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Handakten – Unterlagen mit hohem Quellenwert

Unter "Handakten" verstehen Archivarinnen und Archivare Unterlagen, die von einer Funktionsträgerin bzw. von einem Mitarbeiter zum persönlichen Gebrauch geführt werden. Handakten sind also Dokumente, die neben der offiziellen Ablage existieren und meist eigene Notizen, Dokumentationsmaterial oder einfach nur Kopien wichtiger Unterlagen enthalten. Für Handakten charakteristisch ist die Mischung von persönlichen und "offiziellen" Unterlagen. Gerade handschriftliche Ergänzungen oder maschinenschriftliche Aktennotizen können besonders wertvolle Einblicke in die eigene Tätigkeit oder in das Geschehen innerhalb einer Organisation oder einer sozialen Bewegung vermitteln.

Im Jahr 2009 konnte das Sozialarchiv verschiedene Handakten-Bestände aus Privatbesitz übernehmen. Sie eignen sich besonders gut, um den hohen Quellenwert solcher Unterlagen zu illustrieren:

Handakten von Anne-Marie Holenstein, 1975-1984

Im Sommer 2009 erhielt das Schweizerische Sozialarchiv von Anne-Marie Holenstein Unterlagen zu den Aktivitäten der IPRA Food Policy Study Group. Die Aktivitäten dieses von Anne-Marie Holenstein koordinierten Netzwerks gehen zurück auf das Sommerseminar 1975 der IPRA (International Peace Research Association) in Västerhaninge, Schweden. Höhepunkt der Zusammenarbeit war die Gegeninformation zur Weltkonferenz über Agrarreform und ländliche Entwicklung, die 1979 in Rom stattfand. Die vorhandenen Dokumente vermitteln einen ausgezeichneten Einblick in die zum Teil recht kontroversen internen Diskussionen und geben Aufschluss über die personelle Zusammensetzung der internationalen Aktivistengruppe. Aus nahe liegenden Gründen wurden diese Unterlagen in den Archivbestand der Erklärung von Bern (SozArch Ar 430) integriert.

Handakten von Vreni Heer, 1975-1998

Die Zürcher Rechtsanwältin Vreni Heer (1945-2009) präsidierte in den 1980-er Jahren die Frauenkommission des VPOD. Gleichzeitig vertrat sie die Frauenkommission auch im Verbandsvorstand des VPOD. Die Unterlagen dokumentieren zum einen das persönliche Engagement von Vreni Heer für die Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, zum anderen aber auch die langsam, aber stetig wachsende Akzeptanz von gleichstellungs- und frauenpolitischen Forderungen innerhalb der schweizerischen Gewerkschaften. Die Handakten von Vreni Heer wurden dem VPOD-Archiv (SozArch Ar 39) einverleibt.

Handakten Verena Lüdi, 1955-1961

Verena Lüdi (* 1923) studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Zürich und Genf. Am 3. Januar 1956 eröffnete sie als erste selbstständige weibliche Anwältin eine Anwaltspraxis. 1958 gehörte sie zu den Mitorganisatorinnen der SAFFA (Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit). Die Handakten dokumentieren die Tätigkeit von Verena Lüdi als Präsidentin der Finanzkommission. Nebst einer umfangreichen Korrespondenz sind auch diverse Geschäfts- und Finanzunterlagen der SAFFA 58, Akten zur Ausstellungslotterie und zu diversen Rechtsfällen sowie Unterlagen zur Kinokommission vorhanden. Vor allem die Aktennotizen und die Briefe sind für die Arbeitsweise und das Klima im Organisationskomitee, aber auch ganz allgemein für den damaligen Zeitgeist sehr aufschlussreich. Die Handakten von Verena Lüdi wurden als Bestandteil des Archivbestandes SAFFA 58 (SozArch Ar 17) verzeichnet.

Videos aus dem Gewerkschaftsleben

Ähnlich wie andere soziale Bewegungen entdeckten die Gewerkschaften Ende der 1970er Jahre das Medium Video als Möglichkeit, sich selber zu dokumentieren. Die Videos sind aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Die Verbreitung von Consumerformaten wie U-Matic, VCR und VHS machte die Aufnahme von Videos finanziell erschwinglich und technisch auch für Laien schnell erlernbar.

Im Unterschied aber zur Jugendbewegung etwa, die sich innovativ die verschiedenen Ausdrucksformen des Mediums aneignete und Agitations-, Kunst- und parodistische Videos drehte, beschränkte sich das gewerkschaftliche Videoschaffen in den Pionier- und Experimentierjahren auf rein Dokumentarisches: Aufnahmen existieren vom Kongress der Gewerkschaft Textil Chemie Papier GTCP von 1978 in Luzern (Signatur: F 9013-025ff.), von einer Krisensitzung derselben Gewerkschaft 1977 (F 9013-019ff.) und von einer Jugendkonferenz der Gewerkschaft Bau und Holz (GBH von 1980, F 9013-031).

Die Aufnahmen sind zwar laienhaft, mit Tonstörungen oder -ausfällen behaftet und manchmal kurios lückenhaft oder langatmig. Als Zeitdokumente sind sie trotzdem von Bedeutung. Gerade die Aufnahmen des GTCP-Kongresses von 1978 und der erwähnten Krisensitzung geben einen Eindruck vom Zustand einer Gewerkschaft in schwieriger Zeit: Zum einen sorgten die Absatzeinbrüche in der Textilindustrie der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre und spektakuläre Schliessungen wie die des Firestone-Werks in Pratteln 1977 zu einer Krisenstimmung; die Mitgliederzahlen stiegen nicht etwa, sondern stagnierten oder gingen gar zurück. Zum andern entwickelten sich gewerkschaftsintern Spannungen zwischen der konsensorientierten alten Garde und jungen Kräften, die die bestehenden Verhältnisse mit kämpferischer Einstellung zu verändern trachteten.

Die Kongressaufnahmen sind ein konzentriertes Zeugnis dieser konjunkturell und ideologisch bestimmten Krisenstimmungen der GTPC. Als Bonus können wir auch miterleben, dass der als Festredner engagierte Bundesrat Willy Ritschard nicht nur Reden hielt, die von Wortwitz und träfen Sprüchen sprühten, sondern auch schlechtere Tage hatte.

«Stellen wir diese Waffe in unseren Dienst»

Die Publikation von Thomas Schärer und Stefan Länzlinger beleuchtet den Einsatz von Filmen in der Propaganda der Arbeiterbewegung. Erschienen sind Buch und DVD im Chronos Verlag Zürich.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Arbeiterbewegung in der Schweiz, sich mit dem Film auseinanderzusetzen. Schnell eroberte sich das Medium einen festen Platz in der Propagandaarbeit, wenn es darum ging, Wähler zu überzeugen, neue Mitglieder zu gewinnen oder Kampagnen zu lancieren.
Diese (fast vergessenen) Produktionen von Gewerkschaften, Partei und Amateuren sind einzigartige Zeitdokumente. Sie geben Aufschluss über das Selbstverständnis der Organisationen der Arbeiterbewegung und über das Funktionieren helvetischer Polit-Propaganda.

Sämtliche Filme der DVD werden hier erstmals auf einem nicht filmischen Träger herausgegeben. Fünf dieser Filme sind stumm; sie wurden anlässlich dieser Edition von Komponisten neu vertont und bieten neue, faszinierende Hör- und Seherlebnisse.