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Donnerstag, 2. März 2017, 19 Uhr: Von Italien nach Österreich

Buchpräsentation mit Alexandra Locher und Carlo Moos

Alexandra Locher: Bleierne Jahre: Linksterrorismus in medialen Aushandlungsprozessen in Italien 1970-1982. Wien: Lit 2013.

Protestbewegungen und staatliche Akteure konfrontierten sich im Italien der 1970er Jahre zunehmend gewaltsam. Die Roten Brigaden waren dabei die bekannteste linksextreme Gruppierung, die Gesellschaft und Staat mit Gewalt herausforderte. Was aber wurde in diesen Konflikten als Terrorismus bezeichnet?
Die Autorin untersucht das Wechselspiel von Gewalttaten und deren Wahrnehmung. Sie versteht Terrorismus auch als Kommunikationsprozess, der den Diskurs über legitime bzw. illegitime Gewalt veränderte. Die Medien, die diesen Diskurs sichtbar machten, stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Studie.

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Carlo Moos: Habsburg post mortem: Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie. Wien: Böhlau Verlag 2016.

Obwohl sich die Habsburgermonarchie im Herbst 1918 in ihre von einer umstrittenen Friedensregelung noch zu fixierenden Bestandteile auflöste, hat sie nie ganz zu existieren aufgehört. Nicht nur ist sie in Denkmälern und Inschriften aller Art sowie in weit über die einstige Monarchie verstreuten Bauten präsent, sondern sie wirkt in einer Vielzahl von literarischen Werken und anderen Zeugnissen stark nach.
Das Buch rekonstruiert dieses zweite Leben der Monarchie, indem es zunächst die politischen Implikationen der Verträge von St. Germain und Trianon und die nachfolgenden Grenzprobleme analysiert sowie verschiedene Renaissance-Bemühungen einbezieht, während es sodann auf einer vielfältigen Spurensuche der grossen kulturellen Hinterlassenschaft des untergegangenen Reichs nachgeht.

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Donnerstag, 2. März 2017, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum
Mit anschliessendem Apéro, Eintritt frei

Vor 80 Jahren: Der Spanische Bürgerkrieg und die Schweiz

Am 17. Juli 1936 putschten Teile der spanischen Armee gegen die Volksfrontregierung, die nach ihrem Wahlsieg fünf Monate zuvor die seit zwei Jahren regierende Rechtskoalition abgelöst hatte. Der „Frente Popular“ bestand aus linksbürgerlichen, sozialistischen und kommunistischen Parteien, wobei die Regierung ausschliesslich aus Ministern der bürgerlichen Republikaner gebildet wurde. Mit dem Putsch erreichte die seit einiger Zeit angespannte Situation in Spanien mit politischer Gewalt von allen Seiten eine neue Eskalationsstufe. Die Spanische Republik, die 1930/31 die Militärdiktatur Miguel Primo de Riveras abgelöst hatte, war mit ihrem Modernisierungsanspruch rasch auf den Widerstand der traditionellen Eliten gestossen, denen als Ideal weiterhin eine nationalistische Monarchie vorschwebte, in der die katholische Kirche, die konservativen Grossgrundbesitzer und das Militär die Politik bestimmen sollten. Die Demokratisierung des Staates, die Reformen in Armee und Bildungswesen, die Trennung von Staat und Kirche, die politische Gleichberechtigung der Frauen, die Gewährung von Autonomierechten für Katalonien, Galizien und das Baskenland und vor allem die Bestrebungen nach einer gerechteren Verteilung des Agrarlandes riefen heftige Reaktionen dieser Kreise hervor.

Die Putschisten stützten sich neben Teilen des Militärs im Mutterland vor allem auf die aus marokkanischen Söldnern bestehenden Kolonialtruppen in Nordafrika. Ihre Hoffnung, rasch die Kontrolle über Madrid und alle wichtigen Städte zu erlangen, erfüllte sich indessen trotz logistischer Unterstützung durch Nazi-Deutschland nicht. Sie eroberten zwar rasch mehrere Städte und Regionen, Madrid, Valencia und Barcelona blieben aber in der Hand der rechtmässigen Regierung. Damit war der Putsch faktisch misslungen. Es folgte ein blutiger Bürgerkrieg, der sich bis ins Frühjahr 1939 hinzog. Der Krieg forderte etwa eine halbe Million Tote, das Pro-Kopf-Einkommen des Landes sank um ein Viertel, die Infrastruktur wurde weitgehend zerstört und etwa 400’000 Menschen, darunter ein grosser Teil der geistigen Elite, flüchteten ins Ausland. Seit Dezember 1936 legte das franquistische Regime Straflager an, in denen Hunderttausende republikanischer Häftlinge „umerzogen“ werden sollten und dann als Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden. Die Zahl der Todesopfer dieses bis in die 40er Jahre hinein bestehenden Lagersystems ist sechsstellig. Noch bis in die frühen 50er Jahre setzten antifaschistische Widerstandsgruppen ihren Untergrundkampf fort. Die aus dem Bürgerkrieg hervorgegangene Diktatur hielt sich bis zu Francos Tod im Jahr 1975.

Auf der Seite der Republik kämpfte im Bürgerkrieg eine vielgestaltige und teilweise zerstrittene Allianz aus Sozialisten und Gewerkschaftern, bürgerlichen Republikanern, Anarchisten, Kommunisten, katalanischen Autonomisten und Anhängern der konservativen baskischen Regionalregierung. In den bei Kriegsbeginn eilends aufgestellten Partei- und Gewerkschaftsmilizen spielten Frauen eine wesentliche Rolle. Auf der Gegenseite gelang es General Francisco Franco, sich zum alleinigen Anführer aufzuschwingen und eine Koalition aus Militär, katholischer Kirche, Faschisten, Grossgrundbesitz und Monarchisten verschiedener Strömungen zu schmieden. Auch ausländische Sympathisanten schlossen sich Francos Truppen an, darunter etwa drei Dutzend Schweizer aus dem rechtsextremen Milieu.

Der Spanische Bürgerkrieg entwickelte sich rasch zu einem Konflikt mit zahlreichen transnationalen Dimensionen. Zwar bildete sich im September 1936 ein „Komitee für Nichteinmischung in die Angelegenheiten Spaniens“, dem die wichtigsten europäischen Staaten angehörten. Nichtsdestotrotz griffen das Deutsche Reich und Italien auf der einen und die Sowjetunion auf der anderen Seite immer stärker ins Kriegsgeschehen ein. Hitler-Deutschland und das faschistischen Italien unterstützten die Putschisten grosszügig mit Waffen, Flugzeugen und Interventionstruppen und das unter der Diktatur António de Oliveira Salazars stehende Nachbarland Portugal leistete ihnen logistische Hilfe. Demgegenüber hielten sich die westlichen Demokratien ans Nichtinterventionsabkommen. Neben der Sowjetunion unterstützte lediglich Mexiko die Spanische Republik aktiv.

Dass durch die starke militärische Abhängigkeit der Republik von der Sowjetunion der Einfluss der Kommunisten in der Volksfrontregierung dauernd zunahm, war die logische Konsequenz. Allerdings nutzten diese ihre Stärke keineswegs dazu, sozialrevolutionäre Ziele umzusetzen. Vielmehr massen sie entsprechend der aktuellen aussenpolitischen Strategie Stalins der Verteidigung der bürgerlichen Republik oberste Priorität zu und bekämpften innerhalb des republikanischen Lagers – auch mit militärischen und geheimpolizeilichen Mitteln – die anarchistischen und linksmarxistischen Kräfte, die bei Kriegsausbruch insbesondere in Katalonien zur Kollektivierung von Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungsbetrieben geschritten waren. Die aus einer Fusion von stalintreuen Kommunisten und Rechtssozialisten hervorgegangene Vereinigte Sozialistische Partei Kataloniens wurde so groteskerweise zur Interessenvertretung der bürgerlichen und gewerblichen Mittelschichten und Unternehmer, die dieser Partei in Massen beitraten. Die Kämpfe innerhalb des republikanischen Lagers in Barcelona im Mai 1937 sind etwa durch George Orwells Kriegsmemoiren in Erinnerung geblieben.

Die Nazis auf der anderen Seite entsandten die „Legion Condor“ nach Spanien und nutzten den Bürgerkrieg nicht nur als Test für die Bündnistreue Mussolinis, der etwa 80’000 „volontari“ nach Spanien abordnete, und die Nachgiebigkeit der westlichen Demokratien, sondern auch als Laboratorium des totalen Kriegs. Das prominenteste Beispiel ist die Bombardierung der baskischen Kleinstadt Gernika am Nachmittag des 26. April 1937 durch deutsche und italienische Kampfflieger. Der Angriff, der mehrere Hundert Todesopfer forderte und das kulturelle und religiöse Zentrum des Baskenlandes in Schutt und Asche legte, nahm die Schrecken des Luftkriegs gegen die Zivilbevölkerung vorweg, wie sie im Zweiten Weltkrieg und späteren Kriegen an der Tagesordnung sein sollten. Auch die von der franquistischen Seite verbreitete Fake News, Gernika sei von flüchtenden republikanischen Truppen im Rahmen einer Strategie der verbrannten Erde zerstört worden, nahm die Lügenpropaganda der folgenden Jahre vorweg. Pablo Picassos für die Pariser Weltausstellung von 1937 angefertigtes Monumentalbild „Guernica“ war damit Anklage und Menetekel zugleich.

