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Sonos – Schweizerischer Hörbehindertenverband (F 5153)

Der Schweizerische Hörbehindertenverband Sonos wurde 1911 von Eugen Sutermeister als «Schweizerischer Fürsorgeverein für Taubstumme» gegründet. Ein Jahr später wurde der Verein Träger der 1907 ebenfalls von Sutermeister gegründeten «Schweizerischen Taubstummenzeitung». 1933 schloss sich der Verein mit der «Schweizerischen Vereinigung für Bildung taubstummer und schwerhöriger Kinder» zum «Schweizerischen Verband für Taubstummenhilfe» zusammen. Im Jahr 1954 übernahm der Verband die Trägerschaft der Berufsfachschule für Lernende mit Hör- und Kommunikationsbehinderung (BSFH) in Zürich-Oerlikon. In den Jahren 1960 und 1978 folgten weitere Umbenennungen des Verbandes zu «Schweizerischer Verband für Taubstummen- und Gehörlosenhilfe» bzw. «Schweizerischer Verband für das Gehörlosenwesen», bis im Jahr 2002 der Namenswechsel zu «Sonos» stattfand – dannzumal allerdings noch mit dem Namenszusatz «Schweizerischer Verband für Gehörlosen- und Hörgeschädigten-Organisationen». Im November 2017 übernahm Sonos die Plattform «hearZONE», eine Firma von Menschen mit einer Hörbehinderung, die seit 2013 Sensibilisierungskampagnen und Öffentlichkeitsarbeit im Interesse von Menschen mit einer Hörbehinderung leistet. Mit der Übernahme folgten wichtige Änderungen im Dachverband und seit dem Beschluss der ausserordentlichen Delegiertenversammlung im Januar 2018 heisst der Verband «Sonos – Schweizerischer Hörbehindertenverband».

Dem Dachverband Sonos gehören heute 43 Mitgliederorganisationen an; er setzt sich dafür ein, Barrieren für Hörbeeinträchtigte und Gehörlose abzubauen. Ferner bietet Sonos Unterstützung bei der wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung von Menschen mit Hörbeeinträchtigung, koordiniert berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung und sorgt zusammen mit Partnern für die Sicherstellung des bedürfnisgerechten Dolmetscherdienstes.

Der Bildbestand von Sonos ist grösstenteils Eugen Sutermeister zu verdanken, welcher bei den meisten Aufnahmen selbst hinter der Kamera stand. Sutermeister wurde am 16. November 1862 in Küsnacht am Zürichsee geboren. Mit vier Jahren erkrankte er an einer schweren Hirnhautentzündung, deretwegen er sein Gehör verlor. Auf Wunsch seines Vaters absolvierte Sutermeister eine Lehre als Graveur mit anschliessender Gesellenzeit an verschiedenen Orten. Die Unzufriedenheit mit seinem Beruf stürzte Sutermeister in eine Krise. Seine Eltern schickten ihn daraufhin in verschiedene Gehörlosenanstalten und -heime. Bei einem Kuraufenthalt in Bad Boll lernte Sutermeister seine spätere Ehefrau Susanna Bieri kennen. 1894 kehrte Eugen Sutermeister in die Schweiz nach Bern zurück, wo er eine Stelle als Gehilfe in einer Buchhandlung antrat. Zwei Jahre später, im Oktober 1896, heirateten Susanna Bieri und Eugen Sutermeister. Kurze Zeit arbeitete er bei der Eidgenössischen Landestopographie als Kupferstecher. Aus gesundheitlichen Gründen musste er die Anstellung wieder aufgeben und wagte danach den Schritt in die Selbstständigkeit. Er eröffnete in Aarau einen kleinen Verlag, in dem er zunächst mehrere Zeitschriften für Hörende herausgab. Schliesslich erschien mit «Lieder eines Taubstummen» seine erste eigene Publikation, auf welche noch zwei weitere Liederbändchen folgten. Ausserdem wirkte Sutermeister ab 1903 als kantonaler Taubstummenprediger von Bern.

Eugen Sutermeister schwebte schon seit Längerem die Herausgabe einer eigenen Taubstummenzeitung für die Schweiz vor, welche den Kontakt zwischen den oftmals weit verstreut lebenden Gehörlosen und deren Weiterbildung fördern sollte. Auf eigenes Risiko gab Sutermeister schliesslich am 1. Januar 1907 die erste Nummer der «Schweizerischen Taubstummenzeitung» heraus. Er blieb bis zu seinem Tod Redaktor der Zeitung, die später «Gehörlosenzeitung» hiess.

Bei seiner Tätigkeit als bernischer Taubstummenprediger und -fürsorger stiess Sutermeister jedoch zunehmend an seine Grenzen. Deshalb veröffentlichte er 1910 eine Broschüre mit dem Titel «Fürsorge für erwachsene Taubstumme in der Schweiz – Denkschrift und Aufruf an das Schweizervolk». Das Echo auf die Publikation war derart positiv, dass sich im März 1911 ein Initiativ-Komitee bildete, dem unter anderem ein Bundesrat, National- und Ständeräte, Ärzte und Pfarrer angehörten. Aus dieser Initiative entstand am 2. Mai 1911 der «Schweizerische Fürsorgeverein für Taubstumme». Eugen Sutermeister wurde als Zentralsekretär und Susanna Sutermeister als Aktuarin gewählt.

Im Rahmen seiner vielseitigen Tätigkeiten im Gehörlosenwesen sammelte Eugen Sutermeister bereits ab 1896 diverses Bild- und Schriftmaterial und brachte dieses in seiner privaten Bibliothek unter. Er pflegte Kontakte im In- und Ausland und besuchte Landesbibliotheken und Staatsarchive, um Dokumente einzusehen und diese teilweise von Hand abzuschreiben. Er besichtigte Schulen und Heime für Gehörlose und machte fotografische Aufnahmen von den Institutionen und Einzelpersonen. Im Jahr 1929 veröffentlichte Eugen Sutermeister mit dem zweibändigen Titel «Quellenbuch zur Geschichte des Schweizerischen Taubstummenwesens: ein Nachschlagebuch für Taubstummenerzieher und Freunde» sein Lebenswerk. Auf rund 1’440 Seiten mit 400 Bildern legte er dar, was er in seiner bisherigen Tätigkeit recherchiert, zusammengetragen oder selbst geschrieben hatte. Neben dem Quellenbuch publizierte Sutermeister weitere Schriften, führte Briefwechsel mit Behörden, Fachleuten und Gehörlosen und wurde regelmässig an Tagungen und Kongresse als Referent eingeladen.

Am 8. Juni 1931 starb Eugen Sutermeister an den Folgen einer Herzschwäche in Bern. Susanna Sutermeister starb vier Jahre später. Sie unterstütze zeitlebens ihren Ehemann bei seiner Arbeit, indem sie ihn unter anderem auf Reisen ins In- und Ausland begleitete und als Vermittlerin und Beraterin für Gehörlose wirkte.

Der Bildbestand des Schweizerischen Hörbehindertenverbands Sonos im Sozialarchiv umfasst rund 460 Glasdias, von denen etwa ein Drittel auch als Papierabzüge vorhanden ist. Einen Grossteil des Bestandes machen sechs Fotoalben aus, welche von Sutermeister persönlich angelegt wurden und mehrheitlich Abzüge der Glasdias beinhalten. Ein Fotoalbum mit dem Titel «Die Schweizerischen Taubstummen-Anstalten und -Heime in Wort und Bild» erstellte Sutermeister für die Landesausstellung 1914. Das Album wurde an der Landesausstellung für die BesucherInnen zur Ansicht ausgelegt und zeigte Aufnahmen von damaligen Gehörlosenanstalten und -heimen in der Schweiz sowie von Gottesdiensten und Kongressen der Gehörlosen. Die weiteren fünf Alben entstanden zu einem späteren Zeitpunkt. Sutermeister porträtierte in ihnen detailliert das Gehörlosenwesen von der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre im In- und Ausland. Neben den Gehörloseninstitutionen und deren BewohnerInnen sind oftmals die zahlreichen «Taubstummenbünde und -vereine» während ihrer Aktivitäten oder die unterschiedlichen Berufsbilder von Gehörlosen abgebildet. Einige der Aufnahmen finden sich auch im 1929 erschienenen Lebenswerk von Sutermeister, dem «Quellenbuch zur Geschichte des Schweizerischen Taubstummenwesens», wieder. Ausserdem sind einige private Aufnahmen von Eugen und Susanna Sutermeister vorhanden, welche das Paar beispielsweise daheim mit Gästen oder in den Wanderferien zeigen.

