ferdinand Freiligrath, der 1845/46 bei Rapperswil gelebt hatte, von London aus:

«Im Hochland fiel der erste Schuss
Im Hochland wider die Pfaffen!
Da kam, die fallen wird und muss,
Ja die Lawine kam in Schuss –
Drei Länder in den Waffen!
Schon kann die Schweiz vom Siegen ruhn:
Das Urgebirg und die Nagelfluhn
Zittern vor Lust bis zum Kerne!

Drauf ging der Tanz in Welschland los –
Die Scyllen und Charybden,
Vesuv und Aetna brachen los:
Ausbruch auf Ausbruch, Stoss auf Stoss!
– «Sehr bedenklich, Euer Liebden!»
Also schallt’s von Berlin nach Wien,
Und von Wien zurück wieder nach Berlin –
Sogar den Nickel graut es!»

Vom «Völkerfrühling» zur Konterrevolution

1848 erschütterte eine Revolutionswelle Europa, die diejenige von 1830 weit in den Schatten stellte. In Frankreich stürzte am 23. Februar die Monarchie. An ihre Stelle trat die kurzlebige Zweite Republik. Im März kam es in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes zu Revolutionen, die die Fürsten zur Einsetzung liberaler Regierungen zwangen. Daraufhin fanden Wahlen zu einer Nationalversammlung statt, die ab Mai in der Frankfurter Paulskirche die Verfassung für einen deutschen Nationalstaat auf konstitutionell-liberaler Grundlage erarbeitete. In Dänemark brachte die Märzrevolution den Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie. Im preussisch beherrschten Teil Polens kam es zu einem grossen Aufstand. In der Habsburgermonarchie gab es nebst Rebellionen in Wien Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen in diversen Reichsteilen. Auch verschiedene Herrschaftsgebiete in Italien wurden von Aufständen erschüttert, ebenso in der «rumänischen Revolution» die unter osmanischer Oberhoheit stehenden Donaufürstentümer Moldau und Walachei. Der niederländische König gewährte angesichts der revolutionären Unruhen in verschiedenen anderen Ländern eine liberale Verfassungsreform, die den Übergang zur parlamentarischen (aber noch nicht demokratischen) Monarchie brachte und die Glaubensfreiheit einführte.

All diesen Rebellionen lag ein Ursachenbündel von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren zugrunde. Der rasche wirtschaftliche und technische Wandel seit dem Wiener Kongress und die sich herausbildende Industriegesellschaft liessen die auf den vorrevolutionären Eliten beruhende Restaurationsordnung zunehmend anachronistisch erscheinen. Das sich entwickelnde Zeitungswesen verbreitete trotz Zensur grenzüberschreitend die gegen die monarchisch-aristokratische Ordnung gerichteten Ideen des Liberalismus, Nationalismus, Republikanismus, Sozialismus und der Volkssouveränität und Völkerverbrüderung. Hinzu kam in den Jahren vor 1848 eine Serie von Wirtschaftskrisen, Missernten und Hungernöten – sowie der Sieg der Schweizer Liberalen und Radikalen im Sonderbundskrieg.

Neben den liberalen und nationalen Bewegungen des Bürgertums traten in den 48er-Revolutionen auch radikaldemokratische und sozialistische Kräfte aus der Intelligenz und den unteren Mittelschichten sowie erstmals in nennenswertem Ausmass die Arbeiterschaft auf dem politischen Parkett in Erscheinung. Wenige Tage vor Ausbruch der Revolution in Paris erschien das von Karl Marx und Friedrich Engels im Auftrag des «Bundes der Kommunisten» verfasste und im Entwurf praktisch gleichzeitig mit dem Ende des Sonderbundskrieges fertiggestellte «Manifest der Kommunistischen Partei» im Druck. Es legte nicht nur die Grundzüge der Geschichtsauffassung des marxistischen Sozialismus dar, sondern rief auch zu einem breiten Bündnis mit den fortschrittlichen Kräften des demokratischen Bürgertums und der verschiedenen sozialistischen Richtungen auf. In der Schweiz zu unterstützen seien dabei «die Radikalen, ohne zu verkennen, daß diese Partei aus widersprechenden Elementen besteht, theils aus demokratischen Socialisten im französischen Sinn, theils aus radikalen Bourgeois.»

In Paris kämpften im Februar aufständische Arbeiter:innen und Bürger:innen gemeinsam auf den Barrikaden gegen die königlichen Truppen. In der neuen provisorischen Regierung, die das Recht auf Arbeit proklamierte, wurde der Sozialist Louis Blanc Arbeitsminister. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung Ende April errangen dann aber gemässigte Republikaner und Konservative einen deutlichen Sieg, während die demokratisch-sozialistische und radikalrepublikanische Linke schlecht abschnitt. Als eine der ersten Amtshandlungen schaffte die Nationalversammlung auf Antrag von Victor Schœlcher die Sklaverei in den französischen Kolonien ab. Als die Regierung die Schliessung der «Ateliers nationaux» anordnete, die mit Beschäftigungsprogrammen viele Arbeitslose in Lohn und Brot gehalten hatten, kam es Ende Juni zu einem Aufstand der Pariser Arbeiterschaft, den Armee und Nationalgarde niederschlugen. Tausende Aufständische wurden getötet, noch mehr verhaftet und teilweise in die Kolonien deportiert. Louis Blanc musste bis 1870 ins Exil gehen.

Auf der Liste der 270 Gefallenen des Berliner Aufstandes vom 18./19. März 1848 waren 180 Handwerksgesellen, Arbeiter oder Handwerkslehrlinge. Im Spätsommer 1848 gründeten Handwerksgesellen und Industriearbeiter auf einem Kongress in Berlin als erste deutschlandweite Arbeiterorganisation die «Allgemeine Arbeiterverbrüderung», die mehr als 170 Arbeitervereine mit insgesamt 15’000 Mitgliedern umfasste und das Werk der Frankfurter Nationalversammlung unterstützte.

Die 48er-Revolutionen waren keine rein männliche Angelegenheit. Aus verschiedenen Städten ist die Beteiligung von bürgerlichen Frauen und Arbeiterinnen an Strassenkämpfen überliefert, etwa beim Barrikadenbau, als Wachen oder beim Transport von Wurfgeschossen in die höheren Etagen von Häusern. Auf der Liste der Toten des Berliner Märzaufstandes finden sich elf weibliche Namen. Darüber hinaus publizierten Frauen in den zahlreich entstehenden Revolutionszeitungen – einige wurden gar Herausgeberinnen eigener Zeitschriften. Auch entstanden in Deutschland 1848 verschiedene Frauenvereine, die als Vorläufer der sich wenige Jahrzehnte danach formierenden Frauenrechtsbewegung gelten. Von der institutionellen Politik blieben Frauen dagegen ausgeschlossen. Immerhin gab es in der Paulskirche eine «Damengalerie», die es Frauen ermöglichte, die Verhandlungen der wegen der Dominanz des liberalen Bildungsbürgertums als «Professorenparlament» charakterisierten Nationalversammlung mitzuverfolgen.

Einige Frauen beteiligten sich sogar an den militärischen Revolutionskämpfen: Amalie Struve war im April 1848 beim radikaldemokratischen «Heckerzug» in Baden dabei und versuchte dann nach zwischenzeitlichem Exil in Basel im September zusammen mit ihrem Mann beim «Struve-Putsch» in Lörrach eine Republik auszurufen. Anschliessend verbrachte sie 205 Tage in Einzelhaft in Freiburg. Von Mai bis Juli 1849 beteiligte sie sich an einem neuerlichen Aufstand in Baden und bemühte sich besonders um die Mobilisierung von Frauen. Anschliessend emigrierte sie mit ihrem Mann in die USA und engagierte sich bis zu ihrem frühen Tod in New York für Frauenrechte. Auch Emma Herwegh beteiligte sich am «Heckerzug». Ihr Gatte, der sozialistische Dichter Georg Herwegh, der 1843 aus Zürich ausgewiesen worden war, hatte beim Ausbruch der 48er-Revolution aus deutschen Exilanten in Paris ein «Republikanisches Komitee» sowie die «Deutsche Demokratische Legion» aufgestellt, die auf Vermittlung von Emma am badischen Aufstand teilnahm. Nach dessen Niederschlagung flohen die Herweghs in die Schweiz und lebten von 1851 bis 1866 in Zürich. Obwohl sie in der Folge nach Süddeutschland zurückkehren konnten, wurde Georg Herwegh bei seinem Tod 1875 wunschgemäss in «republikanischer Erde» in Liestal bestattet, wo 1904 auch seine Gattin ihre letzte Ruhestätte fand.

Mathilde Franziska Anneke betätigte sich 1847/48 zusammen mit ihrem Gatten Fritz im Kölner Arbeiterverein, lernte Marx, Engels, Freiligrath, Herwegh und Ferdinand Lassalle kennen und gab nach der Verhaftung ihres Mannes im Juli 1848 für kurze Zeit eine «Frauenzeitung» heraus. Im Frühjahr 1849 diente sie in der revolutionären Pfälzischen Volkswehr im badisch-pfälzischen Feldzug als Ordonnanzoffizierin ihres Mannes. Nach dem Scheitern des Aufstandes flüchtete das Ehepaar nach Zürich und emigrierte dann in die USA, wo sich Anneke als Frauenrechtlerin, Vorkämpferin für Mädchenbildung und Aktivistin gegen die Sklaverei betätigte. Nach der Trennung von ihrem Mann lebte sie 1860 bis 1865 zusammen mit ihrer Partnerin, der amerikanischen Sklavereigegnerin Mary Booth, und drei ihrer Kinder in Zürich und betätigte sich journalistisch und literarisch.

Bereits im Sommer 1848 hatte der «Völkerfrühling» seinen Zenit überschritten. In Frankreich ernannte die Nationalversammlung nach dem Juniaufstand General Louis-Eugène Cavaignac, der die blutige Niederschlagung der Rebellion geleitet hatte, zum Ministerpräsidenten. Cavaignac galt auch für die Präsidentschaftswahl im Dezember als Favorit, unterlag aber Louis-Napoléon Bonaparte, der von nostalgischen Gefühlen für seinen kaiserlichen Onkel zehrte und mit populistischen Versprechen an die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen einen Erdrutschsieg errang. Nach dem Sturz Napoleons I. hatte sein Neffe bis Ende der 1830er-Jahre im Schweizer Exil auf Schloss Arenenberg gelebt, das Schweizer Bürgerrecht erworben und unter Dufour die Offiziersschule absolviert. 1836 und 1840 unternahm er Putschversuche gegen die französische Regierung. Als Präsident der Zweiten Republik putschte er dann 1851, kurz vor Ende seiner Amtszeit, ein drittes Mal, führte nach dem Vorbild seines Onkels durch eine manipulierte Volksabstimmung eine Verfassung ein, die ihm diktatorische Vollmachten gewährte, und liess sich im Folgejahr als «Napoleon III.» zum Kaiser krönen.

Die Niederschlagung des Pariser Juniaufstands war auch in anderen Ländern das Signal zur Konterrevolution. Nachdem bereits im Frühjahr und Sommer 1848 preussische Truppen den polnischen und österreichische Truppen den Prager Aufstand unterdrückt hatten, erfolgte im Oktober die blutige Niederschlagung einer Rebellion in Wien. Als die Frankfurter Nationalversammlung im März 1849 einen Verfassungsentwurf vorlegte, der eine kleindeutsche konstitutionelle Monarchie (ohne Österreich) vorsah, lehnte der preussische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm angetragene Kaiserwürde mit Berufung auf das Gottesgnadentum ab. Daraufhin mündete die radikaldemokratische Reichsverfassungskampagne im Mai in verschiedenen Teilen Deutschlands in Aufstände, die allesamt niedergeschlagen wurden. Zeitgleich machten Preussen und Österreich Druck zur Auflösung der Nationalversammlung. Ein Teil der Abgeordneten versammelte sich daraufhin in Stuttgart. Im Juni 1849 lösten württembergische Truppen dieses Rumpfparlament auf.

