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Luna Wedler als Sophie Scholl auf Instagram (Foto: Bayerischer Rundfunk)
Luna Wedler als Sophie Scholl auf Instagram (Foto: Bayerischer Rundfunk)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Mia Berg, Christian Kuchler (Hrsg.): @ichbinsophiescholl. Darstellung und Diskussion von Geschichte in Social Media. Göttingen, 2023

Der 100. Geburtstag von Sophie Scholl am 9. Mai 2021 wurde vom Südwestrundfunk (SWR) und vom Bayerischen Rundfunk (BR) zum Anlass genommen, eine Instagram-Story mit dem Titel «@ichbinsophiescholl» zu entwickeln, welche die letzten zehn Lebensmonate der Widerstandskämpferin darstellen sollten. Das Projekt stiess auf enorme Resonanz und erreichte in drei Wochen 6,4 Millionen Nutzer:innen, die etwa 1,25 Millionen Interaktionen auslösten. Trotz dieses grossen Erfolgs rief das Unterfangen nicht nur positive Reaktionen hervor, sondern sorgte in geschichtspädagogischer Hinsicht auch für kontroverse Diskussionen. Der vorliegende Band beleuchtet diese spannende Auseinandersetzung in verschiedenen Beiträgen von Historikerinnen, Geschichtspädagogen, Journalistinnen und Social-Media-Experten.
Medienproduzent:innen kämpfen um das junge Publikum. Beim besagten Projekt «@ichbinsophiescholl» wird die prominente und zugleich populäre historische Figur Sophie Scholl dazu benutzt, ein Massenpublikum anzulocken und möglichst hohe Klickzahlen zu erzielen. Inwiefern dabei eine tiefere Auseinandersetzung mit Scholls Schicksal und dem Holocaust stattfindet und junge Menschen für Geschichte interessiert werden können, sind die zentralen, herausfordernden Fragen. So kam etwa eine Befragung zum Schluss, dass Schüler:innen zwischen 12 und 19 Jahren «@ichbinsophiescholl» kaum zur Kenntnis genommen hatten. Zum Erfolg des Projekts trug hauptsächlich die nächstältere Zielgruppe der 20- bis 35-Jährigen bei. Nichtsdestotrotz werden sich Geschichtslehrer:innen zukünftig mit der Darstellung von Geschichte im Social-Media-Format beschäftigen müssen. Das vorliegende Buch zeigt die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen an einem der erfolgreichsten Produkte der «Public History» auf.

Kai Bird, Martin J. Sherwin: Robert Oppenheimer. Die Biographie. Berlin, 2009

J. Robert Oppenheimer (1904-1967) war Physiker und leitete das streng geheime Manhattan-Projekt in der Wüste von New Mexico, wo am 16. Juli 1945 die erste Atombombe gezündet wurde. Nur einen Monat nach dem Test starben in Hiroshima und Nagasaki mehr als 200’000 Menschen durch die neue «Wunderwaffe» – die Menschheit war ins Atomzeitalter eingetreten.
Über dreissig Jahre hinweg haben die beiden Autoren Interviews mit Angehörigen, Freund:innen und Kolleg:innen geführt, haben FBI-Akten gesichtet und Reden und Verhöre Oppenheimers ausgewertet. Auf dieser Basis gelingt es ihnen, den Menschen Oppenheimer in den Kontext seiner Zeit zu rücken. Das Buch zeigt Oppenheimer in verschiedensten, zum Teil auch widersprüchlichen Facetten. Er war nicht nur Physiker, sondern beschäftigte sich auch mit dem alten Griechenland und interessierte sich für Philosophie und Sprachen. Nicht zu Unrecht wurde er auch als dichtender Wissenschaftler bezeichnet. Christopher Nolans Film «Oppenheimer» (2023) beruht auf dieser Biografie.
Oppenheimers linksliberaler Bekanntenkreis wurde ihm in der McCarthy-Ära in den 1950er Jahren zum Verhängnis. Er fiel in Ungnade und musste deshalb den Staatsdienst nach unzähligen Anhörungen quittieren. Erst ein Jahrzehnt später wurde er für seine Arbeit im Manhattan-Projekt offiziell gewürdigt und rehabilitiert. In seiner späten Lebensphase wandte sich Oppenheimer entschieden gegen die Entwicklung von Wasserstoffbomben, denn er kam nach dem Atombombenabwurf zur persönlichen Überzeugung, dass jede wissenschaftliche Errungenschaft am Ende auch praktisch angewendet wird. Die Gefahr, die für die ganze Menschheit von Atombomben ausgeht, besteht immer noch, und sie ist seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs wieder grösser geworden.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

  • Der pensionierte ETH-Physiker Fernando Allidi hat dem Sozialarchiv im April 2018 rund 90 geschichtliche Darstellungen zum Thema «Atombombe» übergeben, darunter auch Werke neueren Erscheinungsdatums. Zu finden sind sie auf swisscovery mit dem Code «E19Atom».
  • ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges (PSR/IPPNW-Schweiz) (SozArch Ar 526)
  • Archiv der Zeitschrift «Opposition – lebendige Demokratie», 1962-1965 (Signatur N 2468). Herausgegeben wurde die Zeitschrift im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Jugend gegen atomare Aufrüstung (SozArch Ar 201.212).
  • Sachdossier zu Atomwaffen (Dossier 45.5)
  • Sachdossier zur Atombewaffnung der Schweiz (Dossier 45.5 *12)

Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen. München, 2023

Das Buch des Freiburger Historikers Jörn Leonhard bietet, um es gleich vorwegzunehmen, keine einfachen Patentrezepte für die Beendigung aktueller Kriege. Es arbeitet aber aus der Kriegsgeschichte gewisse Muster der Transformation vom Krieg zum Frieden heraus. Zumeist verläuft diese verschlungen, wird von Verzögerungen und Rückschlägen unterbrochen. Waffenstillstand und eventuelle Unterzeichnung eines Friedensvertrags dürfen noch nicht mit Frieden verwechselt werden – oft sind sie nur eine Gefechtspause, bis sich eine Partei zur Wiederaufnahme der Kampfhandlungen in der Lage sieht. Der eigentliche Friedensprozess beginnt deshalb erst nach dem Waffenstillstand. Aber schon die ersten Friedenssondierungen und Signale von Kompromissbereitschaft unterliegen einer komplexen Psychologie, werden sie von der Gegenseite doch oft als Zeichen der Schwäche gewertet und mit einer Verstärkung kriegerischer Anstrengungen beantwortet. Die Erschöpfung verfügbarer Ressourcen bestimmt den Kippmoment von Kriegen, ruft aber nicht unbedingt entsprechende Einsichten bei den Entscheidungsträger:innen hervor. Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Beobachtungen aus der Geschichte prognostiziert Leonhard keine einfache Beendigung des Krieges gegen die Ukraine – weder durch rasche Verhandlungen, die für die Entscheidungsträger:innen beider Seiten aus unterschiedlichen Gründen mit existentiellen Risiken behaftet sind, noch durch «Einfrieren» des Konflikts.

Weitere Literatur zum Thema:

  • Jost Dülffer: Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert. Hg. Marc Frey et al. Köln 2008 (Signatur 119005)
  • Jörg Fisch: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses. Stuttgart 1979 (Signatur 72987)
  • Oliver P. Richmond und Gëzim Visoka (Hg.): The Oxford handbook of peacebuilding, statebuilding, and peace formation. New York 2021 (Signatur Gr 15354)

Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin, 2023

Ist die heutige Gesellschaft tatsächlich so polarisiert, stehen sich in wichtigen Fragen unserer Zeit wirklich zwei unversöhnliche Lager gegenüber? Auch wenn der Gesellschaft der Gegenwart inflationär ihre Gespaltenheit diagnostiziert wird, heisst das nicht zwingend, dass sie generell konfliktiver geworden ist. Denn: «Konflikte werden gesellschaftlich hergestellt – sie werden entfacht, getriggert und angespitzt.»
Die Makrosoziologen der Berliner Humboldt-Universität vermessen die «zerklüftete Konfliktlandschaft» in der Bundesrepublik Deutschland genauer. In vier konkreten «Konfliktarenen der Ungleichheit» – Besitzverhältnisse; Migration; Diversität; Klimawandel – horchen sie mit empirischen Instrumenten die Einstellungen in der Bevölkerung ab. Fazit: In Grundfragen herrscht erstaunlich oft Konsens und die Meinungen driften nur in Teilaspekten stark auseinander. Erst wenn es um bestimmte affektive «Triggerpunkte» geht, bilden sich «eskalatorische Dynamiken» und in der kontroversen Debatte harte antagonistische Fronten. Die Gleichstellung wird nicht infrage gestellt, das Gendersternchen aber sehr wohl; Umweltschutz wird befürwortet, erst bei der Frage, wer die Kosten dafür tragen soll, tun sich Gräben auf.
Die Autoren interessiert überdies die Frage, «ob sich moderne Ungleichheitskonflikte als Klassenkonflikte verstehen lassen» und wie sozialstrukturelle Kontexte mit «Formen affektiver Polarisierung» zusammenhängen.

Patrick Oberholzer: Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan. Bielefeld, 11/2023

Flucht und Immigration sind in den europäischen Ländern seit den 1990er Jahren zusehends zu innenpolitischen Kampfzonen verkommen. Dass wir heute von «Asylanten» statt von Flüchtlingen reden, ist Symptom einer moralischen Verrohung in unserem Umgang mit Menschen, die sich aus einer existenziellen Notsituation heraus dazu entschlossen haben, ihre Heimat zu verlassen.
Patrick Oberholzers dokumentarische Graphic Novel mit fünf realen Fluchtgeschichten junger Menschen aus Afghanistan leistet deshalb einen wichtigen, niederschwelligen Beitrag für unser Verständnis von Flucht, indem wir ganz bildhaft und konkret erfahren, weshalb Afghan:innen aus ihrem Land fliehen, wie sie die Flucht organisieren, welche Hürden sie auf ihrem Weg nach Europa überwinden müssen (die Versuche, über eine Grenze zu kommen, werden «Games» genannt) und welches Aufnahmeprozedere sie in der Schweiz erwartet.
Die gezeichneten Erlebnisberichte von Hamid, Muhammed, Ziya, Afsaneh und Nima basieren auf Interviews und Gesprächen, die der Winterthurer Illustrator mit ihnen geführt und dann zuerst niedergeschrieben hat. Die persönlichen Schicksale werden durch hinzugefügte leicht verständliche Infografiken und -texte mit Hintergrundwissen etwa zum Schlepperwesen, zur Finanzierung der Flucht mit dem «Hawala»-System, zu den verschiedenen Fluchtrouten, zum Dublin-System oder zu Pushbacks in einen allgemeineren Kontext gestellt.