Neben diesen Fotos aus der Vor- und Frühzeit des Verbandes sind noch Aufnahmen aus den 1980er und 1990er Jahren vorhanden, die vermutlich für die Öffentlichkeitsarbeit verwendet wurden. Sie zeigen verschiedene Alltagssituationen von Gehörlosen, beispielsweise einen Arztbesuch oder ein Bewerbungsgespräch. Ausserdem sind rund 40 Objekte aus der Frühzeit der Verbandstätigkeit vorhanden, wobei es sich grösstenteils um Karten, Foto- oder Lauttafeln handelt.

Quellen:

findmittel.ch/archive/archNeu/Ar621.html
hoerbehindert.ch/ueber-uns/
100 Jahre sonos… im Einsatz für Gehörlose und Schwerhörige! 1911 bis 2011. Festschrift. Sonos, Zürich 2011, S. 9-16. Gr 12733

Drogenkonsum in Zürich – mit den Augen von Gertrud Vogler

«Platzspitz» – der Begriff löst visuelle Reminiszenzen unterschiedlichster Art aus. Die einen sehen die grosszügige, gepflegte Anlage hinter dem Landesmuseum in Zürich vor dem inneren Auge, bei anderen dominieren die Schreckensbilder aus der Zeit der offenen Drogenszene. Für viele, zumindest für viele ältere Personen, werden sich beide Bildwelten überlagern und vermischen. Es bleibt ein Staunen, und zwar sowohl darüber, wie es einst hatte soweit kommen können, als auch über den Umstand, dass heute vor Ort vom Schrecken jener Zeit überhaupt nichts mehr zeugt.
Die Jahre zwischen 1986 und 1995 werden ordnungs- und drogenpolitisch allgemein als verheerendes Jahrzehnt wahrgenommen. Der Konsum illegaler Substanzen fand in Zürich (und anderen grossen Schweizer Städten) unter den Augen der Öffentlichkeit und in einem Ausmass statt, der zuerst lähmte und dann zur überstürzten und wenig weitsichtigen Räumungsaktion führte. In Zürich spielten sich der offene Drogenhandel und auch der Konsum zwischen 1986 und 1992 im Platzspitz ab, nach der Räumung im Februar 1992 dann zwischenzeitlich in den umliegenden Quartierstrassen und -höfen und schliesslich auf dem Areal des stillgelegten Bahnhofs Letten. Im Februar 1995 räumte die Polizei auch diesen Ort.
Die Erinnerung an diese Jahre ist wie bei allen intensiven Erlebnissen sinnlich geprägt. Die blauen Lichter in Hauseingängen und Toiletten, die den Süchtigen das Finden der Venen verunmöglichen sollten. Der unerträgliche Gestank nach Exkrementen, Erbrochenem und Blut in dunklen Ecken. Die Bilder der Verelendung jener Menschen, die das Pech hatten, ohne Obdach auf dem Platzspitz, dem Letten oder «auf der Gasse» leben zu müssen. Die Medien sorgten in jener Zeit mit ihrer dichten Berichterstattung dafür, dass krasse Motive Alltagsgut wurden: Der Süchtige, der im vernarbtem Arm nach einer Einstichstelle sucht. Die junge Frau, die sich, notdürftig geschminkt, prostituiert, um sich den nächsten Schuss zu finanzieren. Die Polizei, die einen Kleindealer stellt und ihn nötigt, alle Säcke zu leeren.
Die Motivvarianz der Bilder ist erstaunlich schmal. Gerade deshalb prägten aber Fotos die Wahrnehmung der Öffentlichkeit umso eindeutiger: Auf dem Platzspitz (und später auf dem Letten) manifestierte sich eine grauenerregende Unterwelt, die es so eigentlich gar nicht geben durfte, die aber offenbar doch genug faszinierend war, dass sie in den Printmedien und in der Fernsehberichterstattung permanent visuell wiedergekäut wurde. Dabei darf man nicht vergessen, dass die betroffenen Gebiete damals für Medienschaffende nicht einfach zugänglich waren. FotografInnen und Kameraleuten schlugen Ablehnung, Verweigerung oder Aggression entgegen. Die Arbeit, die sie dort verrichteten, war oft nur gegen Bezahlung oder im Schutz der Polizei möglich. Viele Agenturbilder entstanden deshalb mit dem Teleobjektiv aus sicherer Distanz oder aus der Vogelperspektive. Besonders gut für diese Zoo- oder Safariperspektive eignete sich dafür die Kornhausbrücke, die über den Bahnhof Letten führt.

