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Buchempfehlungen der Bibliothek

David F. Walker, Markus Kwame: The Black Panther Party. A graphic novel history. Emeryville, 2021

In ihrer Graphic Novel beleuchten Journalist David F. Walker und Illustrator Markus Kwame Anderson den historischen Hintergrund der Black Panther Party. Das tun sie vor allem anhand von Einzelschicksalen und zentralen Ereignissen, die sich zu einem tragischen Gesamtbild der strukturellen Diskriminierung und Unterdrückung der Afroamerikaner:innen zusammenfügen. Die biografisch-anekdotische Herangehensweise behalten sie bei der Erzählung über das Wirken der Black Panthers bei. Dazu gehört deren zu wenig beachtetes soziales Engagement sowie der Einfluss, den sie auf andere nationale und transnationale Bewegungen von Minderheiten ausgeübt haben.
Sie veranschaulichen die machiavellistischen Bemühungen der US-Regierung, die Black Panthers zu zerschlagen und zu diffamieren. Dem so bewusst beförderten Klischee von gewalttätigen Terroristen kam die Position der Black Panthers zur Gewaltfrage entgegen: Im Gegensatz zu Martin Luther King betrachteten sie Gewalt als ein legitimes Mittel zur Selbstverteidigung.
Walker und Anderson versuchen, das Bild von den Black Panthers wieder geradezurücken, reflektieren aber auch kritisch deren interne Widersprüche und Konflikte. Charakteristisch für diese Graphic Novel ist neben der farbintensiven und klaren Bildsprache Andersons die hohe Informationsdichte, die vereinzelt eine flüssige Lektüre ins Stocken geraten lässt. Dennoch ist es eine kompakte und visuell ansprechende Einführung in die komplexe Geschichte der Black Panther Party und der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Tobias Roth (Hg.): Gartenstadtbewegung. Flugschriften, Essays, Vorträge und Zeichnungen aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft. Berlin, 2019

Der Band versammelt Texte von Autor:innen aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft. Entstanden im Jahrzehnt von 1903 bis 1913, reagierten sie auf Wohnungs- und Umweltprobleme in der Grossstadt, die bis heute aktuell geblieben sind. Insbesondere die Aussagen zur Umweltproblematik könnten teilweise eins zu eins heute wiederholt werden: «Zurück zur Natur wollen wir durch die Gartenstadt», forderte beispielsweise der Steglitzer Gartendirektor Fritz Zahn im Jahr 1906.
Am Anfang einer bald gesamteuropäischen Bewegung stand Ebenezer Howards Schrift «Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform», die 1898 erschien und 1902 erneut aufgelegt wurde, nun unter dem eingängigeren Titel «Garden Cities of Tomorrow». Man wollte Problemen wie Wohnungsnot, hygienisch katastrophalen Bedingungen und Überbevölkerung mit dem Konzept der Gartenstadt Gegensteuer geben, wobei es nicht nur um die Begrünung von urbanem Lebensraum gehen sollte, sondern auch um die Demokratisierung desselben oder, wie es der deutsche Autor Heinrich Hart etwas poetischer ausdrückte, um seine Gestaltung «als ein Paradies, einen Garten ohne Ende, einen Garten in spriessender Fülle, einen Garten voll tiefen Friedens und ungetrübter Seligkeit für seine Bewohner».

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Ambros Uchtenhagen (Hg.): 30 Jahre Schweizer Drogenpolitik, 1991–2021. Zürich, 2022

Vor rund einem Jahr ist der Zürcher Psychiater Ambros Uchtenhagen 94-jährig verstorben. Noch einige Monate vorher, im März 2022, erschien eine von ihm herausgegebene Chronik zur Schweizer Drogenpolitik, welche Uchtenhagen massgeblich geprägt hat. Eine Drogenpolitik, die Anfang der 1990er-Jahre mit dem Vier-Säulen-Modell bahnbrechend war und mit den bisherigen Regelungen radikal brach.
Die von Uchtenhagen verfasste Chronik beschreibt die Besonderheiten der neuen Massnahmen und vor allem deren Umsetzung in den Bereichen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Ausserdem werden die Auswirkungen auf nationaler und internationaler Ebene, die Grenzen des neuen Regimes und die Herausforderungen dargestellt, die noch zu bewältigen sind. Ergänzend zur Chronik und ihrem Quellenmaterial enthält das Buch eine Reihe von Beiträgen wichtiger Protagonist:innen, die neben Uchtenhagen die Schweizer Drogenpolitik beeinflusst haben, darunter Vertreter:innen verschiedener Berufsbereiche wie Psychiatrie, Sozialarbeit oder Soziologie. Sie alle erzählen noch einmal von ihren Erfahrungen in den letzten dreissig Jahren.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Anna Rosenwasser: Rosa Buch. Queere Texte von Herzen. Zürich, 2023

Für manche ist LGBTQ ein überflüssiger Trend, andere verstehen den Ausdruck nicht. Viele Personen wiederum sind in diesen Buchstaben zu Hause – Anna Rosenwasser ist eine von ihnen. Die bisexuelle LGBTQ-Aktivistin und Politinfluencerin schreibt über Geschlecht und Anziehung in ehrlichen, humorvollen und manchmal «hässigen» Texten. Sie schreibt nicht nur für diejenigen, die längst wissen, dass sie queer sind, sondern genauso für alle, denen dieses Wort neu – und, wer weiss, vielleicht mittelsympathisch – ist. Ausserdem setzt sich die Autorin in ihren Texten auch immer wieder mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander.
Das «Rosa Buch» versammelt Texte von Anna Rosenwasser aus den Jahren 2018 bis 2022. Teilweise handelt es sich dabei um Kolumnen, welche sie für diverse Zeitschriften und Zeitungen – darunter Saiten, das Mannschaft Magazin oder die Schaffhauser AZ – geschrieben hat, bei einigen Texten um Erstveröffentlichungen. Für das «Rosa Buch» hat die Autorin Passagen aus den Texten kommentiert, welche sie mittlerweile anders oder genauer sieht, leichter oder ernster nimmt. Mit dem ergänzenden Stichwortregister und dem Glossar ist ein Buch entstanden, welches nicht zwingend von Anfang bis Schluss gelesen werden muss und zum Schmökern einlädt.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Hannah Ross: Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten. Hamburg, 2022

Radfahrerinnen sind eine Inspiration, ob sie nun auf Medaillenjagd gingen, die Welt erkundeten oder sich für das Frauenwahlrecht einsetzten. «Das Ross, auf dem Frauen in eine neue Welt ritten» – so beschrieb das US-amerikanische Munsey’s Magazine 1896 treffend die politische Bedeutung des Fahrrads in seinen Anfängen. Die Erfindung des Fahrrads im Jahr 1900 wurde als «Game Changer» betrachtet. Wenige Dinge, die jemals von Menschen benutzt wurden, haben eine so grosse Revolution in den sozialen Verhältnissen bewirkt wie das Fahrrad. Die Frauen befreiten sich buchstäblich aus dem Korsett, nicht nur kleidermässig. «Weg mit den Korsetts, her mit dem Lycra», wie es im Buch etwas salopp heisst.
Nur schon das Sitzen auf einem Fahrradsattel stellte zur damaligen Zeit für viele ein offenkundig sexuelles Verhalten dar, und sie sahen darin eine Gefahr für die Moral der Frauen und auch für ihre Fortpflanzungsorgane. Es wurden spezielle Sattel entwickelt, die eine sexuelle Stimulation verhindern sollten. Man sprach von «Bicycle Walk» (die Füsse bewegten sich angeblich kreisförmig) und «Bicycle Face» (verzerrte Gesichtszüge). Das Harper’s Magazine empfahl als Gegenmassnahme, Kaugummi zu kauen.
In «Revolutions» erzählt Hannah Ross die spannende und unterhaltsame Geschichte des Fahrrads aus weiblicher Perspektive. Sie führt uns von den Anfängen des Radfahrens im 19. Jahrhundert, als Frauen unglaubliche Widerstände überwinden mussten, bis in die Gegenwart und rund um die Welt.
Leider ist es Frauen in Afghanistan inzwischen wieder verboten, Fahrrad zu fahren.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

Christian Suter, Stephen Brown, Dolgion Aldar, Tamir Chultemsuren (Hg.): Democratic Struggles in Challenging Times. Insights from Mongolia and around the World. Zürich/Ulaanbataar, 2021

Es gibt aus demokratischer Sicht auch heute erfreuliche Dinge. Entgegen aller politikwissenschaftlicher Theorieerwartung hat sich in den letzten drei Jahrzehnten in der Mongolei trotz des Fehlens demokratischer Traditionen sowie grosser Probleme mit Armut und Korruption eine demokratische Regierungsform gehalten, die mit den diktatorischen Systemen der Nachbarstaaten Russland und China kontrastiert. Das Land, das trotz der nomadischen oder mönchischen Lebensweise eines Grossteils seiner Bevölkerung und der völligen Absenz einer Industrie oder einer Arbeiterschaft 1924 von einer buddhistischen Theokratie zur kommunistischen «Volksrepublik» mit starker Abhängigkeit von der Sowjetunion wurde, in der Folge alle Wirrungen der sowjetischen Geschichte nachvollzog und 1989/90 eine unblutige Revolution mit Massenprotesten und Hungerstreiks erlebte, besitzt ein Zweiparteiensystem aus der postkommunistischen Volkspartei und der aus den Protesten von 1990 hervorgegangenen Demokratischen Partei, die sich regelmässig in der Regierung ablösen.
In jüngster Zeit ist die Mongolei zum Zufluchtsort Tausender von der Mobilisation für den Ukrainekrieg bedrohter Russen geworden. Der auf eine Konferenz des Independent Research Institute of Mongolia und der Zürcher World Society Foundation zurückgehende Band mit neun Artikeln beleuchtet dieses interessante Land. Ein erster Teil befasst sich mit Struktur und Funktionsweise der mongolischen Demokratie und ihrer Zivilgesellschaft. Ein zweiter Teil öffnet den Blick für international vergleichende Studien, die um den Zusammenhang von Demokratie und der Verwaltung natürlicher Ressourcen kreisen.