Der Überlebenskampf der Spanischen Republik führte zu einer grossen internationalen Solidarisierungswelle. Etwa 40’000 Antifaschisten, darunter viele bekannte Intellektuelle, strömten in die Internationalen Brigaden. Mehr als die Hälfte der Interbrigadisten kam in Spanien ums Leben. Von den rund 800 Schweizer Spanienkämpfern waren etwa 60 Prozent Kommunisten, 12 Prozent Sozialdemokraten, 3.6 Prozent Anarchisten, 2.3 Prozent ehemalige KP-Mitglieder, 1.5 Prozent ehemalige SP-Mitglieder und knapp ein Prozent Trotzkisten. Damit waren im internationalen Vergleich die Kommunisten überdurchschnittlich stark vertreten. Das Durchschnittsalter der Schweizer Spanienkämpfer betrug etwa 27 Jahre; die meisten waren ledig. Die Zahl der Gefallenen ist nicht exakt bekannt, sie liegt zwischen 20 und 26 Prozent. Von den Überlebenden hatte etwa die Hälfte Verwundungen erlitten. Etwa ein Dutzend Schweizer Interbrigadisten fiel in die Hände der Putschisten und erlitt in deren Gefangenschaft zum Teil schwere Folter.

Zum zweiten Standbein der Solidarität mit der Spanischen Republik wurde die Spanienhilfe. Vor allem das kurz zuvor von SP und Gewerkschaftsbund ins Leben gerufene Schweizerische Arbeiterhilfswerk engagierte sich stark. Schon im September 1936 schickte es zehn Tonnen Trockenmilch nach Madrid. Trotz der anhaltenden Wirtschaftskrise erbrachte eine erste Sammlung bis Ende 1936 eine Spendensumme von über 50’000 Franken. Insgesamt spendete die Schweizer Bevölkerung etwa 800 Tonnen Hilfsgüter im Wert von über zwei Millionen Franken. Die Spanienhilfe stand unter dem Motto „Sauver l’Espagne, c’est sauver la Suisse“ und wies damit auf die dem Spanischen Bürgerkrieg zugemessene internationale Bedeutung hin. Eine wichtige Rolle bei diesen Hilfsaktionen spielte der Zürcher Robert Risler, dessen Nachlass sich heute im Schweizerischen Sozialarchiv befindet. Als passionierter Filmer produzierte er zudem eindrückliche Zeugnisse von den Kriegsschrecken und dem Schicksal der Flüchtlinge.

Verschiedene Versuche, spanische Kinder in der Schweiz unterzubringen, scheiterten vorerst am Widerstand der Schweizer Behörden. Hingegen konnten vor Ort mehrere Kinderheime und Kantinen für Kinder, Schwangere und alte Menschen eingerichtet werden. 1937 gründete das Arbeiterhilfswerk zusammen mit 13 anderen Hilfsorganisationen die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder (Ayuda Suiza), in der Rodolfo Olgiati eine wesentliche Rolle spielte. Die Arbeitsgemeinschaft führte ein Patenschaftssystem ein, bei dem sich eine oder mehrere Personen dazu verpflichten konnten, jeden Monat 15 Franken – etwa ein Zwanzigstel eines durchschnittlichen Arbeitergehalts – für die Versorgung eines Kindes aufzubringen. Von diesem Geld wurden die notwendigen Lebensmittel bezahlt. Kollektivpatenschaften bestanden zum Beispiel aus Schulklassen, Freundeskreisen, Gewerkschafts- oder Parteisektionen. Bis Ende 1937 wurden 550 Patenschaften übernommen, im folgenden Jahr stieg die Zahl auf 900.

Die Sympathien für die Bürgerkriegsparteien waren in der Schweiz geteilt. Die Linke ergriff unmissverständlich Partei für die Republik. Bereits Anfang August 1936 fand in Zürich die erste Grossveranstaltung gegen den Militärputsch statt. Auf bürgerlicher Seite gab es hingegen durchaus auch Sympathien für Franco, sei es eher verkappt wie in der Berichterstattung der Neuen Zürcher Zeitung, sei es offen und enthusiastisch wie bei den Katholisch-Konservativen, die Francos Krieg als Kreuzzug gegen den gottlosen Bolschewismus darstellten. Der 1938 von Rechtskreisen um den ehemaligen katholisch-konservativen Fribourger Bundesrat Jean-Marie Musy und den nachmaligen SS-Obersturmbannführer Franz Riedweg gedrehte Propagandastreifen „Die Rote Pest“, der mit einer geschickten und sehr kostenintensiven Montage von Archivfilmmaterial eine jüdisch-bolschewistisch-intellektualistische Weltverschwörung zu suggerieren versuchte, stellte das „gottlose“ republikanische Spanien als Gegensatz der christlich-bäuerlichen Schweiz gegenüber.

Auch der katholisch-konservative Aussenminister Giuseppe Motta hegte Sympathien für Franco. Bereits 1938 wurde ein schweizerischer Diplomat nach Burgos ins Hauptquartier der Putschisten entsandt. Die offizielle Anerkennung des Franco-Regimes als Regierung Spaniens durch die Schweiz erfolgte dann schon am 14. Februar 1939, rund einen Monat, bevor den Putschisten die Eroberung Madrids gelang. Damit kam die Schweiz den anderen Demokratien zuvor. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde der wirtschaftliche Austausch mit Spanien rasch wieder forciert. Als einzige Demokratie verfolgte die Schweiz systematisch ihre Spanienkämpfer mit dem Strafrecht. Bereits die Bundesverfassung von 1848 hatte den Abschluss neuer Militärkapitulationen untersagt, ohne indessen die bestehenden aufzuheben. 1859 war dann der individuelle Eintritt in „fremde, nichtnationale Truppenkörper“ durch Bundesgesetz untersagt worden. Das Verbot wurde lange Zeit eher large gehandhabt, etwa gegenüber den Tausenden von jungen Schweizern, die in der französischen Fremdenlegion Dienst leisteten. Erst 1927 wurde im Militärstrafgesetz ein generelles Verbot des Eintritts in fremden Militärdienst verankert. Kurz nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs verschärfte der Bundesrat das Verbot mit zwei Bundesbeschlüssen, die die Ausfuhr von Kriegsmaterial aller Art nach Spanien, die Ausreise nach Spanien zur Teilnahme am Bürgerkrieg sowie deren Begünstigung von der Schweiz aus verboten. Die meisten Spanienkämpfer reisten deshalb mit einem Unterbruch in Frankreich auf die iberische Halbinsel.

Zumeist wurden die Rückkehrer aus Spanien bereits beim Grenzübertritt verhaftet. Nebst dem Verstoss gegen die genannten Verbote konnten zahlreichen Spanienkämpfern Dienstversäumnisse in der Schweizer Armee angelastet werden, da sie in ihrer Abwesenheit Wiederholungskurse verpasst hatten. Insgesamt wurden 550 Spanienkämpfer strafrechtlich verfolgt und 420 verurteilt. Die Dauer der Freiheitsstrafen reichte von 15 Tagen bis zu vier Jahren; 81 Prozent der Verurteilten wurden mit Gefängnis zwischen einem und sechs Monaten bestraft. In der Regel wurden die Freiheitsstrafen mit einer Einstellung der bürgerlichen Ehrfähigkeit zwischen einem und fünf Jahren verbunden. Die Strafen waren damit schärfer als diejenigen, die gegen Schweizer Fremdenlegionäre, aber auch die Bürgerkriegsfreiwilligen auf Francos Seite ausgesprochen wurden, tendenziell indessen milder als diejenigen für die Schweizer Freiwilligen in der Waffen-SS während des Zweiten Weltkriegs.

Unmittelbar nach ihrer Rückkehr in die Schweiz gründeten die ehemaligen Spanienkämpfer eine Interessengemeinschaft, die sich unter anderem dafür engagierte, dass den in Spanien gefallenen Schweizern ein Denkmal gesetzt werde. Bis es soweit war, sollte es aber fast vier Jahrzehnte dauern. Erst 1976, ein Jahr nach Francos Tod, wurde am Zürcher Volkshaus eine entsprechende Tafel angebracht. 1978 erfolgte die Errichtung eines Denkmals mit den Namen der gefallenen Tessiner Spanienkämpfer auf dem Monte Ceneri. 1986 wurde auch in Genf eine Gedenktafel eingeweiht. Im Jahr 2000 folgte in Genf die Errichtung einer von der Stadt finanzierten, vier Meter hohen Gedenkskulptur. Seit 2003 gibt es in La Chaux-de-Fonds eine „Place des Brigades-internationales“. Nach jahrzehntelanger Funkstille erschienen ab den 1980er Jahren auch wieder Memoiren ehemaliger Spanienkämpfer, so diejenigen Ernst Stauffers im Jahr 1986 und diejenigen Hans Hutters zehn Jahre darauf.