Kosmos Platzspitz und Lila Bus

Ein wesentlich differenzierteres Bild dieses Jahrzehnts ergibt sich bei der Beschäftigung mit den Aufnahmen der Zürcher Fotografin Gertrud Vogler (1936-2018). Sie hat noch zu Lebzeiten ihr fotografisches Werk – es umfasst rund eine Viertelmillion Negative – dem Sozialarchiv vermacht. Allein aus der Platzspitz- und Letten-Periode sind rund 10’000 Negative vorhanden. Die allermeisten Bilder sind aus eigenem Interesse und abseits journalistischer Verwertbarkeitsüberlegungen entstanden. Zahlreiche Bilder erschienen aber auch im Rahmen der Berichterstattung der WoZ, wo sie als Bildredaktorin angestellt war und die Themen Drogenkonsum und Drogenpolitik mit ihrer Kamera begleitete. Was aber genau hat Vogler auf Film gebannt? Und unterscheidet sich ihr Blick vom fotografischen Mainstream?
Gertrud Voglers Bilder vom Platzspitz zeigen Drogenkonsumierende beim Vorbereiten ihrer Spritzen, PolizistInnen bei Razzien, freiwillige HelferInnen beim Kochen, medizinisches Personal bei der Abgabe von sterilen Injektionsutensilien oder bei der Betreuung von Drogenkonsumierenden, Putzequipen bei der Reinigung der Parkanlage und vieles mehr. Regelmässig machte sie Aufnahmen von den sogenannten Filterlifixern. Die über Monate und Jahre entstandenen Bildserien zeigen die überaus harten Lebensumstände dieser schwächsten Gruppe auf dem Platzspitz und illustrieren zugleich beispielhaft den Leerlauf einer auf Repression ausgerichteten Drogenpolitik. Die Filterlifixer standen oder sassen meist beim Rondell hinter aus Brettern, Kisten und SBB-Gepäckwagen zusammengebauten Tischen. Darauf boten sie den Drogenkonsumierenden saubere Spritzen, Löffel, Ascorbin-Säure, Tupfer, Wasser und Feuerzeug an. Im Gegenzug erhielten sie die Zigarettenfilter, durch die die Süchtigen das unreine Heroin in die Spritzen aufgezogen hatten. 5 bis 15 solcher Filter, die erst ausgekocht werden mussten, ergaben einen Kick. In einem Artikel der WoZ vom 28.4.1989 bezeichnete Gertrud Vogler die Infrastruktur der Filterlifixer als «Selbsthilfe» und «Überlebenshilfe». «Liebevoll und zweckmässig» seien die Filterlitische errichtet worden. An ihnen werde geredet und gestritten, würden Probleme geteilt und Neuigkeiten ausgetauscht. Umso stossender empfand sie die unter Polizeischutz erfolgten Räumungen und Vertreibungen. Zahlreiche Bildserien der Jahre 1989 und 1991 zeigen Angestellte des Gartenbaumamtes und einer Reinigungsfirma, die unter Polizeischutz mit einem Wasserschlauch das Rondell und den davorliegenden Platz abspritzen, während sich die Süchtigen mit ihren Brettern, SBB-Gepäckwagen und weiteren Habseligkeiten davon machen, nur um kurze Zeit später an gleicher Stelle erneut ihre Tische aufzustellen.
Die Behörden rechtfertigten die repressive Drogenpolitik und den mit ihr einhergehenden Sisyphos-Aktionismus mit der vielzitierten «Sogwirkung», die um jeden Preis möglichst minimiert werden sollte. Um die Attraktivität des Platzspitzes für weitere Drogenkonsumierende zu verringern, wurde den Filterlifixern das Leben noch schwerer gemacht. Aber auch Hilfsangebote von Freiwilligen oder die Arbeit von GassenarbeiterInnen litten unter Polizeieinsätzen und Razzien. Für Gertrud Vogler waren solche Massnahmen nichts Anderes als kalte Verwaltungsakte, ähnlich der Errichtung unmenschlicher Notunterkünfte (von ihr als «Notschlafbunker» bezeichnet), die – im Untergrund erstellt – die Segregation von Süchtigen und übriger Bevölkerung förderten, an den Bedürfnissen der Drogenabhängigen aber weitgehend vorbeizielten.
Gegen dauernde Polizeipräsenz und Repression auf dem Platzspitz setzte sich auch die Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Jugendprobleme ZAGJP ein. Der gemeinnützige Verein wurde bereits 1971 gegründet und leistete einen unverzichtbaren Beitrag zur Lösung der drängenden Jugendprobleme. Gertrud Vogler fotografierte über mehrere Jahre die Gassenküche auf der Kronenwiese, die Gassenstation zur schwarzen Krähe an der Hörnlistrasse und die Auffangstation Tiefenbrunnen. Aussen- und Innenansichten der Gebäude wechseln sich ab und gewähren Einblicke in die Lebenswelt der BesucherInnen. Auf dem Platzspitz begleitete sie ab 1985 die ZAGJP-Projektgruppe «Parklüüt». Die «Parklüüt» verrichteten zwischen 1985 und 1990 einfache Gartenarbeiten und putzten im Auftrag des Gartenbaumtes die Parkanlage. Leuten aus der Drogenszene wurde so die Möglichkeit einer niederschwelligen Erwerbsmöglichkeit gegeben. Zudem sollte ein Beitrag zur Sauberkeit geleistet werden, ohne die «gestressten DrogenkonsumentInnen» zusätzlich zu belästigen. Ein weiteres Projekt der ZAGJP war der Kiosk an der Walchebrücke. Die Gründe für die Errichtung eines Kioskes beschrieb die ZAGJP im August 1986 so: Der Platzspitz sei heute «ein Aufenthaltsort von verschiedenen Randgruppen-Szenen». Durch Kontrollen der Polizei werde eine «negative Stimmung» verbreitet, so dass «Gruppierungen, die nicht der Drogenszene angehören, den Park immer mehr meiden». Um zu verhindern, dass die «Gassenszene isoliert und gesellschaftlich abgeschottet» werde, sei es nötig, eine «positive Veränderung gegen die repressive Stimmung zu erwirken». Der freistehende Kiosk beim Parkeingang sollte von «gassenfreundlichen Leuten und Gassenleuten» zusammen betrieben werden. Die Eröffnungsveranstaltung am 6.9.1986 wurde mit Querflöte und Fagott musikalisch begleitet. Die an diesem Anlass porträtierten MitarbeiterInnen strahlen allesamt eine grosse Ungezwungenheit aus und zeugen von einer Vertrautheit mit der Fotografin. Bemerkenswert ist auch der von Gertrud Vogler am Eröffnungstag fotografierte NZZ-Aushang «Zürcher Drogenpolitik – Verbot der Spritzenabgabe aufgehoben», der Bezug nimmt auf das 1985 erlassene Spritzenabgabeverbot und somit auf eines der kontroversesten drogenpolitischen Ereignisse der 1980er Jahre. Zwischen 1986 und 1992 schuf Gertrud Vogler eine Reihe von Bildern des «letzten Kiosks vor der Autobahn», den Mitarbeitenden und den diesen Ort frequentierenden Menschen. Neben Zeitungen, Zeitschriften und dem üblichen Kiosksortiment gehörten Sitzgelegenheiten, Bartische und eine Infovitrine zur Ausstattung. Die Vitrine wurde insbesondere genutzt, um auf die Gefahren von Aids, die Möglichkeit einer kostenlosen Gelbsuchtimpfung und auf weitere nützliche Informationen für Drogenkonsumierende aufmerksam zu machen. Der Kiosk war täglich tagsüber geöffnet und prägte die Situation beim Landesmuseum und Eingang zum Platzspitz auf seine ganz besondere Weise.
Zivilgesellschaftliches Engagement war auch der Auslöser für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Platzspitz. Nachdem die «Arbeitsgemeinschaft Weihnachten 88 am Platzspitz» ein Zelt mit Festbetrieb errichtet hatte, gründete sich Ende Januar 1989 die ARGE Platzspitz. Der heterogen zusammengesetzte Verein umfasste Einzelpersonen verschiedenen Alters, unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Vorstellungen. «Was uns eint, ist unser Anliegen, für die Drogenabhängigen humanere Bedingungen zu schaffen auf politischer, medizinscher und menschlicher Ebene», heisst es im ersten Jahresbericht von 1989. Der Zweck der Arbeitsgemeinschaft bestand darin, auf dem Platzspitz präsent zu sein, um das «Ghetto» zu durchbrechen und der polizeilichen Repression entgegenzuwirken. Ferner förderte der Verein in der Öffentlichkeit das Verständnis für die Betroffenen und setzte sich für eine Entkriminalisierung der Drogenabhängigen ein. Gertrud Vogler begleitete die Arbeit der freiwilligen HelferInnen. Sie dokumentierte in eindrücklichen Bildern die Zeltaktion, das Aufstellen eines Baugespannes für einen Pavillon und den Transport einer mobilen Baubaracke, die von einer Baufirma mit einem Lastwagen im Auftrag der ARGE Platzspitz in den Park gebracht und bereits zweieinhalb Stunden nach der illegalen Errichtung unter Polizeischutz wieder entfernt wurde. Weitere Bildserien behandeln die Teegruppe und die Kochgruppe, die ab 1989 mit Kochutensilien und später mit einem Holzwagen täglich an die hundert warme Mahlzeiten zubereitete, mit den Süchtigen ins Gespräch zu kommen und sie allenfalls zur Mitarbeit beim Kochen zu motivieren versuchte.
Frauenspezifische und -gerechte Suchtarbeit fand in Zürich mit dem im Seefeld platzierten Lila Bus erstmals 1989 einen Ort. Als Teil der städtischen Kontakt- und Anlaufstellen wandte sich die Pioniereinrichtung an Frauen, die sich ihren Drogenkonsum mit Prostitution finanzierten. In der Folge entstanden durch das beharrliche Engagement zahlreicher Frauen und insbesondere ihrer umfangreichen Vernetzungsarbeit weitere Angebote, auch in anderen Regionen der Schweiz. Im Lila Bus konnten sich die Drogenkonsumentinnen ausruhen, einen Rechtsdienst in Anspruch nehmen oder ärztliche Betreuung erhalten. Es gab die Möglichkeit auf Verpflegung und natürlich auf unterstützende Gespräche mit den Mitarbeiterinnen. Im Innern der Sozialeinrichtung hing ein Ordner, der mit «Schwarze Liste Freier» beschriftet war und vor skrupellosen Freiern warnte. Personal und Benützerinnen erlaubten Gertrud Vogler, den Innenraum dieses intimen und geschützten Ortes zu fotografieren. Gleiches gilt für das Atelier Purpur der ZAGIP. Auch hier dokumentierte sie den Alltag von Frauen, die – um ihre Sucht zu finanzieren – keinen anderen Weg als den Gang in die Prostitution sahen. Im geschützten Raum des Ateliers fanden sie Geborgenheit, aber auch Zeit für einen stressfreien Drogenkonsum, konnten sich künstlerisch betätigen oder ihren Ängsten auf Plakaten Ausdruck verleihen.

