E. J. Gumbel (Hg.): Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration. Strasbourg, 1938
In einer Zeit, wo die Wissenschaftsfreiheit wieder in vielen Teilen der Welt bedroht ist, ganze Forschungszweige unterdrückt und ihre Kernbegriffe aus ideologischen Gründen verboten werden und Forscher:innen aus politischen Gründen emigrieren, lohnt sich die Lektüre eines Klassikers aus der Zwischenkriegszeit. Nachdem in Nazi-Deutschland rund ein Sechstel der Hochschullehrer:innen wegen ihrer demokratischen Gesinnung oder ihrer jüdischen Abstammung entlassen worden waren, publizierte der 1933 ausgebürgerte Mathematiker Emil Julius Gumbel 1938 im französischen Exil den Sammelband «Freie Wissenschaft» mit Beiträgen von fünfzehn geflüchteten Wissenschafter:innen, unter ihnen die ehemalige Jenaer Pädagogikprofessorin und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Anna Siemsen, die 1933 bis 1946 in der Schweiz lebte und deren Nachlass sich im Sozialarchiv befindet, oder der katholisch-pazifistische Philosoph Friedrich Wilhelm Foerster, der bereits 1922 aus Furcht vor rechtsextremen Attentaten aus München in die Schweiz emigriert war und dessen Werke 1933 öffentlich verbrannt wurden.
Die Texte befassen sich beispielsweise mit der «Gleichschaltung» der deutschen Hochschulen ab 1933, der gesellschaftlichen Rolle der Intellektuellen, staatsrechtlichen und finanzpolitischen Aspekten der Nazi-Diktatur, der Aufgabe der Geschichtswissenschaft im Exil oder den Versuchen, eine «arische Naturwissenschaft» auf Basis der rassistischen Ideologie zu schaffen. Der Band ist einer Reihe von Gelehrten gewidmet, die in der frühen Nazi-Zeit durch Mord oder Selbstmord ums Leben gekommen waren.
Yvonne Pesenti Salazar: Ragazze di convitto. Emigrazione femminile e convitti industriali in Svizzera. Locarno, 2024
Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verlässt eine beträchtliche Anzahl junger Frauen das Tessin, die italienischsprachigen Täler Graubündens und Norditaliens, um in den Textilfabriken der Deutschschweiz zu arbeiten. Da sie minderjährig sind und jahrelang von zu Hause wegbleiben müssen, werden sie in Internaten für Arbeiterinnen – den Arbeiterinnenheimen – untergebracht und der Obhut von Nonnen anvertraut.
Gegründet dank einer Partnerschaft zwischen Unternehmern und der katholischen Kirche, verbinden die Arbeiterinnenheime unternehmerische Bevormundung und religiös motivierte Fürsorge. Abgesehen von den philanthropischen Zielen ihrer Träger sind die Internate jedoch in Wirklichkeit Internierungseinrichtungen: Die jungen Arbeiterinnen leben in völliger Isolation, werden ihrer Autonomie beraubt und einem eisernen Disziplinarregime unterworfen.
Das Buch beleuchtet dieses besondere und lange in Vergessenheit geratene Migrationsphänomen aus verschiedenen Blickwinkeln: die Gründe für die Abwanderung, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen, das in den Internaten umgesetzte Erziehungsprojekt, die zweideutige Rolle der Nonnen und der Industriellen.
Ruth Erdt: K12 – Schwamendingen. Ein Randbezirk von Zürich = on the periphery of Zurich. Göttingen, 2024
Schwamendingen haftet als Stadtkreis am Rand der Stadt Zürich der schlechte Ruf eines Problemquartiers an. Selbst Ruth Erdt, die Fotografin des Bildbandes, bezeichnet ihren Wohnort als «hässliches Entlein der Stadt Zürich». Trotzdem wohnt sie seit dreissig Jahren im Kreis 12, da sie dessen diverse Gemeinschaft, tiefe Kriminalität und Entwicklungsmöglichkeiten schätzt. 1934 wurde Schwamendingen in die Stadt Zürich eingemeindet, entwickelte sich zunächst als Gartenstadt und anschliessend zur Industrieansiedelung. Im Mai 2025 wurde die Fertigstellung des Grossprojekts «Einhausung» gefeiert. Nun ist die Autobahnschneise, die Schwamendingen vierzig Jahre lang durchtrennt hat, vom neuen grünen «Ueberlandpark» überdeckt.
Seit 2011 fotografiert und dokumentiert Ruth Erdt im Rahmen eines Langzeitprojekts die Veränderungen und den lebendigen Alltag Schwamendingens. Entstanden sind rund 600’000 Fotografien, welche Einwohner:innen, Baustellen, Wohn-, Arbeits- und Freizeitorte des Stadtkreises zeigen. Nur ein Bruchteil dieser Fotografien kann im Bildband gezeigt werden, dennoch zeichnet das darin versammelte kaleidoskopische Fotomosaik ein wildes und stolzes Porträt vom K12.
Sönke Iwersen/Michael Verfürden: Die Tesla Files. Enthüllungen aus dem Reich von Elon Musk. München, 2025
Im Zentrum des Buches steht der reichste Mann der Welt. Die zwei Investigativjournalisten des «Handelsblatts» charakterisieren Elon Musk als «ersten globalen Oligarchen» und skizzieren einerseits seine Biografie von der Kindheit in Apartheid-Südafrika über erste unternehmerische Gehversuche in Palo Alto, sein kompliziertes Verhältnis zu Frauen und seinen Drogenkonsum bis zu seiner Rolle bei PayPal, Tesla, SpaceX (für das er schon vor einem Jahrzehnt vollmundig baldige Passagierflüge zum Mars angekündigt hatte), Neuralink (das die physische Verschmelzung menschlicher mit künstlicher Intelligenz anstrebt) und Twitter/X.