Die Erinnerung an den Spanieneinsatz war seit Beginn eng verknüpft mit den Bemühungen um politische und juristische Rehabilitation. Bereits Ende 1938 hatte ein Komitee innert weniger Wochen 80’000 Unterschriften für eine Amnestiepetition gesammelt, die in der Folge von den eidgenössischen Räten relativ knapp abgelehnt worden war. Im letzten Moment hatten einige bürgerliche Nationalräte die Seite gewechselt und dadurch die Amnestie verhindert. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Beziehungen der Schweiz zu Franco-Spanien umstritten. Trotz antifranquistischer Manifestationen seitens der Linken spielte die Schweiz bei der Normalisierung der Stellung Spaniens, innerhalb dessen Regime sich die Gewichte zunehmend weg von der faschistischen „Falange“ und hin zu Technokraten der katholischen Laienbewegung „Opus Dei“ verschoben, auf der internationalen Bühne im Zeichen des Kalten Krieges eine aktive Rolle. 1954 wurde zwischen den beiden Staaten ein erstes bilaterales Wirtschaftsabkommen abgeschlossen und 1959 unterstützte die Eidgenossenschaft die Aufnahme Spaniens in die „Organisation for European Economic Co-operation“ (OEEC).

In der Folgezeit trug die Schweiz wesentlich zur wirtschaftlichen Modernisierung Spaniens bei. Sie war eines der drei wichtigsten Auswanderungsländer für Spanierinnen und Spanier und zweitwichtigster Investor in Spanien. Der einsetzende Massentourismus nach Spanien erfasste in den 60er Jahren auch die Schweiz stark. Gleichzeitig manifestierte sich ein zunehmender, zunächst hauptsächlich von Exilspaniern getragener Antifranquismus, der von Teilen des linken SP-Flügels und nach 1968 dann der Neuen Linken aufgegriffen wurde. Hingegen exponierte sich James Schwarzenbach, Spritius rector der helvetischen Anti-Immigrationsbewegung der späten 60er und frühen 70er Jahre, bis zuletzt als Freund der Franco-Diktatur.

Erst nach dem Ende des Franco-Regimes kam es zu neuen parlamentarischen Anläufen zu einer juristischen Rehabilitierung der Spanienkämpfer, die indessen zunächst scheiterten: 1978 Postulat Wyler (SP), 1982 Einfache Anfrage Robbiani (SP), 1982 Motion Günther (LdU), 1989 Postulat Pini (FDP), 1991 Einfache Anfrage Grobet (SP), 1999 Motion De Dardel (SP), 1999 parlamentarische Initiative Rechsteiner (SP). 1986, zum 50. Jahrestag des Kriegsbeginns, richtete mit Otto Stich erstmals ein Bundesrat Grussworte an die Spanienkämpfer. Die letzte Versammlung der Interessengemeinschaft der Schweizer Spanienkämpfer fand 1994 in Anwesenheit von Bundesrätin Ruth Dreifuss statt, die in der Folge auch ein Geleitwort zu den Memoiren Hans Hutters verfasste. 1996 lehnte der Bundesrat in seiner Antwort auf die Einfache Anfrage Grobet zwar eine Amnestie ab, billigte den Spanienkämpfern aber „achtenswerte Beweggründe“ zu und hielt fest, sie stünden „heute in allen Ehren und Rechten“. Erst eine weitere parlamentarische Initiative von Paul Rechsteiner brachte 2006 den Stein ins Rollen: 2008/09 stimmten beide Parlamentskammern dem „Bundesgesetz über die Rehabilitierung der Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg“ zu,
das sämtliche Urteile gegen die Spanienkämpfer aufhob.

 

Material zum Thema im Sozialarchiv

Archiv

  • Ar 1.260.56 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Spanien, 1936–1988
  • Ar 20.803 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Spanischer Bürgerkrieg ca. 1937–1939
  • Ar 20.892.44 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Berufsausbildung für spanische Flüchtlingsjugendliche in Frankreich 1951–1956
  • Ar 20.930.14 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Spanienkinder 1946–1947
  • Ar 20.960.17 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Film 1938, 1947–1950
  • Ar 20.972.1 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Kampagnen und Aktionen I
  • Ar 46.36.1 Landesverband der Schweiz. Kinderfreunde-Organisationen (LASKO): Spielzeug für Spanienkinder, 1938
  • Ar 107 Nachlass Rodolfo Olgiati
  • Ar 108.1 Nachlass James Schwarzenbach: Korrespondenz
  • Ar 151.11.5 Nachlass Robert Risler: Spanischer Bürgerkrieg 1936–1997
  • Ar 198.31 Nachlass Gottlieb Enrique Iseli
  • Ar 301.8 Manuskripte: Darwin, Ingeborg: Eine Frau erlebt die spanische Revolution, ca. 1938
  • Ar 459.18.2 Partei der Arbeit der Schweiz: Sammlung Albert Martin, ca. 1930-1973

Archiv Bild + Ton

  • F 5077 Roth, Roger A. (1940–2008)
  • F 9007 Risler, Robert (1912–2005) [FILM]
  • DVD 8 Risler, Robert: Madrid 1, 2, 3: Filmmaterial. Lausanne 1936.
  • DVD 15 Hans Hutter – ein Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg: Ein Dokumentarfilm von Luís M. Calvo Salgado und Christian Koller. Zürich 2006.

Sachdokumentation

  • KS 32/24 Spanien
  • KS 32/143a Neutralität & Aussenpolitik der Schweiz
  • KS 335/70 & KS 335/71 Spanischer Bürgerkrieg: Allgemeines
  • KS 335/72 Spanischer Bürgerkrieg: Regierung und Presseinformation
  • KS 335/73 Spanischer Bürgerkrieg: Sozialistische Schriften
  • KS 335/74 Spanischer Bürgerkrieg: Anarchisten
  • KS 335/75 Spanischer Bürgerkrieg: Trotzkisten, POUM: Partido Obrero de Unificación Marxista, etc.
  • KS 335/75a Spanischer Bürgerkrieg: POUM: Partido Obrero de Unificación Marxista
  • KS 335/76 Spanischer Bürgerkrieg: Hilfsaktionen
  • QS ESS + Spanien: Geschichte
  • ZA 39.9 * SpB Spanischer Bürgerkrieg: Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg

Bibliothek

  • D 4212 Batou, Jean et al.: Regards suisses sur la guerre civile d’Espagne (1936–1996): Traumatisme, refoulement et éveil de la curiosité, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 27-45.
  • HG 186 Baumann, Gino: Schweizer im spanischen Bürgerkrieg. Aarau 1989.
  • 106150 Bavaud, Pierre und Jean-Marc Béguin: Les oubliés: Trois Suisses de la guerre d’Espagne. Yens s./Morges 1998.
  • 116011 Beevor, Antony: Der Spanische Bürgerkrieg. München 2006.
  • 114197 Berg, Angela: Die Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939. Essen 2005.
  • 116112 Bernecker, Walther L. und Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen: Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2006. Nettersheim 2006.
  • D 5397 Cerutti, Mauro: Pas d’amnistie pour les brigadistes: La Suisse et le débat sur l’amnistie en faveur des volontaires de la guerre d’Espagne: 1939-2002…, in: Traverse 2003/1, S. 107-123.
  • 109807 Cerutti, Mauro et al. (Hg.): La Suisse et l’Espagne de la République à Franco (1936–1946): Relations officielles, solidarités de gauche, rapports économiques. Lausanne 2001.
  • 116926 Collado Seidel, Carlos: Der Spanische Bürgerkrieg: Geschichte eines europäischen Konflikts. München 2006.
  • 123243 Farré, Sébastien: La Suisse et l’Espagne de Franco: De la guerre civile à la mort du dictateur (1936–1975). Lausanne 2006.
  • Gr 2128 Gilardoni, Virgilio, Giorgio Lazzeri, Gianfranco Petrillo: I volontari ticinesi in difesa della Repubblica di Spagna. Bellinzona 1977.
  • [„Erwartet“] Günthart, Romy und Erich Günthart: Spanische Eröffnung 1936: Rotes Zürich, deutsche Emigranten und der Kampf gegen Franco. Zürich 2017.
  • 122908 Hamdorf, Wolfgang Martin und Clara López Rubio (Hg.): Fliegerträume und spanische Erde: Der Spanische Bürgerkrieg im Film. Marburg 2010.
  • 80803 Heller, Martin (Red.): Der Spanische Bürgerkrieg: Plakatausstellung zum 50. Jahrestag, Zürich, 28. Mai bis 7. September 1986. Zürich 1986.
  • 120756 Huber, Peter, in Zusammenarbeit mit Ralph Hug: Die Schweizer Spanienfreiwilligen: Biografisches Handbuch. Zürich 2009.
  • 117594 Hug, Ralph: St. Gallen – Moskau – Aragón: Das Leben des Spanienkämpfers Walter Wagner. Zürich 2007.
  • D 4212 Hug, Ralph: Schweizer in Francos Diensten: Die Francofreiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 61 (2011), S. 189-207.
  • 128870 Hug, Ralph: Schweizer unter Franco: Eidgenössische Diplomatie und die vergessenen Opfer der Franco-Diktatur 1936–1947. Zürich 2013.
  • 100692 Hutter, Hans: Spanien im Herzen: Ein Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg. Zürich 1996.
  • 127460 Lugschitz, Renée: Spanienkämpferinnen: Ausländische Frauen im spanischen Bürgerkrieg, 1936–1939. Wien 2012.
  • D 5037 Marbacher, Joseph: Il y a cinquante ans: Les Brigades Internationales en Espagne: Souvenirs d’un combattant suisse, in: Cahiers d’histoire du mouvement ouvrier 3 (1986), S. 36-44.
  • 81753 Minnig, Albert: Diario di un volontario svizzero nella guerra di Spagna. Lugano 1986.
  • Gr 12725 Onori, Hanspeter: Schweizer Mitbeteiligte am Spanischen Bürgerkrieg aus der Sicht ihrer Prozesse. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel 1978.
  • 132167 Prieto, Moisés: Zwischen Apologie und Ablehnung: Schweizer Spanien-Wahrnehmung vom späten Franco-Regime bis zur Demokratisierung (1969–1982). Köln 2015.
  • B 500 Reichmann, Franz: Bei den Gewerkschaften in Barcelona und an der spanischen Front. Zürich 1938.
  • 117133 Schauff, Frank: Der Spanische Bürgerkrieg. Göttingen 2006.
  • 135405 Schmeda, Astrid: Die Hoffnung bleibt: Spanische Revolution, Flucht und Exil in Frankreich Juli 1936–Januar 1939. Hamburg 2016.
  • 9161 Schmid, Arthur: Spanien, das Land zwischen Afrika und Europa: Ein Beitrag zur Beurteilung des spanischen Bürgerkrieges. Aarau 1936.
  • 124572 Schmid, Erich, unter Mitarbeit von Ralph Hug: In Spanien gekämpft, in Russland gescheitert: Männy Alt (1910–2000) – ein Jahrhundertleben. Zürich 2011.
  • 80786 Spiess, Heiner (Hg.): „… dass Friede und Glück Europas vom Sieg der spanischen Republik abhängt“: Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg. Zürich 1986.
  • 80804 Stauffer, Ernst: Spanienkämpfer: Erinnerungen eines Freiwilligen aus dem spanischen Bürgerkrieg 1936–1938. Biel 1986.
  • 58424 Thalmann, Clara und Paul Thalmann: Revolution für die Freiheit: Stationen eines politischen Kampfes: Moskau – Madrid – Paris. Hamburg 1976.
  • 109573 Ulmi, Nic und Peter Huber: Les combattants suisses en Espagne républicaine (1936–1939). Lausanne 2001.
  • 10721 Wullschleger, Max: Schweizer kämpfen in Spanien: Erlebnisse der Schweizer Freiwilligen in Spanien. Hg. Interessengemeinschaft Schweizer Spanienfreiwilliger. Zürich 1939.
  • 58205 Zschokke, Helmut: Die Schweiz und der spanische Bürgerkrieg. Zürich 1976.