Der andere Blick

Gertrud Vogler erfasste durch ihre intensive fotografische Arbeit den Alltag verschiedener Personengruppen. Sie fotografierte herumliegende Spritzenverpackungen, Graffiti, Transparente, Infotafeln, Infozettel, Hausordnungen und ein an die Wand geheftetes Gedicht über die Heroinsucht. Kontinuierlich entstanden Aufnahmen in Notschlafstellen, medizinischen Einrichtungen und an Manifestationen, Veranstaltungen und Demonstrationen gegen die Drogenpolitik. Von grosser Bedeutung sind zudem Bilder, die nach der Schliessung des Platzspitzes entstanden sind. Hierbei standen neben der Situation am Bahnhof Letten vorab der Kreis 5 und seine Bevölkerung im Mittelpunkt ihres Interesses. Und ein besonderes Augenmerk richtete Gertrud Vogler auf Gitterabsperrungen, die während Jahren die visuelle Wahrnehmung der Zürcher Innenstadt prägten.
Der Fotografin gelang es, die Vielschichtigkeit von Drogenpolitik, Drogenkonsum und Drogensucht in unzähligen Nuancen bildlich einzufangen. Dank Empathie mit den Süchtigen, langjährigen persönlichen Bekanntschaften und einem Zugang jenseits jeder Sensationslust erweiterte und diversifizierte sie das landläufige Bild des Drogensüchtigen und nahm Partei, ohne vereinnahmend zu wirken. Als aufmerksame Augenzeugin und Chronistin setzte sie sich für eine humanere Drogenpolitik und vor allem für die Würde der von der Sucht Betroffenen ein. 1990 veröffentlichte Gertrud Vogler zusammen mit Chris Bänziger «Nur saubergekämmt sind wir frei»: Bänziger schrieb aus der Innensicht eines Junkies, Vogler steuerte den Bildteil bei. Das Gemeinschaftswerk wurde zu einem Erfolg, 1991 erschien bereits die dritte Auflage.
Gertrud Vogler hat dem Sozialarchiv keine Auflagen gemacht im Umgang mit ihren Fotos. Einzige Ausnahme: Nie sollte eines ihrer Fotos für Werbezwecke verwendet werden. Im Fall der Platzspitz- und Letten-Aufnahmen haben wir uns bei der Selektion für eine Publikation auf der Datenbank Bild + Ton für folgendes Vorgehen entschieden: Grundsätzlich von einer Veröffentlichung ausgeschlossen bleiben aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes Aufnahmen, bei denen die Abgebildeten eindeutig identifizierbar sind. Wir sind damit bewusst rigider als Gertrud Vogler es beispielsweise bei ihrer Buchpublikation war – sie kannte die Fotografierten und konnte vor einer Veröffentlichung deren Einwilligung einholen. Die anderen Negative haben den üblichen archivischen Bewertungsprozess durchlaufen: Motivwiederholungen, nicht metadatierbare sowie technisch nicht gelungene Fotos wurden nicht in die Datenbank Bild + Ton aufgenommen. Online sind nun über 3’000 Fotos aus dem Zeitraum 1985-1995 zugänglich, die mit der Suchtproblematik, dem Platzspitz oder dem Letten zu tun haben. Es bleibt zu hoffen, dass sie unser Bild jenes Jahrzehnts ergänzen und in visuellem Sinn bereichern.

Stefan Länzlinger / Alexander Lekkas
(Alexander Lekkas wirkte 2017/18 als Mitarbeiter des Sozialarchivs an der Erschliessung der Fotos von Gertrud Vogler mit; er arbeitet als Archivar bei Schneider History AG.)

SozArch F 5107-Na-22-088-005 (Ausschnitt)
SozArch F 5107-Na-22-088-005 (Ausschnitt)

Frauenstreik – gestern und heute

Nebst der laufend sich erweiternden Sammlung zum Frauenstreik vom 14. Juni 2019 in der Sachdokumentation stellt das Sozialarchiv auch zwei Dossiers mit digitalisierten Flugschriften zum Frauenstreik vom 14. Juni 1991 zum Download zur Verfügung:
Teil 1 (PDF, 12 MB)
Teil 2 (PDF, 15 MB).

Zudem stehen rechtzeitig zum diesjährigen Frauenstreik auch die Fotos von Gertrud Vogler zum Frauenstreik 1991 online bereit (Suche nach «Vogler Frauenstreik»).

Across the Universe zum Walgesang

Das Audioarchiv des WWF

Die letzten Nachzügler sind im audiovisuellen Bestand des WWF integriert. Es handelt sich vor allem um Tonträger aus den 1970er und 1980er Jahren.

Der WWF versteht es bekanntlich meisterlich, seine Anliegen einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Das Logo mit dem Pandabären gehört zu den weltweit bekanntesten Brands. Die intensive Öffentlichkeitsarbeit mit Sammelaktionen, eigenen Zeitschriften, Kinowerbung, Briefmarken etc. spricht vor allem Kinder und Jugendliche an. Bis vor wenigen Jahren existierten in der Schweiz in mehreren Städten Panda-Boutiquen, die Plüschtiere, Kleider und Gadgets mit dem Panda-Logo verkauften. Etwas weniger bekannt und massenwirksam waren die Bemühungen des WWF, akustisch auf sich aufmerksam zu machen. Immerhin gelang es aber bis in die 1980er Jahre immer wieder, mehr oder weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler an Bord zu holen, die sich mit ihren Tonträgern in den Dienst des WWF stellten.

Bereits 1969 erschien die LP „No one’s gonna change our world“. Angestossen hatte das Projekt der britische Komiker Spike Milligan. Die LP vereinigt Songs von bekannten Bands wie den Hollies, den Bee Gees oder Cliff Richard. Besonders aufsehenerregend war, dass es Milligan gelungen war, einen bislang unveröffentlichten Song der Beatles als Opener zu präsentieren. Die Lennon-Komposition „Across the Universe“ sollte im Jahr darauf in einer etwas süsslichen Version auf dem letzten Beatles-Album „Let it be“ erneut erscheinen. Der für den US-amerikanischen und europäischen Markt konzipierte Sampler steht am Anfang einer neuen Ära von Benefizanlässen und Charity-Plattenveröffentlichungen. Allgemein gilt das von George Harrison initiierte Concert for Bangla Desh (1971 im Madison Square Garden in New York) als Auftakt für eine Reihe von ähnlichen Veranstaltungen, bei denen sich Musikstars auf die Bühne stellen, um den Hunger in Afrika oder AIDS zu bekämpfen.

Auch der WWF Schweiz sprang – in bescheidenem Ausmass – auf diesen Zug auf. 1970 veröffentlichten die Minstrels eine Single namens „Dodo“, und zwar auf dem neuen, WWF-eigenen Label Panda-Records. Die Minstrels waren die Shooting Stars der Schweizer Pop- und Folkszene, die 1969 mit „Grüezi wohl, Frau Stirnimaa“ ihren ersten und grössten Hit hatten. Die Jazzfreunde bediente der WWF Schweiz mit drei Tonträgern von Roland Fisch’s Wild Life Jazz Band. Zwischen 1970 und 1975 erschienen die drei Platten „Listen to the Tigers“ (Panda Records), „Swinging Dixieland Evergreens“ (Tell Records) und „Roland Fisch’s Wild Life Jazz Band plays for the World Wild Life Found“ (Panda Records). Als Support für die WWF-Kampagne „Das Meer muss leben“ veröffentliche der Bündner Liedermacher Walter Lietha 1977 die Single „Delphin“. Und 1979 nahm der ex-Sauterelles Toni Vescoli die fortschrittskritische Single „s’chunt immer druf aa“ auf. Damit war das Popmusik-aktive Jahrzehnt des WWF aber auch schon wieder vorbei, diesen Schluss legt zumindest die aktuelle Archivsituation nahe. Als Ausklang erschienen 1983 noch der Schlager „Lasst die Tiere Tiere sein“ der mässig populären Sängerin Bea Abrecht und 1986 die LP „Special Session für WWF“ einer Formation namens d’Wöschbrätt Band.