Ebenso greifbar im Sozialarchiv (Auswahl):

Pier Paolo Pasolini im Quarticciolo in Rom, 1960 (Foto: Urheber:in unbekannt/L'Espresso/Wikimedia Commons)
Pier Paolo Pasolini im Quarticciolo in Rom, 1960 (Foto: Urheber:in unbekannt/L'Espresso/Wikimedia Commons)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Valerio Curcio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fussball nach Pier Paolo Pasolini. Bad Herrenalb, 2022

Pier Paolo Pasolini (1922-1975) war ein italienischer Intellektueller, der allen politischen Lagern und manchmal auch seinen Freunden unbequem war. Er selbst bezeichnete sich als Schriftsteller, er war aber auch Maler und Zeichner, Sprachwissenschaftler, Schauspieler, Herausgeber, Drehbuch- und Theaterautor, Regisseur, Journalist und nicht zuletzt ein vielbeachteter Gesellschaftskritiker. Und daneben, zwischendurch, immer wieder, bis zu seinem brutalen Tod, war Pasolini auch noch ein ambitionierter und passionierter Fussballer.
So richtig glücklich war er nur, wenn er selber Fussball spielen konnte. Danach wurde er wieder zum unruhigen, geplagten Erwachsenen, der zeitlebens wegen seiner Homosexualität an den Pranger gestellt wurde. Im Buch gibt es ein Foto, das Pasolini im Fussballtrikot zeigt, als Spieler in der Fussballmannschaft «Sänger und Schauspieler», entspannt lächelnd, so wie man ihn selten sah. Pasolini begriff den Fussball als universelle Sprache, als Mittel der Kommunikation, der Interaktion, der Teilhabe – und dies galt für die Schotterplätze der römischen Peripherie wie für die grossen Spektakel der ersten Liga gleichermassen.
Valerio Curcio macht Pasolini, welcher mit einem Fussballtrikot auf dem Sarg zu Grabe getragen wurde, mit diesem umsichtigen, detailreichen und dabei stets gut geerdeten, sich ganz auf den Fussball fokussierenden Porträt als Mensch greifbar.

Eine kleine Auswahl von Büchern von und über Pier Paolo Pasolini im Sozialarchiv:

Maria Wiesner: Alles in Ordnung? Warum wir vor lauter Aufräumen unser Leben verpassen. Hamburg, 2021

Ausgehend vom Hype um das Buch «Magic Cleaning» von Marie Condo geht die Journalistin Maria Wiesner den Paradoxien aktueller Minimalismus- und Aufräumtrends nach. Sie entlarvt sie als das, was sie gerade zu sein leugnen: Neue Konsummechanismen für kapitalkräftige Gesellschaftsschichten. Anstelle nachhaltiger und positiver Effekte auf die Konsumgesellschaft stützen sie die wirtschaftlichen und geschlechtlichen Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse. Mit ihrem Anstrich von Ethik und Nachhaltigkeit gelingt es ihnen, ihre Anhänger glauben zu lassen, in einer konsumfixierten Welt zu den Guten zu gehören.
Ratgeber-Autor:innen wie Jordan Peterson, Minimalismus-Blogger:innen und Konzepte häuslicher Gemütlichkeit wie Hygge koppeln gesamtgesellschaftliche Probleme von Individuen ab, indem sie ihnen suggerieren, dass jeder Einzelne für sein Glück und Wohlergehen ausschliesslich selbst verantwortlich sei. Glücklich werde man nur, indem man sich selbst optimiert, vom überflüssigen Kram trennt und den Rest fein säuberlich in hübsche Schachteln versorgt.
Mit ihrer sachlichen und unterhaltsamen Analyse blickt Wiesner hinter die pastellfarbenen Fassaden dieser Lifestyle-Trends und deckt ihre Widersprüchlichkeiten und Absurditäten auf. Ohne zu moralisieren und ohne erhobenen Zeigefinger macht sie darauf aufmerksam, dass sich konsumgesellschaftliche Probleme und Fehlentwicklungen nicht teetrinkend auf dem Sofa oder auf Flohmärkten flanierend lösen lassen.

Barbara F. Walter: Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen. Hamburg, 2023

Im Lauf ihrer Forschungstätigkeit zu Bürgerkriegen kam die Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter zum Schluss, dass die Bürgerkriege des 21. Jahrhunderts in der Regel auf eine vorhersehbare Weise entstehen und eskalieren. Es wirke so, als ob sie auf einem Drehbuch basierten, ungeachtet ihres individuellen geschichtlichen und politischen Hintergrunds. Diesem Drehbuch geht sie in ihrem Buch nach. Sie untersucht die gemeinsamen Elemente und unterlegt sie mit Beispielen aus allen Regionen der Welt, darunter Ex-Jugoslawien, Irland, Syrien und Indonesien. Sie erklärt zentrale Erscheinungen und Begriffe wie Faktionalismus und Anokratien und illustriert, welche fatale Rolle soziale Medien bei der Polarisierung von Gemeinschaften spielen können.
Angesichts der Präsidentschaft von Donald Trump und des Sturms auf das Kapitol fragt sie, ob und wie nahe sich die USA an einem Bürgerkrieg befinden, und kommt zum Schluss, dass sie näher dran sind, als man wahrhaben möchte. Doch Walter untersucht nicht nur, wie es zu Bürgerkriegen kommt und was die Warnhinweise für solche Entwicklungen sind. Sie befasst sich auch mit der Frage, welche Massnahmen nötig sind, um Bürgerkriege zu verhindern. Es gelingt ihr aufzuzeigen, dass Demokratie ein wichtiges Gut ist, das nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet werden darf, sondern immer aufs Neue gemeinsam erarbeitet werden muss.

Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst. Berlin, 2022

Am 27. März dieses Jahres hielt der Tages-Anzeiger nach einer grossen Umfrage fest, an Schweizer Unis gebe es keine «Cancel Culture». Die Hintergründe der aktuellen Obsession mit «Cancel Culture» analysiert das Buch von Adrian Daub, Literaturprofessor an der Stanford University. Für Daub hat die Rede über «Cancel Culture» eine «aufmerksamkeitsökonomische Funktion», steht «in keiner Relation zu ihrer objektiv belegbaren Verbreitung» und ist «wenig hilfreich, wenn es um die Beschreibung der Realität geht». Vielmehr würden dabei Anekdoten herausgepickt und kontextfrei herumgereicht, während der «Cancel Culture»-Diskurs umgekehrt aber etwa Verbote in US-Bundesstaaten ausblendet, an Schulen Themen wie Sklaverei oder LGBT anzusprechen oder in Bibliotheken Bücher zur afroamerikanischen Geschichte an Schüler:innen auszuleihen.
Der Diskurs entstand in der Reagan-Ära, zog aber erst durch das Internet grössere Kreise. Angebliche «Cancel Culture» beklagten zahlreiche Politiker:innen, von Trump und Johnson (als «Machwerk» ihrer politischen Gegner:innen) bis zu Putin (als «westliches» Phänomen). Daub zeichnet den Transfer des «Cancel Culture»-Diskurses von den USA nach Europa 2018/19 detailliert nach. Er erfolgte zunächst über Twitter und wurde dann medial multipliziert. Allein die NZZ publizierte ab 2019 über 120 entsprechende Artikel und holte sich 2021 in einem Interview gar Schützenhilfe von Sahra Wagenknecht.
Daubs Fazit: «Über Cancel Culture oder ‘Wokeness’ zu reden bedeutet immer, über anderes nicht zu reden.»

Diverse Bücher über das Jahr 1923

Alle Jahre wieder erscheinen sogenannte «Jubiläumsbücher», die analysieren, was vor 50, 75 oder 100 Jahren auf der Welt geschah. Weil wir uns wieder in einer Zeit verschiedener Krisen befinden – Klimakrise, Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine –, gibt insbesondere das Jahr 1923 Anlass, die Geschichte wieder aufzurollen. Bereits letztes Jahr erschienen in weiser Voraussicht diverse Publikationen, die sich mit dem scheinbar schicksalsträchtigen Jahr auseinandersetzen. Diverse Krisen von damals werden beleuchtet und Parallelen zu 2023 gezogen.
In den Feuilletons werden diese Bücher momentan regelmässig besprochen. So erschien beispielweise im vergangenen Januar im «Spiegel» ein Artikel mit dem Titel «Das deutsche Horrorjahr», in dem das Jahr 1923 als das Jahr der «Polykrise» bezeichnet wird: Hyperinflation, Kampf um Rohstoffe (damals Kohle) und die Ruhrbesetzung durch französische Truppen beherrschten 1923 in der jungen Weimarer Republik den Alltag und konnten so «die Feinde der Demokratie» stärken. Zitiert wird auch Theo Grütter, Direktor des Essener Ruhr Museums, wo zurzeit eine Sonderausstellung («Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-1925», 12.1. –27.8.2023) zu den damaligen Geschehnissen stattfindet. Grütter zufolge war 1923 «ein Trauma, aber es kann uns auch Hoffnung geben». Bezeichnenderweise geht der «Spiegel»-Artikel allerdings nicht weiter auf diese Aussage ein, womit offenbleibt, wie und was denn genau aus den multiplen Krisen von damals für heute gelernt werden könnte.