Im folgenden Monat intervenierten französische und spanische Truppen in Rom, wo der Radikaldemokrat und Vorkämpfer der italienischen und europäischen Einigung Giuseppe Mazzini im Februar eine Republik ausgerufen hatte, und stellten die Macht des Kirchenstaates wieder her. Mazzini hatte zuvor wiederholt in der Schweiz gelebt, unter anderem 1835/36 in Grenchen. 1834 hatte er mit anderen italienischen Flüchtlingen von Genf aus einen Umsturzversuch in Savoyen organisiert und im selben Jahr in Bern den Geheimbund «Junges Europa» gegründet, der seine Bewegung «Junges Italien» mit den gleichgesinnten Organisationen «Junges Deutschland» und «Junges Polen» verband. Im Oktober 1848 initiierte Mazzini von Lugano aus einen gescheiterten Aufstand im Val d’Intelvi in der nördlichen Lombardei. Im Verlauf des Jahres 1849 unterdrückten österreichische Truppen die Unabhängigkeitsbewegungen in Norditalien und – mit russländischer Unterstützung – in Ungarn. 1850 verständigten sich die Regierungen Preussens, Sachsens und Bayerns über die Verfolgung der «Arbeiterverbrüderung», die schliesslich 1854 zusammen mit den Arbeitervereinen verboten wurde.

Die Schweiz war in diese Revolutionen stark verwickelt. In Neuchâtel, das sich seit 1815 in einer eigentümlichen Zwitterposition als Kanton der Eidgenossenschaft und zugleich preussisches Fürstentum befand, zogen Anfang März 1848 republikanische Milizen aus den Montagnes in die Hauptstadt, bildeten eine provisorische Regierung und riefen die Republik aus. Der Konflikt wurde erst 1856/57 im «Neuenburgerhandel», der beinahe zu einem schweizerisch-preussischen Krieg führte, endgültig gelöst. Zur Unterstützung der Aufständischen in der Lombardei gingen im März 1848 etliche Tessiner Freischärler über die Grenze. Auch operierte im Veltlin und Trentino eine vor allem aus Waadtländern und Genfern bestehende Freiwilligenkompanie und zogen gegen 100 Mann unter dem Thurgauer Johannes Debrunner nach Venedig. Die lombardischen Aufständischen wurden mit dem eidgenössischen Obersten Michael Napoleon Allemandi sogar zeitweise von einem Schweizer angeführt. Auch in Süddeutschland beteiligten sich Schweizer an revolutionären Aktivitäten, so zum Beispiel der aus St. Gallen stammende radikale Historiker Karl Morel, der am ersten badischen Aufstand teilnahm, dann in die Schweiz zurückflüchtete und in der Folge Sekretär des neuen Eidgenössischen Politischen Departements (heute: EDA) wurde. Gottfried Keller war in Heidelberg Augenzeuge der revolutionären Ereignisse. Hingegen lehnte die Tagsatzung im April 1848 eine Anfrage des Königs von Sardinien-Piemont für eine antihabsburgische Allianz und Entsendung von 20’000 bis 30’000 Mann zur Unterstützung des lombardischen Aufstands mit 15 zu 6 Stimmen ab, und General Dufour beantwortete zwei Anfragen zur Übernahme des Oberfehls der piemontesischen Truppen negativ.

Nur zwei der fünf europäischen Grossmächte wurden von den 48er-Revolutionen kaum direkt betroffen: Grossbritannien und Russland. Es handelte sich dabei um die beiden grössten imperialistischen Reiche, die bei der zeitgleichen Unterwerfung weiter Teile Asiens in scharfer Konkurrenz standen (sogenanntes «Great Game»). Auch bezüglich ihrer politisch-gesellschaftlichen Systeme, Wirtschaftsstruktur und europapolitischer Agenden standen sie in starkem Gegensatz. Die parlamentarische Monarchie Grossbritanniens war 1832 durch den «Reform Act» modernisiert worden, der die jahrhundertealten Wahlkreise neu ordnete und das Wahlrecht auf die Mittelschichten ausdehnte. Nunmehr war etwa ein Siebtel der männlichen Bevölkerung stimmberechtigt. Das politische Schwergewicht im Unterhaus verschob sich vom aristokratisch geprägten Südengland zu den industriellen Grossstädten des Nordens. Einer der ersten Beschlüsse des reformierten Unterhauses betraf 1833 die Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien. Wenige Jahre darauf entstand mit den «Chartists» eine hauptsächlich von der Arbeiterschaft getragene Bewegung, die sich für das allgemeine Männerwahlrecht und weitere demokratische Reformen einsetzte. Zwei entsprechenden Massenpetitionen von 1838 und 1842 gab das Unterhaus aber nicht statt.

Eine dritte Petition kam im Revolutionsjahr 1848 zustande. Als Folge der Parlamentsreform von 1832 kam es im Vereinigten Königreich aber nicht zu einem Bündnis zwischen liberalem Bürgertum und demokratischen Unterschichten, wie es für die erste Phase der 48er-Revolutionen auf dem Kontinent kennzeichnend war. Nach lokalen Hungerunruhen in Manchester, Dublin und Glasgow im März 1848 untersagte die Regierung unter dem Eindruck der Revolutionen auf dem Kontinent die für die Petitionseinreichung am 10. April geplante Massendemonstration in London. Anschliessend erlitt der Chartismus einen raschen Niedergang und erst nach weiteren Parlamentsreformen 1867, 1884 und 1918 wurde das Vereinigte Königreich zur demokratischen Monarchie. Die britische Diplomatie der 1840er-Jahre hegte aber Sympathien für liberale Bestrebungen auf dem Kontinent und verfolgte gegenüber kontinentalen Oppositionellen eine grosszügige Flüchtlingspolitik. 1847/48 hielt sie angesichts der Interventionspläne der anderen Grossmächte ihre schützende Hand über die Schweiz und unterstützte den jungen Bundesstaat in der Folge in Konflikten um seine Asylpolitik sowie im «Neuenburgerhandel».

In Russland dagegen hatte Zar Nikolaus I. (der «Nickel» aus Freiligraths Gedicht) die autokratische Herrschaft noch verschärft. Bei seinem Thronantritt 1825 hatte er die Offiziersbewegung der «Dekabristen», die sich gegen Zensur, Polizeiwillkür und die Leibeigenschaft (der zu jener Zeit etwa die Hälfte der Bevölkerung des Zarenreiches unterlag) und für eine konstitutionelle Monarchie aussprach, energisch unterdrückt und in der Folge den Polizei- und Geheimdienstapparat ausgebaut. Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1830/31 hob Nikolaus den verfassungsrechtlichen Sonderstatus im russländischen Teil Polens auf und startete dort eine Russifizierungspolitik. Ebenso betrieb er die Wiederbelebung der konservativen «Heiligen Allianz» aus der Zeit des Wiener Kongresses. 1833 beschlossen Russland, Preussen und Österreich auf der Konferenz von Münchengrätz Zusammenarbeit gegenüber dem unter ihnen aufgeteilten Polen sowie gegen liberale Bestrebungen in Europa. Unter anderem vereinbarten sie den Austausch von Polizeiberichten und gegenseitige Unterstützung bei eventuellen Aufständen in Polen oder revolutionären Unruhen im Deutschen Bund. All dies trug Nikolaus den Titel des «Gendarmen Europas» ein. Entgegen der Befürchtungen des Zaren griffen die 48er-Revolutionen nicht auf sein Reich über. Entsprechende Bemühungen des (nachmaligen) Anarchisten Michail Bakunin, der als Gebete getarnte Aufrufe in verschiedenen slawischen Sprachen verbreiten liess, einen demokratischen Zirkel in Odessa mit Waffen versorgte und im Sommer 1849 in der anonymen Schrift «Russische Zustände» beissende Kritik am zaristischen System übte, fruchteten nicht.

Die konservativen Eliten des Zarenreichs betrachteten die revolutionären Unruhen als Folge westeuropäischer Dekadenz. Aus Sicht des Diplomaten und Schriftstellers Fëdor Tjutčev, der weite Teile Westeuropas, inklusive die Schweiz, bereist hatte und danach als Oberzensor fungierte, gab es 1848 nur noch zwei «Kraftzentren»: Russland und die Revolution. Zur Unterdrückung der revolutionären Bewegungen in den Donaufürstentümern marschierten russländische Truppen in Moldau ein und drängte die russländische Diplomatie das Osmanische Reich zur Intervention in der Walachei, die dann bis 1851 von osmanischen und russländischen Truppen besetzt wurde. Dem Unterstützungsgesuch des österreichischen Kaisers gegen die Revolution in Ungarn, das im April 1849 seine Unabhängigkeit vom Habsburgerreich ausgerufen hatte, leistete der Zar mit der Entsendung einer 130’000 Mann starken Interventionsarmee Folge. 1849/50 übten der Zar und der österreichische Kaiser gemeinsam massiven Druck auf den preussischen König aus, den nach der Zerschlagung der Frankfurter Nationalversammlung unternommenen Versuch einer deutschen Einigung unter konservativeren, aber immerhin konstitutionellen Vorzeichen («Erfurter Union») abzubrechen. Auch an der Entwicklung in der Schweiz nahm die russländische Diplomatie Anteil. Nach der Interventionsidee vom Sommer 1847 schloss sie sich im November 1847 und Januar 1848 den drohenden Noten der konservativen Nachbarstaaten an. Am 13. Februar 1848 forderte Russland die Wiederherstellung der uneingeschränkten Souveränität der Kantone sowie Beschränkung des politischen Asyls und suspendierte seine Garantie der schweizerischen Neutralität und territorialen Integrität – dies gleichsam als Einladung an die Nachbarstaaten, in die Eidgenossenschaft einzumarschieren. Das Bild des jungen Bundesstaates blieb in der Folge bei den russländischen Eliten sehr negativ. Der russländische Gesandte assoziierte in einem Schreiben von 1851 die Schweizer Demokratie mit «moralischer Verderbtheit», «Lüge», «Unverschämtheit» und «politischem Wahnsinn».

Bundesstaatsgründung als revolutionärer Akt?

Die Revolutionen in den Nachbarstaaten öffneten für die Schweiz ab Februar 1848 für etwa ein Jahr ein «window of opportunities» für eine staatliche Neugestaltung ohne Interventionsgefahr durch die Grossmächte. Bereits im August 1847 hatte die Tagsatzung mit einer Stimme Mehrheit eine Revision des Bundesvertrages beschlossen und eine entsprechende Kommission eingesetzt. Dieses Vorgehen war umstritten, da der Bundesvertrag keine Revisionsklausel kannte. Die Sonderbundkantone und die sie unterstützenden Grossmächte stellten sich auf den Standpunkt, eine Bundesrevision bedürfe der Zustimmung sämtlicher Kantone. Die Revisionskommission trat nach dem Sonderbundskrieg erstmals am 17. Februar 1848 zusammen und legte nach 31 Sitzungen bereits am 8. April einen Entwurf vor. Die grosse Eile war dem Bestreben geschuldet, die momentan mit revolutionären Unruhen in ihren eigenen Ländern beschäftigten Grossmächte möglichst rasch vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Als institutionelle Eckpunkte der Bundesrevision standen von Beginn weg eine Stärkung der Bundesbehörden sowie Demokratie und Gewaltenteilung auch auf Bundesebene im Vordergrund. Wie dies konkret ausgestaltet werden sollte, war indessen Gegenstand intensiver Diskussionen. Bei der exekutiven Gewalt bestand Konsens, dass ein Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild wegen der Gefahr des Umkippens in eine persönliche Diktatur nicht zur Debatte stehe. Die Entwicklung in Frankreich unter Louis-Napoléon sollte diese Bedenken wenig später bestätigen. Vor diesem Hintergrund stand das in der schweizerischen Verfassungsgeschichte des vorangegangenen halben Jahrhunderts bereits mehrfach diskutierte und erprobte Direktorialsystem alternativlos da. Schon die Helvetische Republik hatte – nach dem Vorbild der französischen Direktorialverfassung – ein fünfköpfiges «Vollziehungsdirektorium» gekannt, dessen Mitglieder durch ein kompliziertes System aus Parlamentswahl und Losentscheid bestimmt wurden und für das eine Amtszeitbeschränkung auf fünf Jahre galt. Mehrere jüngere Kantonsverfassungen basierten ebenfalls auf dem Direktorialsystem. Der gescheiterte Revisionsplan von 1833 hatte einen fünfköpfigen Bundesrat unter Leitung eines Landammanns vorgesehen.