Vor 30 Jahren: Tschernobyl und Tschernobâle

Als in der Nacht zum 1. November 1986 in Basel und Umgebung die Alarmsirenen heulten, Lautsprecher die Bevölkerung zum Verschliessen von Türen und Fenstern aufforderten und sich ein bestialischer Gestank breitmachte, tauchten bei manchen verschiedene jüngere Umweltkatastrophen vor dem geistigen Auge auf. Das Chemieunglück im italienischen Seveso bei einer Tochterfirma des Basler Konzerns Hoffmann-La Roche lag erst zehn Jahre zurück, die Havarie im indischen Bhopal, die mehreren Tausend Menschen das Leben kostete, sogar nur knapp zwei Jahre. Es waren aber weniger diese beiden Katastrophen aus dem Chemiebereich, mit denen der Vorfall primär assoziiert wurde, sondern die Reaktorexplosion von Tschernobyl, die sich nur wenige Monate zuvor ereignet hatte.

Der bislang schwerste Unfall in einem Atomkraftwerk begann am 26. April 1986. Bereits 1982 waren im Block 1 des Kraftwerks radioaktive Gase ausgetreten und bis in die vier Kilometer entfernte Stadt Pripjat gelangt. Ende April 1986 nun explodierte nach einer Kernschmelze der Reaktor im 1983 fertiggestellten Block 4, worauf in den folgenden zehn Tagen grosse Mengen von Radioaktivität in die Umwelt gelangten. Der Brand des Reaktorblocks konnte erst nach mehreren Tagen gelöscht werden. Am 27. April mussten die knapp 50‘000 EinwohnerInnen von Pripjat ihre Stadt verlassen. In den folgenden Tagen und Wochen wurden insgesamt 330‘000 Menschen evakuiert. Das Sperrgebiet beträgt bis heute 4‘300 Quadratkilometer, das entspricht etwa den Flächen der Kantone Zürich, Aargau, Solothurn und Basel zusammengenommen. Als Ersatz für Pripjat wurde die neue Stadt Slavutič errichtet. Insgesamt verseuchte der Reaktorunfall etwa 150‘000 Quadratkilometer (dreieinhalbmal die Fläche der Schweiz) in Weissrussland, der Ukraine und Russland. Allein in Russland leben heute etwa 1,6 Millionen Menschen in Gebieten, die als verseucht gelten.

Die sowjetische Informationspolitik über die Katastrophe war zunächst sehr zurückhaltend. Erst am Abend des 28. April war in kurzen Mitteilungen von einem „Unfall“ die Rede. Zwei Tage später zeigte das sowjetische Fernsehen dann ein allerdings retuschiertes Foto vom Unfallort. Am Morgen des 28. April liessen Messungen in Schweden Vermutungen über eine Havarie in der Sowjetunion aufkommen. Am folgenden Tag berichteten internationale Medien ausführlicher über den Unfall, der nun auch durch Aufnahmen amerikanischer Militärsatelliten bestätigt wurde. Die Wolken mit dem radioaktiven Fallout verteilten sich in den Tagen nach der Reaktorexplosion über die gesamte nördliche Halbkugel. Zunächst wurden sie nach Skandinavien getrieben, dann über weite Teile Ostmitteleuropas, Süddeutschlands, der Schweiz und Norditaliens und schliesslich nach Südosteuropa und bis über die Türkei. Je nach Niederschlagsintensität wurden in diesen Regionen die Böden unterschiedlich hoch belastet. In der Schweiz wurden ab dem 30. April in verschiedenen Landesteilen erhöhte Strahlenwerte gemessen. Im September 1986 musste für den Luganersee wegen anhaltend hoher Strahlenwerte ein Fischereiverbot erlassen werden, das erst im Juli 1988 aufgehoben werden konnte. Der Verband der Schweizerischen Gemüseproduzenten erstritt sich in der Folge wegen Ausfällen im Zusammenhang mit Tschernobyl gerichtlich vom Bund eine Entschädigung in der Höhe von 8,7 Millionen Franken.

Die Überreste des Reaktorblocks 4 wurden in der Folge mit einer als „Sarkophag“ bezeichneten Schutzhülle umgeben. Mehrere Hunderttausend sogenannter „Liquidatoren“, in der Mehrheit Soldaten, Reservisten und zwangsverpflichtete Arbeiter, wurden für die Aufräumarbeiten herangezogen. Die Bezifferung der gesundheitlichen Langzeitfolgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl ist kontrovers. Berichte der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA gehen von 4‘000 bis 9‘000 zu erwartenden Krebstoten aus. Eine Studie der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW und der Gesellschaft für Strahlenschutz von 2011 bezifferte aber allein die Zahl der mittlerweile an Krebs oder durch Selbstmord verstorbenen Liquidatoren auf 112‘000 bis 125‘000, wobei von den Überlebenden 90 Prozent schwer krank seien. Für ganz Europa prognostizierte die Studie bis ins Jahr 2056 etwa 240‘000 zusätzliche Krebsfälle wegen Tschernobyl. Eine andere Studie derselben Organisationen von 2006 ging von zwischen 12‘000 und 83‘000 in der Region um Tschernobyl mit genetischen Schäden geborenen Kindern aus. Die vom Unfall nicht beschädigten Teile des Kraftwerks wurden noch bis zur Jahrtausendwende weiterbetrieben. Ab 2010 wurde über dem Sarkophag von 1986 eine neue Schutzhülle errichtet, deren Vollendung für 2017 geplant ist. Das 36‘000 Tonnen schwere „New Safe Confinement“ soll für die folgenden hundert Jahre den Austritt radioaktiver Stoffe verhindern. Die Baukosten von etwa zwei Milliarden Euro wurden von der Europäischen Union, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und drei Dutzend Geberländern (darunter die Schweiz mit 6,4 Millionen Franken) aufgebracht, die zukünftigen Betriebskosten der Schutzhülle werden mit 600 Millionen pro Jahr beziffert.

Ein halbes Jahr nach der Tschernobyl-Katastrophe geriet im Industriegebiet Schweizerhalle bei Basel eine Lagerhalle des Sandoz-Konzerns mit 1‘351 Tonnen Chemikalien in Brand. Der um 0:19 Uhr entdeckte Brand mit bis zu 60 Meter hohen Flammen war bald weiterherum zu sehen. Um 3:43 heulten in der ganzen Region die Alarmsirenen und die Bevölkerung wurde mit Lausprecherdurchsagen dazu aufgefordert, Türen und Fenster geschlossen zu halten und das Radio einzuschalten. Der Ostwind trug Rauch, Gestank und Verbrennungsgase rasch in Richtung Basel und für mehrere Stunden wurde der Eisenbahn- und Autoverkehr in die Nordwestschweizer Metropole unterbrochen. In den folgenden Tagen mussten etwa 1‘250 Menschen wegen Atemwegs-Reizungen behandelt werden. Mit dem abfliessenden Löschwasser gelangten rund 30 Tonnen giftiger Pflanzenschutzmittel in den Rhein und lösten bis in den Mittelrhein ein massenhaftes Fischsterben aus. Unter anderem wurde auf einer Länge von 400 Kilometern die gesamte Aalpopulation von gegen 150‘000 Individuen getötet. Über zwei Wochen lang musste flussabwärts die Trinkwasserentnahme aus dem rot verfärbten Rhein bis in die Niederlande eingestellt werden.