Edizioni Periferia (Hrsg.): Pia Zanetti. Luzern/Poschiavo, 2023

Pia Zanetti (geb. 1943) war – in einer Zeit, da das Fotografieren fast ausschliesslich Männern vorbehalten war – eine der ersten Fotoreporterinnen der Schweiz. Neugierig, engagiert und mutig bereiste sie Europa, später die ganze Welt. Sie war mehrere Male in Kriegs- und Krisengebieten und realisierte zusammen mit ihrem Mann, dem Journalisten Gerado Zanetti, unzählige Reportagen für Publikationen wie Die Woche, Das Magazin, Du und NZZ sowie für internationale Zeitschriften wie Europeo, Espresso und Paris Match.
Der Mensch steht stets im Mittelpunkt ihrer Bilder. Unaufdringlich und einfühlsam dokumentiert sie den Alltag, die Solidarität und den Widerstand. Sie ist immer mittendrin und in Bewegung. In London wird sie anlässlich einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg verprügelt. In Moskau wird sie verhaftet, da sie ohne Visum unterwegs nach Usbekistan ist. Ihr gelingt es in Kohle- und Goldminen zu fotografieren, obwohl Frauen der Zutritt zu den Minen verwehrt war.
Pia Zanetti lebte in Rom, London, im Tessin und heute in Zürich. Im Auftrag der Caritas reiste sie noch einmal rund um die Welt. Sie fotografierte für das Bulletin der Crédit Suisse und finanzierte so ihre Arbeit für NGOs. Seit 2019 ist Pia Zanetti Stiftungsrätin und fotografische Beraterin der Organisation Fairpicture. 2021 wurde sie mit dem Lifetime Award der Swiss Photo Academy ausgezeichnet und die Fotostiftung Schweiz in Winterthur widmete ihr eine Einzelausstellung, zu deren Anlass die Publikation «Pia Zanetti. Fotografin» (Signatur Gr 15163) erschien. Die Fotografien für den vorliegenden Bildband «Pia Zanetti» hat die Fotografin in Zusammenarbeit mit ihrem Sohn Luca Zanetti ausgewählt, der ebenfalls Fotograf ist.

Demonstration der SVP und Gegendemonstration in Zürich, 1995 (Foto: Gertrud Vogler/SozArch F 5107-Na-08-009-016)
Demonstration der SVP und Gegendemonstration in Zürich, 1995 (Foto: Gertrud Vogler/SozArch F 5107-Na-08-009-016)

Buchempfehlungen der Bibliothek

L’Atelier paysan: Reprendre la terre aux machines. Manifeste pour une autonomie paysanne et alimentaire. Paris, 2021

Die industrielle Landwirtschaft steckt in einer Sackgasse: Immer weniger Betriebe stellen mit massenhaft Dünger und Pestiziden auf immer grösseren Flächen mit immer schwereren und teureren Maschinen auf zunehmend degradierten Böden zu immer tieferen Preisen immer mehr vom Gleichen, u.a. für den Export, her. Die einstigen Vertreter eines unabhängigen Bauernstandes sind heute «proletarisierte Unternehmer», die der Agroindustrie ausgeliefert, dem unerbittlichen Preisdruck des Freihandels ausgesetzt und von staatlicher Unterstützung abhängig sind. Nicht nur auf französischen, auch auf Schweizer Bauernhöfen ist die Selbstmordrate ungewöhnlich hoch – nicht nur die Höfe, auch die Bauern sterben.
Seit 1990 haben sich zwar etliche Landwirtschaftsbetriebe agrarökologisch umorientiert und bei den Konsument:innen ist die Nachfrage nach Bio-Produkten gestiegen, liegt aber zum Beispiel in der Schweiz immer noch erst bei knapp 20 %. Die These des französischen Autor:innenkollektivs «Atelier Paysan» lautet, dass dieser Nischentrend der letzten dreissig Jahre, der auf die privaten Kaufentscheide abstellt, die Vormacht der industriellen Landwirtschaft in keiner Weise brechen konnte und deren wirtschaftliche, ernährungstechnische, ökologische, gesundheitliche und soziale Verheerungen im Grunde nur verschleiert.
Das aktivistische «Manifest für eine bäuerliche und Ernährungs-Autonomie» fordert deshalb eine dezidierte Repolitisierung der alternativen Bewegungen für eine bäuerliche Landwirtschaft mit Mindestpreisen für Importprodukte, Ernährungssicherheit nach dem Modell einer Sozialversicherung sowie einer technologischen «Deeskalation». Konkretes Ziel: Ansiedlung einer Million Bäuer:innen in Frankreich in den kommenden zehn Jahren.

Angela Saini: Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft. Berlin, 2023

Aufgrund des Titels würde man erwarten, dass uns die Wissenschaftsjournalistin Angela Saini eine Geschichte über das Patriarchat erzählt. Stattdessen erzählt sie jedoch die Forschungsgeschichte über das Patriarchat – genauer: wie sich die verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen im Verlauf der letzten rund zweihundert Jahre das Patriarchat erklärt haben. Diese Geschichte darüber, wann und wie die Menschen was über das Patriarchat gedacht haben, ist nicht weniger spannend als die verschiedenen Erklärungsversuche, wie es zur Dominanz des einen über das andere Geschlecht gekommen ist.
Sainis umfassender Überblick über die Forschungsliteratur ist beeindruckend. Zudem lässt sie viele der von ihr zitierten Wissenschaftler:innen – von Soziologinnen und Historikern bis zu Biologinnen und Genetikern – selbst zu Wort kommen. Neue Erkenntnisse und Widersprüche ergänzt sie durch Fallbeispiele aus dem realen Leben. Auf dieser lesenswerten Tour d’Horizon dekonstruiert sie allgemein liebgewonnene und weithin etablierte Annahmen, die sich fast schon zu Mythen entwickelt haben. Oder sie bestätigt sie, sofern neueste Forschungsergebnisse dies zulassen.
Im Gesamten zeigt Saini auf, was immer wieder gerne vergessen wird: dass heutige Verhältnisse und Probleme sich nicht auf eine Ursache reduzieren und ebenso wenig mit einem simpel gestrickten Narrativ erklären lassen. Dafür sind der Mensch, seine Beziehungen und die Welt, in der er lebt, zu komplex. Die Suche nach den Ursprüngen des Patriarchats bleibt weiterhin spannend. Saini mahnt mit ihrem Buch gleichzeitig zur Vorsicht vor seinem Comeback.

David Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. München, 2021

Oft, wenn er als Bub ins Zimmer kam, schossen den Älteren seiner Angehörigen die Tränen in die Augen, so sehr erinnerte sie der kleine Daniel an Shmiel Jäger. Shmiel, das war der Bruder von Daniels Grossvater, und er, seine Frau Ester und die vier Töchter Lorka, Frydka, Ruchele und Bronia sind «von den Nazis umgebracht worden», wie die Familie jeweils sagte. Sie sind die sechs «Verlorenen», die Daniel Mendelsohns Buch den Titel geben. So machte sich Mendelsohn 2002 auf zu seiner ersten Reise nach Bolechow, das heute in der Ukraine liegt, wo Shmiel mit seiner Familie gelebt hatte. Ihr sollten viele weitere Reisen nach Israel, nach Prag, nach Riga, nach Sydney, nach Kopenhagen und nach Stockholm folgen. Zuerst wollte er erfahren, wie sie getötet wurden, doch mit der Zeit wollte er wissen, wie sie gelebt hatten.
Was Mendelsohn auf über 600 Seiten beschreibt, ist eine Recherche bis ins kleinste Detail. Er bleibt nahe dran, auch bei den schlimmsten «Geschehnissen», wie er es nennt. Er zeichnet die Begegnungen und Gespräche mit denen auf, die ihm noch etwas berichten konnten, wie es war in Bolechow, als die Deutschen dort wüteten, allzu oft mit Hilfe der Ukrainer, mit denen man jahrzehntelang in nächster Nachbarschaft gelebt hatte.
Das Buch, eine Mischung aus Reisebericht, Familiengeschichte, Anekdoten und Interviews, ist erschütternd und gleichzeitig wunderbar und warmherzig, auch wenn einige Gräueltaten sich wohl für immer ins Gedächtnis der Leser:innen einbrennen werden.

Anja Nora Schulthess: Das Packeis vermüllern. Die Zeitungen Eisbrecher und Brecheisen der Zürcher «Bewegig» zwischen Lust, Frust und Repression, 1980–1981. Zürich, 2023

Die Zürcher Achtziger Bewegung ist auf der Strasse entstanden und hat sich meist auf der Strasse abgespielt. Die Auseinandersetzung fand jedoch auch in den Medien statt. Um eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, produzierten Mitglieder der «Bewegig» Flugblätter, Filme und eben auch Zeitungen. Insbesondere dienten die Titel «Eisbrecher» und «Brecheisen/Brächise» von Oktober 1980 bis Mai 1981 als Bewegungszeitungen. Mit einer Auflage von 20’000 Exemplaren waren sie kurzfristig äusserst erfolgreich.
Neben Informationen über Aktionen der Bewegung und Repressionen des Staats hat der «Eisbrecher» zahlreiche ästhetische Mittel ausprobiert, um das Zürcher Packeis aufzubrechen. Sprichwörtlich ist das «Müllern» geworden, das heisst die Übersteigerung herkömmlicher Haltungen oder die satirische Umwandlung von vorherrschenden Sprechweisen. Das von einer jüngeren Generation der Bewegten gestaltete «Brecheisen» verwendete brachialere Mittel und druckte häufig Texte zur subjektiven Befindlichkeit der Schreibenden ab. Darin spiegelte sich auch eine Veränderung des politischen Umfelds und der Bewegten selbst: von der Lust zu Repression und Frust.
Das Buch von Anja Nora Schulthess ist ein Forschungsbeitrag zu einer Protestbewegung der jüngeren Schweizer Geschichte ebenso wie eine immer wieder vergnügliche Lektüre. Es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer im Jahr 2019 mit dem Jahrespreis des Sozialarchivs ausgezeichneten Masterarbeit.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

  • Pressegruppe Zürcher Jugendbewegung (Hg.): Eisbrecher/Brecheisen/Brächise 1980–1981 (Signatur D 2062)
  • Sachdossier zur Achtziger Bewegung (Dossier 36.3 C *2)
  • Videoarchiv «Stadt in Bewegung» (SozArch Ar Vid V)

Jenny Sprenger-Seyffarth: Kriegsküchen in Wien und Berlin. Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg. Bielefeld, 2023

In Wien und Berlin öffneten während des Ersten Weltkriegs hunderte Kriegsküchen, die in Zeiten der grössten Versorgungsnot täglich von hunderttausenden Menschen besucht wurden. Volksküchen hatte es schon vorher gegeben, diese stiessen teilweise aber auch auf einen gewissen Widerstand in der Gesellschaft. Die Einrichtung von Kriegsküchen von staatlicher Seite her war ab 1916 in den Städten zwingend, um dem sich mehr und mehr ausbreitenden Hunger zu begegnen. Mit dem Krieg erlebte die Massenverpflegung ausser Haus also einen beträchtlichen Aufschwung.
In ihrer ausführlichen Dissertation stellt Jenny Sprenger-Seyffahrt die Entstehung dieser öffentlichen Verpflegungsangebote und ihre Entwicklung über den Krieg hinaus erstmals umfassend dar. Dabei stellt sich heraus, dass nicht nur die ärmeren Schichten, sondern zunehmend auch der Mittelstand auf die neuen Einrichtungen angewiesen war. Die Autorin kann in ihrer Arbeit unter anderem auch zeigen, dass die öffentliche Massenverpflegung eine nachhaltige Veränderung der Mahlzeiteneinnahme in der Bevölkerung herbeiführte und die veränderten Essgewohnheiten mehr als nur eine «Zeiterscheinung» der Kriegsjahre waren.