Die Reformkommission schlug ebenfalls einen fünfköpfigen Bundesrat vor. Die Tagsatzung erhöhte dann diese Zahl in ihren Verhandlungen auf sieben. Eine Volkswahl des Bundesrates lehnte die Kommission zugunsten der Wahl durch das Parlament knapp ab. In der Folge bürgerte sich aber das Gebrauchsrecht ein, dass sich die Bundesräte vor der Gesamterneuerungswahl durch die Bundesversammlung einer «Komplimentswahl» in den Nationalrat zu stellen hatten. An dieser Hürde sollte dann 1854 Bundesrat Ochsenbein scheitern, der in der Folge von der Bundesversammlung nicht mehr gewählt wurde. Zu Ende des 19. Jahrhunderts kam die «Komplimentswahl» ausser Gebrauch.

Umstrittener war die Ausgestaltung der legislativen Gewalt. Zur Debatte standen hier ein Fortbestehen der Tagsatzung mit gleicher Anzahl Delegierter pro Kanton, ein Einkammerparlament mit Volksvertretern nach Massgabe der Bevölkerungszahl der einzelnen Kantone, ein gemischtes Einkammerparlament mit Volks- und Kantonsvertretern oder ein Zweikammerparlament mit einer Volks- und einer Kantonskammer. Diese Frage führte in der Revisionskommission und dann der Tagsatzung zu heftigen Debatten. Das letztlich auserkorene Zweikammersystem war ein Kompromiss zwischen zentralistischen und partikularistischen Tendenzen und folgte verschiedenen Vorbildern. Während für den Nationalrat eine Direktwahl durch die Stimmberechtigten vorgesehen war, blieben die Wahlmodalitäten für den Ständerat den Kantonen überlassen. Im Unterschied zu den bisherigen Tagsatzungsgesandten sollten aber auch die Ständeräte (die in der Verfassung mal als «Abgeordnete», mal als «Gesandte» bezeichnet wurden) ohne Instruktionen ihrer Kantonsregierungen abstimmen.

Bereits die Helvetische Republik hatte ein ähnliches Zweikammersystem gekannt, das – im Unterschied zur französischen Direktorialverfassung – auch eine Kantonskammer besass. Diese als Senat bezeichnete Parlamentskammer umfasste vier Abgeordnete pro Kanton sowie alle ehemaligen Mitglieder des Vollziehungsdirektoriums. Die Schweizer Zweikammersysteme von 1798 und 1848 lehnten sich am Vorbild der amerikanischen Bundesverfassung von 1787 an, übernahmen davon aber weder die Funktionen der Parlamentskammern noch deren Wahlrhythmus. Das amerikanische Zweikammersystem wiederum war inspiriert vom Föderationsrat der frühneuzeitlichen Irokesen-Liga, weshalb zuweilen von «indianischen Spuren» in der Schweizer Bundesverfassung die Rede ist.

Organisatorisch und kompetenzmässig schwach ausgestaltet war die richterliche Gewalt. Das Bundesgericht, das nicht einmal einen festen Sitz hatte, war zunächst nur für ganz wenige Bereiche zuständig. Ein grosser Teil seiner Mitglieder gehörte zugleich der Bundesversammlung, also seinem eigenen Wahlorgan an. Erst die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 machte das Gericht zu einer ständigen Behörde und legte im Sinne der Gewaltenteilung die Unvereinbarkeit der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu National- oder Ständerat und Bundesgericht fest. Eine eigentliche Verfassungsgerichtsbarkeit wurde aber auch dann (und bis heute) nicht eingeführt.

Schwach ausgebildet waren in der Verfassung von 1848 auch die direktdemokratischen Elemente. Teil- und Totalrevisionen der Verfassung unterlagen dem obligatorischen Referendum und es gab die Möglichkeit der Volksinitiative für eine Totalrevision. Als Zugeständnis an die Föderalisten wurde dabei neben dem Volksmehr das Ständemehr als zusätzliche Bedingung eingefordert. Weitere Volksrechte, wie sie auf kantonaler Ebene seit 1830 zum Teil existierten, fanden zunächst keinen Eingang in die Bundesverfassung. Die Möglichkeit der Volksinitiative für eine Verfassungsreform fand sich in einigen Regenerationsverfassungen, wobei in der Regel nicht ausdrücklich zwischen Teil- und Totalrevision der Verfassung unterschieden wurde. Die Waadtländer Verfassung von 1845 hatte dann explizit auch die Möglichkeit der themenbezogenen Volksinitiative eingeführt. Angefangen mit dem Kanton St. Gallen im Jahre 1831 fand auch das fakultative Gesetzesreferendum (damals oft als «Veto» bezeichnet) in mehrere Kantonsverfassungen Eingang. Der Anstoss dazu kam dabei je nach politischen Verhältnissen von radikaldemokratischer oder konservativ-antiliberaler Seite. Die Bundesverfassung von 1848 machte es nun zur Pflicht, dass die Kantonsverfassungen «vom Volke revidirt werden können, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt» (Art. 6, lit. c). Dadurch schuf sie das Werkzeug für die direktdemokratischen Bewegungen und Verfassungsrevisionen in verschiedenen Kantonen ab den 1860er-Jahren, die wiederum den entscheidenden Anstoss zur Erweiterung der Volksrechte auch auf Bundesebene gaben. 1874 wurde das fakultative Gesetzesreferendum eingeführt, 1891 die Volksinitiative für Teilrevisionen der Bundesverfassung (s. SozialarchivInfo 6/2018 und 6/2021).

Insgesamt stellte das Verfassungswerk, obwohl das Resultat eines Bürgerkriegs mit klaren Siegern und Besiegten, einen Kompromiss dar, der den Unterlegenen in wichtigen Punkten entgegenkam. Neben der Betonung der Souveränität der Kantone und der Einrichtung des Ständerats und des Ständemehrs gehörte dazu etwa die kantonale Schul- und Kirchenhoheit. Zentralistischen Bestrebungen und radikalen Modernisierungsprojekten waren damit deutliche Hürden in den Weg gelegt, was die Integration der Verlierer des Sonderbundskrieges in den neuen Bundesstaat in den folgenden Jahrzehnten begünstigte. Die Bundesverfassung schuf aber einen einheitlichen Wirtschafts-, Zoll- und Währungsraum und schrieb die bürgerlichen Freiheitsrechte fest. Allerdings waren die Niederlassungsfreiheit auf dem gesamten Gebiet der Eidgenossenschaft, Rechtsgleichheit und Ausübung der politischen Rechte (bis 1866) sowie die freie Ausübung von Gottesdiensten (bis 1874) vorerst auf «Schweizerbürger christlicher Konfession» eingeschränkt. Damit blieben neben den Frauen vor allem die etwa 3’000 jüdischen Schweizer:innen im frühen Bundesstaat diskriminiert.

Am 27. Juni 1848 verabschiedete die Tagsatzung die neue Verfassung mit 12 zu 1 Kantonsstimmen bei 9 Enthaltungen. In den beiden folgenden Monaten nahm eine Zweidrittelmehrheit der Kantone die Verfassung in Abstimmungen an. Dabei handelte es sich freilich nicht um ein einheitliches Plebiszit. In den Landsgemeindekantonen gab die Landsgemeinde ein Votum ab, in Fribourg der Grosse Rat, in Graubünden die Gerichtsgemeinden. In Luzern kam die befürwortende Mehrheit nur dadurch zustande, dass die Nichtstimmenden den Ja-Stimmen zugerechnet wurden. Am 12. September erklärte die Tagsatzung mit 17 zu 0 Kantonsstimmen bei 5 Enthaltungen auf der Basis dieser Resultate die neue Verfassung für angenommen. In ihren Augen war sie durch die Mehrheit in der Tagsatzung wie auch den kantonalen Abstimmungen sowohl auf der institutionellen Basis des geltenden Bundesvertrages als vor allem auch demokratisch legitimiert. Aus Sicht der Katholisch-Konservativen handelte es sich bei der Verfassungsgebung dagegen um einen vertragswidrigen Akt. Der Verfassungshistoriker Alfred Kölz hat die Entscheidung vom 12. September 1848 charakterisiert als einen «Beschluss, der vom bestehenden Staatsrecht nicht gedeckt war, insofern formell unrechtmässig und mithin revolutionär war».

Bereits im Oktober 1848 fanden die ersten eidgenössischen Wahlen statt. Aufgrund der Fortschritte der Konterrevolution in den Nachbarländern drängte die Tagsatzung darauf, die neuen bundesstaatlichen Behörden möglichst rasch funktionsfähig zu machen. Am 14. September erliess sie ein Dekret zur Durchführung der Wahlen und bereits am 6. November sollte die Bundesversammlung zusammentreten und dann den Bundesrat wählen. Aufgrund dieses engen Zeitplans konnte kein Bundeswahlgesetz erarbeitet werden. Die Organisation und Durchführung der Wahlen oblag den kantonalen Regierungen, die seit dem Ende des Sonderbundskrieges fast vollständig liberal und radikal dominiert waren. Sie versuchten mit verschiedenen Methoden, die Wahl konservativer Kandidaten zu verhindern. So gab es in gewissen Kantonen nur einen einzigen Wahlkreis, in anderen dagegen mehrere Wahlkreise mit je einem Sitz oder Wahlkreise unterschiedlicher Grösse (s. SozialarchivInfo 4/2019).

In den Kantonen Luzern und Fribourg fanden Wahlkreisversammlungen nur an wenigen, den konservativen Wählern möglichst schlecht zugänglichen Orten statt, wo unter Leitung von Regierungsvertretern die Stimmabgabe offen stattfand. Unter diesen Bedingungen nahmen im ersten Fribourger Wahlkreis, wo bei der Stimmabgabe ein Eid auf die neue liberale Kantonsverfassung abgelegt werden musste, nur etwa 3 % der Wahlberechtigten am Urnengang teil und gaben ihre Stimmen zu 100 % dem radikalen Kandidaten. Im fünften Fribourger Wahlkreis wurde der Sieg des konservativen Kandidaten annulliert und in der Wiederholung gewann der radikale Kandidat. In Genf gewannen die gemässigten Liberalen alle drei Sitze, worauf die radikale Kantonsregierung die Wahl unter dem Vorwand von Unregelmässigkeiten annullieren liess. Dies führte bei der Wahlwiederholung zu einem Boykott der Liberalen und die drei Sitze fielen an die Radicaux. In manchen Kantonen fanden die Wahlen an einem Mittwochvormittag statt. Damit sollte Lohnabhängigen, deren Mobilisierung durch die Opposition befürchtet wurde, die Teilnahme erschwert werden.