Bücher zum Jahr 1923 (Auswahl):

Werbung für den Pop Pot Club im poppigen Stil der 60er Jahre (Grafik: Ruedi Schibler zugeschrieben)
Werbung für den Pop Pot Club im poppigen Stil der 60er Jahre (Grafik: Ruedi Schibler zugeschrieben)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Urs Amacher: Der Pop Pot Club 68. Das legendäre Musiklokal für die Jugend in Olten von 1968 bis 1972. Seon, 2022

Auch in Olten machte sich das bewegte Jahr 1968 bemerkbar: Am 20. April wurde in einem Keller ein neues Clublokal mit dem klingenden Namen «Pop Pot Club 68» eröffnet, welches sich schnell zu einer Hochburg des progressiven Rock und Beat entwickeln sollte. Sogar das Schweizer Fernsehen wurde daraufhin auf die jungen «Pop-Potter» aufmerksam: «Auch in Olten steigt die Jugend seit kurzem in dunkle Kellergewölbe hinunter, wenn sie sich ungestört und ausgelassen unterhalten will», lautete der Kommentar im Beitrag der Sendung «Antenne» zur Eröffnung des «Underground-Unternehmens» am 7. Mai 1968, an welchem u. a. der «Gottesmannsänger» Kaplan Flury auftrat.
In den folgenden vier Jahren konnte die Oltner Jugend im Pop Pot Club 68 die Musik der aktuellsten amerikanischen und britischen Beatbands hören, tanzen, selbstgedrehte Filme schauen oder auch an Diskussionsrunden teilnehmen. Das Lokal wurde aber auch überregional ein viel besuchter Ort: «Selbst von Zürich aus fuhren sie mit ihren Amischlitten beim Pop Pot Club vor – manchmal zu siebent in einem rosa Ford Mustang», erinnert sich ein Besucher. Der Club wurde schliesslich geschlossen, da es ab 1970 mehr Konkurrenz gab, die Gründungsmitglieder älter geworden waren und sich neu orientierten.
Der reichhaltig bebilderte Band des Historikers Urs Amacher lässt die Geschichte des Pop Pot Club nochmals aufleben, unter anderem ist auch ein Interview aus dem Jahr 1971 mit Pierre F. Haesler, dem Initianten des Clubs, abgedruckt.

Bestände im Sozialarchiv:

  • QS 10.01 C *1 Alternativkultur, alternative Kulturbetriebe in der Schweiz
  • ZA 10.01 C Kulturpolitik in der Schweiz
  • Ar 683 Archiv der fünf ersten Gurtenfestivals
  • Ar 707 Folkfestival Lenzburg
  • Ar 710 Rolling Stones Archiv: Sammlung Felix Aeppli

Iris Blum: Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz, 1900-1950. St. Gallen, 2022

Über verschiedene Lebensreformbewegungen in der Schweiz, die ihren Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert haben, wurde bereits breit publiziert. So ist beispielsweise das Naturistengelände Thielle der Stiftung «die neue zeit» rund um den Lebensreformer Werner Zimmermann oder auch die Person des «Birchermüesli»-Erfinders Max Bircher-Benner gut erforscht. Die Siedlung Monte Verità im Tessin ist sogar über die Landesgrenzen hinaus berühmt geworden. Zur Lebensreformbewegung der Ostschweiz hingegen wurde bisher weniger geforscht. Die freischaffende Historikerin und Archivarin Iris Blum schliesst diese Lücke mit ihrem neu erschienen Band.
In sieben Kapiteln spürt die Autorin den Lebensentwürfen beinahe vergessener Reformer:innen und Utopist:innen rund um den Säntis nach und legt ein wissenschaftlich fundiertes und spannend erzähltes Buch vor. Man erfährt so unter anderem, dass die ersten Gartenstädte in der Ostschweiz entstanden, nämlich die Kolonien «Waldgut» und «Berghalde» in St. Gallen, oder dass Frauen aus bildungsbürgerlichen Kreisen wie Margrit Forrer-Birbaum durch den Reformtanz bzw. die Ausbildung zur Tanzlehrerin um 1900 eine Chance auf einen eigenständigen Broterwerb hatten. Die Autorin hat für ihre Arbeit auch Quellen aus dem Sozialarchiv herangezogen, insbesondere das Archiv der frühen alternativen alkoholfreien Jugendbewegung der «Wandervögel», von der auch Ortsgruppen in der Ostschweiz existierten.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

  • Ar 19 Wandervogel. Schweizerischer Bund für alkoholfreie Jugendwanderungen
  • Dossier 04.2 Jugendbewegungen: Jugendorganisationen
  • Dossier 04.41 Alternative Lebensgestaltung & Arbeitsgestaltung ; Aussteiger /-innen ; Wohngemeinschaften
  • Zeitschriften aus der Naturistenbewegung von der Stiftung «die neue zeit», Thielle (via swisscovery, Code «E19Thielle»)

René Senenko: «Mit revolutionären Grüßen». Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1919-1945 für eine Welt ohne Ausbeutung, Faschismus und Krieg. Hamburg, 2022

Seit mehr als 150 Jahren werden in Deutschland Postkarten geschrieben. Die Postkarte fristete seither als Quelle aber eher ein Schattendasein – übertrumpft wurde sie meist von ihren glamouröseren Geschwistern: der Fotografie und dem Plakat. Dabei lassen sich anhand der Postkarte Formen einer visuellen Massenkommunikation beschreiben, die bislang oft unberücksichtigt geblieben sind.
Im vorliegenden Band zeichnen über dreissig Autor:innen anhand von Postkarten die Geschichte von proletarischem Sport, Arbeiterkultur und der Arbeiterjugend nach – und auch den Kampf diverser Hamburger Akteur:innen gegen Krieg und Faschismus bis Mitte des 20. Jahrhunderts. So zeigt eine Postkarte beispielsweise Hunderte junge Menschen, die sich 1925 zum 4. Deutschen Arbeiterjugendtag in Hamburg trafen, um dort für bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. In einem anderen Beispiel wird die kommunistische Widerstandskämpferin Anita Vogt vorgestellt, die während der NS-Zeit festgenommen wurde und von ihrer mutigen Grossmutter Postkarten im Gefängnis erhält. Die Postkarten decken also sowohl visuell wie auch textlich ein breites Feld zwischen historisch bedeutsamen Ereignissen und privatem Engagement ab.

Eva Demski: Mein anarchistisches Album. Berlin, 2022

«Gott will es so. Der Staat will es so. Dein Vater will es so. Warum aber ist da ein Oberes, Unsichtbares, das mir sagt, was ich zu tun, zu lassen, zu denken, zu glauben, was ich zu arbeiten und wen ich zu lieben habe? Der Anarchismus setzt uns auf ein politisches und philosophisches Karussell, von dem man nicht weiss, wann es anhält. Der Anarchismus gibt sich nicht zufrieden mit dem, was ist. Er will das Ende von Gewalt und von Herrschaft. Er will ein Leben vor dem Tod.» So steht es im Klappentext und so stehen die Sätze auch im Buch.
Eva Demski hat die spannende Geschichte des Anarchismus durchstreift. Sie erinnert an Michail Bakunin, Erich Mühsam und Emma Goldman, erzählt von anarchistischen Uhrmacher:innen des 19. Jahrhunderts (der dazugehörige Film «Unrueh» läuft zurzeit im Kino), von fortschrittlichen Fürst:innen und Entdecker:innen wie Isabelle Eberhardt; sie erinnert an fast vergessene Dichter:innen und versucht, den Sisi-Mörder Luigi Lucheni zu begreifen. Sie erwähnt Herbert Achternbusch, der behauptet, in Bayern gäbe es sechzig Prozent Anarchist:innen und die würden alle CSU wählen. Es fällt ihr auf, dass in libertären Biografien immer wieder von zwei Ländern die Rede ist, nämlich von Sibirien und von der Schweiz.
So ist ein buntes Album mit Momentaufnahmen aus verschiedenen Epochen entstanden. Illustriert ist das Buch mit vielen Fotos. Sie sind die Ausbeute zahlreicher Expeditionen, die Eva Demski mit der Fotografin Ute Dietz unternommen hat.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):
Bibliothek:

  • Emma Goldman: Gelebtes Leben. Autobiografie. Hamburg 2010, 123464
  • Isabelle Eberhardt: Sandmeere. Frankfurt 1981, 70256: 1-4
  • Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2018, 140427
  • Nino Kühnis: Anarchisten! Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen. Zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885–1914. Bielefeld 2015, 131409

Sachdokumentation:

  • KS 335/431 Schriften von und über Michail Bakunin
  • KS 335/77c-11 Kresenzia Mühsam: Der Leidensweg Erich Mühsams. Zürich 1935
  • ZA 04.9 Lu-Lus Zeitungsartikel zu Luigi Lucheni

Taras Kuzio: Russian Nationalism and the Russian-Ukrainian War. Autocracy – Orthodoxy – Nationality. London, 2022

This book by the British-Ukrainian political scientist Taras Kuzio was published at the beginning of 2022, and almost immediately was put to the test by the upcoming Russian invasion. A year later, it is safe to say that Kuzio’s work is on point and captured vividly the state of Ukrainian-Russian relations through the last centuries and before the recent aggression.
The author argues, that the reasons for the ongoing war are rooted in the present-day Russian national identity, which paradoxically is ethnocentric, yet projects itself on other ethnic groups. To find out more about Russian nationalism, its development, and possible future shifts it is highly recommended to read this book.