Buchempfehlungen der Bibliothek

David F. Walker, Markus Kwame: The Black Panther Party. A graphic novel history. Emeryville, 2021

In ihrer Graphic Novel beleuchten Journalist David F. Walker und Illustrator Markus Kwame Anderson den historischen Hintergrund der Black Panther Party. Das tun sie vor allem anhand von Einzelschicksalen und zentralen Ereignissen, die sich zu einem tragischen Gesamtbild der strukturellen Diskriminierung und Unterdrückung der Afroamerikaner:innen zusammenfügen. Die biografisch-anekdotische Herangehensweise behalten sie bei der Erzählung über das Wirken der Black Panthers bei. Dazu gehört deren zu wenig beachtetes soziales Engagement sowie der Einfluss, den sie auf andere nationale und transnationale Bewegungen von Minderheiten ausgeübt haben.
Sie veranschaulichen die machiavellistischen Bemühungen der US-Regierung, die Black Panthers zu zerschlagen und zu diffamieren. Dem so bewusst beförderten Klischee von gewalttätigen Terroristen kam die Position der Black Panthers zur Gewaltfrage entgegen: Im Gegensatz zu Martin Luther King betrachteten sie Gewalt als ein legitimes Mittel zur Selbstverteidigung.
Walker und Anderson versuchen, das Bild von den Black Panthers wieder geradezurücken, reflektieren aber auch kritisch deren interne Widersprüche und Konflikte. Charakteristisch für diese Graphic Novel ist neben der farbintensiven und klaren Bildsprache Andersons die hohe Informationsdichte, die vereinzelt eine flüssige Lektüre ins Stocken geraten lässt. Dennoch ist es eine kompakte und visuell ansprechende Einführung in die komplexe Geschichte der Black Panther Party und der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Tobias Roth (Hg.): Gartenstadtbewegung. Flugschriften, Essays, Vorträge und Zeichnungen aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft. Berlin, 2019

Der Band versammelt Texte von Autor:innen aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft. Entstanden im Jahrzehnt von 1903 bis 1913, reagierten sie auf Wohnungs- und Umweltprobleme in der Grossstadt, die bis heute aktuell geblieben sind. Insbesondere die Aussagen zur Umweltproblematik könnten teilweise eins zu eins heute wiederholt werden: «Zurück zur Natur wollen wir durch die Gartenstadt», forderte beispielsweise der Steglitzer Gartendirektor Fritz Zahn im Jahr 1906.
Am Anfang einer bald gesamteuropäischen Bewegung stand Ebenezer Howards Schrift «Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform», die 1898 erschien und 1902 erneut aufgelegt wurde, nun unter dem eingängigeren Titel «Garden Cities of Tomorrow». Man wollte Problemen wie Wohnungsnot, hygienisch katastrophalen Bedingungen und Überbevölkerung mit dem Konzept der Gartenstadt Gegensteuer geben, wobei es nicht nur um die Begrünung von urbanem Lebensraum gehen sollte, sondern auch um die Demokratisierung desselben oder, wie es der deutsche Autor Heinrich Hart etwas poetischer ausdrückte, um seine Gestaltung «als ein Paradies, einen Garten ohne Ende, einen Garten in spriessender Fülle, einen Garten voll tiefen Friedens und ungetrübter Seligkeit für seine Bewohner».

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Ambros Uchtenhagen (Hg.): 30 Jahre Schweizer Drogenpolitik, 1991–2021. Zürich, 2022

Vor rund einem Jahr ist der Zürcher Psychiater Ambros Uchtenhagen 94-jährig verstorben. Noch einige Monate vorher, im März 2022, erschien eine von ihm herausgegebene Chronik zur Schweizer Drogenpolitik, welche Uchtenhagen massgeblich geprägt hat. Eine Drogenpolitik, die Anfang der 1990er-Jahre mit dem Vier-Säulen-Modell bahnbrechend war und mit den bisherigen Regelungen radikal brach.
Die von Uchtenhagen verfasste Chronik beschreibt die Besonderheiten der neuen Massnahmen und vor allem deren Umsetzung in den Bereichen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Ausserdem werden die Auswirkungen auf nationaler und internationaler Ebene, die Grenzen des neuen Regimes und die Herausforderungen dargestellt, die noch zu bewältigen sind. Ergänzend zur Chronik und ihrem Quellenmaterial enthält das Buch eine Reihe von Beiträgen wichtiger Protagonist:innen, die neben Uchtenhagen die Schweizer Drogenpolitik beeinflusst haben, darunter Vertreter:innen verschiedener Berufsbereiche wie Psychiatrie, Sozialarbeit oder Soziologie. Sie alle erzählen noch einmal von ihren Erfahrungen in den letzten dreissig Jahren.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Anna Rosenwasser: Rosa Buch. Queere Texte von Herzen. Zürich, 2023

Für manche ist LGBTQ ein überflüssiger Trend, andere verstehen den Ausdruck nicht. Viele Personen wiederum sind in diesen Buchstaben zu Hause – Anna Rosenwasser ist eine von ihnen. Die bisexuelle LGBTQ-Aktivistin und Politinfluencerin schreibt über Geschlecht und Anziehung in ehrlichen, humorvollen und manchmal «hässigen» Texten. Sie schreibt nicht nur für diejenigen, die längst wissen, dass sie queer sind, sondern genauso für alle, denen dieses Wort neu – und, wer weiss, vielleicht mittelsympathisch – ist. Ausserdem setzt sich die Autorin in ihren Texten auch immer wieder mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander.
Das «Rosa Buch» versammelt Texte von Anna Rosenwasser aus den Jahren 2018 bis 2022. Teilweise handelt es sich dabei um Kolumnen, welche sie für diverse Zeitschriften und Zeitungen – darunter Saiten, das Mannschaft Magazin oder die Schaffhauser AZ – geschrieben hat, bei einigen Texten um Erstveröffentlichungen. Für das «Rosa Buch» hat die Autorin Passagen aus den Texten kommentiert, welche sie mittlerweile anders oder genauer sieht, leichter oder ernster nimmt. Mit dem ergänzenden Stichwortregister und dem Glossar ist ein Buch entstanden, welches nicht zwingend von Anfang bis Schluss gelesen werden muss und zum Schmökern einlädt.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Hannah Ross: Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten. Hamburg, 2022

Radfahrerinnen sind eine Inspiration, ob sie nun auf Medaillenjagd gingen, die Welt erkundeten oder sich für das Frauenwahlrecht einsetzten. «Das Ross, auf dem Frauen in eine neue Welt ritten» – so beschrieb das US-amerikanische Munsey’s Magazine 1896 treffend die politische Bedeutung des Fahrrads in seinen Anfängen. Die Erfindung des Fahrrads im Jahr 1900 wurde als «Game Changer» betrachtet. Wenige Dinge, die jemals von Menschen benutzt wurden, haben eine so grosse Revolution in den sozialen Verhältnissen bewirkt wie das Fahrrad. Die Frauen befreiten sich buchstäblich aus dem Korsett, nicht nur kleidermässig. «Weg mit den Korsetts, her mit dem Lycra», wie es im Buch etwas salopp heisst.
Nur schon das Sitzen auf einem Fahrradsattel stellte zur damaligen Zeit für viele ein offenkundig sexuelles Verhalten dar, und sie sahen darin eine Gefahr für die Moral der Frauen und auch für ihre Fortpflanzungsorgane. Es wurden spezielle Sattel entwickelt, die eine sexuelle Stimulation verhindern sollten. Man sprach von «Bicycle Walk» (die Füsse bewegten sich angeblich kreisförmig) und «Bicycle Face» (verzerrte Gesichtszüge). Das Harper’s Magazine empfahl als Gegenmassnahme, Kaugummi zu kauen.
In «Revolutions» erzählt Hannah Ross die spannende und unterhaltsame Geschichte des Fahrrads aus weiblicher Perspektive. Sie führt uns von den Anfängen des Radfahrens im 19. Jahrhundert, als Frauen unglaubliche Widerstände überwinden mussten, bis in die Gegenwart und rund um die Welt.
Leider ist es Frauen in Afghanistan inzwischen wieder verboten, Fahrrad zu fahren.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Christian Suter, Stephen Brown, Dolgion Aldar, Tamir Chultemsuren (Hg.): Democratic Struggles in Challenging Times. Insights from Mongolia and around the World. Zürich/Ulaanbataar, 2021

Es gibt aus demokratischer Sicht auch heute erfreuliche Dinge. Entgegen aller politikwissenschaftlicher Theorieerwartung hat sich in den letzten drei Jahrzehnten in der Mongolei trotz des Fehlens demokratischer Traditionen sowie grosser Probleme mit Armut und Korruption eine demokratische Regierungsform gehalten, die mit den diktatorischen Systemen der Nachbarstaaten Russland und China kontrastiert. Das Land, das trotz der nomadischen oder mönchischen Lebensweise eines Grossteils seiner Bevölkerung und der völligen Absenz einer Industrie oder einer Arbeiterschaft 1924 von einer buddhistischen Theokratie zur kommunistischen «Volksrepublik» mit starker Abhängigkeit von der Sowjetunion wurde, in der Folge alle Wirrungen der sowjetischen Geschichte nachvollzog und 1989/90 eine unblutige Revolution mit Massenprotesten und Hungerstreiks erlebte, besitzt ein Zweiparteiensystem aus der postkommunistischen Volkspartei und der aus den Protesten von 1990 hervorgegangenen Demokratischen Partei, die sich regelmässig in der Regierung ablösen.
In jüngster Zeit ist die Mongolei zum Zufluchtsort Tausender von der Mobilisation für den Ukrainekrieg bedrohter Russen geworden. Der auf eine Konferenz des Independent Research Institute of Mongolia und der Zürcher World Society Foundation zurückgehende Band mit neun Artikeln beleuchtet dieses interessante Land. Ein erster Teil befasst sich mit Struktur und Funktionsweise der mongolischen Demokratie und ihrer Zivilgesellschaft. Ein zweiter Teil öffnet den Blick für international vergleichende Studien, die um den Zusammenhang von Demokratie und der Verwaltung natürlicher Ressourcen kreisen.