In mehreren Wahlkreisen blieb die Wahlbeteiligung deutlich unter 30 %, gesamtschweizerisch betrug sie etwa 44 %. Die radikale, freisinnige und demokratische Linke errang einen überwältigenden Sieg und kam mit einem Stimmenanteil von etwa 62 % aufgrund des Mehrheitswahlrechts auf 85 der 111 Sitze im Nationalrat. Die gemässigten Liberalen kamen mit einem Stimmenanteil von etwa 17 % auf 11 Mandate, die Katholisch-Konservativen mit etwa 12 % auf 9 Mandate und die Reformiert-Konservativen mit etwa 8 % auf 6 Mandate. Im Ständerat, der in den meisten Kantonen nicht direkt vom Volk gewählt wurde, erhielten die Freisinnigen und Radikalen 30, die gemässigten Liberalen 8 und die Katholisch-Konservativen 6 Sitze. Bei der Bundesratswahl am 16. November gingen alle sieben Sitze an Vertreter der Freisinnigen und Radikalen. Mit einer Ausnahme hatten alle Bundesräte bereits der Revisionskommission der Tagsatzung angehört. Erster Bundespräsident wurde der Winterthurer Jonas Furrer. Am 21. November 1848 hielt der erste Bundesrat seine konstituierende Sitzung ab.

Eingeschränkte Willkommenskultur für 48er-Flüchtlinge

Die gewaltsame Niederschlagung der Revolutionen und nationalen Erhebungen führte europaweit zu Fluchtbewegungen. Die Schweiz als einer der wenigen liberalen Staaten wurde in besonderem Masse zu einem Fluchtziel. Etwa 12’000 bis 20’000 deutsche Liberale und Demokrat:innen, französische Republikaner:innen, italienische, ungarische und polnische Unabhängigkeitskämpfer:innen flohen vorübergehend in die Schweiz. Die Zahl der 48er-Flüchtlinge in der Schweiz entsprach damit auf dem Höhepunkt rund 0,5 % der Gesamtbevölkerung. 1849 kamen in der Nordwestschweiz mehrere Tausend Aufständische aus Baden und der Pfalz über die Grenze. Der Staatsstreich Louis-Napoléons löste 1851 eine neue Fluchtbewegung in die Romandie aus. Die Ankunft der 48er-Flüchtlinge stellte den jungen Bundesstaat auf eine Bewährungsprobe. Einerseits standen viele von ihnen politisch der radikalen und liberalen Elite des Bundesstaates nahe. Andererseits stellte ihre Anwesenheit eine Bedrohung dar, forderten die kontinentalen Grossmächte doch ultimativ ihre Auslieferung und drohten gar mit militärischer Intervention.

Der Bundesrat, der die Zuteilung der Flüchtlinge auf die Kantone verfügte, schwankte zwischen Verteidigung des Asylrechts und aussenpolitischer Opportunität. Flüchtlinge wurden zwar grosszügig aufgenommen, politisch Aktive aber wieder ausgewiesen. Ein Beispiel war Wilhelm Liebknecht, der 1848/49 an den Aufständen in Baden (unter anderem als Adjutant Gustav Struves) teilgenommen hatte und nach seiner Flucht das Präsidium der deutschen Arbeitervereine in der Schweiz übernahm. Er wurde 1850 verhaftet und ausgewiesen. Allerdings oblag die Durchsetzung solcher Massnahmen den kantonalen Behörden und hintertrieben insbesondere die Regierungen von Genf und der Waadt teilweise ihre Umsetzung. Als der Bundesrat im Juli 1849 auf Drängen Österreichs 13 führende deutsche Revolutionäre auswies, führte dies in der Öffentlichkeit und seitens einiger Kantonsregierungen zu heftigen Protesten. Auch im Parlament wurde die Flüchtlingspolitik hitzig debattiert. Ende 1848 gingen die Emotionen sogar so hoch, dass sich der liberale Zürcher Nationalrat Rudolf Benz und sein radikaler Tessiner Ratskollege Giacomo Luvini mit Säbeln duellierten.

Die Ausweisung von Flüchtlingen bedeutete in den allermeisten Fällen nicht deren Auslieferung an die Herkunftsländer, sondern die Weiterreise nach Grossbritannien oder in die USA. Nach einiger Zeit war es manchen auch möglich, in ihre Heimatländer zurückzukehren. 1850, als sich noch etwa 800 Flüchtlinge in der Schweiz aufhielten, arbeitete der Bundesrat mit den französischen Behörden zusammen im Bemühen, Flüchtlinge zum Eintritt in die Fremdenlegion (die schon bei ihrer Gründung 1831 eine Vielzahl von polnischen Flüchtlingen aufgenommen hatte) zu bewegen. Etwa drei Dutzend Deutsche, Österreicher, Ungaren und Polen meldeten sich für diesen Dienst in Algerien, wo die französische Kolonialmacht ihre Herrschaft zu festigen versuchte und im Nachgang zum Juniaufstand auch Tausende von Franzosen und Französinnen zwangsansiedelte. Fünf Jahre später trat eine gewisse Zahl in die Schweiz geflüchteter deutscher «48er» unter falscher Schweizer Identität in die von Grossbritannien für den Krimkrieg rekrutierte «Swiss Legion» ein. Mehrere Hundert 48er-Flüchtlinge blieben dauerhaft in der Schweiz.

Unter den 48er-Exilant:innen, insbesondere denjenigen aus den deutschen Staaten, befanden sich manche prominente Namen. Johann Philipp Becker war seit 1838 in Biel wohnhaft gewesen und hatte im Sonderbundskrieg als Sekretär des eidgenössischen Generalstabs amtiert. Beim Ausbruch der Revolution in Deutschland organisierte er die «Deutsche Legion in der Schweiz» und den «Centralausschuss der Deutschen in der Schweiz», im Juni 1848 publizierte er ein Pamphlet in Märchenform, das vor der schrittweisen Verspeisung der freiheitsliebenden Völker durch den von Nikolaus I. angeführten Despotismus warnte, den Sonderbundskrieg als «Kampf gegen den allgemeinen Despotismus» und «Sieg für die Welt» feierte und zur Vereinigung der «Völker gegen den Despotismus der Gewalthaber» aufrief. Im September 1848 gründete Becker den deutsch-republikanischen Wehrbund «Hilf Dir», im Mai 1849 kommandierte er während des Aufstands in Baden die revolutionäre Volkswehr. Anschliessend flüchtete er wieder in die Schweiz, wo er zusammen mit seinem Kampfgefährten Christian Essellen eine «Geschichte der süddeutschen Mai-Revolution des Jahres 1849» publizierte. Anfang 1852 wies ihn der eidgenössische Kommissar aus Genf aus, doch bereits zwei Monate später kehrte er zurück. In der Folge betätigte er sich auf dem linken Flügel der Genfer Radicaux und war ab den 1860er-Jahren in der Ersten Internationale und der Schweizer Arbeiterbewegung aktiv.

Beckers nachmaliger Freund Friedrich Engels pendelte 1848/49 zwischen den revolutionären Schauplätzen in Deutschland und der Schweiz. Bereits 1847 hatte er für die «Deutsche-Brüsseler-Zeitung» über den Sonderbundskrieg geschrieben. Im September 1848 floh er vor einer drohenden Verhaftung von Köln nach Paris und wanderte dann in vier Wochen zu Fuss nach Bern. Dort betätigte er sich im lokalen Arbeiterbildungsverein und am Kongress der deutschen Vereine in der Schweiz und berichtete für die von Marx gegründete «Neue Rheinische Zeitung» über die Entwicklung in der Schweiz. Im Januar 1849 kehrte Engels nach Deutschland zurück und beteiligte sich an verschiedenen Aufständen. Danach floh er erneut in die Schweiz, lebte einige Monate in der Romandie und reiste dann nach London weiter.

Stephan Born aus dem preussisch besetzten Teil Polens beteiligte sich 1848/49 an den Revolutionen in Berlin, Dresden, Baden und Böhmen, präsidierte den Berliner Arbeiterkongress und war eine wesentliche Gründungsfigur der «Arbeiterverbrüderung». 1849 floh er in die Schweiz und arbeitete in der Folge als Buchdrucker, Seminar- und Gymnasiallehrer, Auslandsredaktor der «Basler Nachrichten» und schliesslich Professor für deutsche und französische Literatur an der Universität Basel. Johannes Scherr hatte bereits in den frühen 1840er-Jahren in Winterthur gelebt. 1848 war er Abgeordneter im württembergischen Landtag. Als Mitgründer des «Demokratischen Vereins» wurde er 1849 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, floh in die Schweiz und habilitierte sich an der Universität Zürich für Geschichte. Neben seiner Privatdozentur arbeitete er als Publizist, Schriftsteller, Übersetzer und Lehrer und veröffentlichte zahlreiche Bücher zu Geschichte und Literaturgeschichte, zeitgeschichtliche und kulturelle Essays, aber auch Erzählungen, Romane, Schauspiele und Gedichte. 1855 bis 1857 war er Chefredaktor des Winterthurer «Landboten», ab 1860 Professor für Geschichte und Literatur am Eidgenössischen Polytechnikum (heute: ETH), das 1855 als Folge der Bundesstaatsgründung entstanden war. Beide, Born und Scherr, publizierten mit einigem zeitlichen Abstand Bücher über die 48er-Revolution.

Richard Wagner, seit 1843 Königlich-Sächsischer Kapellmeister an der Dresdner Hofoper, bewegte sich ab März 1848 in republikanischen Zirkeln, lernte Bakunin kennen, beteiligte sich im Mai 1849 am Dresdner Aufstand und wurde anschliessend steckbrieflich gesucht. Mit einem falschen Pass flüchtete er nach Zürich, wo er, unterstützt vom Kaufmannsehepaar Wesendonck, bis 1858 die lokale Musikszene belebte. In seinen Zürcher Jahren entwarf Wagner wesentliche Teile des Opernzyklus «Ring des Nibelungen» und verfasste Schriften wie «Die Kunst und die Revolution» oder das antisemitische Pamphlet «Das Judentum in der Musik». Ebenfalls am Dresdner Aufstand beteiligt war der mit Wagner befreundete Architekt Gottfried Semper. Er floh zunächst nach London und wurde dann auf Vermittlung Wagners ans Polytechnikum berufen. Während seiner Zeit in Zürich baute er unter anderem das Hauptgebäude des Polytechnikums, das Winterthurer Stadthaus und die Eidgenössische Sternwarte in Zürich.

Carl Vogt war ab 1847 Zoologieprofessor in Giessen gewesen. 1848 beteiligte er sich an der Revolution, wurde in die Nationalversammlung gewählt und hielt dort eine aufsehenerregende Rede über die Trennung von Staat und Kirche. 1849 zog er mit dem Rumpfparlament nach Stuttgart und war im Juni 1849 Mitglied der fünfköpfigen Revolutionsregierung («Reichsregentschaft»). Anschliessend floh er nach Bern und liess sich dann 1852 in Genf nieder, wo er Geologieprofessor an der Akademie wurde. In den folgenden Jahren lieferte er sich eine publizistische Schlammschlacht mit Karl Marx. Vogts Behauptung, Marx sei ein österreichischer Agent, parierte Marx mit der Gegenbehauptung, Vogt sei ein Agent Napoleons III. Jahrzehntelang gehörte Vogt für die Radicaux dem Grossen Rat des Kantons Genf an, zudem 1856 bis 1861 und 1870/71 dem Ständerat und 1878 bis 1881 dem Nationalrat. 1874/75 war er Gründungsrektor der Universität Genf.