Inhaltlich geben die wenigsten Beiträge etwas her. Wer griffige Parolen, kluge Reflexionen oder eine substanzielle Auseinandersetzung mit ökologischen Themen der 1970er Jahre sucht, wird enttäuscht. Beim Sampler „No one’s gonna change our world“ reichten offenbar Titelreizworte wie „Universe“, „Tiger“ oder „Wings“, damit das Stück berücksichtigt wurde. Die Minstrels setzen sich immerhin mit dem Thema von aussterbenden Tierarten auseinander. Mit dem titelgebenden „Dodo“ fokussieren sie allerdings auf ein Tier, das bereits im 17. Jahrhundert ausgestorben war, und kleiden das Ganze in einen munteren Folksong. Die B-Seite („That Hippo Feeling“) ist ein Instrumental. Die Musik des Jazzers Roland Fisch (mit Unterstützung der Sängerin Sonja Salvis) ist ohne jeden Bezug zu Ökologie; Fisch will nach eigenen Aussagen mit seinen Werken nicht Jazzgeschichte schreiben, sondern „erhalten – durch unterhalten“. Dafür warten die Linernotes mit einem ideellen Bekenntnis auf: „Die Wild Life Jazz Band sind die akustischen Mitstreiter des WWF.“ Umweltschutz sei das Gebot der Stunde, der Einsatz für aussterbende Tierarten dringend nötig. Die Band unternahm sogar eine Tour in Afrika, bei der auch die Unterweisung lokaler Machthaber nicht zu kurz kam: „Auf einer Ostafrika-Tournee erläuterten die weissen Musiker mit den schwarzen Rhythmen Staatspräsident Kenyatta und den Eingeborenen der Tierreservate, was die Erhaltung der natürlichen Umwelt und der Tiere wert ist.“

Walter Liethas Loblied auf die Delphine war perfekt auf die Kampagne „Das Meer muss leben“ abgestimmt. Die Meeressäuger sind „guet und gschied“ und haben gar eine eigene Sprache, um unter Wasser zu kommunizieren. Merkwürdigerweise erschien die Single nicht bei Panda Records, sondern beim Label des Trio Eugster. Toni Vescolis „s’chunt immer druf aa“ vermittelt noch am ehesten die zeitgenössische Öko-Moral: Die Umwelt kann nur genesen, die Tiere nur überleben, wenn alle ihr Verhalten ändern.

Eine der letzten akustischen Veröffentlichungen des WWF Schweiz gelangte 1987 auf den Markt. Kurz vor der Lancierung der Zweitauflage der Kampagne „Das Meer muss leben“ entstand die Kassette „Der Gesang der Wale“. Ursprünglich als Prämie für die Neuanwerbung von Mitgliedern gedacht, konnte die Kassette während der Kampagne im Herbst 1987 auch käuflich erworben werden, als der WWF (wie bereits 1977) wieder zu Ausstellungszwecken mit einem präparierten Finnwal durch die Lande zog. Die Kassette vereint Aufnahmen von Buckelwalen, Pottwalen und Delphinen. Der WWF versuchte damit an den kommerziellen Erfolg anderer Walgesangskonserven anzuknüpfen. Vorbild war insbesondere die LP „Songs of the Humpback Whales“, mit der dem US-amerikanischen Zoologen Roger Payne 1970 ein Bestseller gelungen war: Innert kurzer Zeit wurden über 100‘000 Tonträger verkauft. 2010 wurde die LP sogar ins National Recording Registry der Library of Congress aufgenommen. Die Faszination für die akustischen Äusserungen von Walen und Delphinen riss auch nach Paynes Grosserfolg nicht ab. Die Gründe dafür sind vielfältig. Paynes Aufnahmen waren eine Sensation, weil man erst seit wenigen Jahren überhaupt Kenntnis von diesen Lauten hatte. Die Walstimmen konnten isoliert aufgenommen werden, es gab keine anderen störenden Laute. Daraus entstanden tatsächlich liedähnliche Strukturen mit einem gewissen Wohlklang, der auch den tiefen Tonfrequenzen geschuldet ist. In den 1970er Jahren lancierte der WWF mehrere grosse Kampagnen zum Schutz von Tierarten, die vom Aussterben bedroht waren. Die Wale standen im Zentrum der Kampagne „Rettet die Meere“ (1977). Im Zuge dieser Aktion wurden neue biologische Erkenntnisse popularisiert: Die grossen Meeressäuger erhielten das Image von klugen, in matriarchalen Familienverbänden lebenden Tieren. Mit ihren Lautäusserungen waren sie ganz offensichtlich fähig, untereinander zu kommunizieren. Ihre Friedfertigkeit zeigte sich auch darin, dass sich die meisten Wale ausschliesslich von Krill ernährten. Früher gebräuchliche Zuschreibungen wie „Killerwal“ für diejenigen Wale, die sich nicht an diesen Speiseplan hielten, wurden mit einem Bann belegt. Akustischer Ausdruck all dieser positiven Attribute war der Walgesang. Dass seine Entzifferung nicht bis in Detail möglich war, tat der Faszination keinen Abbruch, sondern verlieh dem Phänomen noch eine zusätzliche, geheimnisvolle Aura. Der Walgesang gehört bis heute zu den wenigen tierischen Stimmen, die ausschliesslich positiv konnotiert sind.

Der kurze Einblick ins Tonarchiv des WWF Schweiz zeigt, dass populäre Musik offenbar nur bedingt geeignet ist, tierschützerische Anliegen zu transportieren. Was bis heute von den Anstrengungen des WWF auf dem Gebiet bekannt ist, deutet nicht darauf hin, dass man dem Medium (im Gegensatz zu anderen audiovisuellen Propagandamitteln) allzu grosses Entwicklungspotenzial zugestanden hätte. Das eigene Label Panda Records wurde offenbar in den 1980er Jahren wieder eingestellt.

> Das Tonarchiv des WWF Schweiz ist online: https://www.bild-video-ton.ch/bestand/signatur/F_1023

Digitalisiert wurden alle Eigen- oder Fremdproduktionen im Auftrag des WWF Schweiz. Auf die Digitalisierung von Eigenproduktionen wurde in den wenigen Fällen verzichtet, wo die Tonträger in den Findmitteln der Fonoteca Nazionale nachgewiesen sind.

Anspieltipps:
> Der Gesang der Wale
> Toni Vescoli: S’chunt immer druf aa

Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter erzählen

Abschluss des Oral-History-Projekts

Zwischen 2012 und 2017 führten die beiden Historikerinnen Nicole Peter und Anja Suter im Auftrag der UNIA ausführliche Gespräche mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. Sie befragten Männer und Frauen, die in den 1930er und 1940er geboren wurden und in verschiedenen Funktionen jahrzehntelang für Schweizer Gewerkschaften tätig waren: als Zentralpräsidentin, Geschäftsleitungsmitglied, Vertrauensmann oder Migrationssekretärin.

Insgesamt führten Nicole Peter und Anja Suter 42 Interviews. Die mehrstündigen Gespräche folgen einem lebensgeschichtlichen Aufbau und sind grundsätzlich gleich strukturiert. Die Interviewten geben Auskunft über ihre Herkunft und den beruflichen und gewerkschaftlichen Werdegang. Besonders gut dokumentiert sind die sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das Entstehen von neuen Mitgliedersegmenten (MigrantInnen) und die sich verändernde Rolle von Frauen in den Gewerkschaften. Aus inhaltlichen Gründen wurde der Bestand ergänzt mit den 7 Interviews, die Rita Schiavi bereits in den 1980er Jahren mit GewerkschaftsexponentInnen geführt hatte.

Die Gespräche fanden wenn immer möglich in der jeweiligen Muttersprache der Interviewten statt. Die französisch und italienisch geführten Gespräche unterstützten Fabienne Kühn und Anna Luisa Ferro Mäder.

> Die Interviews sind in voller Länge an den PC-Stationen im Lesesaal des Sozialarchivs abrufbar. Online verfügbar sind aus vertraglichen Gründen nur kurze Ausschnitte.