Ebenso greifbar im Sozialarchiv (Auswahl):

Pier Paolo Pasolini im Quarticciolo in Rom, 1960 (Foto: Urheber:in unbekannt/L'Espresso/Wikimedia Commons)
Pier Paolo Pasolini im Quarticciolo in Rom, 1960 (Foto: Urheber:in unbekannt/L'Espresso/Wikimedia Commons)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Valerio Curcio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fussball nach Pier Paolo Pasolini. Bad Herrenalb, 2022

Pier Paolo Pasolini (1922-1975) war ein italienischer Intellektueller, der allen politischen Lagern und manchmal auch seinen Freunden unbequem war. Er selbst bezeichnete sich als Schriftsteller, er war aber auch Maler und Zeichner, Sprachwissenschaftler, Schauspieler, Herausgeber, Drehbuch- und Theaterautor, Regisseur, Journalist und nicht zuletzt ein vielbeachteter Gesellschaftskritiker. Und daneben, zwischendurch, immer wieder, bis zu seinem brutalen Tod, war Pasolini auch noch ein ambitionierter und passionierter Fussballer.
So richtig glücklich war er nur, wenn er selber Fussball spielen konnte. Danach wurde er wieder zum unruhigen, geplagten Erwachsenen, der zeitlebens wegen seiner Homosexualität an den Pranger gestellt wurde. Im Buch gibt es ein Foto, das Pasolini im Fussballtrikot zeigt, als Spieler in der Fussballmannschaft «Sänger und Schauspieler», entspannt lächelnd, so wie man ihn selten sah. Pasolini begriff den Fussball als universelle Sprache, als Mittel der Kommunikation, der Interaktion, der Teilhabe – und dies galt für die Schotterplätze der römischen Peripherie wie für die grossen Spektakel der ersten Liga gleichermassen.
Valerio Curcio macht Pasolini, welcher mit einem Fussballtrikot auf dem Sarg zu Grabe getragen wurde, mit diesem umsichtigen, detailreichen und dabei stets gut geerdeten, sich ganz auf den Fussball fokussierenden Porträt als Mensch greifbar.

Eine kleine Auswahl von Büchern von und über Pier Paolo Pasolini im Sozialarchiv:

Maria Wiesner: Alles in Ordnung? Warum wir vor lauter Aufräumen unser Leben verpassen. Hamburg, 2021

Ausgehend vom Hype um das Buch «Magic Cleaning» von Marie Condo geht die Journalistin Maria Wiesner den Paradoxien aktueller Minimalismus- und Aufräumtrends nach. Sie entlarvt sie als das, was sie gerade zu sein leugnen: Neue Konsummechanismen für kapitalkräftige Gesellschaftsschichten. Anstelle nachhaltiger und positiver Effekte auf die Konsumgesellschaft stützen sie die wirtschaftlichen und geschlechtlichen Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse. Mit ihrem Anstrich von Ethik und Nachhaltigkeit gelingt es ihnen, ihre Anhänger glauben zu lassen, in einer konsumfixierten Welt zu den Guten zu gehören.
Ratgeber-Autor:innen wie Jordan Peterson, Minimalismus-Blogger:innen und Konzepte häuslicher Gemütlichkeit wie Hygge koppeln gesamtgesellschaftliche Probleme von Individuen ab, indem sie ihnen suggerieren, dass jeder Einzelne für sein Glück und Wohlergehen ausschliesslich selbst verantwortlich sei. Glücklich werde man nur, indem man sich selbst optimiert, vom überflüssigen Kram trennt und den Rest fein säuberlich in hübsche Schachteln versorgt.
Mit ihrer sachlichen und unterhaltsamen Analyse blickt Wiesner hinter die pastellfarbenen Fassaden dieser Lifestyle-Trends und deckt ihre Widersprüchlichkeiten und Absurditäten auf. Ohne zu moralisieren und ohne erhobenen Zeigefinger macht sie darauf aufmerksam, dass sich konsumgesellschaftliche Probleme und Fehlentwicklungen nicht teetrinkend auf dem Sofa oder auf Flohmärkten flanierend lösen lassen.

Barbara F. Walter: Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen. Hamburg, 2023

Im Lauf ihrer Forschungstätigkeit zu Bürgerkriegen kam die Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter zum Schluss, dass die Bürgerkriege des 21. Jahrhunderts in der Regel auf eine vorhersehbare Weise entstehen und eskalieren. Es wirke so, als ob sie auf einem Drehbuch basierten, ungeachtet ihres individuellen geschichtlichen und politischen Hintergrunds. Diesem Drehbuch geht sie in ihrem Buch nach. Sie untersucht die gemeinsamen Elemente und unterlegt sie mit Beispielen aus allen Regionen der Welt, darunter Ex-Jugoslawien, Irland, Syrien und Indonesien. Sie erklärt zentrale Erscheinungen und Begriffe wie Faktionalismus und Anokratien und illustriert, welche fatale Rolle soziale Medien bei der Polarisierung von Gemeinschaften spielen können.
Angesichts der Präsidentschaft von Donald Trump und des Sturms auf das Kapitol fragt sie, ob und wie nahe sich die USA an einem Bürgerkrieg befinden, und kommt zum Schluss, dass sie näher dran sind, als man wahrhaben möchte. Doch Walter untersucht nicht nur, wie es zu Bürgerkriegen kommt und was die Warnhinweise für solche Entwicklungen sind. Sie befasst sich auch mit der Frage, welche Massnahmen nötig sind, um Bürgerkriege zu verhindern. Es gelingt ihr aufzuzeigen, dass Demokratie ein wichtiges Gut ist, das nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet werden darf, sondern immer aufs Neue gemeinsam erarbeitet werden muss.

Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst. Berlin, 2022

Am 27. März dieses Jahres hielt der Tages-Anzeiger nach einer grossen Umfrage fest, an Schweizer Unis gebe es keine «Cancel Culture». Die Hintergründe der aktuellen Obsession mit «Cancel Culture» analysiert das Buch von Adrian Daub, Literaturprofessor an der Stanford University. Für Daub hat die Rede über «Cancel Culture» eine «aufmerksamkeitsökonomische Funktion», steht «in keiner Relation zu ihrer objektiv belegbaren Verbreitung» und ist «wenig hilfreich, wenn es um die Beschreibung der Realität geht». Vielmehr würden dabei Anekdoten herausgepickt und kontextfrei herumgereicht, während der «Cancel Culture»-Diskurs umgekehrt aber etwa Verbote in US-Bundesstaaten ausblendet, an Schulen Themen wie Sklaverei oder LGBT anzusprechen oder in Bibliotheken Bücher zur afroamerikanischen Geschichte an Schüler:innen auszuleihen.
Der Diskurs entstand in der Reagan-Ära, zog aber erst durch das Internet grössere Kreise. Angebliche «Cancel Culture» beklagten zahlreiche Politiker:innen, von Trump und Johnson (als «Machwerk» ihrer politischen Gegner:innen) bis zu Putin (als «westliches» Phänomen). Daub zeichnet den Transfer des «Cancel Culture»-Diskurses von den USA nach Europa 2018/19 detailliert nach. Er erfolgte zunächst über Twitter und wurde dann medial multipliziert. Allein die NZZ publizierte ab 2019 über 120 entsprechende Artikel und holte sich 2021 in einem Interview gar Schützenhilfe von Sahra Wagenknecht.
Daubs Fazit: «Über Cancel Culture oder ‘Wokeness’ zu reden bedeutet immer, über anderes nicht zu reden.»

Diverse Bücher über das Jahr 1923

Alle Jahre wieder erscheinen sogenannte «Jubiläumsbücher», die analysieren, was vor 50, 75 oder 100 Jahren auf der Welt geschah. Weil wir uns wieder in einer Zeit verschiedener Krisen befinden – Klimakrise, Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine –, gibt insbesondere das Jahr 1923 Anlass, die Geschichte wieder aufzurollen. Bereits letztes Jahr erschienen in weiser Voraussicht diverse Publikationen, die sich mit dem scheinbar schicksalsträchtigen Jahr auseinandersetzen. Diverse Krisen von damals werden beleuchtet und Parallelen zu 2023 gezogen.
In den Feuilletons werden diese Bücher momentan regelmässig besprochen. So erschien beispielweise im vergangenen Januar im «Spiegel» ein Artikel mit dem Titel «Das deutsche Horrorjahr», in dem das Jahr 1923 als das Jahr der «Polykrise» bezeichnet wird: Hyperinflation, Kampf um Rohstoffe (damals Kohle) und die Ruhrbesetzung durch französische Truppen beherrschten 1923 in der jungen Weimarer Republik den Alltag und konnten so «die Feinde der Demokratie» stärken. Zitiert wird auch Theo Grütter, Direktor des Essener Ruhr Museums, wo zurzeit eine Sonderausstellung («Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-1925», 12.1. –27.8.2023) zu den damaligen Geschehnissen stattfindet. Grütter zufolge war 1923 «ein Trauma, aber es kann uns auch Hoffnung geben». Bezeichnenderweise geht der «Spiegel»-Artikel allerdings nicht weiter auf diese Aussage ein, womit offenbleibt, wie und was denn genau aus den multiplen Krisen von damals für heute gelernt werden könnte.

Bücher zum Jahr 1923 (Auswahl):

Werbung für den Pop Pot Club im poppigen Stil der 60er Jahre (Grafik: Ruedi Schibler zugeschrieben)
Werbung für den Pop Pot Club im poppigen Stil der 60er Jahre (Grafik: Ruedi Schibler zugeschrieben)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Urs Amacher: Der Pop Pot Club 68. Das legendäre Musiklokal für die Jugend in Olten von 1968 bis 1972. Seon, 2022

Auch in Olten machte sich das bewegte Jahr 1968 bemerkbar: Am 20. April wurde in einem Keller ein neues Clublokal mit dem klingenden Namen «Pop Pot Club 68» eröffnet, welches sich schnell zu einer Hochburg des progressiven Rock und Beat entwickeln sollte. Sogar das Schweizer Fernsehen wurde daraufhin auf die jungen «Pop-Potter» aufmerksam: «Auch in Olten steigt die Jugend seit kurzem in dunkle Kellergewölbe hinunter, wenn sie sich ungestört und ausgelassen unterhalten will», lautete der Kommentar im Beitrag der Sendung «Antenne» zur Eröffnung des «Underground-Unternehmens» am 7. Mai 1968, an welchem u. a. der «Gottesmannsänger» Kaplan Flury auftrat.
In den folgenden vier Jahren konnte die Oltner Jugend im Pop Pot Club 68 die Musik der aktuellsten amerikanischen und britischen Beatbands hören, tanzen, selbstgedrehte Filme schauen oder auch an Diskussionsrunden teilnehmen. Das Lokal wurde aber auch überregional ein viel besuchter Ort: «Selbst von Zürich aus fuhren sie mit ihren Amischlitten beim Pop Pot Club vor – manchmal zu siebent in einem rosa Ford Mustang», erinnert sich ein Besucher. Der Club wurde schliesslich geschlossen, da es ab 1970 mehr Konkurrenz gab, die Gründungsmitglieder älter geworden waren und sich neu orientierten.
Der reichhaltig bebilderte Band des Historikers Urs Amacher lässt die Geschichte des Pop Pot Club nochmals aufleben, unter anderem ist auch ein Interview aus dem Jahr 1971 mit Pierre F. Haesler, dem Initianten des Clubs, abgedruckt.