Der Nationalökonom Bruno Hildebrand war 1844/45 Rektor der Universität Marburg gewesen und dann von 1846 bis Anfang 1848 wegen eines in der deutschen «Londoner Zeitung» veröffentlichten Artikels der Majestätsbeleidigung angeklagt und suspendiert, aber schliesslich freigesprochen worden. Er war 1848 Mitglied der Vorparlaments, dann der Frankfurter Nationalversammlung und 1849 des Stuttgarter Rumpfparlaments. 1849/50 gehörte er der kurhessischen Ständeversammlung an, wo seine entschiedene Opposition gegen die konservative Regierung dazu führte, dass der Kurfürst die Versammlung auflöste und Besatzungstruppen des Deutschen Bundes anforderte. Hildebrand emigrierte daraufhin in die Schweiz. 1851 bis 1856 war er Professor an der Universität Zürich, dann bis 1861 an der Universität Bern. Zudem war er 1853 Mitbegründer von Alfred Eschers Schweizerischer Nordostbahn und dann in seiner Berner Zeit Gründer des ersten Statistischen Bureaus der Schweiz im Kanton Bern, Mitbegründer und Direktor der Ost-West-Bahn und Mitbegründer der Spar- und Leihbank in Bern. 1861 wechselte er an die Universität Jena.

Der Altertumswissenschaftler und spätere Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen hatte sich 1848 in Leipzig, wo er soeben eine Professur erhalten hatte, im liberalen «Deutschen Verein» betätigt und für den Erlass einer sächsischen Verfassung eingesetzt. 1849 wurde er zusammen mit zwei Professorenkollegen des Hochverrats angeklagt und trotz Freispruchs 1851 aus dem Hochschuldienst entlassen. 1852 erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Römisches Recht an der Universität Zürich. Allerdings gefiel es ihm in der Limmatstadt nicht. In einem Brief klagte er über die Schweizer:innen: «Die gehören zum Froschgeschlecht, und man muss Gott danken, wenn sie Hochdeutsch sprechen und eine Serviette auf den Tisch legen.» Bereits 1854 wechselte er nach Breslau und setzte seine Laufbahn in Preussen fort.

1850 kam der Militärwissenschaftler Wilhelm Rüstow in die Schweiz. Rüstow war wegen Beteiligung an der Märzrevolution als preussischer Offizier suspendiert und dann wegen seiner Schrift «Der deutsche Militärstaat vor und während der Revolution» eingekerkert worden. Im Sommer 1850 gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis. 1852 habilitierte er sich an der Universität Zürich, machte sich durch zahlreiche Publikationen einen Namen als Vertreter eines auf dem Milizsystem aufbauenden Wehrwesens und wurde 1853 auch Instruktor kantonaler Truppen und Militärberater der Bundesbehörden. 1860 schloss er sich den Streitkräften Giuseppe Garibaldis an, der 1849 in der kurzlebigen Römischen Republik Kommandant der Revolutionsarmee gewesen war. Garibaldis «Rothemden», in denen Rüstow zunächst als Generalstabschef, dann als Kommandant des linken Flügels fungierte, eroberten im Zuge der italienischen Einigung das Königreich beider Sizilien. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz war Rüstow 1864 Sekundant Lassalles bei dessen Duell mit dem Verlobten seiner Geliebten, einem rumänischen Adligen, in Genf. Dabei erlitt der Gründervater der deutschen Sozialdemokratie, auch er ein «48er», einen tödlichen Schuss in den Unterleib. Der von Lassalle ebenfalls als Sekundant angefragte Becker hatte vom Duell dringend abgeraten. Später war Rüstow Oberst im schweizerischen Generalstab, Chef der historisch-statistischen Sektion des Armeestabs und Dozent am Polytechnikum.

Aus Italien kam nach 1849 Mazzini erneut mehrfach in die Schweiz und verwickelte die Eidgenossenschaft wiederholt in diplomatische Schwierigkeiten. Im August 1848 flüchtete auch der Mailänder Schriftsteller und Demokrat Carlo Cattaneo ins Tessin. Im März 1848 war Cattaneo während des gegen die habsburgische Herrschaft gerichteten Aufstands («Cinque giornate di Milano») Mitglied des revolutionären Kriegsrates. Die Rebellion bildete den Auftakt zum ersten italienischen Unabhängigkeitskrieg zwischen Sardinien-Piemont und der Habsburgermonarchie, der im Sommer 1848 vorläufig mit einem österreichischen Sieg endete. Im August marschierten österreichische Truppen unter Feldmarschall Josef Radetzky in Mailand ein. Cattaneo lebte nach seiner Flucht bis zu seinem Lebensende 1869 in Lugano, wo er seine 48er-Erfahrungen in verschiedenen Schriften verarbeitete. 1852 bis 1865 war er Philosophielehrer am neugegründeten Liceo cantonale. Er wurde zu einem wichtigen Mentor der liberal-radikalen Elite im Tessin und widmete sich auch der Melioration der Magadinoebene sowie der Alpenbahnfrage, in der er einer der wichtigsten Befürworter der Gotthardvariante im Tessin war. Dem 1861 gegründeten Königreich Italien stand er als Demokrat, Republikaner und lombardischer Föderalist kritisch gegenüber und trotz seiner Wahl in die italienische Deputiertenkammer nahm er nie an einer Parlamentssitzung teil.

Aus Russland via Frankreich kam der Schriftsteller und Philosoph Alexander Herzen in die Schweiz. Herzen war 1847 nach Westeuropa emigriert, hatte 1848 die Februarrevolution und den Juniaufstand in Paris miterlebt, floh 1849 vor der französischen Polizei in die Schweiz und erhielt bereits zwei Jahre später das Bürgerrecht. Enttäuscht vom Scheitern der 48er-Revolutionen wandte er sich von seinen westlich geprägten Fortschrittsideen ab und idealisierte nun einen Agrarkommunismus auf Basis der russischen Dorfgemeinde. Von 1857 bis 1867 gab er, zeitweise von Genf aus, die erste beachtenswerte russische Oppositionszeitschrift «Kolokol» (Die Glocke) heraus, die im Zarenreich illegal verbreitet wurde und zu deren Autoren unter anderen Ivan Turgenev, Victor Hugo, Garibaldi, Mazzini und Bakunin gehörten. Letzterer lebte 1843, 1863/64 und dann von 1867 bis zu seinem Tod 1876 in der Schweiz. Seine Betonung einer föderalistischen, von der lokalen über regionale, nationale bis zur internationalen Föderation aufsteigenden Gesellschaftsorganisation, die er etwa im «Katechismus der revolutionären Gesellschaft» (1865/66) oder der Rede «Föderalismus, Sozialismus, Antitheologismus» (1867) ausführte, wies unübersehbare Inspirationen aus der Schweizer Bundesverfassung auf.

1848: Kein erinnerungswürdiges Gründungsdatum?

Die Jahre und Jahrzehnte nach der Bundesstaatsgründung waren trotz des Kulturkampfs geprägt von der zunehmenden Integration der Verlierer des Sonderbunds. Die Tagsatzung hatte die Kosten des Sonderbundskrieges in Höhe von 6,18 Millionen Franken zunächst auf die ehemaligen Sonderbundkantone und die neutralen Kantone überwälzt. Bereits 1852 wurden die noch ausstehenden 2,2 Millionen aber erlassen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kehrten die Katholisch-Konservativen in den ehemaligen Sonderbundkantonen auf demokratischem Weg an die Macht zurück, ab den 1870er-Jahren errangen sie auf Bundesebene mit dem neuen Instrument des Gesetzesreferendums mehrere Erfolge gegen die freisinnige Modernisierungsagenda und 1891 wurden sie von den Freisinnigen als Juniorpartner in den Bundesrat aufgenommen.

In dieser Tendenz lag auch die Aufwertung der Entstehung der Alten Eidgenossenschaft gegenüber derjenigen der modernen Schweiz in der Erinnerungskultur. War die Gründung der Helvetischen Republik mit der Erinnerung an die französische Invasion verbunden und diejenige des Bundesstaates mit dem Sonderbundskrieg, galt die Entstehung der Alten Eidgenossenschaft als Akt der Selbstbehauptung eines angeblich freien, einigen und egalitären Bauernvolkes. Allerdings geisterten diesbezüglich lange Zeit verschiedene Daten der «Gründung» durch die Erinnerungskultur, so vor allem 1307 und 1315. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde der – bis Mitte des 18. Jahrhunderts unbekannte – Bundesbrief von 1291 zur angeblichen Gründungsurkunde der Schweiz aufgewertet. 1891 fanden in grossem Rahmen 600-Jahr-Feiern statt. Acht Jahre später erhob der Bundesrat – nicht zuletzt auf Drängen von Auslandschweizer:innen, die ein helvetisches Pendant zu den Nationalfeiertagen und Monarch:innengeburtstagen anderer Länder vermissten – den Ersten August zum Bundesfeiertag, der «1291» in der Erinnerungskultur weiter verankerte und gleichzeitig «1848», das keinen jährlichen Erinnerungstag erhielt, in den Hintergrund drängte.

Die liberale Nationalhistoriographie des späten 19. Jahrhunderts versuchte «1848» in ein einheitliches Geschichtsbild zu integrieren, in eine Kontinuität zur alteidgenössischen Geschichte zu stellen und dadurch zu legitimieren. Die Partei- und Verfassungskämpfe des frühen 19. Jahrhunderts erschienen dabei als Fortsetzung antiobrigkeitlicher Unruhen der frühen Neuzeit, die als Epoche des Niedergangs seit der Niederlage von Marignano und der aristokratischen Erstarrung gezeichnet wurde. Die Bundesstaatsgründung war aus dieser Warte eine Revitalisierung des Freiheitsgeistes aus der heroischen Gründungsphase der Alten Eidgenossenschaft.

Im frühen 20. Jahrhundert deutete der Landesstreikführer Robert Grimm in seiner im Gefängnis verfassten «Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen» (1920) Sonderbundskrieg und Bundesstaatsgründung in marxistischem Sinne als Kulmination des bürgerlichen Klassenkampfes in der Schweiz, mit der «die Morgenröte des bürgerlich-kapitalistischen Staates empor[gestiegen]» sei. Eduard Fueter, dessen Karriere als NZZ-Redaktor und Titularprofessor an der Universität Zürich 1921 durch eine Schmutzkampagne deutschfreundlicher Rechtskreise beendet wurde, der aber heute als innovativster Schweizer Historiker des frühen 20. Jahrhunderts gilt, führte 1928 in seiner Geschichte des Bundesstaates in Abgrenzung zu älteren Kontinuitätserzählungen aus, mit 1848 habe «eine gänzlich neue Epoche» begonnen und die politischen Streitpunkte der Jahrzehnte davor seien «mit einem Schlage obsolet» geworden. Hingegen behauptete der einflussreiche aristokratisch-rechtskatholische Kulturhistoriker Gonzague de Reynold in seinem Werk «La Démocratie et la Suisse» (1929), der Bundesstaat von 1848 leide an einem «organischen Grundfehler»: Dem «Demokratismus», der unweigerlich zu Zentralismus, Etatismus und Sozialismus führen müsse. Stattdessen verklärte Reynold das Ancien Régime und träumte von einer autoritär-berufsständischen und ultraföderalistischen «Erneuerung» der durch einen «Landammann» ohne gewähltes Parlament zu führenden Schweiz, was ihn dann in die staatstheoretische und geschichtsmythologische Nähe der faschistischen Frontenbewegung rücken liess (s. SozialarchivInfo 5/2020). Die Entrüstung über das Buch zwang Reynold 1931 zum Rücktritt von seinem Lehrstuhl an der Universität Bern und Wechsel an die Universität Fribourg.