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Essays. Köln, 2022

Die Ukraine und ihre zutiefst tragische Geschichte ist einem nach der Lektüre der Texte von Tanja Maljartschuk sehr nah und vertraut. Mit wenigen Sätzen öffnet sich eine ganze Welt. «Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus» ist eine Zeile aus dem Essay «Beten und Schimpfen: eine sentimentale Notiz zum ‘Karpatenkarneval’ von Juri Andruchowytsch» aus dem Jahr 2019. Darin schreibt die Autorin über den Roman «Karpatenkarneval» ihres ukrainischen Schriftstellerkollegen und kommt zum Schluss, dass das Buch «eigentlich kein Buch mehr, sondern eine Epoche [ist] und so sollte es vielleicht gelesen werden. Wie eine vergnügliche Pause zwischen den finsteren Vorkommnissen. Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Ein Gedicht, ein Witz, ein Glas. Wir lachen, obwohl die Nacht hinter jedem Einzelnen tief und schwarz steht.»
Die ältesten Texte stammen von 2014, der Zeit der Maidan-Proteste. Eine Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs, aber auch das Jahr der Annexion der Halbinsel Krim. Die neuesten erschienen nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Zunächst ist es der Autorin unmöglich weiterzuschreiben. Doch eines ist klar: Erzählt werden muss – gerade, wenn Brutalität und Barbarei sprachlos machen. «Wie man über die Unmöglichkeit des Schreibens schreiben kann» ist denn auch der Titel eines Essays vom Mai 2022. Wir können froh sein, dass Tanja Maljartschuk nicht verstummt ist.
Die ukrainische Journalistin und Schriftstellerin Tanja Maljartschuk lebt seit 2011 in Wien.

Heimeltern Grimm mit Kindern, ca. 1918 (Foto aus der Sammlung Gattiker)
Heimeltern Grimm mit Kindern, ca. 1918 (Foto aus der Sammlung Gattiker)

24.2.2023, 18.30 Uhr: Fassaden und Innenwelten – das Waisenhaus von Richterswil

Buchpräsentation mit der Autorin Lisbeth Herger, dem Autor Heinz Looser und dem ehemaligen Heimkind Werner Jost

Während eines halben Jahrhunderts wurden im Waisenhaus von Richterswil um die 300 Mädchen und Buben zur Erziehung untergebracht. Die meisten waren von verarmten oder überforderten Eltern getrennt und im Heim fremdplatziert worden. Sie kamen aus dem Dorf, aus der Umgebung, aber auch aus Zürich und von anderswo. Abgeschirmt vom Dorf wurden sie auf ihrer Heiminsel erzogen, gezüchtigt, zur Arbeit ertüchtigt. Drei Generationen von Heimeltern führten das Waisenhaus in unbestrittener Autorität.

Wie erlebten die Kinder ihre «Familie» im Heim? Wie gestaltete sich ihr Alltag hinter der Pforte der prächtigen Villa am See? Und wie war es möglich, dass unerträgliche Gewalt von den Aufsichtsbehörden gebilligt und gedeckt wurde? Die Gemeinde Richterswil hat sich entschieden, die Geschichte des Waisenhauses aufzuarbeiten. Mit einer Ausstellung im Juni 2021 und mit einem Buch, das die Materialien dieser Ausstellung lesefreundlich und reich illustriert in einem Text-Bildband präsentiert.

Freitag, 24. Februar 2023, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 227 KB)

Garnprobe bei den Emser Werken, um 1940 (Foto: Urheber:in unbekannt / SozArch F 5031-Fb-0047)
Garnprobe bei den Emser Werken, um 1940 (Foto: Urheber:in unbekannt / SozArch F 5031-Fb-0047)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Regula Bochsler: Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Zürich, 2022

«Nylon und Napalm » erzählt die spannende Geschichte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Die 1936 gegründete Firma «Holzverzuckerungs AG» (HOVAG) produzierte mit staatlicher Unterstützung einen Ersatztreibstoff, im Volksmund «Emser-Wasser» genannt. Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das im Vergleich zum Benzin qualitativ schlechtere «Emser-Wasser» zu teuer und es mussten neue Umsatzmärkte erschlossen werden.
Mithilfe von Industriespionage und ehemaligen Chemikern aus Nazi-Deutschland – unter ihnen auch verurteilte Kriegsverbrecher – baute Oswald in Domat/Ems eine Kunstfaserproduktion auf. Daneben wurden aber auch Flab-Raketen, Minen und Zünder sowie die Napalm-Variante «Opalm» entwickelt und hergestellt. Da der Export von «Opalm» vom Bund verboten wurde, liess Werner Oswald die Brandbomben in Deutschland produzieren. «Opalm» wurde in mehreren Bürgerkriegen in Südostasien und Jemen eingesetzt. Von der Existenz des «Opalms» erfuhr die Autorin durch Zufall über den Nachlass eines ehemaligen Chemikers der Ems-Chemie. Der Zugang zum Firmen-Archiv der Ems-Chemie blieb Regula Bochsler aber verwehrt.

Jessikka Aro: Putins Armee der Trolle. Der Informationskrieg des Kremls gegen die demokratische Welt. München, 2022

Im Februar 2017 flüchtete die finnische Journalistin Jessikka Aro aus ihrer Heimat. Seit 2014 hatte sie über Web-Trolle des Putin-Regimes recherchiert. Nach der Publikation ihres ersten Artikels begann eine Verleumdungskampagne, die zweieinhalb Jahre anhielt und von telefonischen, digitalen und physischen Belästigungen bis hin zu Morddrohungen begleitet war.
Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Leidensgeschichte stellt Aros Buch Strategien, Methoden und Reichweite der Trollfabriken dar. Im Vordergrund stehen dabei nicht deren bekannte Kampagnen wie in der Ostukraine im Vorfeld der Errichtung der Marionetten-«Volksrepubliken» 2014, beim Brexit-Referendum oder den amerikanischen Wahlen 2016. Der Fokus liegt auf Attacken gegen verschiedene Persönlichkeiten und Organisationen seit 2005. Als häufigste, von klassischen Propaganda- und Geheimdienstmethoden entlehnte Techniken identifiziert Aro den «faulen Hering» (einer Zielperson durch falsche Beschuldigungen einen «üblen Geruch» anheften), die «grosse Lüge» (Behauptungen verbreiten, die so unfassbar sind, dass sie für nicht erfunden gehalten werden) sowie das «Prinzip 40 zu 60» (40% Falschinformationen unter 60% Fakten mischen).
Das Buch ist im Original 2019 erschienen. Die intensive Tätigkeit der putinistischen Trolle während der Corona-Pandemie und seit dem Überfall auf die Ukraine ist noch nicht abgedeckt. Die Lektüre empfiehlt sich trotzdem und schärft auch den Blick für Troll-Aktivitäten im helvetischen Cyberspace.

Weitere Literatur zum Thema:

  • Clack, Timothy und Robert Johnson (Hg.): The world information war: Western resilience, campaigning and cognitive effects. London/New York 2021, 147682
  • Davydiuk, Mykola: Wie funktioniert Putins Propaganda? Anmerkungen zum Informationskrieg des Kremls. Stuttgart 2021, in Bearbeitung
  • Fridman, Ofer: Russian «hybrid warfare»: Resurgence and politicisation. London/Oxford 2018, 140268
  • Jasper, Scott: Russian cyber operations: Coding the boundaries of conflict. Washington D.C. 2020, 145333
  • Jaster, Romy und David Lanius: Die Wahrheit schafft sich ab: Wie Fake News Politik machen. Ditzingen 2019, 141247 Ex.2
  • Limonier, Kevin: Ru.net: Géopolitique du cyberspace russophone. Paris 2018, 142675
  • Mueller, Robert S.: Der Mueller Report. Berlin 2019, 143073
  • Payton, Theresa: Manipulated: Inside the cyberwar to hijack elections and distort the truth. Lanham 2020, 145628
  • Reimon, Michel und Eva Zelechowski: Putins rechte Freunde: Wie Europas Populisten ihre Nationen verkaufen. Wien 2017, 142864
  • Schaeffer, Ute: Fake statt Fakt: Wie Populisten, Bots und Trolle unsere Demokratie angreifen. München 2018, 139305
  • Van Herpen, Marcel H.: Putin’s propaganda machine: Soft power and Russian foreign policy. Lanham 2016, 125837
  • Yablokov, Ilya und Precious N. Chatterje-Doody: Russia Today and Conspiracy Theories: People, Power and Politics on RT. London/New York 2022, 148053

Kim, Dong-Jin, and David Mitchell: Reconciling Divided States. Peace Processes in Ireland and Korea. London, 2022

This book is a compilation of essays that presents a complex image of the peacebuilding process in Ireland and Korea through various perspectives such as the origins of the struggle, achieved agreements, socio-economic development, and many others. During the course of the book, we get acquainted with relatively different experiences. Yet, they still have similarities that allow us to spot the main patterns of peace-making, while not generalizing each case.
A separate mention goes to the chapter which describes outcomes of different peace-making strategies such as political agreement in Northern Ireland, the military armistice in the Korean Peninsula, and military force in Sri Lanka. It might not be the most obvious idea to compare the socio-political struggles of two countries that lie apart for more than 8’000 km, however, this is something that we certainly need and will be using as an insight book while navigating the current world of international relations.

Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuss auf dem Fluchtweg meines Vaters. München, 2022

Aus Angst vor der Roten Armee flüchtet der Vater von Christiane Hoffmann 1945 aus dem kleinen Dorf Rosenthal in Schlesien, dem heutigen polnischen Różyna. 75 Jahre später, nach dem Tod ihres Vaters, beschliesst die Tochter, den Weg zu erwandern, 550 km nach Westen. Es wird ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben. Die Journalistin läuft bis an ihre physischen und psychischen Grenzen durch die Albträume ihrer Kindheit, um zu erinnern, was der Vater vergessen hat. Das Buch verschränkt ihre Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg. Sie fragt sich, wie Familien, Gesellschaften mit der Vergangenheit umgehen und was heute vom Fluchtschicksal bleibt. Der Bericht hat eine ungeahnte Aktualität erhalten und bestätigt Christiane Hoffmanns Aussage, dass «der Schrecken höchstens für zwei Generationen» hält.
Christiane Hoffmann studierte Slawistik, Geschichte und Journalistik und arbeitete als Journalistin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Spiegel. Seit Januar 2022 ist sie erste Stellvertretende Sprecherin der deutschen Bundesregierung. Sie ist mit Tim Guldimann, dem früheren Schweizer Diplomaten, verheiratet.

Wolfgang Bauer: Am Ende der Strasse. Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern. Eine Reportage. Berlin, 2022

Kaum ein deutscher Journalist kennt Afghanistan so gut wie Wolfgang Bauer. Der Reporter der Wochenzeitung «Die Zeit» war regelmässig vor Ort und kehrte auch nach dem Fall Kabuls im August 2021 noch einmal in das Land zurück. Er bereiste die afghanische Ring Road, einen 2’200 Kilometer langen kreisförmigen Highway, der die wichtigsten Städte des Landes miteinander verbindet. Durch diese Reisen versucht der Autor, «ein Land zu verstehen, das mich provoziert, mit meinen Werten in Frage stellt, mich verwirrt, nach vielen Jahren noch».
Wolfgang Bauer sucht also nochmals Schauplätze auf, die er seit seiner ersten Reise kurz nach den Anschlägen in den USA am 11. September 2001 besuchte. So berichtet er beispielsweise aus Kandahar, der «inoffiziellen Hauptstadt». Neben Zehntausenden Klimaflüchtlingen, die aufgrund der extremen Trockenheit im Land Zuflucht gesucht haben, hat auch die Binnenvertreibung wieder stetig zugenommen. Bauer erzählt von diesen Menschen und versucht auch die Rolle des Westens zu ergründen. Obwohl es in diesem geschundenen Land wenig Grund zur Zuversicht gibt, verfolgt der Autor mit seinem Buch das Ziel, «die Hoffnung wiederzufinden».

Adrian Juen: Die häusliche Ordnung schulischer Pädagogik. Zur Praxis der Hauswarte und Hausmütter an den Zürcher Lehrer:innenseminaren, 1900-1950. Zürich, 2022

Was heute der «Facility Manager» ist, war früher – zumindest in den Schulhäusern – der «Abwart» (Frauen waren wohl eher als die «Frau vom Abwart» anzutreffen). Auch an den Zürcher Lehrer:innenseminaren Küsnacht, Unterstrass und an der Höheren Töchterschule wirkten zwischen 1900 und 1950 zahlreiche Hauswarte und eben auch Hausmütter. Bei ihnen handelt es sich um kaum erforschte Akteur:innen – dabei ist eine Schule ohne sie nicht denkbar. Wie heute noch regulierten sie den Zugang zu den Gebäuden, waren für die Reinigung verantwortlich und kontrollierten Heizung, Beleuchtung und Wartung der Schulanlagen. Sie beaufsichtigten zudem die Schüler:innen und waren oft Respektspersonen – im positiven wie negativen Sinn.
Die Dissertation von Adrian Juen untersucht das Wirken der Hauswarte an den Zürcher Lehrer:innenseminaren, die über gut dokumentierte und umfassende Archivbestände verfügen. Dabei geht der Verfasser der Frage nach, inwiefern Hauswarte und Hausmütter die Schulen mit ihren komplexen Sozialgefügen prägten, und es werden auch persönliche Geschichten erzählt. Es geht um den undefinierbaren «Schulhausgeruch», der uns noch allen in der Nase steckt, oder um den Hygienediskurs, der die Schulhäuser seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfasste.

Bestände in der Sachdokumentation des Sozialarchivs:

  • Dossier 14.0 *P Erziehung, Pädagogik
  • Dossier 15.0 Schule, Volksschule; Schulsysteme, Schulpolitik

25.11.2022, 18.30 Uhr: Bevor Erinnerung Geschichte wird

Überlebende des NS-Regimes heute

Buchpräsentation mit Autorin Simone Müller und Zeitzeugin Betty Brenner

Simone Müller porträtiert 14 jüdische Menschen sowie eine Zeugin Jehovas, die zwischen 1923 und 1942 geboren wurden und als Kinder oder Jugendliche Hitlers Terrorregime überlebten. Sie gehören zur jüngsten Überlebenden-Generation und zur einzigen, die jemals erfährt, wie sich Verfolgung, Flucht oder Inhaftierung im Konzentrationslager achtzig Jahre später auf das Leben im Alter auswirken.

Die Erfahrungen der Porträtierten, die aus unterschiedlichen europäischen Ländern und sozialen Schichten stammen, decken ein breites Spektrum ab. Die Zeitzeug:innen erzählen zum Beispiel von einer unbeschwerten Kindheit in einer grossen Schneiderfamilie, vom Aufwachsen als Einzelkind oder von Jugendjahren in einer jüdischen Familie, in der Religion kaum eine Rolle spielte. Unterschiedlich ist auch, wie sie überlebt haben, versteckt in einem katholischen Kloster, auf der Flucht in den Bergen, im Vernichtungslager Auschwitz.

Freitag, 25.11.2022, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 221 KB)

Genossenschaftsdruckerei Zürich (gdz), 1952 (Foto: Ernst Koehli / SozArch F 5144-1043-Nb-001)
Genossenschaftsdruckerei Zürich (gdz), 1952 (Foto: Ernst Koehli / SozArch F 5144-1043-Nb-001)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Adrian Knoepfli: gdz – Am Anfang war die Zeitung. Geschichte der Genossenschaftsdruckerei Zürich 1898–2022. Zürich, 2022

Die Genossenschaftsdruckerei Zürich (gdz) entstand 1898, als sich die aufstrebende Arbeiterbewegung daran machte, eigene Zeitungen und eigene Druckereien zu gründen. Mit der Gründung der gdz erschien am 1. April 1898 auch die erste Ausgabe des «Volksrecht». Die Anfänge gestalteten sich schwierig, doch bald entwickelte sich die gdz zu einem Grossbetrieb mit einem renommierten Namen, in dem zudem gute Arbeitsbedingungen herrschten. Technisch auf der Höhe der Zeit, gehörte die gdz zum Beispiel beim Rollenoffsetdruck und beim Filmsatz zu den Pionieren.
Eine Zäsur stellte in den 1970er Jahren die Einstellung der sozialdemokratischen Tageszeitung «Volksrecht» – zwischenzeitlich hiess sie auch «Zürcher AZ» – dar, die sich nicht mehr finanzieren liess. Die Strukturkrise der 1990er Jahre, die wirtschaftlichen Krisen im neuen Jahrtausend, das Internet, die Digitalisierung und die massive Verlagerung von Druckaufträgen ins Ausland führten schliesslich zum Entscheid, die Produktion 2019 einzustellen und die Firma zu liquidieren.
Der Historiker Adrian Knoepfli zeichnet die Geschichte der gdz nach; zahlreiche Bilder aus dem Nachlass des Zürcher Fotografen Ernst Koehli, der im Sozialarchiv archiviert ist, illustrieren die Untersuchung.

Bestände im Sozialarchiv:

  • Ar 568 Vereinigung der Genossenschaftsdruckereien der Schweiz (VGDS)
  • F 5144 Nachlass Ernst Koehli (1913-1983)

Susan Honegger, Christine K. Gubler: Spinnerei. Glarus, 2022

In den 1970er Jahren lebte die Autorin Susan Honegger als junge Kunst- und Architekturstudentin im Glarner Hinterland in einer alten Textilfabrik und war fasziniert von dieser Gegend, die stark von der Textilindustrie geprägt war. Dabei interessierte sie auch die Rolle der italienischen Fremdarbeiterinnen, deren Geschichte sie nun in der Form einer Graphic Novel erzählt.
Die Hauptrolle spielt Maria Santi, eine fiktive Textilarbeiterin aus Italien. Als billige Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen, können die jungen Arbeiterinnen je nach Auftragslage beliebig entlassen und wieder zurückgeholt werden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken sind hart, gewohnt wird in einem von Nonnen geführten Mädchenheim. Als Maria schwanger wird, wird sie dazu gedrängt, das Kind zur Adoption freizugeben. Die Geschichte findet dann trotzdem ein überraschendes Happy End – was der Ernsthaftigkeit des Themas aber keinen Abbruch tut.