Übersicht über die interviewten Personen:

Serie 1 (16 Interviews):
Yolanda Cadalbert, Henri Chanson, Heinz Dreyer, Rita Gassmann, Fernando Gianferrari; Marijan Gruden, Peter Küng, Dario Marioli, Peter Nabolz, Josiane Pasquier, Fritz Reimann, Roland Roost, Pierre Schmid , Vincenzo Sisto, Gilbert Tschumi , Max Zuberbühler.
Serie 2 (9 Interviews):
Christiane Brunner, Bruno Cannellotto, François Favre, Ruth Jäggi Ernst Jordi, Raffaelle Maffei, Martin Meyer, Hans Schäppi, Claude Vaucher.
Serie 3 (17 Interviews):
Renzo Ambrosetti, Peter Baumann, Manuel Beja, Franz Cahannes, Antonio de Bastiani, Daniel Heizmann, Francine Humbert-Droz, Bernd Körner, Fabienne Kühn, Beda Moor, Alfiero Nicolini, Vasco Pedrina, Andreas Rieger, Jacques Robert, Rita Schiavi, Fabio Tarchini, Vreny Vogt.
Interviews von Rita Schiavi aus den 1980er Jahren (7 Interviews):
Eduard Blank, Männi Gloor, Elsi Hasler, Walter Kobi, Elsi Hasler, Traugott Hasslauer, Ewald Käser

Gertrud Vogler mit Kamera auf dem Gelände des Autonomen Jugendzentrums Zürich, Oktober 1981 (Foto: Michel Fries; SozArch F 5111-013-012)
Gertrud Vogler mit Kamera auf dem Gelände des Autonomen Jugendzentrums Zürich, Oktober 1981 (Foto: Michel Fries; SozArch F 5111-013-012)

Gertrud Vogler (1936-2018)

Aus Gertrud Voglers Wohnung im Lochergut blickt man weit über die Gleisanlagen und über Aussersihl. Vor einem halben Jahrzehnt war ich dort zum ersten Mal zu Besuch – vorausgegangen war ein scheues Telefonat, das ich in meiner Funktion als Archivar des Sozialarchivs machte: ob sie sich vorstellen könnte, dereinst ihr fotografisches Werk im Sozialarchiv zu deponieren? Was bei anderen komplizierte Verhandlungen mit unwägbarem Ende zur Folge haben könnte, war bei Gertrud Vogler nach drei Zigaretten erledigt: Sie, die mich vorher nicht kannte, war nach dem Besuch einverstanden, ihr gesamtes Archiv dem Sozialarchiv zu schenken. Ein unschätzbarer Fundus für die Sozialgeschichte der Schweiz, Resultat von 25 Jahren aufmerksamem, kritischem und empathischem Schauen durch die Linse!

Gertrud Vogler begann Mitte der 1970er Jahre mit Fotografieren: Sie regte sich über die Qualität der Fotos auf, die in Publikationen der Frauenbewegung kursierten, und griff selbst zur Kamera. Ihr Augenmerk galt von Anfang an den sozialen Bewegungen, die sie dokumentieren wollte, «weil es sonst niemand macht». Als Auftragsfotografin arbeitete sie zuerst für verschiedene Publikationen, von der «Annabelle» bis zum «Vorwärts». Kurz nach der Gründung der WoZ kam die Anfrage, ob sie die Bildredaktion übernehmen wolle. Dort blieb sie bis zur Pensionierung 2003.

In diesen Jahren sind – teils im Auftrag der WoZ, teils aus ureigenem Interesse – eine Viertelmillion Fotos entstanden. Man kennt ihre Aufnahmen vom Platzspitz oder der Pariser Défense. Sie war in der Zürcher Jugendbewegung präsent und hat in besetzten Häusern fotografiert. Mit gleichem Engagement hat sie aber auch die Veränderungen des öffentlichen Raums durch penetrante Werbetafeln und die Vergitterung der Stadt dokumentiert. Und falls sie mal für einen Auftrag die Aktionärsversammlung einer grossen Bank fotografieren musste, hat sie neben Erwartbarem eben auch die Aushilfskräfte fotografiert, die mit den Stimmurnen durch die Massen eilten oder das Catering vorbereiteten.

Gertrud Vogler konnte Aufnahmen machen, wo den einen der Zutritt verwehrt war oder andere sich gar nicht mehr hin getrauten. In einer Zeit, in der Fotografen oft skeptisch beäugt oder als Spitzel verdächtigt wurden, genoss sie das Vertrauen der Szenen, die sie fotografierte – und die ihr am Herzen lagen.

Erschienen im P.S. vom 9. Feb. 2018

Erste-Hilfe-Kasten des Fahrwarts Walter Bachmann (SozArch F Oa-5242)
Erste-Hilfe-Kasten des Fahrwarts Walter Bachmann (SozArch F Oa-5242)

Bild + Ton: Neu online

Arbeiter-Touring-Bund

Der bestehende reichhaltige Bestand des Arbeiter-Touring-Bundes (ATB) konnte weiter ergänzt werden: Hinzugekommen sind 15 Sektionsfahnen sowie mehrere Objekte aus dem Alltag der Arbeiterradfahrer, zum Beispiel ein Erste-Hilfe-Kasten, der im Fahrradrahmen befestigt wurde und alle notwendigen Utensilien für medizinische Notfälle enthält. Das Material stammt grösstenteils aus der ATB-Sektion Wollishofen, die per Ende 2017 aufgelöst wurde, einen Teil der Aktivitäten aber unter dem neuen Namen Freizeitclub Wollishofen weiterführt.

Filme der Naturisten-Bewegung

1937 richteten Eduard Fankhauser und Elsa Fankhauser-Waldkirch das Naturistengelände in Thielle am Neuenburgersee ein. Der Mitgliederbestand wuchs bis 1948 auf 2’500 an, wozu die erstmals 1928 erschienene Zeitschrift «Die neue Zeit» wesentlich beitrug. Auch die 1961 gegründete gleichnamige Stiftung verfolgte als Ziel die Förderung einer gesunden Freizeitgestaltung im Sinne der Lebensreform. Der Film „neu hellas – I. weltsporttreffen und V. inter. kongress der fkk 1939“ zeigt NaturistInnen aus verschiedenen Ländern während der Wettkämpfe und in der Freizeit am Seeufer. Erhalten sind auch Sequenzen zur Vorgeschichte und zum Betrieb des Geländes zwischen 1935 und 1937. Zwei weitere kurze Filme geben Einblick in den Alltag in Thielle in den 1970er Jahren.

> https://www.bild-video-ton.ch/bestand/signatur/F_9072

Ebenfalls neu online

Folgende kleinere Film- und Videobestände konnten in den letzten Wochen ebenfalls digitalisiert und erschlossen werden:

Frauenbewegungsgeschichte digital

Ende August ist die interaktive Website „Neue Frauenbewegung 2.0“ mit einem grossen Launch-Event im Schweizerischen Sozialarchiv online gegangen. Die Seite wurde in einjähriger Arbeit von einem Forschungsteam der Universität Bern unter Leitung von Kristina Schulz im Rahmen eines Agora-Projekts des Schweizerischen Nationalfonds entwickelt und wird vom Sozialarchiv gehostet. An der Entwicklung hat ein Beirat mit Spezialistinnen und Spezialisten des Sozialarchivs, der Pädagogischen Hochschule Bern, der British Library, von lernetz.ch und weiteren Institutionen mitgewirkt.

Die Seite enthält thematisch geordnete Video-Clips von 18 Oral-History-Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie weitere Materialien, Hintergrundinformationen, didaktische Vorschläge und ein Quiz zur Schweizer Frauenbewegung seit 1968. Dabei werden die folgenden Themenfelder abgedeckt: Aktivismus und Emanzipation, Körper, Kunst und Kultur, Politik und Institutionen, feministische Räume, Netzwerke, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Familie und Beziehungen.

Die Website vermittelt nicht nur historisches Grundlagenwissen, sondern bietet auch eine Plattform, die einen übergreifenden Dialog zwischen Forschung und Öffentlichkeit ermöglicht. Das Publikum erhält auf unterhaltsame Weise Gelegenheit, sich über die Neue Frauenbewegung in der Schweiz zu informieren, kann interaktiv eigene Erfahrungen hinzufügen und Diskussionen lancieren. Die Website ist primär für den Unterricht auf der Sekundarstufe II konzipiert, kann aber auch für die universitäre Lehre sowie die individuelle Bildung genutzt werden.

> www.neuefrauenbewegung.sozialarchiv.ch

Buch zur Website:
Kristina Schulz, Leena Schmitter, Sarah Kiani: Frauenbewegung – Die Schweiz seit 1968: Analysen, Dokumente, Archive. Baden 2014

Porträt von Fritz Schwarz, Aufnahmedatum unbekannt (SozArch F 5051-Fx-011)
Porträt von Fritz Schwarz, Aufnahmedatum unbekannt (SozArch F 5051-Fx-011)

Der Nachlass von Fritz Schwarz im Sozialarchiv

Mit dem Nachlass von Fritz Schwarz (1887-1958) befinden sich Unterlagen eines der wichtigsten Schweizer Vertreter der Freiwirtschaftsbewegung im Sozialarchiv. Der Grossteil des Bestandes wurde 2008 übergeben. Nun ist er um zwei Nachlieferungen erweitert und bietet verschiedene Ansätze für wissenschaftliche Arbeiten.