Eine Woche nach dem Brand beteiligten sich in Basel rund 10‘000 Menschen an einer Grossdemonstration, an der mit Parolen wie „Tschernobâle“ und „Sandobyl“ auch Parallelen zur nur wenige Monate zurückliegenden Atomkatastrophe in der Sowjetunion gezogen wurden. Studierende des Konservatoriums intonierten ein „Requiem für den Rhein“. Auf besondere Kritik stiess das Verhalten von Sandoz-Chef Marc Moret, der sich erst am 21. November zum ersten Mal den Medien stellte. Am 14. Dezember bildete sich im Rahmen eines „Internationalen Rheinalarms“ eine Menschenkette, die von Basel bis nach Freiburg reichte. Von Sandoz wurde letztlich niemand juristisch zur Rechenschaft gezogen. Der Konzern leistete aber insgesamt 43 Millionen Franken Schadenersatzzahlungen in der Schweiz sowie nach Deutschland, Frankreich und in die Niederlande. Erst 2006 stellte die Internationale Rheinkommission fest, der Rhein sei wieder „ein lebendiger Fluss“.

Die Ereignisse des Jahres 1986 ordneten sich in seit anderthalb Jahrzehnten geführte kontroverse Debatten um Umwelt- und Energiepolitik ein, ohne auf dem politischen Parkett aber unmittelbar zu einem Umschwung zu führen. In den frühen 80er Jahren war es insbesondere das Waldsterben gewesen, das die umweltpolitischen Diskussionen bestimmt und zur Verabschiedung des Umweltschutzgesetzes im Jahr 1983 und der Luftreinhalteverordnung im Jahr 1985 geführt hatte. Während bei den Zürcher Kantonsratswahlen im Frühling 1987 die Sitzzahl der Grünen spektakulär von 4 auf 22 sprang, kam es ein halbes Jahr später bei den Nationalratswahlen nicht zur von manchen erwarteten ökologischen Wende. Die sechs Sitzgewinne der Grünen wurden durch ebenso viele Verluste der SP kompensiert, zudem zog mit der Schweizerischen Autopartei auch erstmals eine explizit ökologiefeindliche Gruppierung ins Bundesparlament ein. Immerhin wurde im Dezember 1987 mit der Rothenturm-Initiative zum Schutz der Moore erstmals ein ökologisch motiviertes Volksbegehren von Volk und Ständen gutgeheissen.

Die Anti-Atom-Bewegung erlebte nach Tschernobyl ein Revival. Nach einer ersten Phase in den 50er und 60er Jahren, die sich gegen Pläne zu einer nuklearen Bewaffnung der Schweizer Armee gewandt hatte, formierte sich um 1970, auch als Reaktion auf den Unfall im Versuchsreaktor Lucens im Januar 1969, eine Bewegung gegen die zivile Nutzung der Atomenergie, die bald mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam machte. 1975 besetzten anfänglich 15‘000 Menschen für elf Wochen das Baugelände eines geplanten Atomkraftwerks in Kaiseraugst und zu Pfingsten 1977 marschierten 10‘000 Personen zum Baugelände des geplanten Atomkraftwerks Gösgen, dessen Besetzung im Sommer gleichen Jahres nur mit massiven Polizeiaufgeboten verhindert werden konnte. Parallel dazu organisierten sich die AKW-BefürworterInnen als schlagkräftige und finanzstarke Lobby mit engen Beziehungen ins Parlament und hochprofessioneller PR-Unterstützung. Auf Druck der Anti-Atom-Bewegung wurden Ende der 70er Jahren in beiden Basler Halbkantonen sogenannte Atomschutzgesetze erlassen, welche die Behörden dazu verpflichten, auf dem Kantonsgebiet sowie in der Nachbarschaft keine Atomkraftwerke, Nuklearaufbereitungsanlagen oder Atomlagerstätte zu tolerieren. Im Februar 1979 lehnten die Stimmberechtigten die Eidgenössische Volksinitiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen» mit einer knappen Nein-Mehrheit von 51,2 Prozent ab. Vorangegangen war ein intensiver Abstimmungskampf. Anti-AKW-Bewegung und Umweltverbände entfalteten umfangreiche Aktivitäten, auf der Gegenseite setzte die Schweizerische Informationsstelle für Kernenergie drei Millionen Franken für Abstimmungswerbung ein. Die Stimmbeteiligung erreichte hohe 49 Prozent, wobei gemäss Nachbefragungen rund 15 Prozent ein Nein in die Urne legten, obwohl sie dem Anliegen der Initiative zustimmen wollten.

Zu Beginn der 80er Jahre hatte die Anti-Atom-Bewegung an Schwung verloren. 1984 erzielte die Eidgenössische Volksinitiative „für eine Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke“ noch 45 Prozent Zustimmung. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl demonstrierten dann aber 30‘000 Menschen vor dem Atomkraftwerk Gösgen und zum ersten Jahrestag des GAUs gab es eine Grossdemonstration auf dem Bundesplatz. 1988 beerdigten die AKW-BefürworterInnen im Parlament unter Federführung von Nationalrat Blocher das Kaiseraugst-Projekt, das bis zu diesem Zeitpunkt 1,3 Milliarden Franken verschlungen hatte, selber. Und am Abstimmungssonntag vom September 1990 manifestierte sich das anhaltende Unbehagen der Bevölkerung gegenüber der Atomkraft erneut: Während die Volksinitiative für einen Atomausstieg mit einer Zustimmung von 47,1 Prozent knapp scheiterte, sagten 54,5 Prozent Ja zu einem zehnjährigen Moratorium im Atomkraftwerkbau. Gleichzeitig passierte die Vorlage für einen Energieartikel in der Bundesverfassung mit 71,1 Prozent Zustimmung und Mehrheiten in sämtlichen Kantonen die Volksabstimmung mit Bravour. Durch das Moratorium verlor die Atomdebatte in der Folge stark an Publizität. 2003 scheiterten die zwei atomkritischen Volksinitiativen „MoratoriumPlus“ (58,4 Prozent Nein) und „Strom ohne Atom“ (66,3 Prozent Nein) deutlich. Erst mit der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 kam das Thema schlagartig wieder aufs Tapet und führte zu energiestrategischen Diskussionen, die bis heute anhalten.

Material zum Thema im Sozialarchiv:

Archiv

  • Ar 146.35 Nachlass Hansjörg Braunschweig: Atompolitik
  • Ar 201.109 AKW-GegnerInnen Region Olten (AGRO)
  • Ar 201.130 Dokumentation Anti-AKW-Bewegung
  • Ar 201.145 Dokumentation Anti-AKW-Bewegung nach Tschernobyl
  • Ar 201.247 Strom ohne Atom: Kampagne 1999-2003
  • Ar 462.10.1 Strahm Beratungen GmbH: Strom ohne Atom 1989-1990
  • Ar 472.10.6 Dokumentation Subkultur Bern: Tschernobyl-Demo 1987
  • Ar 507.12.31 Greenpeace Schweiz:  Atomunfall 1986-1996
  • Ar 510.10.48/.49 Schweizerische Energie-Stiftung: Tschernobyl
  • Ar 522.40.7 Dokumentation Christan Zeller: Aktion Selbstschutz
  • Ar 535 Publ 354 Russlandschweizer-Archiv RSA: Das Projekt „Tschernobyl-Hilfe“
  • Ar 579 Publ 89 Archiv Schweiz-Osteuropa ASO: Hilfe für Tschernobyl-Kinder
  • Ar W 68.32 Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz SGU: Energie
  • Ar WWF World Wide Fund for Nature Schweiz

Archiv Bild + Ton

  • F 5031 Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI)
  • F 5087 Strom ohne Atom
  • Vid V 015 Der Rest ist Risiko (1987)
  • Vid V 070 Wochenschau Tomahawk, Tschernobyl, Atomarer Sonnenstich (1986)

Sachdokumentation

  • DS 165 30 Jahre Tschernobyl – 5 Jahre Fukushima
  • QS 92.3 C Atomenergie; Atomkraftwerke: Schweiz
  • ZA 92.3 C Atomenergie; Atomkraftwerke: Schweiz
  • ZA 92.3 *6  Atomkraftwerke: Reaktorunfälle
  • ZA 93.5 *Sch Chemische Industrie: Schweizerhalle