Bestände im Sozialarchiv (Auswahl):

  • Dossier 02.3 C «Ausländerfrage»; Einwanderung; multikulturelle Gesellschaft: Schweiz
  • Dossier 75.8 C Ausländische Arbeitskräfte, Gastarbeiter/-innen in der Schweiz
  • Ar 108 Nachlass James Schwarzenbach (1911–1994)
  • Ar 40 Federazione Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS)

Thomas Färber: Protest mit der Schreibmaschine. «Splitter der Erinnerung» zu Walter Matthias Diggelmann. Zürich, 2021

Thomas Färber zeichnet das Leben dieses streitbaren Schriftstellers und Nonkonformisten nach und liefert zugleich neue Einsichten in das politische und kulturelle Klima der 1960er und 1970er Jahre. Walter Matthias Diggelmann gehörte einer Gruppe von Intellektuellen an, «die sich frevelnd über helvetisches Selbstverständnis hinwegzusetzen pflegen», wie Frank A. Meyer, der heutige Kolumnist des Sonntagblick, es 1968 formulierte. Oder wie es Peter Höltschi, ein Wegbegleiter, beschrieb: «Da war einer, der wild um sich schlagend seine private Wahrheit verbreitete, ohne Rücksicht auf Verluste, wohl wissend, dass es die ganze Wahrheit doch nicht gibt.» Er war ein Berserker mit all seinen Widersprüchen, der sich unter anderem auch immer wieder mit der NZZ anlegte. Diese Querelen kosteten seiner Partnerin, der Journalistin und Schriftstellerin Klara Obermüller, schliesslich ihre Stelle als Feuilletonredakteurin bei der NZZ.
Das Buch, eine überarbeitete Dissertation, zeigt, wie aus dem unehelich geborenen, in bäuerlichen Verhältnissen aufgewachsenen Walter Matthias Diggelmann ein Schriftsteller, Kolumnist und Schreibhandwerker wurde, der leider zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.

Kleine Auswahl der zahlreichen Bücher von Walter Matthias Diggelmann im Sozialarchiv:

Mychailo Wynnyckyj: Ukraine’s Maidan, Russia’s war. A chronicle and analysis of the revolution of dignity. With a foreword by Serhii Plokhy. Stuttgart, 2019

As you are reading this review, Ukraine is bravely fighting for its freedom for the seventh month. Or as they say in Ukraine: «It is the 7th month of a full scale invasion, of the 8-year war, that has been going on for the last 3 hundred centuries.» Such a long-time struggle, unfortunately, but inevitably, creates a large field for speculations, disinformation and simple lies. The shocking reality of war in Europe starts to seem mundane and not clear. Naturally, this state of things does not move us to the end of the aggression. Yet, what we can do is to deepen the knowledge and understanding of the real reasons behind current events.
A great help in this regard is the book of Mychailo Wynnyckyj, a prominent Ukrainian sociologist, historian and professor. As the nowadays invasion and ongoing war is a reaction to Ukraine’s Revolution in 2014, Wynnyckyj does a huge job by not only describing the events of the Revolution of Dignity, but also analysing it and defining its role in European and world history. It is extremely interesting to read this book as it points at phenomena of the Ukrainian Revolution, such as the lack of formal protest leaders, as well as debunking the vast majority of Russian myths that are spread by the propaganda.
Throughout his work, Mychailo Wynnyckyj keeps a constant connection between Ukrainian and Western narratives, comparing the events to European and American Revolutions. As the Russian war continues in Ukraine, we may assume that a big force is needed to fight the big changes. And if you want to discover what’s at stake in Ukraine it is highly recommended to read this book.

Dipesh Chakrabarty: Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Berlin, 2022

Die Klimaerwärmung ist nicht nur ein physikalisches Phänomen, die Klimakrise stellt auch unsere «condition humaine» auf den Kopf. Und die Forderung nach «Klimagerechtigkeit» (Wer ist für den Klimawandel verantwortlich? Wer ist am stärksten davon betroffen?) macht evident, dass die Massnahmen, mit denen die Weltgemeinschaft auf die Krise zu reagieren versucht, in höchstem Mass politisch und politisch höchst brisant sind.
Der indische Historiker entwirft in seinem Buch einen geisteswissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der es ermöglichen soll, sich den Herausforderungen der Klimakrise mental und politisch zu stellen. Dazu entwickelt er zuerst, in Abgrenzung zum «Globus», die Kategorie des «Planeten». Die beiden nebeneinander existierenden Grössen zwingen zu einer chronologischen Doppelperspektive: Neben das unbefristete Projekt der Moderne mit ihren Zukunftsversprechen tritt das begrenzte Zeitfenster zur Bewältigung der Klimakrise; neben die überlieferte humanozentrische Geschichtsschreibung tritt die Tiefenhistorie der biologischen und geologischen Evolution, die den Menschen dezentriert; neben die Menschen als politische Subjekte und in ihrer internen Pluralität tritt der Mensch als «geologischer Handlungsträger», der als Spezies Verursacher des Anthropozäns ist.
Als Ausgangspunkt wählt Chakrabarty einen Aufsatz, den er bereits 2009 veröffentlicht hatte und der damals im Umfeld der postkolonialen Geschichtswissenschaft für heftige Kontroversen sorgte.

Tanja Polli und Ursula Markus (Fotos): Die Unsichtbaren. Sans-Papiers in der Schweiz. Zürich, 2021

«Viele Sans-Papiers sprechen nicht über die Angst, kontrolliert und ausgewiesen zu werden, doch sie frisst dein Leben auf.» Maria, 62, Hausarbeiterin und Sans-Papiers
Ungefähr 100’000 Sans-Papiers (Migrant:innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus) leben und arbeiten in der Schweiz, das sind 1,2 Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen: in privaten Haushalten, auf Baustellen, in Restaurants oder bei Bauern – meist zu skandalös tiefen Löhnen und ohne arbeitsrechtlichen Schutz und Sozialversicherungen. Gemäss einer Studie des Migrationsamts des Kantons Zürich und des Amts für Wirtschaft verrichten Sans-Papiers in der Schweiz bis zu 50 Prozent der bezahlten Hausarbeit. Sie sind systemrelevant, der Zugang zu grundlegenden Menschenrechten ist ihnen aber verwehrt.
In 15 Interviews erzählen Frauen und Männer ihre Geschichte – besonders berührt diejenige der Schülerin Haveen, der die Anmeldung zur gymnasialen Eintrittsprüfung verwehrt wurde. Bei der Arbeit an diesem Buch haben sie und ihre Mutter den Ausweis F erhalten und sind damit keine Sans-Papiers mehr, aber auch mit diesem Status ist es fast unmöglich, eine Lehrstelle zu bekommen.
Nebst den Interviews mit Sans-Papiers machen Gespräche mit Expert:innen wie der Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle (SPAZ) das Buch zusätzlich lesenswert. Die Fotografin Ursula Markus findet für diejenigen Sans-Papiers, die ihre Identität nicht preisgeben können, eine gelungene diskrete Form des Porträtierens.

Putzfrau in der Textilfabrik Schoeller, Derendingen, 1986 (Foto: Hansjörg Sahli/SozArch F 5031-Fb-0082)
Putzfrau in der Textilfabrik Schoeller, Derendingen, 1986 (Foto: Hansjörg Sahli/SozArch F 5031-Fb-0082)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Marianne Pletscher, Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz. Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer. Zürich, 2022

Von den über 200’000 Menschen, die in der Schweiz Reinigungsarbeiten verrichten, sind die meisten Migrant:innen. Oft nehmen wir sie nicht wahr, sondern stellen höchstens fest, dass unsere Büros am Morgen wieder sauber, die Restauranttoiletten geputzt oder im Spital alles frisch desinfiziert ist. Da die meisten dieser Menschen dauerhaft in der Schweiz bleiben, tut es not, «sie besser kennenzulernen», wie die Autorin im Vorwort treffend schreibt.

In ihren Reportagen porträtieren Marianne Pletscher und Marc Bachmann neun Personen und ein Ehepaar, die in der Tieflohnbranche der Reinigung tätig sind oder waren. Da ist beispielsweise Rosa mit Jahrgang 1956 aus Süditalien, die bereits seit 1974 in der Schweiz lebt und damals als Reinigungskraft mit sieben Franken Stundenlohn begann. Sie kam zu einer Zeit in die Schweiz, in der die Fremdenfeindlichkeit grassierte – die «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach war erst vier Jahre zuvor knapp abgelehnt worden. Nura aus Bosnien, die im Buch auch ihre Erlebnisse während des Bosnienkriegs erzählt, kam 2002 in die Schweiz. Sie putzt 15 bis 20 Haushalte und ist inzwischen, nach einer langen Odyssee, bei einer Firma mit fairen Arbeitsbedingungen angestellt.

Noch heute beschäftigen viele private Haushalte Reinigungskräfte «schwarz», also unter illegalen und menschenunwürdigen Konditionen. Auch gegen diesen Missstand möchte das Buch ein Zeichen setzen.

Abstand von Protest oder Protest auf Abstand? Soziale Bewegungen in der Covid-19-Pandemie. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Band 34, Heft 2. Berlin/Boston, Juni 2021

Die Pandemie als multiple Krise hat Fragen von Vulnerabilität und sozialer Ungleichheit, aber auch von Solidarität wieder ins Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gerückt. Wie soziale Bewegungen – vornehmlich in Deutschland – auf die Krise reagier(t)en, wie sie ihre Arbeitsweisen und Aktionsformen an die aussergewöhnlichen Umstände anpass(t)en, beleuchtet die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift «Forschungsjournal Soziale Bewegungen».