Andererseits schaut das Buch, gestützt auf geleakte interne Daten, Gerichtsakten sowie Gespräche mit Kund:innen, Ex-Mitarbeiter:innen, Gewerkschafter:innen und Hinterbliebenen von Autopilot-Unfallopfern, auf die Unternehmenskultur von Musks Elektroautokonzern, den die Autoren als von einem skrupellosen Chef geführte «Mitarbeiterhölle» und «Todesfalle» charakterisieren. Ein Epilog befasst sich mit Musk als «Politiker», der nach langjähriger Distanz zu Donald Trump 2024 dessen Wahlkampf mit 260 Millionen Dollar sowie einer grossen Desinformationskampagne auf X wesentlich unterstützte und sich dadurch als rechtslibertär-autokratischer «Schattenpräsident» einkaufte, aber auch durch den dosierten Einsatz von Starlink Einfluss auf den Ukrainekrieg nahm, sich zur Taiwanfrage oder zum Nahostkonflikt äusserte und zugunsten rechtsradikaler Kräfte in die Innenpolitik verschiedener europäischer Länder eingemischt hat.
Weitere Literatur zum Thema (Auswahl):
- Amlinger, Carolin und Oliver Nachtwey: Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus. Berlin 2025, erwartet
- Andree, Martin: Big Tech muss weg! Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft. Wir werden sie stoppen. Frankfurt/New York 2023, 153180
- Conger, Kate und Ryan Mac: Elon Musk und die Zerstörung von Twitter. Die Inside-Story. Hamburg 2024, 153498
- Daub, Adrian: Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche. Berlin 2020, 145312
- Dru, Jean-Marie: Danke für die Disruption! Die Strategien und Philosophien der weltweit führenden Unternehmer. Weinheim 2020, 145276
- Häring, Norbert: Endspiel des Kapitalismus. Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen. Köln 2022, 150424
- Isaacson, Walter: Elon Musk. Die Biografie. München 2023, 151039
- Krysmanski, Hans Jürgen: 0,1 Prozent. Das Imperium der Milliardäre. Frankfurt 2015, 131882
- Rügemer, Werner: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure. 3. erg. Aufl. Köln 2021, 144996
- Rushkoff, Douglas: Survival of the richest. Warum wir vor den Tech-Milliardären noch nicht einmal auf dem Mars sicher sind. Berlin 2025, 153779
- Varoufakis, Yanis: Technofeudalismus. Was den Kapitalismus tötete. München 2024, 153449
- Wolff, Michael: Alles oder nichts. Donald Trumps Rückkehr an die Macht. München 2025, 153829
Annette Kehnel: Die sieben Todsünden. Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise. Hamburg, 2024
Derzeit ist die Welt durch multiple Krisen herausgefordert. Das Wissen, um ihnen angemessen zu begegnen, wäre vorhanden. Das Problem ist die Umsetzung – unsere Gesellschaften leiden an kognitiver Dissonanz. Offenbar schaffen wir es nicht, unser als destruktiv erkanntes Paradigma des «Immer mehr» zu überwinden. Warum? Diese Ausgangslage ist der Anlass für Kehnels Buch. Statt nun für Antworten darauf das «andere» Erfahrungswissen indigener «Naturvölker» zu appropriieren, entscheidet sich die Mittelalter-Historikerin, die «eigenen» Ressourcen anzuzapfen: Was können die kollektiven Wissenstraditionen des Westens uns heute noch sagen? Kehnels «zukunftsgerichtete Erinnerung» an die Todsündenlehre fördert das darin gespeicherte Erfahrungswissen der abendländischen Kultur zutage.
Von den sieben Todsünden – Gula/Völlerei, Avaritia/Habgier, Luxuria/Ausschweifung, Acedia/Trägheit, Invidia/Neid, Ira/Zorn, Superbia/Hochmut – dominierte während der letzten dreihundert Jahre die Avaritia. Die Habgier, in der rational gezügelten Form des Eigeninteresses, ist perpetuierbar und unerschöpflich, der «Eigennutz» war ein Zentralbegriff der im 18. Jahrhundert neu entstehenden ökonomischen Theorien. Unserer Gegenwartsgesellschaft diagnostiziert Kehnel hingegen Acedia: Unsere beharrliche Trägheit, die Klima- und Biodiversitätskrisen anzuerkennen und zu bewältigen, speist sich aus einer letztlich lebensgefährlichen Mischung von Verlustangst und Besitzstandswahrung. Die sinnbildlichen Geschichten dazu liefern Lots Frau, die sich bei der Flucht aus Sodom zurückwendet, und Orpheus’ Blick zurück bei seinem Aufstieg aus der Unterwelt.
Kehnel untersucht kenntnisreich die epistemischen Stränge, welche sich in den Todsünden bündeln. Sie lässt uns an den Fragen, die sie an mittelalterliche und antike Textquellen stellt, teilhaben. Der Todsündenkanon erweist sich als ein gesellschaftliches Regelsystem, welches auf Balance und Ausgleich abzielte, sowohl was das soziale als auch was das Zusammenleben im Einklang mit der Natur betraf. So könnten uns die «Luxus- und Aufwandsordnungen», die in vielen europäischen Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit den überbordenden Konsum begrenzten, Mut für Regulierungen machen, da, wo der freie Markt für alle längst sichtbar versagt.