Bibliothek

  • 1034188 Arndt, Melanie (Hg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl : (Ost-)europäische Perspektiven. Berlin 2016.
  • 84418 Bericht des Regierungsrates an den Landrat zur Katastrophe Schweizerhalle. Liestal 1987.
  • 95917 Biermann , Gerd und Renate Biermann: Die Kinder von Tschernobyl: Nadezhda: Hoffnung durch Hilfe. München 1993.
  • 128057 Forter, Martin: Falsches Spiel: Die Umweltsünden der Basler Chemie vor und nach „Schweizerhalle“. 2. Aufl . Zürich 2013.
  • 81328 Gambaroff Marina  et al.: Tschernobyl hat unser Leben verändert: Vom Ausstieg der Frauen. Reinbek 1986.
  • UGr 79 Hofmann, Alexander: Tschernobyl. Bern 2016.
  • 83198 Kafka, Peter et al.: Tschernobyl, die Informationslüge: Anleitung zum Volkszorn. München 1986.
  • 100863 Karisch, Karl-Heinz und Joachim Wille (Hg.): Der Tschernobyl-Schock: Zehn Jahre nach dem Super-GAU. Frankfurt/M 1996.
  • 111271 Kupper, Patrick: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft: Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst. Zürich 2003.
  • Gr 13221 Lepage, Emmanuel: Ein Frühling in Tschernobyl. Bielefeld 2013.
  • 81726 Maier-Leibnitz, Heinz: Lernschock Tschernobyl. Zürich 1986.
  • 101036 Müller, Ueli et al.: Katastrophen als Herausforderung für Verwaltung und Politik: Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Zürich 1997.
  • 89806 Opp, Karl-Dieter et al.: Der Tschernobyl-Effekt: Eine Untersuchung über die Ursachen politischen Protests. Opladen 1990.
  • Fol 11 Polidori, Robert: Sperrzonen – Pripjat und Tschernobyl. Göttingen 2004.
  • 100253 Schuchardt, Erika und Lew Kopelew: Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl: Geschichte einer stillen Revolution. Freiburg i. Br. 1996.
  • Gr 12919 Strahlende Plakate: Eine Sammlung von Plakaten der weltweiten Anti-Atom-Bewegung. Münster 2011.
  • Hg 270 Tschernobyl-Demo vom 25.4.1987 in Bern : Schlussbericht Teil I des Untersuchungsausschusses der Geschäftsprüfungskommission (UA-GPK) ; mit Rechtsgutachten „Über die verfassungs- und verwaltungsrechtliche Problematik des Polizeieinsatzes im Rahmen der Tschernobyl-Demo in Bern“ von Thomas Fleiner. Bern 1988.
  • 125208 Tschernobyl für immer : von den Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Super-GAU in Fukushima: Ein nukleares Lesebuch. Basel 2011.
  • 129172 Uekötter, Frank (Hg.): Ökologische Erinnerungsorte. Göttingen 2014.
  • Gr 7035 Zydek, Franziska und Giosanna Crivelli: Menschen in Tschernobyl: Vom Leben mit der Katastrophe. Gümligen 1990.
Titelblatt (Ausschnitt) des Argumentariums des MV zur Volksinitiative „Wohneigentum für alle“ des Schweizerischen Hauseigentümerverbandes, Dezember 1998
Titelblatt (Ausschnitt) des Argumentariums des MV zur Volksinitiative „Wohneigentum für alle“ des Schweizerischen Hauseigentümerverbandes, Dezember 1998

Neu im Archiv: Mieterinnen- & Mieterverband Deutschschweiz

Schweizerinnen und Schweizer sind nach wie vor ein Volk von Mietern: Der Anteil der Miethaushalte liegt bei etwas über 60%. Das ist Europa-Rekord. Das nächste Land in dieser Rangliste, Deutschland, kommt auf 48%, und der Durchschnitt der EU-Länder liegt bei 30%. Die Interessen der Schweizer Mieter werden vom Schweizerischen Mieterverband (SMV) vertreten, der 1915 in Biel gegründet wurde. Der SMV ist der Dachverband der sprachregionalen Organisationen. Das sind der Mieterinnen- und Mieterverband Deutschschweiz, die Association suisse des locataires (ASLOCA) und die Associazione Svizzera Inquilini (ASI). Über die Mitgliedersektionen sind dem SMV 210’000 Mitglieder angeschlossen. Im Deutschschweizer Verband sind in 14 Sektionen 120‘000 Mitglieder organisiert.

Im Dezember 2016 konnte das Schweizerische Sozialarchiv die Akten des Mieterinnen- und Mieterverbandes Deutschschweiz aus der Geschäftsstelle an der Bäckerstrasse übernehmen. Vorhanden sind insbesondere Unterlagen aus der Präsidialzeit von Rudolf Strahm (1991-2004) und Anita Thanei (2004-2014): Protokolle und Sitzungsunterlagen, Korrespondenzen, Strategiepapiere, Unterlagen zur Strukturreform 1998-2003, Vernehmlassungsunterlagen, Akten zur Medienarbeit sowie diverse Drucksachen. Spezielle Hervorhebung verdienen die Kampagnenunterlagen des Mieterverbandes, u.a. zu folgenden Aktionen und Abstimmungskämpfen: Volksinitiative „Ja zu fairen Mieten“ 1996-2003, Volksinitiative „Wohneigentum für alle“ des Schweizerischen Hauseigentümerverbandes von 1999, Referendum Steuerpaket 2001, Vergleichsmiete 2004-2005, Steuerpaket 2004, Wohneigentumsbesteuerung 2004-2006, Wohnbauförderung 2005, Mietrechts-Revision 2005-2007.

Die Unterlagen stehen nach Abschluss der Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten allen Interessierten ohne Benutzungsbeschränkungen zur Verfügung.

Buchempfehlungen der Bibliothek

Marina Widmer, Giuliano Alghisi, Fausto Tisato, Rolando Ferrarese (Hrsg.): Grazie a voi. Ricordi e Stima – Fotografien zur italienischen Migration in der Schweiz. Zürich, 2016

Von Integration sprach niemand, als die Italienerinnen und Italiener während des Nachkriegsaufschwungs in die Schweiz kamen; man erwartete von ihnen Assimilation. Dabei sahen sich die Gastarbeiter mit einer erheblichen Fremdenfeindlichkeit konfrontiert. Als Antwort auf die geschlossene schweizerische Gesellschaft gründeten sie ihre eigenen Vereine für Sport und Freizeit, organisierten kulturelle Anlässe und Feste und eröffneten eigene Schulen und Kindertagesstätten. Sie schufen sich ihre eigene Welt und veränderten von dort aus sich – und die Schweiz.
Der zweisprachige Ausstellungsband „Grazie a voi“, der auf die Ausstellungen in St. Gallen und Kreuzlingen 2016 folgt, zeigt Fotografien aus dem Leben dieser italienischen Migrantinnen und Migranten, und zwar ihre eigenen Bilder: Fotografien von Familien und Einzelpersonen sowie Fotografien, die an offiziellen Anlässen und Festen der italienischen Gemeinschaft aufgenommen wurden. Sie erzählen von Alltag und Familie, Bildung und Politik, von Freizeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten in Vereinen, von Festlichkeit und Eleganz.

Joakim Eskildsen: American Realities. Göttingen, 2015

Gemäss Behördenangaben leben rund 45 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner unter der Armutsgrenze. Die kalifornische Stadt Fresno beispielsweise ist stark von Armut betroffen, hier lebt ein Viertel der Bevölkerung in prekären Verhältnissen.
Der Bildband „American Realities“ kommt bis auf ein Vorwort ohne Text aus – die Fotografien von Joakim Eskildsen sprechen für sich. Der dänische Fotograf, der für seine Werke immer wieder an den Rand der Gesellschaft geht, gibt den Armen in Amerika ein Gesicht und zeigt die Kehrseite des Mythos vom „American Dream“.

http://americanrealities.org bietet Zugang zu weiteren Fotografien aus dem Bildband sowie zu anderen Werken von Joakim Eskildsen.

Juri Auderset und Peter Moser: Rausch & Ordnung. Eine illustrierte Geschichte der Alkoholfrage, der schweizerischen Alkoholpolitik und der Eidgenössischen Alkoholverwaltung (1887-2015). Bern, 2016

Mit „Rausch & Ordnung“ liegt zum ersten Mal ein fundierter Überblick über die Geschichte der „Alkoholfrage“, der Schweizer Alkoholpolitik und der Eidgenössischen Alkoholverwaltung vor. Die Autoren erläutern unter anderem die Hintergründe der gescheiterten Totalrevision des Alkoholgesetzes und der bevorstehenden Auflösung der Alkoholverwaltung (EAV) und deren Integration in die Eidgenössische Zollverwaltung, welche 2018 vollzogen werden soll.
In fünf Kapiteln wird in „Rausch & Ordnung“ die Geschichte der sogenannten „Alkoholfrage“ nachgezeichnet, die es als solche nicht gibt, sondern gemäss Einleitung „vielmehr eine wandelbare, soziokulturelle Konstruktion“ ist. Wie Alkohol betrachtet und beurteilt wird, hängt stark vom Wandel der Arbeits- und Erwerbsformen ab, von wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und der Einbettung des Trinkens in die soziale Alltagskultur.
Ein Unterkapitel widmet sich auch der Abstinenzbewegung, welche sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als soziale Bewegung zu formieren begann und im Kern die totale Enthaltsamkeit forderte. Diverse Abstinenzvereine wurden gegründet, darunter 1877 auch das Blaue Kreuz, das heute noch existiert.