Bestände im Sozialarchiv:

  • QS 10.01 C *1 Alternativkultur, alternative Kulturbetriebe in der Schweiz
  • ZA 10.01 C Kulturpolitik in der Schweiz
  • Ar 683 Archiv der fünf ersten Gurtenfestivals
  • Ar 707 Folkfestival Lenzburg
  • Ar 710 Rolling Stones Archiv: Sammlung Felix Aeppli

Iris Blum: Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz, 1900-1950. St. Gallen, 2022

Über verschiedene Lebensreformbewegungen in der Schweiz, die ihren Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert haben, wurde bereits breit publiziert. So ist beispielsweise das Naturistengelände Thielle der Stiftung «die neue zeit» rund um den Lebensreformer Werner Zimmermann oder auch die Person des «Birchermüesli»-Erfinders Max Bircher-Benner gut erforscht. Die Siedlung Monte Verità im Tessin ist sogar über die Landesgrenzen hinaus berühmt geworden. Zur Lebensreformbewegung der Ostschweiz hingegen wurde bisher weniger geforscht. Die freischaffende Historikerin und Archivarin Iris Blum schliesst diese Lücke mit ihrem neu erschienen Band.
In sieben Kapiteln spürt die Autorin den Lebensentwürfen beinahe vergessener Reformer:innen und Utopist:innen rund um den Säntis nach und legt ein wissenschaftlich fundiertes und spannend erzähltes Buch vor. Man erfährt so unter anderem, dass die ersten Gartenstädte in der Ostschweiz entstanden, nämlich die Kolonien «Waldgut» und «Berghalde» in St. Gallen, oder dass Frauen aus bildungsbürgerlichen Kreisen wie Margrit Forrer-Birbaum durch den Reformtanz bzw. die Ausbildung zur Tanzlehrerin um 1900 eine Chance auf einen eigenständigen Broterwerb hatten. Die Autorin hat für ihre Arbeit auch Quellen aus dem Sozialarchiv herangezogen, insbesondere das Archiv der frühen alternativen alkoholfreien Jugendbewegung der «Wandervögel», von der auch Ortsgruppen in der Ostschweiz existierten.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

  • Ar 19 Wandervogel. Schweizerischer Bund für alkoholfreie Jugendwanderungen
  • Dossier 04.2 Jugendbewegungen: Jugendorganisationen
  • Dossier 04.41 Alternative Lebensgestaltung & Arbeitsgestaltung ; Aussteiger /-innen ; Wohngemeinschaften
  • Zeitschriften aus der Naturistenbewegung von der Stiftung «die neue zeit», Thielle (via swisscovery, Code «E19Thielle»)

René Senenko: «Mit revolutionären Grüßen». Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1919-1945 für eine Welt ohne Ausbeutung, Faschismus und Krieg. Hamburg, 2022

Seit mehr als 150 Jahren werden in Deutschland Postkarten geschrieben. Die Postkarte fristete seither als Quelle aber eher ein Schattendasein – übertrumpft wurde sie meist von ihren glamouröseren Geschwistern: der Fotografie und dem Plakat. Dabei lassen sich anhand der Postkarte Formen einer visuellen Massenkommunikation beschreiben, die bislang oft unberücksichtigt geblieben sind.
Im vorliegenden Band zeichnen über dreissig Autor:innen anhand von Postkarten die Geschichte von proletarischem Sport, Arbeiterkultur und der Arbeiterjugend nach – und auch den Kampf diverser Hamburger Akteur:innen gegen Krieg und Faschismus bis Mitte des 20. Jahrhunderts. So zeigt eine Postkarte beispielsweise Hunderte junge Menschen, die sich 1925 zum 4. Deutschen Arbeiterjugendtag in Hamburg trafen, um dort für bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. In einem anderen Beispiel wird die kommunistische Widerstandskämpferin Anita Vogt vorgestellt, die während der NS-Zeit festgenommen wurde und von ihrer mutigen Grossmutter Postkarten im Gefängnis erhält. Die Postkarten decken also sowohl visuell wie auch textlich ein breites Feld zwischen historisch bedeutsamen Ereignissen und privatem Engagement ab.

Eva Demski: Mein anarchistisches Album. Berlin, 2022

«Gott will es so. Der Staat will es so. Dein Vater will es so. Warum aber ist da ein Oberes, Unsichtbares, das mir sagt, was ich zu tun, zu lassen, zu denken, zu glauben, was ich zu arbeiten und wen ich zu lieben habe? Der Anarchismus setzt uns auf ein politisches und philosophisches Karussell, von dem man nicht weiss, wann es anhält. Der Anarchismus gibt sich nicht zufrieden mit dem, was ist. Er will das Ende von Gewalt und von Herrschaft. Er will ein Leben vor dem Tod.» So steht es im Klappentext und so stehen die Sätze auch im Buch.
Eva Demski hat die spannende Geschichte des Anarchismus durchstreift. Sie erinnert an Michail Bakunin, Erich Mühsam und Emma Goldman, erzählt von anarchistischen Uhrmacher:innen des 19. Jahrhunderts (der dazugehörige Film «Unrueh» läuft zurzeit im Kino), von fortschrittlichen Fürst:innen und Entdecker:innen wie Isabelle Eberhardt; sie erinnert an fast vergessene Dichter:innen und versucht, den Sisi-Mörder Luigi Lucheni zu begreifen. Sie erwähnt Herbert Achternbusch, der behauptet, in Bayern gäbe es sechzig Prozent Anarchist:innen und die würden alle CSU wählen. Es fällt ihr auf, dass in libertären Biografien immer wieder von zwei Ländern die Rede ist, nämlich von Sibirien und von der Schweiz.
So ist ein buntes Album mit Momentaufnahmen aus verschiedenen Epochen entstanden. Illustriert ist das Buch mit vielen Fotos. Sie sind die Ausbeute zahlreicher Expeditionen, die Eva Demski mit der Fotografin Ute Dietz unternommen hat.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):
Bibliothek:

  • Emma Goldman: Gelebtes Leben. Autobiografie. Hamburg 2010, 123464
  • Isabelle Eberhardt: Sandmeere. Frankfurt 1981, 70256: 1-4
  • Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2018, 140427
  • Nino Kühnis: Anarchisten! Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen. Zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885–1914. Bielefeld 2015, 131409

Sachdokumentation:

  • KS 335/431 Schriften von und über Michail Bakunin
  • KS 335/77c-11 Kresenzia Mühsam: Der Leidensweg Erich Mühsams. Zürich 1935
  • ZA 04.9 Lu-Lus Zeitungsartikel zu Luigi Lucheni

Taras Kuzio: Russian Nationalism and the Russian-Ukrainian War. Autocracy – Orthodoxy – Nationality. London, 2022

This book by the British-Ukrainian political scientist Taras Kuzio was published at the beginning of 2022, and almost immediately was put to the test by the upcoming Russian invasion. A year later, it is safe to say that Kuzio’s work is on point and captured vividly the state of Ukrainian-Russian relations through the last centuries and before the recent aggression.
The author argues, that the reasons for the ongoing war are rooted in the present-day Russian national identity, which paradoxically is ethnocentric, yet projects itself on other ethnic groups. To find out more about Russian nationalism, its development, and possible future shifts it is highly recommended to read this book.

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Essays. Köln, 2022

Die Ukraine und ihre zutiefst tragische Geschichte ist einem nach der Lektüre der Texte von Tanja Maljartschuk sehr nah und vertraut. Mit wenigen Sätzen öffnet sich eine ganze Welt. «Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus» ist eine Zeile aus dem Essay «Beten und Schimpfen: eine sentimentale Notiz zum ‘Karpatenkarneval’ von Juri Andruchowytsch» aus dem Jahr 2019. Darin schreibt die Autorin über den Roman «Karpatenkarneval» ihres ukrainischen Schriftstellerkollegen und kommt zum Schluss, dass das Buch «eigentlich kein Buch mehr, sondern eine Epoche [ist] und so sollte es vielleicht gelesen werden. Wie eine vergnügliche Pause zwischen den finsteren Vorkommnissen. Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Ein Gedicht, ein Witz, ein Glas. Wir lachen, obwohl die Nacht hinter jedem Einzelnen tief und schwarz steht.»
Die ältesten Texte stammen von 2014, der Zeit der Maidan-Proteste. Eine Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs, aber auch das Jahr der Annexion der Halbinsel Krim. Die neuesten erschienen nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Zunächst ist es der Autorin unmöglich weiterzuschreiben. Doch eines ist klar: Erzählt werden muss – gerade, wenn Brutalität und Barbarei sprachlos machen. «Wie man über die Unmöglichkeit des Schreibens schreiben kann» ist denn auch der Titel eines Essays vom Mai 2022. Wir können froh sein, dass Tanja Maljartschuk nicht verstummt ist.
Die ukrainische Journalistin und Schriftstellerin Tanja Maljartschuk lebt seit 2011 in Wien.

Heimeltern Grimm mit Kindern, ca. 1918 (Foto aus der Sammlung Gattiker)
Heimeltern Grimm mit Kindern, ca. 1918 (Foto aus der Sammlung Gattiker)

24.2.2023, 18.30 Uhr: Fassaden und Innenwelten – das Waisenhaus von Richterswil

Buchpräsentation mit der Autorin Lisbeth Herger, dem Autor Heinz Looser und dem ehemaligen Heimkind Werner Jost

Während eines halben Jahrhunderts wurden im Waisenhaus von Richterswil um die 300 Mädchen und Buben zur Erziehung untergebracht. Die meisten waren von verarmten oder überforderten Eltern getrennt und im Heim fremdplatziert worden. Sie kamen aus dem Dorf, aus der Umgebung, aber auch aus Zürich und von anderswo. Abgeschirmt vom Dorf wurden sie auf ihrer Heiminsel erzogen, gezüchtigt, zur Arbeit ertüchtigt. Drei Generationen von Heimeltern führten das Waisenhaus in unbestrittener Autorität.

Wie erlebten die Kinder ihre «Familie» im Heim? Wie gestaltete sich ihr Alltag hinter der Pforte der prächtigen Villa am See? Und wie war es möglich, dass unerträgliche Gewalt von den Aufsichtsbehörden gebilligt und gedeckt wurde? Die Gemeinde Richterswil hat sich entschieden, die Geschichte des Waisenhauses aufzuarbeiten. Mit einer Ausstellung im Juni 2021 und mit einem Buch, das die Materialien dieser Ausstellung lesefreundlich und reich illustriert in einem Text-Bildband präsentiert.