Die Privilegierung von «1291» gegenüber «1848» steigerte sich weiter durch die Errichtung des Bundesbriefmuseums in Schwyz, das 1936 feierlich eingeweiht wurde, und die im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung abgehaltenen 650-Jahr-Feiern von 1941. Die 100-Jahr-Feierlichkeiten der Bundesstaatsgründung delegierte der Bund dagegen 1948 zu einem grossen Teil an Kantone, Gemeinden und Private. Die in jenem Jahr erfolgte Einführung der AHV bezogen manche Zeitgenoss:innen direkt auf die Bundesstaatsgründung (s. SozialarchivInfo 3/2017). Linke Stimmen wie der Zürcher PdA-Gemeinderat Fritz Heeb betonten den revolutionären Charakter von «1848» und wollten als wahre Nachfolger der Bundesstaatsgründer nicht die Freisinnigen, sondern die sozialistische Arbeiterbewegung sehen. Die Taktung von Jubiläumsfeierlichkeiten um «1848» wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass runde Jahrestage nicht nur mit Gründungsjahrestagen der in der Historiographie und Erinnerungskultur (ausser in den ehemaligen Untertanengebieten!) bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sehr negativ bewerteten Helvetischen Republik von 1798 zusammenfielen, sondern auch mit runden Jahrestagen der grössten innenpolitischen Krise des Bundesstaates, des Landesstreiks von 1918, dessen Deutungen bis in die frühe Nachkriegszeit sehr kontrovers waren (s. SozialarchivInfo 4/2018).

Im späten 20. Jahrhundert verschoben sich die Perspektiven erneut. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung löste die Entstehung der Alten Eidgenossenschaft zunehmend aus nationalhistorischen und mythologischen Erzählungen, ohne dass freilich die entsprechenden Schlagworte («Rütlischwur», «Vögte») aus der politischen Rhetorik verschwunden wären. Die sich auf «1291» beziehenden 700-Jahr-Feiern von 1991 waren weniger nationalpädagogisch aufgeladen als ihre Vorläuferinnen von 1891 und 1941, wurden aber im Nachgang der Fichenaffäre von einem teilweisen Kulturboykott überschattet. Zugleich wurde «1848» vermehrt beachtet. Nach der EWR-Abstimmung 1992 entstand die Organisation «Geboren 1848», die sich unter Berufung auf die Bundesstaatsgründung für eine aussenpolitische Öffnung einsetzte (s. SozialarchivInfo 4/2022). Im Umfeld des 150-Jahr-Jubiläums 1998 betonte die Geschichtsschreibung verstärkt die europäischen Kontexte der Bundesstaatsgründung. Auch wurde das liberale «Fortschrittsnarrativ» durch die Analyse von Demokratiebewegungen ausserhalb der liberalen Eliten namentlich in den 1830er-, 1840er- und 1860er-Jahren relativiert. Zudem mehrten sich Hinweise auf die Diskrepanz, dass die Schweiz im 19. Jahrhundert Vorreiterin der Demokratie, im 20. Jahrhundert dagegen Nachzüglerin bei der Einführung des Frauenstimmrechts gewesen war, und wurde der «männerbündische» Charakter des Bundesstaats thematisiert (s. SozialarchivInfo 6/2020).

Und heute? Im aktuellen Jubiläumsjahr liegen die Schwerpunkte auf den demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften, aber auch Defiziten der Bundesverfassung von 1848. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um «Postdemokratie» mit einem Zerfall inhaltlicher Auseinandersetzungen und wirklicher politischer Partizipation und der Verschiebung zentraler Entscheidungsmacht von demokratisch legitimierten Staatsorganen zu globalisierten Konzernen sowie der erneuten Bedeutungszunahme autoritärer und neototalitärer Regime und Bewegungen und ihrer antidemokratischen Diskursmacht im virtuellen Raum wird die Demokratie nicht als Selbstverständlichkeit und Selbstläufer, sondern verstärkt als eine stets bedrohte Errungenschaft verstanden und die Prozesshaftigkeit ihrer Herausbildung und Entwicklung vor, während und nach dem Revolutionsjahr 1848 betont. So fokussiert die zentrale Jubiläumsausstellung im Landesmuseum auf die Etablierung von Grundrechten in der ersten Bundesverfassung und ihre Weiterentwicklung und Vermehrung in den letzten 175 Jahren. Und am 4. Mai stimmte der Nationalrat einem Antrag des Mitte-Abgeordneten Heinz Siegenthaler zu, den 12. September als Jahrestag des Inkrafttretens der Bundesverfassung zu einem zweiten Nationalfeiertag zu erheben, in dessen Zentrum nicht Festreden, Bratwürste und Feuerwerke, sondern als «Feiertag der Demokratie» das Gedenken an die demokratische Verfassungstradition und das Nachdenken über ihre Gegenwart und Zukunft stehen soll.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 132.40.1, Mappe 3 Nachlass Fritz Heeb: Interpellation von Fritz Heeb im Zürcher Gemeinderat betr. Erinnerungsfeier Sonderbund und Gründung des Bundesstaates
  • Ar 198.52.1 Johann Heinrich Müller und Familie: Familienkorrespondenz 1844–1857
  • Ar sabz 226-229 Schweizerische Arbeiterbildungszentrale: 150 Jahre Bundesstaat
  • Ar SGB G 742/8 Schweizerischer Gewerkschaftsbund: Vereinbarung Projekt 150 Jahre Bundesstaat 1997

Sachdokumentation

  • KS 32/96+96a Revolution, Bürgerkrieg
  • KS 34/27 Schweizerische Bundesverfassung; Verfassungsrecht in der Schweiz
  • KS 34/31 Staatsrecht, Verfassungsrecht, Staatsorgane: Kanton Zürich vor 1900
  • KS 335/120a Kommunistisches Manifest
  • KS 900/7+7a Schweizer Geschichte: 1798 bis 1847
  • KS 900/8 Schweizer Geschichte: ab 1848
  • ZA 39.2 Schweizer Geschichte: 1798 bis 1847
  • ZA 39.3 Schweizer Geschichte: 1848 bis 1913