Material zum Thema „Alkohol“ im Sozialarchiv:

Es rockt im Archiv

Beat, Rockmusik, Punk, Hip-Hop oder elektronische Musik – Popkulturen haben ihrer Zeit einen Stempel aufgedrückt und den Soundtrack geliefert. Popkulturen sind aber auch Teil umfassender kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen. So ist etwa die Geschichte sozialer Bewegungen der vergangenen fünfzig Jahre stark geprägt von verschiedenen, oftmals spezifischen Formen von Musik. Von «1968» bis ins Zeitalter der «Retromania» (Simon Reynolds) gehörten Protest und Musik so sehr zusammen, dass das eine nicht ohne das andere vorstellbar war. Das Phänomen ist aber noch weitaus komplexer und eng verflochten mit der Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Geschlechter-, Medien- und Technikgeschichte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Verleihung des Literaturnobelpreises 2016 an Bob Dylan stellt insofern die personalisierte Anerkennung eines umfassenden und transnationalen gesellschaftlichen Prozesses dar.

Auch in der Schweiz spielen Rock- und Popmusik seit den 50er Jahren eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Bislang hat sich die sozial- und kulturhistorische Forschung diesem Phänomen aber wenig angenommen. Auch die Sicherung von Kulturgütern aus dem Bereich der Rock- und Popmusik ist wenig fortgeschritten. Während private SammlerInnen umfangreiche Kollektionen von Flyern, Plattencovers, Fanzines, Plakaten und anderen Memorabilien angelegt haben, sind die öffentlichen Gedächtnisinstitutionen dem Phänomen Rock- und Popmusik gegenüber auffällig gleichgültig geblieben. Die Gefahr des Kulturgüterverlusts ist nun, da zahlreiche ExponentInnen der frühen Schweizer Rock- und Popszene in die Jahre gekommen sind, akut.

Aus diesen Gründen hat das Schweizerische Sozialarchiv Anfang dieses Jahres zusammen mit dem Historiker und Autor Erich Keller und Sammlern und Chronisten aus der Rock- und Popszene den Verein Swiss Music Archives (SMA) ins Leben gerufen. Swiss Music Archives möchte die oftmals flüchtigen und immer sehr breitgefächerten Popkulturen in der Schweiz erschliessen und dokumentieren, sie für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich machen. Der Verein sammelt, dokumentiert und präsentiert in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Sozialarchiv Quellenmaterialien und Fachliteratur zur Geschichte populärer Musik in der Schweiz und initiiert Forschungs- und Vermittlungsprojekte. Als Auftakt ist die diesjährige Reihe «Gast im Sozialarchiv» mit Erich Keller dem Thema «Popmusik, Archiv, Geschichte» gewidmet. Bereits existiert auch eine Website, die als Ergebnis eines Pilotprojekts 178 Plakate zur Rockmusik der 1960er und 1970er Jahre in digitaler Form präsentiert.

> Website des Vereins Swiss Music Archives (SMA): swissmusicarchives.ch

Bisherige Bestände zum Thema im Sozialarchiv

Archiv:

  • Ar 36.103 Isola-Club Basel
  • Ar 38.20.2 Anti-Apartheid Bewegung der Schweiz: Veranstaltungen, Konzerte, Tagungen
  • Ar 201.216 Ausstellung «A walk on the wild side»
  • Ar 201.89 Dokumentation Umberto Blumati
  • Ar 201.112 Dokumentation «Alte Stadtgärtnerei» Basel
  • Ar 201.277 Dokumentation Radiopiraterie
  • Ar 201.279 Sammlung Michel Fries zur Jugendbewegung der 1980er Jahre
  • Ar 464 Volkshausstiftung Zürich
  • Ar 472 Dokumentation Subkultur Bern

Archiv Bild + Ton:

  • F 1005 Dieter Menyhart  – Piratenradios
  • F 1006 Politische Piratenradios
  • F 1025 Ansgar Kuster – Piratenradios
  • F 5111 Michel Fries
  • In Bearbeitung: Rolling-Stones-Archiv Felix Aeppli

Sachdokumentation:

  • QS 04.11 Jugendkulturen, jugendliche Subkultur
  • QS 04.41 Alternative Lebens- & Arbeitsgestaltung; Wohngemeinschaften
  • QS 10.01 C * 1 Alternativkultur, alternative Kulturbetriebe in der Schweiz
  • QS 16.4 Musik
  • ZA 04.11 Jugendkulturen, jugendliche Subkultur
  • ZA 10.01 C * RF Alternative Kulturbetriebe in Zürich: Rote Fabrik
  • ZA 16.4 Musik

Bibliothek:

Die Bibliothek des Schweizerischen Sozialarchivs umfasst zurzeit rund 200 Titel zur Geschichte und Gegenwart von Rock- und Popmusik. Hier eine kleine Auswahl:

  • 103304 Baldauf, Anette: Lips – Tits – Hits – Power? : Popkultur und Feminismus. Wien 1998.
  • 132007 Brode, Douglas: Sex, drugs & rock ’n› roll: The evolution of an American youth culture. New York 2015.
  • Hf 5418 Chapple, Steve und Reebee Garofalo: Wem gehört die Rock-Musik? Geschichte und Politik der Musikindustrie. Reinbek 1980.
  • 95947 Diederichsen, Diedrich:  Freiheit macht arm: Das Leben nach Rock’n› Roll 1990-93. Köln 1993.
  • 110687 Dornbusch, Christian et al. (Hg.): RechtsRock: Bestandsaufnahme und Gegenstrategien. Münster 2002.
  • 122138 Fenemore, Mark: Sex, thugs and rock ’n› roll: Teenage rebels in Cold-War East Germany. New York 2007.
  • 126656 Gäsche,  Daniel:  Born to be wild, oder, Die 68er und die Musik. Leipzig 2008.
  • 132650 Geisthövel, Alexa et al. (Hg.): Popgeschichte. 2 Bde. Bielefeld 2014.
  • Gr 11773 Grand, Lurker et al.: Hot Love: Swiss Punk & Wave, 1976-80. Zürich 2006.
  • Gr 13004 Grand, Lurker et al. (Hg.): Heute und danach: The Swiss underground music scene of the 80’s. Zürich 2012.
  • Gr 13538 Grand, Lurker (Hg.): Die Not hat ein Ende: The Swiss art of rock. Zürich 2015.
  • 91912 Hänecke, Frank:  Rock-Pop-„Szene“ Schweiz: Untersuchungen zur einheimischen Rock-/Pop-Musik im Umfeld von Medien, Markt und Kultur. Zürich 1991.
  • 133858 Heesch, Florian und Anna-Katharina Höpflinger (Hg.): Methoden der Heavy Metal-Forschung: Interdisziplinäre Zugänge. Münster 2014.
  • Gr 4496 Hitzig, Daniel et al. (Hg.): Tonmodern: Texte, Fotos und Comics aus der aktuellen Rockszene. Zürich 1983.
  • 130266 Kosc, Grzegorz et al. (Hg.): The transatlantic Sixties: Europe and the United States in the counterculture decade. Bielefeld 2013.
  • 128380 Kramer, Michael J.: Republic of rock: music and citizenship in the sixties counterculture. New York 2013.
  • 119006 Kutschke, Beate (Hg.): Musikkulturen in der Revolte: Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von ,1968′. Stuttgart 2008.
  • LU 3162 Leukert, Bernd (Hg.): Thema: Rock gegen Rechts: Musik als politisches Instrument. Frankfurt 1980.
  • 132329 McMillian, John Beatles vs. Stones: Die Rock-Rivalen. Zürich 2014.
  • Gr 10848 Mumenthaler, Samuel:  Beat Pop Protest: Der Sound der Schweizer Sixties. Lausanne 2001.
  • 121952 Mumenthaler, Samuel:  50 Jahre Berner Rock. Oberhofen am Thunersee  2009.
  • 130836 Mumenthaler,  Samuel et al. (Hg): Oh yeah! 200 Pop-Photos aus der Schweiz: 200 photos pop de Suisse: 1957-2014. Zürich 2014.
  • Gr 12474 Philipp, Pablo: Die Heavy Metal-Szene – ein Fall für die Soziale Arbeit?  Die psychosoziale Entwicklung von Jugendlichen in der Heavy Metal-Szene und ihre sozialen Probleme. Zürich 2010.
  • 99624 Rockmusiklexikon Europa. 2 Bde.  o. O. 1996.
Arthur Conan Doyle 1894. Abbildung in seinem Artikel „An Alpine Pass on ‚Ski‘“, „The Strand Magazine“ (Quelle: Arthur Conan Doyle Encyclopedia)
Arthur Conan Doyle 1894. Abbildung in seinem Artikel „An Alpine Pass on ‚Ski‘“, „The Strand Magazine“ (Quelle: Arthur Conan Doyle Encyclopedia)

Buchempfehlungen der Bibliothek

Barbara Piatti: Von Casanova bis Churchill – Berühmte Reisende auf ihrem Weg durch die Schweiz. Baden, 2016

„Wenn du das erste Mal das Umwenden versuchst, glauben deine Freunde, es sei einer deiner schlechten Witze“, bemerkte Arthur Conan Doyle im Jahr 1894, als er in Davos das Skifahren lernte (kein Wunder, die Skis hatten damals eine Länge von 2.4 Metern!). Der Schriftsteller und Erfinder der Figur Sherlock Holmes löste damit einen eigentlichen Skiboom in der Schweiz aus. Doyle war übrigens schon ein Jahr früher in die Schweiz gereist, schliesslich diente ihm der Besuch bei den Reichenbachfällen dazu, seinen ihm etwas lästig gewordenen Protagonisten loszuwerden…
Arthur Conan Doyle war nur einer von vielen berühmten BesucherInnen der Schweiz. Barbara Piatti hat 35 von ihnen auf unterhaltsame Art porträtiert. So finden sich beispielsweise auch Berichte über die Reisen von Mary Shelley, Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Winston Churchill in ihrem Buch. Ergänzt werden die Originaltexte und Illustrationen durch kommentierende Einführungen, die einen Einblick in individuelle sowie zeitspezifische Aspekte des Reisens geben.