Freitag, 24. Februar 2023, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Garnprobe bei den Emser Werken, um 1940 (Foto: Urheber:in unbekannt / SozArch F 5031-Fb-0047)
Garnprobe bei den Emser Werken, um 1940 (Foto: Urheber:in unbekannt / SozArch F 5031-Fb-0047)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Regula Bochsler: Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Zürich, 2022

«Nylon und Napalm » erzählt die spannende Geschichte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Die 1936 gegründete Firma «Holzverzuckerungs AG» (HOVAG) produzierte mit staatlicher Unterstützung einen Ersatztreibstoff, im Volksmund «Emser-Wasser» genannt. Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das im Vergleich zum Benzin qualitativ schlechtere «Emser-Wasser» zu teuer und es mussten neue Umsatzmärkte erschlossen werden.
Mithilfe von Industriespionage und ehemaligen Chemikern aus Nazi-Deutschland – unter ihnen auch verurteilte Kriegsverbrecher – baute Oswald in Domat/Ems eine Kunstfaserproduktion auf. Daneben wurden aber auch Flab-Raketen, Minen und Zünder sowie die Napalm-Variante «Opalm» entwickelt und hergestellt. Da der Export von «Opalm» vom Bund verboten wurde, liess Werner Oswald die Brandbomben in Deutschland produzieren. «Opalm» wurde in mehreren Bürgerkriegen in Südostasien und Jemen eingesetzt. Von der Existenz des «Opalms» erfuhr die Autorin durch Zufall über den Nachlass eines ehemaligen Chemikers der Ems-Chemie. Der Zugang zum Firmen-Archiv der Ems-Chemie blieb Regula Bochsler aber verwehrt.

Jessikka Aro: Putins Armee der Trolle. Der Informationskrieg des Kremls gegen die demokratische Welt. München, 2022

Im Februar 2017 flüchtete die finnische Journalistin Jessikka Aro aus ihrer Heimat. Seit 2014 hatte sie über Web-Trolle des Putin-Regimes recherchiert. Nach der Publikation ihres ersten Artikels begann eine Verleumdungskampagne, die zweieinhalb Jahre anhielt und von telefonischen, digitalen und physischen Belästigungen bis hin zu Morddrohungen begleitet war.
Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Leidensgeschichte stellt Aros Buch Strategien, Methoden und Reichweite der Trollfabriken dar. Im Vordergrund stehen dabei nicht deren bekannte Kampagnen wie in der Ostukraine im Vorfeld der Errichtung der Marionetten-«Volksrepubliken» 2014, beim Brexit-Referendum oder den amerikanischen Wahlen 2016. Der Fokus liegt auf Attacken gegen verschiedene Persönlichkeiten und Organisationen seit 2005. Als häufigste, von klassischen Propaganda- und Geheimdienstmethoden entlehnte Techniken identifiziert Aro den «faulen Hering» (einer Zielperson durch falsche Beschuldigungen einen «üblen Geruch» anheften), die «grosse Lüge» (Behauptungen verbreiten, die so unfassbar sind, dass sie für nicht erfunden gehalten werden) sowie das «Prinzip 40 zu 60» (40% Falschinformationen unter 60% Fakten mischen).
Das Buch ist im Original 2019 erschienen. Die intensive Tätigkeit der putinistischen Trolle während der Corona-Pandemie und seit dem Überfall auf die Ukraine ist noch nicht abgedeckt. Die Lektüre empfiehlt sich trotzdem und schärft auch den Blick für Troll-Aktivitäten im helvetischen Cyberspace.

Weitere Literatur zum Thema:

  • Clack, Timothy und Robert Johnson (Hg.): The world information war: Western resilience, campaigning and cognitive effects. London/New York 2021, 147682
  • Davydiuk, Mykola: Wie funktioniert Putins Propaganda? Anmerkungen zum Informationskrieg des Kremls. Stuttgart 2021, in Bearbeitung
  • Fridman, Ofer: Russian «hybrid warfare»: Resurgence and politicisation. London/Oxford 2018, 140268
  • Jasper, Scott: Russian cyber operations: Coding the boundaries of conflict. Washington D.C. 2020, 145333
  • Jaster, Romy und David Lanius: Die Wahrheit schafft sich ab: Wie Fake News Politik machen. Ditzingen 2019, 141247 Ex.2
  • Limonier, Kevin: Ru.net: Géopolitique du cyberspace russophone. Paris 2018, 142675
  • Mueller, Robert S.: Der Mueller Report. Berlin 2019, 143073
  • Payton, Theresa: Manipulated: Inside the cyberwar to hijack elections and distort the truth. Lanham 2020, 145628
  • Reimon, Michel und Eva Zelechowski: Putins rechte Freunde: Wie Europas Populisten ihre Nationen verkaufen. Wien 2017, 142864
  • Schaeffer, Ute: Fake statt Fakt: Wie Populisten, Bots und Trolle unsere Demokratie angreifen. München 2018, 139305
  • Van Herpen, Marcel H.: Putin’s propaganda machine: Soft power and Russian foreign policy. Lanham 2016, 125837
  • Yablokov, Ilya und Precious N. Chatterje-Doody: Russia Today and Conspiracy Theories: People, Power and Politics on RT. London/New York 2022, 148053

Kim, Dong-Jin, and David Mitchell: Reconciling Divided States. Peace Processes in Ireland and Korea. London, 2022

This book is a compilation of essays that presents a complex image of the peacebuilding process in Ireland and Korea through various perspectives such as the origins of the struggle, achieved agreements, socio-economic development, and many others. During the course of the book, we get acquainted with relatively different experiences. Yet, they still have similarities that allow us to spot the main patterns of peace-making, while not generalizing each case.
A separate mention goes to the chapter which describes outcomes of different peace-making strategies such as political agreement in Northern Ireland, the military armistice in the Korean Peninsula, and military force in Sri Lanka. It might not be the most obvious idea to compare the socio-political struggles of two countries that lie apart for more than 8’000 km, however, this is something that we certainly need and will be using as an insight book while navigating the current world of international relations.

Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuss auf dem Fluchtweg meines Vaters. München, 2022

Aus Angst vor der Roten Armee flüchtet der Vater von Christiane Hoffmann 1945 aus dem kleinen Dorf Rosenthal in Schlesien, dem heutigen polnischen Różyna. 75 Jahre später, nach dem Tod ihres Vaters, beschliesst die Tochter, den Weg zu erwandern, 550 km nach Westen. Es wird ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben. Die Journalistin läuft bis an ihre physischen und psychischen Grenzen durch die Albträume ihrer Kindheit, um zu erinnern, was der Vater vergessen hat. Das Buch verschränkt ihre Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg. Sie fragt sich, wie Familien, Gesellschaften mit der Vergangenheit umgehen und was heute vom Fluchtschicksal bleibt. Der Bericht hat eine ungeahnte Aktualität erhalten und bestätigt Christiane Hoffmanns Aussage, dass «der Schrecken höchstens für zwei Generationen» hält.
Christiane Hoffmann studierte Slawistik, Geschichte und Journalistik und arbeitete als Journalistin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Spiegel. Seit Januar 2022 ist sie erste Stellvertretende Sprecherin der deutschen Bundesregierung. Sie ist mit Tim Guldimann, dem früheren Schweizer Diplomaten, verheiratet.

Wolfgang Bauer: Am Ende der Strasse. Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern. Eine Reportage. Berlin, 2022

Kaum ein deutscher Journalist kennt Afghanistan so gut wie Wolfgang Bauer. Der Reporter der Wochenzeitung «Die Zeit» war regelmässig vor Ort und kehrte auch nach dem Fall Kabuls im August 2021 noch einmal in das Land zurück. Er bereiste die afghanische Ring Road, einen 2’200 Kilometer langen kreisförmigen Highway, der die wichtigsten Städte des Landes miteinander verbindet. Durch diese Reisen versucht der Autor, «ein Land zu verstehen, das mich provoziert, mit meinen Werten in Frage stellt, mich verwirrt, nach vielen Jahren noch».
Wolfgang Bauer sucht also nochmals Schauplätze auf, die er seit seiner ersten Reise kurz nach den Anschlägen in den USA am 11. September 2001 besuchte. So berichtet er beispielsweise aus Kandahar, der «inoffiziellen Hauptstadt». Neben Zehntausenden Klimaflüchtlingen, die aufgrund der extremen Trockenheit im Land Zuflucht gesucht haben, hat auch die Binnenvertreibung wieder stetig zugenommen. Bauer erzählt von diesen Menschen und versucht auch die Rolle des Westens zu ergründen. Obwohl es in diesem geschundenen Land wenig Grund zur Zuversicht gibt, verfolgt der Autor mit seinem Buch das Ziel, «die Hoffnung wiederzufinden».

Adrian Juen: Die häusliche Ordnung schulischer Pädagogik. Zur Praxis der Hauswarte und Hausmütter an den Zürcher Lehrer:innenseminaren, 1900-1950. Zürich, 2022

Was heute der «Facility Manager» ist, war früher – zumindest in den Schulhäusern – der «Abwart» (Frauen waren wohl eher als die «Frau vom Abwart» anzutreffen). Auch an den Zürcher Lehrer:innenseminaren Küsnacht, Unterstrass und an der Höheren Töchterschule wirkten zwischen 1900 und 1950 zahlreiche Hauswarte und eben auch Hausmütter. Bei ihnen handelt es sich um kaum erforschte Akteur:innen – dabei ist eine Schule ohne sie nicht denkbar. Wie heute noch regulierten sie den Zugang zu den Gebäuden, waren für die Reinigung verantwortlich und kontrollierten Heizung, Beleuchtung und Wartung der Schulanlagen. Sie beaufsichtigten zudem die Schüler:innen und waren oft Respektspersonen – im positiven wie negativen Sinn.
Die Dissertation von Adrian Juen untersucht das Wirken der Hauswarte an den Zürcher Lehrer:innenseminaren, die über gut dokumentierte und umfassende Archivbestände verfügen. Dabei geht der Verfasser der Frage nach, inwiefern Hauswarte und Hausmütter die Schulen mit ihren komplexen Sozialgefügen prägten, und es werden auch persönliche Geschichten erzählt. Es geht um den undefinierbaren «Schulhausgeruch», der uns noch allen in der Nase steckt, oder um den Hygienediskurs, der die Schulhäuser seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfasste.

Bestände in der Sachdokumentation des Sozialarchivs:

  • Dossier 14.0 *P Erziehung, Pädagogik
  • Dossier 15.0 Schule, Volksschule; Schulsysteme, Schulpolitik

25.11.2022, 18.30 Uhr: Bevor Erinnerung Geschichte wird

Überlebende des NS-Regimes heute

Buchpräsentation mit Autorin Simone Müller und Zeitzeugin Betty Brenner

Simone Müller porträtiert 14 jüdische Menschen sowie eine Zeugin Jehovas, die zwischen 1923 und 1942 geboren wurden und als Kinder oder Jugendliche Hitlers Terrorregime überlebten. Sie gehören zur jüngsten Überlebenden-Generation und zur einzigen, die jemals erfährt, wie sich Verfolgung, Flucht oder Inhaftierung im Konzentrationslager achtzig Jahre später auf das Leben im Alter auswirken.