Bibliothek

  • Altermatt, Urs (Hg.): Das Bundesratslexikon. Basel 2019, 140755
  • Altermatt, Urs: Vom Unruheherd zur stabilen Republik: Der schweizerische Bundesrat 1848–1875: Teamplayer, Schattenkönige und Sesselkleber. Basel 2020, 144782
  • [Amiet, Jakob:] Der siegreiche Kampf der Eidgenossen gegen Jesuitismus und Sonderbund: Dessen Zusammenhang und Bedeutung in der Entwicklungsgeschichte der schweizerischen Nation und dessen Wirkung auf das politische Leben des Auslandes: Nebst vollständiger Schilderung des Feldzuges vom November 1847. Solothurn 1848, R 401
  • Andrey, Georges: Auf der Suche nach dem neuen Staat (1798–1848), in: Mesmer, Beatrix (Red.): Geschichte der Schweiz und der Schweizer. Basel 1986. S. 527-637, Hf 5520
  • Angerstein, Wilhelm: Die Berliner März-Ereignisse im Jahre 1848: Nebst einem vollständigen Revolutions-Kalender: Mit und nach Actenstücken, sowie Berichten von Augenzeugen: Zur Feststellung der Wahrheit und als Entgegnung wider die Angriffe der reactionären Presse. Leipzig 1864, A 2083
  • Auerbach, Berthold: Tagebuch aus Wien: Von Latour bis auf Windischgrätz (September bis November 1848). Breslau 1849, A 3108
  • Bakunin, Michael: Zwei Schriften aus den 40er Jahren des XIX. Jahrhunderts. Prag 1936, B 436
  • Bakunin, Michael: Sozialrevolutionäres Programm: Katechismus der revolutionären Gesellschaft (1865/66), in: ders.: Philosophie der Tat: Auswahl aus seinem Werk. Köln 1968. S. 316-359, 38520
  • Bakunin, Michael: «Barrikadenwetter» und «Revolutionshimmel» (1849): Artikel in der «Dresdner Zeitung». Berlin 1995, 100110:2
  • Bakunin, Michael: Russische Zustände (1849). Berlin 1996, 100110:3
  • Bakunin, Michael: Die revolutionäre Frage: Föderalismus, Sozialismus, Antitheologismus. Hg. Wolfgang Eckhardt. Münster 2000, 111589
  • Balser, Frolinde: Sozial-Demokratie 1848/49–1863: Die erste deutsche Arbeiterorganisation: «Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung» nach der Revolution. 2 Bde. Stuttgart 1965, 40153
  • Bauhofer, Stefan et al.: Totalrevision der Bundesverfassung: Dokumente und Diskussionsbeiträge. Basel 1977, 58685
  • Baumgartner, J.: Die Schweiz in ihren Kämpfen und Umgestaltungen von 1830 bis 1850. 4 Bde. Zürich 1853-1866, A 1561
  • Becker, Joh.[ann] Ph.[ilipp]: Die Neutralität nach dem Mährchen vom Menschenfresser: Zum Frommen der Menschheit: Den gesetzgebenden Versammlungen aller Völker, vornehmlich aber der Schweizerischen Tagsatzung gewidmet. Biel 1848, R 42
  • Becker, Joh.[ann] Ph.[ilipp] und Chr.[istian] Essellen: Geschichte der süddeutschen Mai-Revolution des Jahres 1849. Genf 1849, A 3224
  • Bergmann, Jürgen: Wirtschaftskrise und Revolution: Handwerker und Arbeiter 1848/49. Stuttgart 1986, 81887
  • Bericht von der hohen Tagsatzung niedergesetzten Kommission, betreffend die Vertheilung der sämmtlichen milden Gaben, welche für die Opfer des Feldzuges vom Spätjahr 1847 eingelangt sind. Bern 1848, R 662
  • Best, Heinrich: Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49: Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland. Göttingen 1980, 70824
  • Bilic, Viktorija und Alison Clark Efford (Hg.): Radikale Beziehungen: Die Briefkorrespondenz der Mathilde Franziska Anneke zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Stuttgart 2023, erwartet
  • Blattmann, Lynn und Irène Meier (Hg.): Männerbund und Bundesstaat: Über die politische Kultur der Schweiz. Zürich 1998, 103075
  • Bleiber, Helmut et al. (Hg.): Demokratie und Arbeiterbewegung in der deutschen Revolution von 1848/49: Beiträge des Kolloquiums zum 150. Jahrestag der Revolution von 1848/49 am 6. und 7. Juni 1998 in Berlin. Berlin 2000, 107085
  • Bleyer, Alexandra: 1848: Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution. Ditzingen 2022, 148844
  • Blum, Robert (Hg.): Volksthümliches Handbuch der Staatswissenschaften und Politik: Ein Staatslexicon für das Volk. 2 Bde. Leipzig 1848, A 3346:1
  • Bonderer, Roman: Willensnation wider Willen: Die medialen Konflikte in der Entstehungszeit des Schweizer Nationalstaats (1830–1857). Basel 2021, 144873
  • Bong, Jörg: Die Flamme der Freiheit: Die deutsche Revolution 1848/1849. Köln 2022, 148965
  • Bong, Jörg: Tage der Entscheidung: Die deutsche Revolution 1848/1849. Köln 2023, erwartet
  • Bong, Jörg (Hg.): Forderungen des Volkes: Frühe demokratische Programme. Köln 2023, 149899
  • Bong, Jörg: Freiheit oder Tod: Die deutsche Revolution 1848/1849. Köln 2024, erwartet
  • Bonjour, Edgar: Der Neuenburger Konflikt, 1856/57: Untersuchungen und Dokumente. Basel 1957, 39013
  • Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Leipzig 1898, A 2159
  • Botzenhart, Manfred: 1848/49: Europa im Umbruch. Paderborn 1998, 104995
  • Boyer, Pierre et al.: La révolution de 1848 en Algérie: Mélanges d’histoire. Paris 1949, 30414
  • Brandstätter, Horst (Hg.): Im Interesse der Wahrheit: Zur Geschichte der deutschen demokratischen Legion aus Paris, von einer Hochverräterin: Nach dem unzensierten Handexemplar der Autorin Emma Herwegh. Lengwil 1998, 111740
  • Breynat, Jules: Les socialistes depuis février: Ledru-Rollin, Emile de Girardin, Proudhon, Blanqui, Louis Blanc, Cabet, Raspail, George Sand, Pierre Leroux, Pierre Dupont. Paris 1850, Bo 52
  • Brunhart, Arthur (Hg.): Liechtenstein und die Revolution 1848: Umfeld, Ursachen, Ereignisse, Folgen. Zürich 2000, 106968
  • Canis, Konrad: Konstruktiv gegen die Revolution: Strategie und Politik der preussischen Regierung 1848 bis 1850/51. Paderborn 2022, Gr 15574
  • Chase, Malcolm: The Chartists: Perspectives & legacies. London 2015, 131897
  • Claudin, Fernando: Marx, Engels et la révolution de 1848. Paris 1980, 67771
  • Cochut, Andreas: Die Arbeiter-Associationen: Geschichte u. Theorie der Versuche einer Reorganisation der Gewerbe, welche seit dem Febr. 1848 gemacht worden sind. Tübingen 1852, R 293
  • Collmer, Peter: Die Schweiz und das Russische Reich 1848–1919: Geschichte einer europäischen Verflechtung. Zürich 2004, 112710
  • Dean, Karin und Markus Widmer: Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in der Schweiz 1848/1849, in: Goehrke, Carsten und Werner G. Zimmermann (Hg.): «Zuflucht Schweiz»: Der Umgang mit Asylproblemen im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich 1994. S. 39-63, 97808
  • Deinet, Klaus: Napoleon III: Frankreichs Weg in die Moderne. Stuttgart 2019, 141274
  • Dejung, Emanuel et al.: Jonas Furrer (von Winterthur) 1805–1861, erster schweizerischer Bundespräsident: Ein Lebensbild. Winterthur 1948, 17008
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  • Dowe, Dieter et al. (Hg.): Europa 1848: Revolution und Reform. Bonn 1998, 103019
  • Eckhardt, Wolfgang: Von der Dresdner Mairevolution zur Ersten Internationale: Untersuchungen zu Leben und Werk Michail Bakunins. Lich 2005, 115048
  • Elsner, Helmut et al. (Hg.): Fragmente zu internationalen demokratischen Aktivitäten um 1848 (M. Bakunin, F. Engels, F. Mellinet u.a.). Trier 2000, 108030
  • Engehausen, Frank: Werkstatt der Demokratie: Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Frankfurt 2023, 149730
  • Engels, Friedrich: Die deutsche Reichsverfassungskampagne. Berlin 1969, 85455
  • Enzensberger, Ulrich: Herwegh: Ein Heldenleben. Frankfurt 1999, 105099
  • Ernst, Andreas et al. (Hg.): Revolution und Innovation: Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848. Zürich 1998, 102938:1
  • Escher, Alfred: Rede bei Eröffnung des zur ordentlichen Frühlingssitzung versammelten Grossen Rathes des Eidgenössischen Standes Zürich. Zürich 1848, R 634
  • Ferdinand Freiligrath’s sämmtliche Werke. 5 Bde. New York 1858, A 3162:1-5
  • Flanner, Karl: Die Revolution von 1848 in Wiener Neustadt. Wien 1978, 76501
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  • Fricke, Hans-Dierk: Der Krieg um Neuenburg findet nicht statt: Der europäische Krisenwinter 1856/1857. Ludwigsfelde 2008, 130588
  • Friedensburg, Wilhelm: Stephan Born und die Organisationsbestrebungen der Berliner Arbeiterschaft bis zum Berliner Arbeiter-Kongress (1840–September 1848). Leipzig 1923, 2229
  • Fuchs, Eduard: 1848 in der Caricatur. München o. J., Gr 754
  • Fueter, Eduard: Die Schweiz seit 1848: Geschichte, Politik, Wirtschaft. Zürich/Leipzig 1928, 4926
  • Gall, Lothar (Hg.): 1848 – Aufbruch zur Freiheit: Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums und der Schirn Kunsthalle Frankfurt zum 150jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49. Berlin 1998, Gr 9599
  • Gerhard, Ute: Über die Anfänge der deutschen Frauenbewegung um 1848: Frauenpresse, Frauenpolitik, Frauenvereine, in: Hausen, Karin (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte: Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. München 1983. S. 200-222, 73760
  • Geschichtswerkstatt (Hg.): Die Revolution hat Konjunktur: Soziale Bewegung, Alltag und Politik in der Revolution von 1848/49. Münster 1999, 104622
  • Gill, Arnon: Freiheitskämpfe der Polen im 19. Jahrhundert: Erhebungen – Aufstände – Revolutionen. Frankfurt 1997, 102585
  • Goldammer, Peter (Hg.): 1848: Augenzeugen der Revolution: Briefe, Tagebücher, Reden, Berichte. Berlin 1973, 50028
  • Graber, Rolf: Demokratie und Revolten: Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz. Zürich 2017, 136679
  • Graf, Christoph und Gérald Arlettaz (Hg.): Das Asyl in der Schweiz nach den Revolutionen von 1848. Bern 1999, D 5026:25
  • Gregori, Marco et al.: La double naissance de la Suisse modern. Lausanne/Genf 1998, Gr 9811
  • Gregorovius, Ferdinand: Europa und die Revolution: Leitartikel 1848–1850. Hg. Dominik Fugger und Karsten Lorek. München 2017, 137291
  • Grimm, Robert: Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen. Bern 1920, 4534
  • Gruner, Erich (Hg.): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat, 1848–1919: Wahlrecht, Wahlsystem, Wahlbeteiligung, Verhalten von Wählern und Parteien, Wahlthemen und Wahlkämpfe. Bern 1978, Gr 3286
  • Hachtmann, Rüdiger: Berlin 1848: Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Bonn 1997, 102338
  • Hachtmann, Rüdiger: «…nicht die Volksherrschaft auch noch durch Weiberherrschaft trüben»: Der männliche Blick auf die Frauen in der Revolution von 1848, in: Werkstatt Geschichte 20 (1998). S. 5-30, D 5437
  • Hachtmann, Rüdiger: Epochenschwelle zur Moderne: Einführung in die Revolution von 1848/49. Tübingen 2002, 110469
  • Hahn, Hans Joachim: The 1848 revolutions in German-speaking Europe. Harlow 2001, 110251
  • Hahn, Hans-Werner (Hg.): Johann Philipp Becker: Radikaldemokrat, Revolutionsgeneral, Pionier der Arbeiterbewegung. Stuttgart 1999, 106213
  • Haider, Barbara und Hans Peter Hye (Hg.): 1848: Ereignis und Erinnerung in den politischen Kulturen Mitteleuropas. Wien 2003, 114194
  • Hauch, Gabriella: Frau Biedermann auf den Barrikaden: Frauenleben in der Wiener Revolution 1848. Wien 1990, 92290
  • Hecker, Friedrich: Die Erhebung des Volkes in Baden für die deutsche Republik 1848. Köln 1997, 101566
  • Heger-Etienvre, Marie-Jeanne (Hg.): La Suisse de 1848: Réalités et représentations. Strasbourg 2005, 117050
  • Hein, Dieter: Die Revolution von 1848/49. München 1998, 102919
  • Hellfeld, Matthias von: 1848 in 48 Kapiteln: Geschichte einer Revolution. Freiburg/Br. 2022, 148947
  • Herwegh, Marcel (Hg.): Briefe von und an Georg Herwegh, 1848. München 1896, 5368
  • Hettling, Manfred: Das Begräbnis der Märzgefallenen 1848 in Berlin, in: ders. und Paul Nolte (Hg.): Bürgerliche Feste: Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert. Göttingen 1993. S. 95-123, 96055
  • Hettling, Manfred: Totenkult statt Revolution: 1848 und seine Opfer. Frankfurt 1998, 103724
  • Hildbrand, Thomas und Albert Tanner (Hg.): Im Zeichen der Revolution: Der Weg zum schweizerischen Bundesstaat 1798–1848. Zürich 1997, 102412
  • Hippel, Wolfgang von und Bernhard Stier: Europa zwischen Reform und Revolution 1800–1850. Stuttgart 2012, 126805
  • Hobsbawm, Eric J.: Europäische Revolutionen 1789–1848. Darmstadt 2017, 137126:1
  • Hockamp, Karin et al. (Hg.): «Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein!»: Mathilde Franziska Anneke (1817–1884). Münster 2018, 140453
  • Holenstein, Rolf: Ochsenbein: Erfinder der modernen Schweiz. Basel 2009, 121555
  • Holenstein, Rolf: Stunde Null: Die Neuerfindung der Schweiz im Jahr 1848: Die Privatprotokolle und Geheimberichte der Erfinder. Basel 2018, 139337
  • Huch, Ricarda: 1848: Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Zürich 1944, 14867
  • Humair, Cédric: 1848: Naissance de la Suisse moderne. Lausanne 2009, 122776
  • Humair, Cédric: La Suisse et les puissances européennes: aux sources de l’indépendance (1813-1857). Neuchâtel 2021, 142345