Zum Beispiel anhand der «Fridays for Future»-Bewegung, die auf digitale Aktionsformen zurückgriff und auf digitalen Plattformen zum Klimastreik vom 25. September 2020 aufrief; oder anhand der rechtspopulistischen PEGIDA, welche durch virtuellen Protest auf sich und ihre Anliegen aufmerksam machte und mitunter den Bogen zur regierungskritischen «Querdenker»-Bewegung schlug. Und schliesslich entstand quasi im Eiltempo eine neue Bewegung, welche sich weltweit gegen die Pandemie-Massnahmen richtete und nicht davor zurückschreckte, sich teilweise die Symbolik der extremen Rechten anzueignen.

Alle Beispiele zeigen die Zusammenhänge zwischen sozialen Bewegungen, Krisensituationen und Mobilisierung auf. Das Heft widerspiegelt den aktuellen Forschungsstand und belegt mit vielen Fallstudien, wie widerstandsfähig soziale Bewegungen auch in Krisenzeiten sind.

Siehe auch:
corona-memory.ch: partizipatives Archiv, das persönliche Momentaufnahmen zur Coronavirus-Pandemie in der Schweiz sammelt
Dossier 64.0 *8 Medizin: Krankheiten in der Sachdokumentation des Sozialarchivs

Mykhailo Minakov, Georgiy Kasianov, Matthew Rojansky (Hrsg.): From «the Ukraine» to Ukraine. A contemporary history, 1991-2021. Stuttgart, 2021

«The history of Ukraine is about losing the article» – that short but in-depth definition was given by the Ukrainian historian Yaroslav Hrytsak.

It was standard in the English-speaking world to refer to this Eastern European country as «The Ukraine» till its independence in 1991. Before this time, Ukraine was never fully an object of international politics. This small change in naming however identifies the development of the country which is now fighting to keep its independence.

Before February 2022, the Russian unleashed war in Ukraine wasn’t well understood in Europe, still, the recent full-scale invasion cleared up the situation. Obviously, Russia’s aggression toward Ukraine aims not only to destroy and annex the neighboring state but also to challenge the democratic world.

As we’re holding our breaths waiting for the outcome, we might as well enjoy reading this book, which can answer an important question: Why is a recent Russian ally now fighting against it to protect European values? The collective of authors made a huge effort to analyze different aspects of Ukraine’s history over the last 30 years. From political development to the shaping of a new Ukrainian national identity. This clearly written book is a toolkit that will help you understand the struggles of modern Ukraine and its perspectives.

Arbeitslosenkomitee der Region Basel (Hrsg): Surprise. Das Strassenmagazin. Basel, 1995-

Seit mehr als zwanzig Jahren gibt das «Surprise»-Magazin aus Basel der Armut im Land eine Stimme. Das Magazin ist vielleicht das landesweit einzige Blatt, das mehr Käufer:innen als Leser:innen hat, denn es wird oft nur aus Solidarität gekauft. Dies ist schade, denn es ist gut recherchierter, anwaltschaftlicher Journalismus mit Tiefgang und Qualität. Das Redaktionsteam setzt Schwerpunkte, die eng mit der Lebensrealität der Verkaufenden zusammenhängen (Schulden, Sucht, Ängste, Ausgrenzung), geht aber auch auf aktuelle Themen ein – spannend, ungewohnt und erfrischend.

So nahm sich das Surprise-Team in der Ausgabe Nr. 515, noch zu Zeiten coronabedingter Einschränkungen, ein sehr schweizerisches Thema vor, den «Konsens». Sechs Personen versuchten, sich über folgende drei Fragestellungen zu einigen: das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer:innen, die Klimaveränderung und den politischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Nicht immer gelang es, einen Konsens zu finden.

Surprise Nr. 517 widmete die Titelgeschichte dem Land «Somalia», nachdem sich Surprise-Verkäufer:innen zunehmend besorgt gezeigt hatten, was in ihrem Land geschah und noch geschehen könnte. Der ausgewiesene Afrika-Kenner Marc Engelhardt schrieb über «Warlords, Islamisten, Investoren». Das gleichnamige Buch befindet sich übrigens in unserer Bibliothek.

Surprise Nr. 521 wiederum brachte Fotoreportagen aus der Ostukraine, eine aus dem regierungskontrollierten Gebiet und eine aus dem prorussischen, separatistischen Gebiet. Sie entstanden in den Jahren 2019 und 2020 und zeigen, dass der Krieg für diese Menschen schon lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine begann.

Alle gedruckten Surprise-Ausgaben können Sie bei uns ausleihen, aber noch besser ist es, Sie kaufen ein Exemplar und unterstützen damit die Verkaufenden und das Magazin.

Laura Backes, Margherita Bettoni: Alle drei Tage. Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen. München, 2021

Jeden Tag im Jahr 2019 versuchte in Deutschland ein Mann, seine Frau umzubringen. Alle drei Tage wurde dabei eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Das ist die erschreckende Bilanz einer Statistik, die die Journalistinnen Laura Backes und Margherita Bettoni für den Titel ihres Buches inspiriert hat. Bei diesen Verbrechen handelt es sich nicht um «Ehrenmorde» oder «Beziehungstaten», sondern um Femizide: Morde, verübt an Frauen, weil sie Frauen sind.

Doch wieso wird kaum über dieses Problem gesprochen? Oftmals als Familientragödien verharmlost, bleiben viele dieser Frauenmorde verborgen und die patriarchalen Macht- und Gewaltmuster, die sich tief durch unsere Gesellschaft ziehen, verdeckt.

Laura Backes und Margherita Bettoni brechen das Schweigen und geben in Form von Protokollen vor allem den Femizid-Überlebenden eine Stimme, die sich als roter Faden durch das Buch zieht. Sie gehen zusätzlich analytisch den Fragen nach, weshalb es zu einer solchen Tat kommt, wie sie abläuft, was nach einem Femizid passiert und wie das Umfeld der Opfer damit umgeht. Auf notwendigerweise bestürzende Art klären die Autorinnen über Femizide auf und liefern den Beweis dafür, dass Femizide ein politisches sowie gesamtgesellschaftliches Problem darstellen – bei uns und weltweit. «Alle drei Tage» ist Schock und Aufklärung zugleich.

Franco Ruault: «Baummord». Die staatlich organisierten Schweizer Obstbaum-Fällaktionen 1950-1975. Frauenfeld, 2021

Als Alternative zur industriellen Landwirtschaft mit ihren biodiversitätsfeindlichen Monokulturen hört man heute vermehrt (wieder) von der «Agroforstwirtschaft», einer Anbaumethode, bei der Nutzpflanzen wie Getreide oder Gemüse mit Bäumen kombiniert werden, wodurch der Artenreichtum gefördert, der Wasserhaushalt stabilisiert und der Boden vor Erosion und Degradation geschützt werden kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte man das landwirtschaftliche Heil genau in der entgegengesetzten Richtung, weg von der damals noch «Feldobstbau» genannten Mischkultur: Auf Anordnung des Bundes mussten ab 1950 Hundertausende Hochstammobstbäume gefällt werden. Ziel war die «Umstellung» auf eine «brennlose Obstverwertung» bzw. auf die nachfragegerechte Produktion von marktkonformem Tafelobst in effizient zu bewirtschaftenden Niederstammplantagen. Den Hintergrund bildete das 1932 in Kraft getretene Alkoholgesetz, in dessen Folge der Obstanbau durch die Alkoholverwaltung reguliert wurde. Diese machte mit der neu erhobenen Alkoholsteuer zwar Einnahmen, mit der Übernahmegarantie der Obstüberschüsse im Gegenzug aber Millionenverluste.

Besonders betroffen war das «Obstparadies» Thurgau, an dessen Beispiel Franco Ruault diese martialische staatliche Massnahme genauer untersucht hat. Der Historiker hat schriftliche Quellen ausgewertet, aber auch Interviews mit damaligen Akteuren geführt und dem Text viele Fotos beigefügt, so dass sich dieses noch junge, aber bisher unterbeleuchtete Kapitel der Schweizer Agrargeschichte sehr anschaulich liest.

Foto von Pauline Schwarz aus dem Häftlingsdossier Nr. 389, Justizvollzugsanstalt Lenzburg
Foto von Pauline Schwarz aus dem Häftlingsdossier Nr. 389, Justizvollzugsanstalt Lenzburg

8.4.2022, 18.30 Uhr: Pauline Schwarz

Zwischen Psychiatrie und Gefängnis

Buchpräsentation mit der Autorin Lisbeth Herger

Pauline Schwarz (1918–1982) wuchs in ärmlichen Verhältnissen in der Ostschweiz auf. Das Schicksal der Dienstmagd, die früh heiratete und mehrmals Mutter wurde, schien vorgezeichnet. Doch sie zeigte sich widerständig, lehnte sich gegen den Willen ihrer verschiedenen Ehemänner auf und versuchte sich mit kleinen Diebstählen und Betrügereien etwas Wohlstand zu erschleichen.
Gefängnis und psychiatrische Untersuchungen waren die Folge, denn Schwarz‘ Verhalten entsprach nicht dem Rollenbild jener Zeit. Im Gutachten der Zürcher Klinik Burghölzli von 1942 wurde sie als «moralisch defekt» bezeichnet.

Lisbeth Herger sichtete die ausgezeichnete Quellenlage in Form von psychiatrischen Gutachten, Gerichtsurteilen, Vormundschaftsakten und Scheidungspapieren und schildert packend die Lebensgeschichte einer Frau aus der Unterschicht.