Die Erfahrungen der Porträtierten, die aus unterschiedlichen europäischen Ländern und sozialen Schichten stammen, decken ein breites Spektrum ab. Die Zeitzeug:innen erzählen zum Beispiel von einer unbeschwerten Kindheit in einer grossen Schneiderfamilie, vom Aufwachsen als Einzelkind oder von Jugendjahren in einer jüdischen Familie, in der Religion kaum eine Rolle spielte. Unterschiedlich ist auch, wie sie überlebt haben, versteckt in einem katholischen Kloster, auf der Flucht in den Bergen, im Vernichtungslager Auschwitz.

Freitag, 25.11.2022, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Genossenschaftsdruckerei Zürich (gdz), 1952 (Foto: Ernst Koehli / SozArch F 5144-1043-Nb-001)
Genossenschaftsdruckerei Zürich (gdz), 1952 (Foto: Ernst Koehli / SozArch F 5144-1043-Nb-001)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Adrian Knoepfli: gdz – Am Anfang war die Zeitung. Geschichte der Genossenschaftsdruckerei Zürich 1898–2022. Zürich, 2022

Die Genossenschaftsdruckerei Zürich (gdz) entstand 1898, als sich die aufstrebende Arbeiterbewegung daran machte, eigene Zeitungen und eigene Druckereien zu gründen. Mit der Gründung der gdz erschien am 1. April 1898 auch die erste Ausgabe des «Volksrecht». Die Anfänge gestalteten sich schwierig, doch bald entwickelte sich die gdz zu einem Grossbetrieb mit einem renommierten Namen, in dem zudem gute Arbeitsbedingungen herrschten. Technisch auf der Höhe der Zeit, gehörte die gdz zum Beispiel beim Rollenoffsetdruck und beim Filmsatz zu den Pionieren.
Eine Zäsur stellte in den 1970er Jahren die Einstellung der sozialdemokratischen Tageszeitung «Volksrecht» – zwischenzeitlich hiess sie auch «Zürcher AZ» – dar, die sich nicht mehr finanzieren liess. Die Strukturkrise der 1990er Jahre, die wirtschaftlichen Krisen im neuen Jahrtausend, das Internet, die Digitalisierung und die massive Verlagerung von Druckaufträgen ins Ausland führten schliesslich zum Entscheid, die Produktion 2019 einzustellen und die Firma zu liquidieren.
Der Historiker Adrian Knoepfli zeichnet die Geschichte der gdz nach; zahlreiche Bilder aus dem Nachlass des Zürcher Fotografen Ernst Koehli, der im Sozialarchiv archiviert ist, illustrieren die Untersuchung.

Bestände im Sozialarchiv:

  • Ar 568 Vereinigung der Genossenschaftsdruckereien der Schweiz (VGDS)
  • F 5144 Nachlass Ernst Koehli (1913-1983)

Susan Honegger, Christine K. Gubler: Spinnerei. Glarus, 2022

In den 1970er Jahren lebte die Autorin Susan Honegger als junge Kunst- und Architekturstudentin im Glarner Hinterland in einer alten Textilfabrik und war fasziniert von dieser Gegend, die stark von der Textilindustrie geprägt war. Dabei interessierte sie auch die Rolle der italienischen Fremdarbeiterinnen, deren Geschichte sie nun in der Form einer Graphic Novel erzählt.
Die Hauptrolle spielt Maria Santi, eine fiktive Textilarbeiterin aus Italien. Als billige Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen, können die jungen Arbeiterinnen je nach Auftragslage beliebig entlassen und wieder zurückgeholt werden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken sind hart, gewohnt wird in einem von Nonnen geführten Mädchenheim. Als Maria schwanger wird, wird sie dazu gedrängt, das Kind zur Adoption freizugeben. Die Geschichte findet dann trotzdem ein überraschendes Happy End – was der Ernsthaftigkeit des Themas aber keinen Abbruch tut.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

  • Dossier 02.3 C «Ausländerfrage»; Einwanderung; multikulturelle Gesellschaft: Schweiz
  • Dossier 75.8 C Ausländische Arbeitskräfte, Gastarbeiter/-innen in der Schweiz
  • Ar 108 Nachlass James Schwarzenbach (1911–1994)
  • Ar 40 Federazione Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS)

Thomas Färber: Protest mit der Schreibmaschine. «Splitter der Erinnerung» zu Walter Matthias Diggelmann. Zürich, 2021

Thomas Färber zeichnet das Leben dieses streitbaren Schriftstellers und Nonkonformisten nach und liefert zugleich neue Einsichten in das politische und kulturelle Klima der 1960er und 1970er Jahre. Walter Matthias Diggelmann gehörte einer Gruppe von Intellektuellen an, «die sich frevelnd über helvetisches Selbstverständnis hinwegzusetzen pflegen», wie Frank A. Meyer, der heutige Kolumnist des Sonntagblick, es 1968 formulierte. Oder wie es Peter Höltschi, ein Wegbegleiter, beschrieb: «Da war einer, der wild um sich schlagend seine private Wahrheit verbreitete, ohne Rücksicht auf Verluste, wohl wissend, dass es die ganze Wahrheit doch nicht gibt.» Er war ein Berserker mit all seinen Widersprüchen, der sich unter anderem auch immer wieder mit der NZZ anlegte. Diese Querelen kosteten seiner Partnerin, der Journalistin und Schriftstellerin Klara Obermüller, schliesslich ihre Stelle als Feuilletonredakteurin bei der NZZ.
Das Buch, eine überarbeitete Dissertation, zeigt, wie aus dem unehelich geborenen, in bäuerlichen Verhältnissen aufgewachsenen Walter Matthias Diggelmann ein Schriftsteller, Kolumnist und Schreibhandwerker wurde, der leider zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.

Kleine Auswahl der zahlreichen Bücher von Walter Matthias Diggelmann im Sozialarchiv:

Mychailo Wynnyckyj: Ukraine’s Maidan, Russia’s war. A chronicle and analysis of the revolution of dignity. With a foreword by Serhii Plokhy. Stuttgart, 2019

As you are reading this review, Ukraine is bravely fighting for its freedom for the seventh month. Or as they say in Ukraine: «It is the 7th month of a full scale invasion, of the 8-year war, that has been going on for the last 3 hundred centuries.» Such a long-time struggle, unfortunately, but inevitably, creates a large field for speculations, disinformation and simple lies. The shocking reality of war in Europe starts to seem mundane and not clear. Naturally, this state of things does not move us to the end of the aggression. Yet, what we can do is to deepen the knowledge and understanding of the real reasons behind current events.
A great help in this regard is the book of Mychailo Wynnyckyj, a prominent Ukrainian sociologist, historian and professor. As the nowadays invasion and ongoing war is a reaction to Ukraine’s Revolution in 2014, Wynnyckyj does a huge job by not only describing the events of the Revolution of Dignity, but also analysing it and defining its role in European and world history. It is extremely interesting to read this book as it points at phenomena of the Ukrainian Revolution, such as the lack of formal protest leaders, as well as debunking the vast majority of Russian myths that are spread by the propaganda.
Throughout his work, Mychailo Wynnyckyj keeps a constant connection between Ukrainian and Western narratives, comparing the events to European and American Revolutions. As the Russian war continues in Ukraine, we may assume that a big force is needed to fight the big changes. And if you want to discover what’s at stake in Ukraine it is highly recommended to read this book.

Dipesh Chakrabarty: Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Berlin, 2022

Die Klimaerwärmung ist nicht nur ein physikalisches Phänomen, die Klimakrise stellt auch unsere «condition humaine» auf den Kopf. Und die Forderung nach «Klimagerechtigkeit» (Wer ist für den Klimawandel verantwortlich? Wer ist am stärksten davon betroffen?) macht evident, dass die Massnahmen, mit denen die Weltgemeinschaft auf die Krise zu reagieren versucht, in höchstem Mass politisch und politisch höchst brisant sind.
Der indische Historiker entwirft in seinem Buch einen geisteswissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der es ermöglichen soll, sich den Herausforderungen der Klimakrise mental und politisch zu stellen. Dazu entwickelt er zuerst, in Abgrenzung zum «Globus», die Kategorie des «Planeten». Die beiden nebeneinander existierenden Grössen zwingen zu einer chronologischen Doppelperspektive: Neben das unbefristete Projekt der Moderne mit ihren Zukunftsversprechen tritt das begrenzte Zeitfenster zur Bewältigung der Klimakrise; neben die überlieferte humanozentrische Geschichtsschreibung tritt die Tiefenhistorie der biologischen und geologischen Evolution, die den Menschen dezentriert; neben die Menschen als politische Subjekte und in ihrer internen Pluralität tritt der Mensch als «geologischer Handlungsträger», der als Spezies Verursacher des Anthropozäns ist.
Als Ausgangspunkt wählt Chakrabarty einen Aufsatz, den er bereits 2009 veröffentlicht hatte und der damals im Umfeld der postkolonialen Geschichtswissenschaft für heftige Kontroversen sorgte.

Tanja Polli und Ursula Markus (Fotos): Die Unsichtbaren. Sans-Papiers in der Schweiz. Zürich, 2021

«Viele Sans-Papiers sprechen nicht über die Angst, kontrolliert und ausgewiesen zu werden, doch sie frisst dein Leben auf.» Maria, 62, Hausarbeiterin und Sans-Papiers
Ungefähr 100’000 Sans-Papiers (Migrant:innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus) leben und arbeiten in der Schweiz, das sind 1,2 Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen: in privaten Haushalten, auf Baustellen, in Restaurants oder bei Bauern – meist zu skandalös tiefen Löhnen und ohne arbeitsrechtlichen Schutz und Sozialversicherungen. Gemäss einer Studie des Migrationsamts des Kantons Zürich und des Amts für Wirtschaft verrichten Sans-Papiers in der Schweiz bis zu 50 Prozent der bezahlten Hausarbeit. Sie sind systemrelevant, der Zugang zu grundlegenden Menschenrechten ist ihnen aber verwehrt.
In 15 Interviews erzählen Frauen und Männer ihre Geschichte – besonders berührt diejenige der Schülerin Haveen, der die Anmeldung zur gymnasialen Eintrittsprüfung verwehrt wurde. Bei der Arbeit an diesem Buch haben sie und ihre Mutter den Ausweis F erhalten und sind damit keine Sans-Papiers mehr, aber auch mit diesem Status ist es fast unmöglich, eine Lehrstelle zu bekommen.
Nebst den Interviews mit Sans-Papiers machen Gespräche mit Expert:innen wie der Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle (SPAZ) das Buch zusätzlich lesenswert. Die Fotografin Ursula Markus findet für diejenigen Sans-Papiers, die ihre Identität nicht preisgeben können, eine gelungene diskrete Form des Porträtierens.