 

Freiwirtschaftliche Ideen gestern und heute

Die Freiwirtschaftsbewegung entstand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie fusst auf den Ideen von Silvio Gesell. Die zentralen Forderungen: Grundbesitz sollte in Gemeineigentum übergehen und gegen Abgaben von Einzelpersonen genutzt werden können. Durch eine Regulierung der Geldmenge und sogenanntes Freigeld, das periodisch an Wert einbüsst, sollten Konjunkturschwankungen gemindert und Krisen verhindert werden. Geld sollte demnach nicht gehortet werden (was passiert, wenn es genügend Zinsen abwirft), sondern ständig in Umlauf bleiben.
Den grössten Zulauf hatte die Bewegung in den 1930er Jahren. In der Schweiz standen ihr etliche prominente Personen vor allem auch aus Kulturkreisen nahe, wie die archivierte Korrespondenz von Fritz Schwarz zeigt. Ihre Ideen wurden hingegen von Politikern des gesamten Parteienspektrums und auch von Ökonomen in der Regel ignoriert, belächelt oder bekämpft.
Trotzdem sind öffentliches Baurecht oder die Aufgabe des Goldstandards seit Jahrzehnten Tatsache, ebenso wie Negativzinsen heute von verschiedenen Finanzinstituten praktiziert werden. Auch aktuelle Regionalgeld-Projekte, die Idee einer bargeldlosen Gesellschaft oder die Vollgeld-Initiative, die vermutlich 2018 zur Abstimmung gelangt, knüpfen zumindest teilweise an freiwirtschaftliche Theorien an oder stehen in deren Tradition. Ob die Freiwirtschaft auf einzelne finanzpolitische Massnahmen reduziert werden kann oder als umfassendes Konzept gesellschaftlicher Organisation jenseits des Schemas Kapitalismus/Marktwirtschaft und Kommunismus/Planwirtschaft betrachtet werden muss, darf diskutiert werden.

Zur Person Fritz Schwarz

Soziale Gerechtigkeit war jedenfalls das Hauptanliegen von Fritz Schwarz. Er wurde am 1. Mai 1887 im oberen Krautberg (Oberthal) geboren. Zwischen 1902 und 1906 besuchte er das Lehrerseminar in Hofwil, Klassenkollege war unter anderem der spätere SP-Bundesrat Ernst Nobs. Zunächst noch überzeugter Sozialdemokrat, wandte sich Fritz Schwarz der Freiwirtschaft zu und war ab 1917 Geschäftsführer des Freiland-Freigeld-Bunds (später Liberalsozialistische Partei) sowie Redaktor der „Freistatt“ (später „Freiwirtschaftliche Zeitung“ und „Freies Volk“). Der definitive Bruch mit der SP manifestierte sich 1922 in einem Disput zwischen Schwarz und seinem früheren Kollegen Nobs. Schwarz kritisierte vermeintliche Inkonsistenzen in der marxistischen Wirtschaftstheorie. Nicht das Eigentum an Produktionsmitteln sei Hauptursache von Ungleichheit, sondern ganz im Sinne der Freiwirtschafter der Boden- und der Geldzins, welcher den Besitzenden Einnahmen ohne Arbeitsaufwand erlaube.
Umgekehrt werten marxistische Kritiker auch heute die Fokussierung auf den Zins als verkürzte Kapitalismuskritik, die zudem im Falle von Gesells Schriften anschlussfähig an antisemitische und sozialdarwinistische Ideen sei. Tatsächlich biederten sich in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren Teile der Freiwirtschaftsbewegung (vergeblich) bei den Nationalsozialisten an. In der Schweiz ist keine solche Tendenz auszumachen.

Finanz- und Sozialpolitik

Von 1934 bis 1958 sass Fritz Schwarz für den Schweizer Freiwirtschaftsbund bzw. die Liberalsozialistische Partei im Berner Kantonsparlament, von 1936 bis 1958 im Stadtrat von Bern. Er kritisierte die Deflationspolitik, welche die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre verschärfte. Daneben machte er sich für die Rechte von Frauen und Flüchtlingen stark, kritisierte Administrativversorgung ebenso wie die Zensur, von welcher auch die Freiwirtschaftlichen Publikationen betroffen waren.
Als Redaktor und Verleger zeichnete Schwarz für eine Vielzahl von Publikationen verantwortlich. In seinen Hauptwerken setzte er sich mit den Ursachen von Finanzkrisen auseinander und formulierte seine Idee von einer neuen Geld- und Bodenpolitik. Als Referent versuchte Schwarz die Bevölkerung mit unzähligen Vorträgen von den Ideen der Freiwirtschafter zu überzeugen.
Dass trotz ausbleibendem Durchbruch in der nationalen Politik einzelne Aspekte der Freiwirtschaftslehre durchaus Umsetzung durch ihre „Gegner“ fanden, illustriert folgende (nicht datierte) Anekdote aus der Biografie „Lebensbild eines Volksfreundes“, verfasst von Werner Schmid: „Einmal traf Fritz Schwarz … mit Jean Hotz, dem späteren Minister, zusammen. Etwas herablassend fragte Hotz, der einst die Freiwirtschaftslehre als ,Mist› definiert hatte, ob Fritz immer noch daran glaube. Darauf Fritz Schwarz ,Nume-no halb›. (Nur noch halb.) Erstaunt erkundigte sich Hotz nach dem Grund. Darauf Fritz: ,Will mer die angeri Hälfti afe im Bundeshus gloubt.› (Weil man die andere Hälfte schon im Bundeshaus glaubt.)“

Pädagoge, Reformer, Verleger

Schwarz stand Reformbewegungen nahe. Er ernährte sich zeitweise vegetarisch und war abstinent, leitete als Pädagoge das Institut „Pestalozzi-Fellenberg-Haus“ mit zugehörendem Verlag und Buchhandlung. Finanziell lebte Schwarz in schwierigen Verhältnissen. Er investierte viel Zeit unentgeltlich in seine politische und publizistische Tätigkeit und verschuldete sich u.a. mit den Druckkosten für die Werke des Schriftstellers Carl Albert Loosli.
Schwarz war ab 1910 verheiratet mit Anna Zaugg, aus der Ehe gingen die zwei Töchter Anny und Hedy hervor. Anna Schwarz-Zaugg litt an Lähmungen. Noch während der Ehe mit ihr verliebte sich Fritz Schwarz in Elly Glaser (1897-1978), welche er 1929 heiratete. Elly Schwarz übernahm die Leitung der zum Verlag gehörenden Buchhandlung. Kinder aus dieser Ehe sind Hans Schwarz und Ruth Binde, welche den Nachlass ihrer Eltern zusammenstellte und dem Sozialarchiv übergab.
Fritz Schwarz verstarb 1958. Seine Hauptwerke wurden in den letzten Jahren vom Synergia-Verlag neu publiziert. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich exemplarisch, wie stark sich die Wertung freiwirtschaftlicher Theorien geändert hat: Der damalige Nationalbank-Präsident Philipp M. Hildebrand liess sich 2010 wie folgt zitieren: „In der Tat sollten sich viele Ideen und Ansichten von Fritz Schwarz als visionär erweisen.“

Die Unterlagen im Sozialarchiv (Ar 162)

Der Nachlass gibt Einblick in das von Idealismus geprägte Schaffen eines der führenden Köpfe der Schweizer Freiwirtschaftsbewegung. Er enthält u.a. umfangreiche private und politische Korrespondenz mit prominenten Zeitgenossen (u.a. diverse Bundesräte, General Guisan, Albert Einstein), Freiwirtschaftern (u.a. Silvio Gesell, Hans Bernoulli, Werner Zimmermann, Theophil Christen, Friedrich Salzmann, Max Bill), Schriftstellern und Journalisten (Emil Ludwig, Hermann Hesse, Meinrad Liener, Jakob Bührer, Carl Albert Loosli). Zudem enthält der Bestand Werke, Fotografien, Zeichnungen und Objekte. Ebenfalls vorhanden sind die Korrespondenz von Ruth Binde rund um die Publikationen der Werke von Fritz Schwarz nach dessen Tod sowie Unterlagen zur Rezeption und zur Familiengeschichte.