Freitag, 8. April 2022, 18.30 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

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Unterschlupf; Henno Martin mit Hund Otto (Abbildung aus dem Buch)
Unterschlupf; Henno Martin mit Hund Otto (Abbildung aus dem Buch)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Henno Martin: Wenn es Krieg gibt, gehen wir in die Wüste. Eine Robinsonade in der Namib. Windhoek, 1980 (Neuausgabe; Originalausgabe 1956)

Henno Martin und Hermann Korn, zwei deutsche frisch promovierte Geologen, halten sich zu Forschungszwecken in den Naukluftbergen in Südwestafrika auf, wo sie nach Wasservorkommen für einheimische Farmer suchen, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Aus Angst, als Deutsche interniert zu werden, fliehen sie in die Wüste Namib und kämpfen dort zwei Jahre lang ums nackte Überleben. Ihr Alltag gestaltet sich beinahe urzeitlich: Die Unterkünfte sind provisorisch und primitiv, das Jagdglück wechselhaft, die Lebensbedingungen extrem – zwischen Verhungern am einen und Ertrinken am andern Tag. Die Angst, entdeckt zu werden, ist allgegenwärtig.
Der Erlebnisbericht liest sich wie ein spannendes Abenteuerbuch. Es lebt von wunderbaren Natur- und Tierbeschreibungen und von Reflexionen über das Leben – geschrieben von einem Wissenschaftler, der es gewohnt ist, seine Umgebung genau zu beobachten. Lange war das Buch vergriffen. Unter dem Titel «The Sheltering Desert» wurde es 1992 verfilmt und 1996 neu aufgelegt. Zu Zeiten, in denen das Reisen schwierig geworden ist, lässt sich mit diesem Buch das Fernweh ein bisschen stillen.

Vojin Saša Vukadinović (Hrsg.): Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976–1980. Göttingen, 2021

Die komplett in der Bibliothek des Sozialarchivs vorhandene und im Lesesaal einsehbare Zeitschrift «Die Schwarze Botin» (Signatur D 4604) war eines der wichtigsten Sprachrohre der Neuen Frauenbewegung in den 1970er Jahren. Trotz der Kontroversen, die sie auslöste, steht die in Westberlin verlegte Zeitschrift bis heute im Schatten der bekannten feministischen Magazine «Emma» und «Courage», die fast zeitgleich gegründet wurden. Das vorliegende Buch zeichnet die ereignisreiche Entstehungsgeschichte der «Schwarzen Botin» nach und dokumentiert zahlreiche Originalbeiträge zwischen 1976 und 1980.
Eine Vielzahl der Autorinnen der «Schwarzen Botin» wurde später weit über feministische Kreise hinaus bekannt. Für die Zeitschrift schrieben unter anderen bekannten Namen etwa Elfriede Jelinek, Christa Reinig oder Heidi Pataki. Die Redaktion um die beiden Herausgeberinnen Gabriele Goettle und Brigitte Classen verfolgte mit dem Avantgarde-Journal nur ein Ziel: aus der Frauenbewegung heraus eine Kritik an derselben zu formulieren – ohne Rücksicht darauf, sich damit Feind:innen in anderen feministischen Fraktionen oder in der politischen Linken zu machen.

Elisabeth Joris und Martin Widmer: Mutters Museum. Das Oberhaus und die ländliche Oberschicht am Zürichsee. Zürich, 2021

Das Oberhaus in Feldbach am Zürichsee ist eine wahre Schatzkammer. Ein Haus, in dem tausende Alltagsgegenstände, Briefe, Dokumente und Fotos lagern – alles fein säuberlich geordnet. Nichts wurde weggeworfen. Es sind die Überbleibsel von Mitgliedern der Familie Bühler, die in dem herrschaftlichen Gutshaus zwischen 1743 und 2016 wohnten. Alles, was nicht mehr gebraucht wurde, kam in den Estrich.
Die Historiker:innen Elisabeth Joris und Martin Widmer haben das Oberhaus-Archiv gesichtet und dies zum Anlass für ein Buchprojekt genommen. Die Fülle der Zeugnisse ermöglichte es ihnen, den Spuren der Familienmitglieder bis ins 18. Jahrhundert zu folgen und diese Geschichte reich bebildert nachzuerzählen. Es entsteht das Bild einer ländlichen Oberschicht, die sich immer wieder mit historischen Umwälzungen konfrontiert sah – und für die nicht zuletzt das Heiraten entscheidende Weichen stellte.
Heute ist das Oberhaus übrigens ein Bed and Breakfast: «B&B Oberhaushof» (oberhaushof.ch).

Alexander Klose, Benjamin Steininger: Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne. Berlin, 2021

«Kein anderer Stoff hat das moderne Leben so geprägt wie das Erdöl», sagen die Kulturforscher Alexander Klose und Benjamin Steininger. Sie erzählen von der «schaurig» schönen Zeit des Erdölzeitalters, der sogenannten Petromoderne: von ihren Errungenschaften wie Luftballons, Kraftstoff oder Kosmetik genauso wie von den negativen Auswirkungen des Abbaus und Verbrauchs wie Kriege ums Öl, Klimakrise oder mit Plastik vermüllte Meere. In 43 Kapiteln zeigen die beiden Autoren auf witzige und kluge Weise auf, wie sehr wir mit dem «Schwarzen Gold» verstrickt sind und wie schwierig es ist, sich von ihm zu trennen. In den einzelnen Kapiteln geht es beispielsweise um Pferdekopfpumpen, den «Terminator» (Arnold Schwarzenegger) oder um Daten als das «neue Öl».
Das Buch ist sehr sorgfältig gemacht und wurde in Deutschland als eines der schönsten Bücher 2021 ausgezeichnet. Texte, Fotos und visuelle Gestaltung überzeugen. Zwischen den Kapiteln gibt es Querverweise, so dass sich das Buch linear, aber auch mit Gewinn querlesen lässt.
Die Autoren haben das Forschungskollektiv «Beauty of Oil» gegründet und die Ausstellung «Oil – Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters» im Kunstmuseum Wolfsburg (4.9.2021 bis 9.1.2022) mitgestaltet. Der Katalog zur Ausstellung ist ebenfalls im Sozialarchiv verfügbar (Signatur 146858).

Martin J. Bucher: Führer, wir stehen zu dir! Die Reichsdeutsche Jugend in der Schweiz, 1931–1945. Zürich, 2021

«Ich gelobe, dem Führer Adolf Hitler treu und selbstlos zu dienen.» Bis 1945 schworen über 2’500 deutsche Kinder und Jugendliche in der Schweiz ihren Eid auf den Führer des nationalsozialistischen Deutschlands. Sie waren Mitglieder der Reichsdeutschen Jugend in der Schweiz, eines Ablegers der Hitlerjugend. Noch bis zum 1. Mai 1945 tolerierten die Schweizer Behörden die Aktivitäten der Organisation. Nach deren Verbot wurden der Landesjugendführer und andere fanatische Nazis aus der Schweiz ausgewiesen.
Die Dissertation von Martin J. Bucher zeigt, wie zu Beginn der 1930er Jahre die ersten Standorte der Hitlerjugend in der Schweiz parallel zu NSDAP-Ortsgruppen entstanden. Ziel der deutschen Hitlerjugend war es, alle im Ausland lebenden «reichsdeutschen Jungen und Mädel» unter ihrer Fahne zu vereinigen. Dafür baute man bis 1943 rund fünfzig Standorte der Reichsdeutschen Jugend in der Schweiz auf. Die Kinder und Jugendlichen unterstanden hiesigen Hitlerjugend-Führern, die vom Auslandsamt der Reichsjugendführung in Berlin angeleitet wurden. Die Tätigkeit der Reichsdeutschen Jugend unterschied sich nicht von derjenigen der Hitlerjugend in Deutschland: Heimabende mit weltanschaulicher Schulung, Sport, Fahrten und Lager prägten den Dienst.

Ibram X. Kendi: How to Be an Antiracist. München, 2020

«Wir wissen, wie man rassistisch ist. Wir wissen, wie man so tut, als ob man nicht rassistisch wäre. Jetzt müssen wir nur noch lernen, wie man antirassistisch wird.»
Ibram X. Kendi, einer der meistdiskutierten Historiker Amerikas, stellt in seinem neuen Buch die These auf, dass das Gegenteil von «rassistisch» nicht etwa «nicht-rassistisch» wäre, sondern «antirassistisch» heisst. Selbstkritisch und anhand von Ereignissen aus seinem eigenen Leben erzählt Kendi von seinem sich entwickelnden Konzept des «Antirassismus». Er erklärt unter anderem, warum «Nichtrassistisch-Sein» und «Color-Blindheit» verschleierter Rassismus sind und wieso eine Neutralität in der Rassismus-Debatte schlichtweg nicht existieren kann. Dabei berührt er sowohl Beobachtungen und Erfahrungen, die er selber als Kind und später als Professor gemacht hat, als auch zeitgenössische Ereignisse wie den Raubüberfall auf O.J. Simpson oder die Präsidentschaftswahlen von 2000 in den Vereinigten Staaten, aber auch historische Momente wie die wissenschaftlichen Vorschläge zum Polygenismus im Europa des 16. Jahrhunderts und zur Rassentrennung in den Vereinigten Staaten.
Kendis Konzept des Antirassismus gibt dem Diskurs über Rassengerechtigkeit in Amerika neuen Schwung und entwirft ein grundlegend neues Verständnis von Rassismus. Wir alle sind Rassist:innen, ob wir es merken oder nicht, und wir sind in unserer Ignoranz so lange Teil des Problems, bis wir Teil der Lösung werden und antirassistisch handeln. In seiner Erzählweise ist «How to Be an Antiracist» auch für Nicht-Historiker:innen geeignet und empfehlenswert für alle, die über ihr Bewusstsein für Rassismus hinausgehen wollen.