Putzfrau in der Textilfabrik Schoeller, Derendingen, 1986 (Foto: Hansjörg Sahli/SozArch F 5031-Fb-0082)
Putzfrau in der Textilfabrik Schoeller, Derendingen, 1986 (Foto: Hansjörg Sahli/SozArch F 5031-Fb-0082)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Marianne Pletscher, Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz. Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer. Zürich, 2022

Von den über 200’000 Menschen, die in der Schweiz Reinigungsarbeiten verrichten, sind die meisten Migrant:innen. Oft nehmen wir sie nicht wahr, sondern stellen höchstens fest, dass unsere Büros am Morgen wieder sauber, die Restauranttoiletten geputzt oder im Spital alles frisch desinfiziert ist. Da die meisten dieser Menschen dauerhaft in der Schweiz bleiben, tut es not, «sie besser kennenzulernen», wie die Autorin im Vorwort treffend schreibt.

In ihren Reportagen porträtieren Marianne Pletscher und Marc Bachmann neun Personen und ein Ehepaar, die in der Tieflohnbranche der Reinigung tätig sind oder waren. Da ist beispielsweise Rosa mit Jahrgang 1956 aus Süditalien, die bereits seit 1974 in der Schweiz lebt und damals als Reinigungskraft mit sieben Franken Stundenlohn begann. Sie kam zu einer Zeit in die Schweiz, in der die Fremdenfeindlichkeit grassierte – die «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach war erst vier Jahre zuvor knapp abgelehnt worden. Nura aus Bosnien, die im Buch auch ihre Erlebnisse während des Bosnienkriegs erzählt, kam 2002 in die Schweiz. Sie putzt 15 bis 20 Haushalte und ist inzwischen, nach einer langen Odyssee, bei einer Firma mit fairen Arbeitsbedingungen angestellt.

Noch heute beschäftigen viele private Haushalte Reinigungskräfte «schwarz», also unter illegalen und menschenunwürdigen Konditionen. Auch gegen diesen Missstand möchte das Buch ein Zeichen setzen.

Abstand von Protest oder Protest auf Abstand? Soziale Bewegungen in der Covid-19-Pandemie. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Band 34, Heft 2. Berlin/Boston, Juni 2021

Die Pandemie als multiple Krise hat Fragen von Vulnerabilität und sozialer Ungleichheit, aber auch von Solidarität wieder ins Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gerückt. Wie soziale Bewegungen – vornehmlich in Deutschland – auf die Krise reagier(t)en, wie sie ihre Arbeitsweisen und Aktionsformen an die aussergewöhnlichen Umstände anpass(t)en, beleuchtet die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift «Forschungsjournal Soziale Bewegungen».

Zum Beispiel anhand der «Fridays for Future»-Bewegung, die auf digitale Aktionsformen zurückgriff und auf digitalen Plattformen zum Klimastreik vom 25. September 2020 aufrief; oder anhand der rechtspopulistischen PEGIDA, welche durch virtuellen Protest auf sich und ihre Anliegen aufmerksam machte und mitunter den Bogen zur regierungskritischen «Querdenker»-Bewegung schlug. Und schliesslich entstand quasi im Eiltempo eine neue Bewegung, welche sich weltweit gegen die Pandemie-Massnahmen richtete und nicht davor zurückschreckte, sich teilweise die Symbolik der extremen Rechten anzueignen.

Alle Beispiele zeigen die Zusammenhänge zwischen sozialen Bewegungen, Krisensituationen und Mobilisierung auf. Das Heft widerspiegelt den aktuellen Forschungsstand und belegt mit vielen Fallstudien, wie widerstandsfähig soziale Bewegungen auch in Krisenzeiten sind.

Siehe auch:
corona-memory.ch: partizipatives Archiv, das persönliche Momentaufnahmen zur Coronavirus-Pandemie in der Schweiz sammelt
Dossier 64.0 *8 Medizin: Krankheiten in der Sachdokumentation des Sozialarchivs

Mykhailo Minakov, Georgiy Kasianov, Matthew Rojansky (Hrsg.): From «the Ukraine» to Ukraine. A contemporary history, 1991-2021. Stuttgart, 2021

«The history of Ukraine is about losing the article» – that short but in-depth definition was given by the Ukrainian historian Yaroslav Hrytsak.

It was standard in the English-speaking world to refer to this Eastern European country as «The Ukraine» till its independence in 1991. Before this time, Ukraine was never fully an object of international politics. This small change in naming however identifies the development of the country which is now fighting to keep its independence.

Before February 2022, the Russian unleashed war in Ukraine wasn’t well understood in Europe, still, the recent full-scale invasion cleared up the situation. Obviously, Russia’s aggression toward Ukraine aims not only to destroy and annex the neighboring state but also to challenge the democratic world.

As we’re holding our breaths waiting for the outcome, we might as well enjoy reading this book, which can answer an important question: Why is a recent Russian ally now fighting against it to protect European values? The collective of authors made a huge effort to analyze different aspects of Ukraine’s history over the last 30 years. From political development to the shaping of a new Ukrainian national identity. This clearly written book is a toolkit that will help you understand the struggles of modern Ukraine and its perspectives.

Arbeitslosenkomitee der Region Basel (Hrsg): Surprise. Das Strassenmagazin. Basel, 1995-

Seit mehr als zwanzig Jahren gibt das «Surprise»-Magazin aus Basel der Armut im Land eine Stimme. Das Magazin ist vielleicht das landesweit einzige Blatt, das mehr Käufer:innen als Leser:innen hat, denn es wird oft nur aus Solidarität gekauft. Dies ist schade, denn es ist gut recherchierter, anwaltschaftlicher Journalismus mit Tiefgang und Qualität. Das Redaktionsteam setzt Schwerpunkte, die eng mit der Lebensrealität der Verkaufenden zusammenhängen (Schulden, Sucht, Ängste, Ausgrenzung), geht aber auch auf aktuelle Themen ein – spannend, ungewohnt und erfrischend.

So nahm sich das Surprise-Team in der Ausgabe Nr. 515, noch zu Zeiten coronabedingter Einschränkungen, ein sehr schweizerisches Thema vor, den «Konsens». Sechs Personen versuchten, sich über folgende drei Fragestellungen zu einigen: das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer:innen, die Klimaveränderung und den politischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Nicht immer gelang es, einen Konsens zu finden.

Surprise Nr. 517 widmete die Titelgeschichte dem Land «Somalia», nachdem sich Surprise-Verkäufer:innen zunehmend besorgt gezeigt hatten, was in ihrem Land geschah und noch geschehen könnte. Der ausgewiesene Afrika-Kenner Marc Engelhardt schrieb über «Warlords, Islamisten, Investoren». Das gleichnamige Buch befindet sich übrigens in unserer Bibliothek.

Surprise Nr. 521 wiederum brachte Fotoreportagen aus der Ostukraine, eine aus dem regierungskontrollierten Gebiet und eine aus dem prorussischen, separatistischen Gebiet. Sie entstanden in den Jahren 2019 und 2020 und zeigen, dass der Krieg für diese Menschen schon lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine begann.

Alle gedruckten Surprise-Ausgaben können Sie bei uns ausleihen, aber noch besser ist es, Sie kaufen ein Exemplar und unterstützen damit die Verkaufenden und das Magazin.

Laura Backes, Margherita Bettoni: Alle drei Tage. Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen. München, 2021

Jeden Tag im Jahr 2019 versuchte in Deutschland ein Mann, seine Frau umzubringen. Alle drei Tage wurde dabei eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Das ist die erschreckende Bilanz einer Statistik, die die Journalistinnen Laura Backes und Margherita Bettoni für den Titel ihres Buches inspiriert hat. Bei diesen Verbrechen handelt es sich nicht um «Ehrenmorde» oder «Beziehungstaten», sondern um Femizide: Morde, verübt an Frauen, weil sie Frauen sind.

Doch wieso wird kaum über dieses Problem gesprochen? Oftmals als Familientragödien verharmlost, bleiben viele dieser Frauenmorde verborgen und die patriarchalen Macht- und Gewaltmuster, die sich tief durch unsere Gesellschaft ziehen, verdeckt.

Laura Backes und Margherita Bettoni brechen das Schweigen und geben in Form von Protokollen vor allem den Femizid-Überlebenden eine Stimme, die sich als roter Faden durch das Buch zieht. Sie gehen zusätzlich analytisch den Fragen nach, weshalb es zu einer solchen Tat kommt, wie sie abläuft, was nach einem Femizid passiert und wie das Umfeld der Opfer damit umgeht. Auf notwendigerweise bestürzende Art klären die Autorinnen über Femizide auf und liefern den Beweis dafür, dass Femizide ein politisches sowie gesamtgesellschaftliches Problem darstellen – bei uns und weltweit. «Alle drei Tage» ist Schock und Aufklärung zugleich.

Franco Ruault: «Baummord». Die staatlich organisierten Schweizer Obstbaum-Fällaktionen 1950-1975. Frauenfeld, 2021

Als Alternative zur industriellen Landwirtschaft mit ihren biodiversitätsfeindlichen Monokulturen hört man heute vermehrt (wieder) von der «Agroforstwirtschaft», einer Anbaumethode, bei der Nutzpflanzen wie Getreide oder Gemüse mit Bäumen kombiniert werden, wodurch der Artenreichtum gefördert, der Wasserhaushalt stabilisiert und der Boden vor Erosion und Degradation geschützt werden kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte man das landwirtschaftliche Heil genau in der entgegengesetzten Richtung, weg von der damals noch «Feldobstbau» genannten Mischkultur: Auf Anordnung des Bundes mussten ab 1950 Hundertausende Hochstammobstbäume gefällt werden. Ziel war die «Umstellung» auf eine «brennlose Obstverwertung» bzw. auf die nachfragegerechte Produktion von marktkonformem Tafelobst in effizient zu bewirtschaftenden Niederstammplantagen. Den Hintergrund bildete das 1932 in Kraft getretene Alkoholgesetz, in dessen Folge der Obstanbau durch die Alkoholverwaltung reguliert wurde. Diese machte mit der neu erhobenen Alkoholsteuer zwar Einnahmen, mit der Übernahmegarantie der Obstüberschüsse im Gegenzug aber Millionenverluste.

Besonders betroffen war das «Obstparadies» Thurgau, an dessen Beispiel Franco Ruault diese martialische staatliche Massnahme genauer untersucht hat. Der Historiker hat schriftliche Quellen ausgewertet, aber auch Interviews mit damaligen Akteuren geführt und dem Text viele Fotos beigefügt, so dass sich dieses noch junge, aber bisher unterbeleuchtete Kapitel der Schweizer Agrargeschichte sehr anschaulich liest.