  • Inauen, Josef: Vom «Schurkenstaat» zur vertrauenswürdigen Republik: Die Beziehungen zwischen Baden, Württemberg und Bayern und der Schweiz im Vormärz 1840–1848 und der Wandel in der Wahrnehmung der Eidgenossenschaft durch die süddeutschen Staaten bis 1871. Fribourg 2013, 130045
  • Ireland, David: The communist manifesto in the revolutionary politics of 1848: A critical evaluation. Cham 2022, 148701
  • Jagmetti, Marco: Als die moderne Schweiz entstand: Zur Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert. Lenzburg 2019, Gr 15016
  • Jansen, Christian (Hg.): Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung: Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849–1861. Düsseldorf 2004, Gr 11275
  • John, Eckhard und David Robb: Songs for a revolution: The 1848 protest song tradition in Germany. Rochester, NY 2020, 144819
  • Jung, Joseph (Hg.): Alfred Eschers Briefwechsel (1843–1848): Jesuiten, Freischaren, Sonderbund, Bundesrevision. Zürich 2011, Gr 13195:3
  • Jung, Joseph (Hg.): Alfred Eschers Briefwechsel (1848–1852): Aufbau des jungen Bundesstaates, politische Flüchtlinge und Neutralität. Zürich 2012, Gr 13195:4
  • Jung, Joseph (Hg.): Einigkeit, Freiheit, Menschlichkeit: Guillaume Henri Dufour als General, Ingenieur, Kartograf und Politiker. Basel 2022, Gr 15538
  • Kaenel, Philippe (Hg.): 1848: Drehscheibe Schweiz: Die Macht der Bilder. Zürich 1998, 103430
  • Kaenel, Philippe et al. (Hg.): Les révolutions de 1848: l’Europe des images: Le printemps des peuples: Paris, Assemblée nationale du 4 février au 30 mars 1998, Turin, Museo Nazionale del Risorgimento Italiano du 15 avril au 31 mai 1998, Prangins, Musée national suisse du 19 juin au 30 août 1998, Nuremberg, Germanisches Nationalmuseum du 7 octobre au 20 décembre 1998. Zürich 1998, 106779
  • Kiehnbaum, Erhard (Hg.): «Bleib gesund, mein liebster Sohn Fritz…»: Mathilde Franziska Annekes Briefe an Friedrich Hammacher, 1846–1849. Berlin 2004, 116639
  • Kiehnbaum, Erhard (Hg.): «Ich gestehe, die Herrschaft der fluchwürdigen ‘Demokratie’ dieses Landes macht mich betrübt…»: Mathilde Franziska Annekes Briefe an Franziska und Friedrich Hammacher 1860–1884. Hamburg 2017, 138824
  • Klassen, Kurt: Mitverwaltung und Mitverantwortung in der frühen Industrie: Die Mitbestimmungsdiskussion in der Paulskirche. Frankfurt 1984, 76849
  • Koller, Christian: Fremdherrschaft: Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus. Frankfurt/New York 2005, 115297
  • Kölz, Alfred: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. 2 Bde. Bern 1992-2004, 93674
  • Kölz, Alfred: Der Weg der Schweiz zum modernen Bundesstaat: Historische Abhandlungen, 1789, 1798, 1848, 1998. Chur 1998, 104521
  • Kölz, Alfred (Hg.): Quellenbuch zur neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte. 2 Bde. Bern 1992-1996, 93674
  • Kramer, Bernd: «Lasst uns die Schwerter ziehen, damit die Kette bricht…»: Michael Bakunin, Richard Wagner und andere während der Dresdner Mai-Revolution, 1849. Berlin 1999, 104835
  • Kröger, Ute: Gottfried Semper: Seine Zürcher Jahre 1855–1871. Zürich 2015, 132799
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  • Lambrecht, Lars (Hg.): Osteuropa in den Revolutionen von 1848. Bern 2006, 118667
  • Langewiesche, Dieter (Hg.): Die deutsche Revolution von 1848/49. Darmstadt 1983, Hf 216
  • Lenhard-Schramm, Niklas: Konstrukteure der Nation: Geschichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/49. Münster 2014, 134436
  • Leuthy, J.[ohann] J.[akob]: Die neuesten Weltereignisse im Jahre 1848. Zürich 1849-1850, A 3416
  • Lipp, Carola (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen: Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Baden-Baden 1986, 80837
  • Lornée, Eugène: Geschichte der Wiener Revolution im Jahre 1848. Strassburg 1849, A 3355
  • Lötscher, Thomas: Demokratie mit Zukunft: Die Erschaffung der modernen Schweiz. Thun/Gwatt 2022, erwartet
  • Maissen, Thomas: Vom Sonderbund zum Bundesstaat: Krise und Erneuerung 1798–1848 im Spiegel der NZZ. Zürich 1998, 104424
  • Majer, Diemut: Frauen – Revolution – Recht: Die grossen europäischen Revolutionen in Frankreich, Deutschland und Österreich 1789 bis 1918 und die Rechtsstellung der Frauen: Unter Einbezug von England, Russland, der USA und der Schweiz. Zürich/Baden-Baden 2008, 123211
  • Marcello-Müller, Monica (Hg.): Frauenrechte sind Menschenrechte! Schriften der Revolutionärin und Literatin Amalie Struve. Herbolzheim 2002, 110054
  • Marchal, Guy P.: Schweizer Gebrauchsgeschichte: Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel 2006, 116629
  • Marchi, Otto: Der erste Freischarenzug. Bern 1971, 44958
  • Marx, Karl und Friedrich Engels: Werke und Schriften von März bis Dezember 1848. Moskau/Leningrad 1935, 8143:G
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  • Mehring, Franz et al.: 1848: Ein Lesebuch für Arbeiter. Berlin 1923, 8995
  • Meier, Michaela (Hg.): 1848: Die vergessene Revolution. Wien 2018, D 6053
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  • Meuwly, Olivier: La Régénération: Le libéralisme suisse à l’épreuve du pouvoir (1830–1847). Lausanne 2022, erwartet
  • Meyerhofer, Ursula: Von Vaterland, Bürgerrepublik und Nation: Nationale Integration in der Schweiz 1815–1848. Zürich 2020, 107668
  • Mommsen, Wolfgang J.: 1848 – die ungewollte Revolution: Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849. Frankfurt 1998, 103419
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  • Prieto, Moisés (Hg.): Dictatorship in the nineteenth century: Conceptualisations, experiences, transfers. London/New York 2022, 146277
  • Prieto, Moisés: Narratives of Dictatorship in the Age of Revolution: Emotions, Power and Legitimacy in the Atlantic Space. London/New York 2023, erwartet
  • Püschmann, Friedrich Anton: Das Tagebuch des Buchdruckerlehrlings Friedrich Anton Püschmann während der Revolution von 1848/49 und der Restaurationsepoche von 1850 bis 1856. Hg. Matthias John. 3 Bde. Berlin 2015, 142247:1-3
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  • Reinalter, Helmut (Hg.): Die Anfänge des Liberalismus und der Demokratie in Deutschland und Österreich 1830–1848/49. Frankfurt 2002, 110873
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  • Remak, Joachim: Bruderzwist, nicht Brudermord: Der Schweizer Sonderbundskrieg von 1847. Zürich 1997, 104872
  • Rettenmund, Barbara und Jeannette Voirol: Emma Herwegh: Die grösste und beste Heldin der Liebe. Zürich 2000, 107364
  • Reynold, Gonzague de: La Démocratie et la Suisse: Essai d’une philosophie de notre histoire nationale. Bern 1929, 3364
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  • Roca, René: Bernhard Meyer und der liberale Katholizismus der Sonderbundszeit: Religion und Politik in Luzern (1830–1848). Bern 2002, 112443
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  • Rosenberger, Nicole und Norbert Staub (Hg.): Prekäre Freiheit: Deutschsprachige Autoren im Schweizer Exil. Zürich 2002, 110746
  • Rühle, Otto: Achtzehnhundertachtundvierzig: Revolution in Deutschland. Münster 1998, 108779
  • Scherr, Johannes: Von Achtundvierzig bis Einundfünfzig: Eine Komödie der Weltgeschichte. 2 Bde. Leipzig 1868-1870, 15115
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  • Schmidt, Jürgen: Brüder, Bürger und Genossen: Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830–1870. Bonn 2018, 146514
  • Schweizerisches Landesmuseum Zürich (Hg.): Die Erfindung der Schweiz 1848–1998: Bildentwürfe einer Nation: Katalog zur Sonderausstellung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich zum 150jährigen Bestehen des Schweizerischen Bundesstaates und zum 100-Jahr-Jubiläum des Museums. Zürich 1998, Gr 9430
  • Schweizerisches Nationalmuseum, Landesmuseum Zürich (Hg.): Zum Geburtstag viel Recht: 175 Jahre Bundesverfassung. Dresden 2023, 149851
  • Schwengeler, Arnold Hans (Red.): Schweizerische Demokratie, 1848–1948: Ein Jubiläumswerk zum hundertjährigen Bestehen des eidgenössischen Bundesstaates: Beiträge von prominenten Persönlichkeiten der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Armee. Murten 1948, Gr 6090
  • Segesser, Jürg: Die Einstellung der Kantone zur Bundesrevision und zur neuen Bundesverfassung im Jahr 1848. Bern 1965, 34986
  • Senn-Barbieux, Walter (Hg.): Das Buch vom General Düfour: Sein Leben und Wirken, mit besonderer Berücksichtigung seiner Verdienste um die politische Selbstständigkeit der Schweiz sowie um Wissenschaft, Kunst und Humanität. St. Gallen 1879, 45020
  • Siemann, Wolfram: Die deutsche Revolution von 1848/49. Frankfurt 1985, 80164
  • Stadler, Peter: Der Kulturkampf in der Schweiz: Eidgenossenschaft und katholische Kirche im europäischen Umkreis, 1848–1888. Frauenfeld/Stuttgart 1984, 76210
  • Steiner, Bruno: Die eidgenössische Militärjustiz unter General Dufour im Sonderbundskrieg 1847/48: Ein Forschungsbericht zur Entstehungsgeschichte der modernen schweizerischen Militärstrafrechtspflege. Zürich 1983, 62946
  • Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. 9 Bde. Frankfurt 1848-1849, A 1570
  • Stocker, Werner: Sozialdemokratie und Bundesverfassung: Lehren des hundertjährigen Bundesstaates für die schweizerische Arbeiterschaft. Hg. Sozialdemokratische Partei der Schweiz. O. O. u. J. [1948], 335/224c-40
  • Streckfuß, Adolph: Der Freiheits-Kampf in Ungarn in den Jahren 1848 und 1849. Berlin 1850, A 2293
  • Struve Amalie und Gustav Struve: Heftiges Feuer: Die Geschichte der badischen Revolution 1848. Ndr. Freiburg 1998, 103127
  • Studer, Brigitte (Hg.): Etappen des Bundesstaates: Staats- und Nationsbildung der Schweiz, 1848–1998. Zürich 1998, 104062
  • Tajouri, Rafa: Georg Herweghs politisches Denken und Wirken in seinem Verhältnis zur deutschen Linken. Zürich 2011, 125314
  • Thompson, Dorothy: The Chartists: Popular politics in the Industrial Revolution. Hants 1986, 80432
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  • Verein Frauenstadtrundgang Aarau und Fachstelle für die Gleichstellung von Frauen und Männern des Kantons Aargau (Hg.): Was Männer wollten und Frauen taten: Erster historischer Frauenstadtrundgang Aarau 1998: Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte im Aargau zwischen Helvetik und Bundesstaat (1798–1848). Baden 1998, 103975
  • Vertrag betreffend die Erledigung der Neuenburgerangelegenheit: Abgeschlossen am 26. Mai 1857. Bern 1857, R 648
  • Vuilleumier, Marc: Flüchtlinge und Immigranten in der Schweiz: Ein historischer Überblick. Zürich 1989, 88965
  • Weber, C.: Der Sonderbund und seine Auflösung von dem Standpunkte einer nationalen Politik. St. Gallen 1848, A 2016
  • Weber, Karl: Die schweizerische Presse im Jahre 1848. Basel 1927, 13368
  • Weber, Rolf (Hg.): Rosen unter Alpenschnee: Deutsche Emigranten in der Schweiz 1820–1885. Berlin 1983, 76071
  • Der Weg der Schweiz, 1748 – 1848 – 1948: Ausstellung im Helmhaus Zürich 21. Februar bis 25. April 1948: Wegleitung. Zürich 1948, B 541
  • Wegensteiner-Prull, Eva: Mazzini, Guiseppe: Ein Leben für die Freiheit: 1805–1872: Biografie. Wien 2017, 138194
  • Weigel, Sigrid: Flugschriftenliteratur 1848 in Berlin: Geschichte und Öffentlichkeit einer volkstümlichen Gattung. Stuttgart 1979, 94829
  • Widmer, Sigmund: Sonderbundskrieg und Bundesreform von 1848 im Urteil Frankreichs. Bern 1948, 15858
  • Wischermann, Ulla: «Das Himmelskind, die Freiheit – wir ziehen sie gross zu Haus»: Frauenpublizistik im Vormärz und in der Revolution von 1848, in: Kleinau, Elke und Claudia Opitz (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2. Frankfurt/New York 1996, S. 35-50, 99460:2
  • Wolff, Adolf: Berliner Revolutions-Chronik: Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen. 3 Bde. Berlin 1851, A 2177

Periodika

  • 1848, révolutions et mutations au XIXe siècles: Bulletin de la Société d’histoire de la révolution de 1848 et des révolutions du XIXe siècle, D 5017
  • Das freie Wort: Alles für das Volk und für des Volkes Freiheit, für Deutschlands Einheit, ZZ 322
  • Freiheit, Arbeit: Organ des Kölner Arbeitervereins, N 4141
  • Leipziger Reibeisen, NN 524
  • Neue Rheinische Zeitung: Organ der Demokratie, G 178
  • Revue d’histoire du XIXe siècle: Revue de la Société d’Histoire de la Révolution de 1848 et des Révolutions du XIXe Siècle, D 6341
  • Die Verbrüderung: Correspondenzblatt aller deutschen Arbeiter, N 4184
  • Vereinigte Volksblätter für Sachsen und Thüringen, NN 526
  • Das Volk: Organ des Central-Komitees für Arbeiter: Eine sozialpolitische Zeitschrift, N 4227
  • Das westphälische Dampfboot: Eine Monatsschrift, NN 196

Ausstellung zum Thema mit Material aus dem Sozialarchiv:
Zum Geburtstag viel Recht: 175 Jahre Bundesverfassung, Landesmuseum Zürich, 17. März – 16. Juli 2023