Als konkrete Ansatzpunkte für wissenschaftliche Arbeiten bieten sich folgende Themen an:

  • Freiwirtschaft und Sozialdemokratie (Archivalien/Publikationen: Korrespondenz zwischen Fritz Schwarz und Ernst Nobs / Fritz Schwarz’ Ausführungen „Robert Grimm gegen Silvio Gesell!“ sowie „Der grosse Irrtum der Sozialdemokratie“)
  • Freiwirtschaft in der Schweizer Politiklandschaft während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre: Kritik an Deflationspolitik / Appellation an Bundesrat / Verhältnis zu anderen Parteien (div. Korrespondenz u. Publikationen)
  • Journalisten, Architekten, Lebensreformer, Abstinenzler? Die Schweizer Freiwirtschafter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Korrespondenz zw. Schwarz u. div. Exponenten der Bewegung)
  • Das „Experiment von Wörgl“ und seine Rezeption in der Schweizer Freiwirtschaftsbewegung (Dossier mit Korrespondenz / Publikation)
  • Fritz Schwarz als Verleger von Carl Albert Loosli (Korrespondenz Schwarz-Loosli)
  • Fritz Schwarz, die Schweizer Freiwirtschafter und ihr Vordenker Silvio Gesell: Adaption der Gesell‘schen Lehre / Verhältnis Schwarz-Gesell (Korrespondenz zw. Schwarz u. Gesell)
  • Privatkorrespondenz eines Politikers: Welchen Stellenwert nimmt das Politische in Fritz Schwarz’ Briefwechsel mit Elly Schwarz-Glaser ein? (Korrespondenz zw. Fritz Schwarz u. Elly Glaser)

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl):

Archiv

  • Ar 162 Schwarz, Fritz und Elly, Privatarchiv

Bild + Ton

  • F 5051 Schwarz, Fritz (1887-1958)

Sachdokumentation

  • KS 32/229 Liberalsozialistische Partei der Schweiz LSP
  • KS 332/45 bis KS 332/49 Freiwirtschaft, z.B.:
    KS 332/45b-5 Schwarz, Fritz: Der grosse Irrtum der Sozialdemokratie. Erfurt, 1922.
    KS 332/45b-7 Schwarz, Fritz (Hg.): Robert Grimm gegen Silvio Gesell!, oder, Der Kampf gegen Freiland-Freigeld. Bern, 1921.
  • QS 38.31 Liberalsozialistische Partei der Schweiz LSP
  • ZA 38.31 Liberalsozialistische Partei der Schweiz LSP

Bibliothek

Zeitschriften

  • Die Freistatt: Zeitschrift für Kultur und Schulpolitik (1917-1921); Das Freigeld: Zeitschrift des Schweizer Freiland-Freigeld-Bundes (1922-1923) (Signatur: NN 64)
  • Freiwirtschaftliche Zeitung: Organ des Schweizer Freiland-Freigeld-Bundes (Signatur: Z 47 A)
  • Freies Volk: Wochenzeitschrift für das Schweizervolk (Signatur: Z 47)

Bücher

  • Schmid, Werner: Fritz Schwarz: Lebensbild eines Volksfreundes. Darmstadt 2008. (Signatur: 119611)
  • Schwarz, Fritz: Autosuggestion – die positive Kraft. Darmstadt 2007 (Signatur: 119165)
  • Schwarz, Fritz: Das Experiment von Wörgl. Darmstadt 2007 (Signatur: 119162)
  • Schwarz Fritz: Der Christ und das Geld. Darmstadt 2008 (Signatur: 119164)
  • Schwarz Fritz: Morgan: der ungekrönte König der Welt. Darmstadt 2008 (Signatur: 119166)
  • Schwarz, Fritz: Segen und Fluch des Geldes in der Geschichte der Völker, 2 Bde. Darmstadt 2010-2012 (Signaturen: 122447:1 / 122447:2)
  • Schwarz, Fritz: Vorwärts: zur festen Kaufkraft des Geldes und zur zinsbefreiten Wirtschaft. Darmstadt 2007 (Signatur: 119163)
  • Schwarz, Fritz: Wenn ich an meine Jugend denke. Darmstadt 2010 (Signatur: 122691)

Neu im Archiv: Urs Eigenmann, gesellschaftskritischer «Fernsehpfarrer» (Ar 192)

«Sie sind als gemein-gefährlicher Hetzer geboren – und mischen sich in Sachen, die Sie nichts angehen – an Stelle für den Frieden zu beten.» So und noch heftiger konnten Reaktionen auf das «Wort zum Sonntag» ausfallen, wenn Priester Urs Eigenmann dieses hielt. Der Theologe römisch-katholischer Konfession mischte sich in Sachen ein, die ihn in seinem Verständnis sehr wohl etwas angingen. Er scheute sich nicht, auch vor grossem Publikum pointiert Stellung zu aktuellen sozialpolitischen Themen zu beziehen. Entsprechend interessant ist der Vorlass, der sich neu im Sozialarchiv befindet.

Eigenmann (*1946) steht in der Tradition der Befreiungstheologen und der religiösen Sozialisten. Nach seinem Studium in Theologie und Philosophie an den Universitäten Luzern und Münster promovierte Eigenmann in Freiburg mit einer Arbeit über den brasilianischen Erzbischof und Befreiungstheologen Dom Hélder Câmara. Als Pfarrer amtete Eigenmann unter anderem zwischen 1984 und 1996 in Neuenhof und Killwangen. Von 1986 bis 1991 war er Sprecher der Sendung «Wort zum Sonntag» am Schweizer Fernsehen.

«Ich gehöre zu dem Teil der 68er-Generation, dessen Marsch durch die Institutionen noch nicht in der Toscana geendet hat», pflegte sich Eigenmann zuweilen vorzustellen, wie er in einem Interview mit Willy Spieler ausführte (Neue Wege, Band 100, 2006). Zentraler Begriff in Eigenmanns Leben ist das «Reich Gottes». Die «Reich-Gottes-Theologie» war von Leonhard Ragaz (1868–1945), dem Pionier der religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz, entworfen worden. Eigenmann diskutiert den Begriff und seine Konsequenzen für das Christentum und die Gesellschaft in der Publikation «Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit auf Erden» (SozArch Hf 1587) ausführlich. Im Interview mit Willy Spieler beschreibt er das «Reich Gottes» nicht als fixen Zustand oder «in sich geschlossenes Modell, das es zu verwirklichen gilt». Vielmehr enthalte es «Perspektiven, Leitlinien, Optionen», um «Verhältnisse heute zu beurteilen und zu gestalten». Die sozial-politischen Folgerungen: «Für Jesus geht es nicht um eine Verbesserung, sondern um eine Umkehr unserer Verhältnisse. Wenn er den Armen, und zwar den Bettelarmen, das Reich Gottes verheisst, dann sind Verhältnisse, in denen es diese Bettelarmen gibt, mit dem Reich Gottes nicht vereinbar. Dann bedeutet die radikale Umkehr, dass die Letzten die Ersten, die Ersten die Letzten sein werden.»

Seine politisch-religiöse Position, seine Kritik am «mittelständisch-bürgerlichen Christentum» sowie an Teilen der katholischen Kirche selbst trugen Eigenmann neben viel Lob zuweilen harsche Kritik ein. Im «Wort zum Sonntag» thematisierte Eigenmann etwa: Asylpolitik, die Schweiz im 2. Weltkrieg, Patriotismus, Imperialismus, Militarismus, die Abschaffung der Armee, Rassismus, Sexismus, Umwelt und Gentechnik, Energiepolitik, Armut und Chancengleichheit, die Ernennung von Bischof Wolfgang Haas. Die umfangreichen Reaktionen reichten von Beifall bis hin zu Morddrohungen, und die Programmverantwortlichen beim Schweizer Fernsehen sahen sich mit Konzessionsbeschwerden konfrontiert.

Sämtliche 33 Reden von Eigenmann im Rahmen des «Wortes zum Sonntag», die Reaktionen darauf und diesbezügliche Korrespondenz sowie Zeitungsartikel zu Kontroversen finden sich im Vorlass von Urs Eigenmann. Ebenfalls enthält der Bestand die Manuskripte von über 650 Predigten und von zahlreichen Vorträgen. Umfangreich dokumentiert ist auch das Wirken von Dom Hélder Câmara (1909– 1999). Verschiedene Publikationen von Urs Eigenmann werden in die Bibliothek des Sozialarchivs aufgenommen.