Simon Geissbühler, Daniel Ryf: Der einarmige Auswanderer – Eine Spurensuche vom Emmental nach Argentinien. Zürich, 2016

„Ernst, geboren 1868, Farmer, Buenos Aires.“ Dieser mysteriöse Eintrag im Stammbaum der Familie Geissbühler löste eine abenteuerliche Suche aus, die vom Emmental in die argentinische Pampa führte. Wer war dieser Auswanderer und Ururgrossonkel von Simon Geissbühler? Warum verliess er 1889 erst 21-jährig allein das heimische Studen im Seeland? Wurde er wegen seiner Behinderung stigmatisiert? Wollte er in Argentinien ein neues Leben aufbauen? Wie erging es ihm in Südamerika?
Im Buch ist die Spurensuche dokumentiert, die Geissbühler mit Hilfe von Daniel Ryf im Internet, in Archiven und in Schweizer Konsulaten in Argentinien durchgeführt hat. Tagebuchartige Einträge formulieren Gedanken und Erlebnisse dieser Entdeckungsreise. Dazwischen eingestreut sind Fakten und Aussagen, die auf Quellenrecherchen und Forschungsliteratur beruhen. Damit stellt das Buch nicht nur einen Beitrag zur Geschichte der Schweizer Überseeauswanderung dar, sondern beinhaltet auch eine berührende Familiengeschichte mit einem unerwarteten Ausgang.

Harm-Peter Zimmermann, Andreas Kruse, Thomas Rentsch (Hrsg.): Kulturen des Alterns – Plädoyers für ein gutes Leben bis ins hohe Alter. Frankfurt, 2016

Wie wollen wir im Alter leben? Welche kulturellen und sozialen Bedingungen sind dafür ausschlaggebend? – Altersforscher unterschiedlicher Disziplinen, unter anderem der Kultur- und Medienwissenschaft, Ethnologie, Soziologie und Theologie, loten Möglichkeiten des Alterns in globaler Perspektive aus. So widmet sich der Alters- und Generationenforscher François Höpflinger, der vor zwei Jahren mit der Veranstaltungsreihe „Drittes Lebensalter – Eine neue Generation im Aufbruch“ Gast im Sozialarchiv war, der Entwicklung von Altersbildern und der Frage, wie sich diese im Lauf der Zeit gewandelt haben. Zum Beispiel zeigt er in seinem Beitrag, dass defizitorientierte Theorien des Alters ab den 1970er und frühen 1980er Jahren in der Wissenschaft allmählich von kompetenzorientierten Theorien des aktiven, erfolgreichen und gesunden Alterns abgelöst wurden.
Ein Kapitel thematisiert das Altern beispielsweise in China oder Kamerun, ein anderes beleuchtet die konkreten Möglichkeiten und Grenzen des Alterns in Europa, so etwa ein Beitrag über das Leben hochbetagter Menschen mit Demenz im ländlichen Raum.
Grundsätzlich will das Buch den gängigen Vorstellungen einer negativ verstandenen Vergreisung der Gesellschaft entgegenwirken und aufzeigen, wie die Kunst des humanen Alterns gelingen kann.

Hauptanliegen des Vereins Alpen-Initiative: Verlagerung des Transitgüterverkehrs von der Strasse auf die Schiene
Hauptanliegen des Vereins Alpen-Initiative: Verlagerung des Transitgüterverkehrs von der Strasse auf die Schiene

Neu im Archiv: Verein Alpen-Initiative

1980 eröffnete Bundesrat Hans Hürlimann den neuen Strassentunnel am Gotthard. Er versprach, dass die neue Röhre kein Transitkorridor für den Schwerverkehr werde. Dann kam doch alles anders: 1986 wurden am Gotthard pro Tag 1’590 Lastwagen gezählt und der sich öffnende EG-Binnenmarkt liess eine weitere Zunahme des Schwerverkehrs erwarten. Das wollten links-grüne Kreise in den Alpenkantonen nicht kampflos hinnehmen. Im Dezember 1987 trafen sich Aktivistinnen und Aktivisten aus Uri, Graubünden, dem Wallis und Tessin im Restaurant Helvetia in Andermatt: die Geburtsstunde des sogenannten Andermatter-Clubs, aus dem im Februar 1989 der Verein Alpen-Initiative hervorgehen sollte.

Dem Andermatter-Club gehörten Personen an, die später in der Schweizer Politik eine bedeutende Rolle spielen sollten: Andrea Hämmerle, Peter Bodenmann, Fabio Pedrina, Reto Gamma, Markus Züst oder Filippo Leutenegger, der damals den VCS Ticino vertrat. An der Gründungsversammlung der Alpen-Initiative nahmen ganze 42 Personen teil. Der neue Verein setzte sich zum Ziel, das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs zu schützen und als Lebensraum zu erhalten. Im Mai 1989 startete der Verein eine Volksinitiative, auch «Alpen-Initiative» genannt, um dieses Ziel gesetzlich zu verankern.

Die Alpen-Initiative kam am 20. Februar 1994 zur Abstimmung. Was kaum jemand für möglich gehalten hatte, traf nach einem heftigen und turbulenten Abstimmungskampf ein: Die Alpen-Initiative wurde mit einem Ja-Stimmenanteil von 51.9 % angenommen. Bis heute steht der Alpenschutzartikel in der Schweizerischen Bundesverfassung und verlangt mit zwei Massnahmen den Schutz des Alpengebiets vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs: Die Verlagerung des Transitgüterverkehrs von der Strasse auf die Schiene und den Verzicht auf einen Ausbau der Kapazität der Transitstrassen.

Die Verlagerungspolitik wurde in mehreren Abstimmungen bestätigt, so bei der Einführung der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA, 1998), bei der Vorlage zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs (FinöV, 1998) oder bei der Ablehnung des Gegenvorschlags zur Avanti-Initiative (2004). Eine grosse Enttäuschung war dann das Ja zur 2. Gotthardröhre in der Volksabstimmung vom 28. Februar 2016.

Alle Kampagnen zu den erwähnten Abstimmungen sowie zahlreiche weitere Aktionen und verkehrspolitische Themen  sind im Archiv der Alpen-Initiative bestens dokumentiert. Die Unterlagen stehen nach Abschluss der Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten allen Interessierten ohne Benutzungsbeschränkungen zur Verfügung.

Das Fotoarchiv von Gertrud Vogler

Kurz vor Weihnachten 2012 legte die Zürcher Fotografin Gertrud Vogler dem Sozialarchiv ein ganz besonderes Geschenk unter den Baum: Sie übergab uns ihr gesamtes, rund 200’000 Negative umfassendes Fotoarchiv. Ein erster Teil des faszinierenden Werks ist nun online.

Gertrud Vogler (*1936) gehört zu den herausragenden Fotografinnen sozialer Bewegungen in der Schweiz. Sie brachte sich das Fotografieren selber bei und war ab 1976 zuerst als freischaffende Fotografin tätig, bevor sie in den 1980er und 1990er Jahren als Bildredakteurin und Fotografin bei der Wochenzeitung WoZ arbeitete. In diesem Vierteljahrhundert sind über 200’000 Negative entstanden, die in thematisch beschrifteten Schachteln vorbildlich archiviert sind. Es handelt sich ausschliesslich um Schwarzweissfotografie im Kleinformat.

Gertrud Voglers Werk dokumentiert alle wichtigen Aspekte der sozialen Frage der letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Ihre wohl bekanntesten Arbeiten betreffen die Drogenszenen im Zürich der 1980er und 1990er Jahre (Platzspitz und Letten). Weitere Schwerpunkte ihres Schaffens sind: Aussenseiter (vor allem Jenische), Frauenbewegung, Stadtentwicklung (Verkehr, Brachen, städtische Freiräume, Graffiti, Vergitterung der Stadt), Jugendbewegung (umfassende Dokumentation der Achtziger Bewegung), alternative Jugendmusikkulturen (Techno, Rap, Hip-Hop), Ausländer (Asylpolitik, Demonstrationen) und Wohnen (Häuserbesetzungen, Zaffaraya, Wohnungsnot). Ein Grossteil der Fotografien ist in der Schweiz entstanden, Zentrum von Voglers Wirken war Zürich. Darüber hinaus sind im Archiv aber beispielsweise auch Aufnahmen aus El Salvador oder dem Libanon vorhanden.

Das Fotoarchiv von Gertrud Vogler deckt eine immense Vielfalt von Themen ab, die für das Sozialarchiv im Zentrum seines Sammelauftrags stehen, der Bestand ist damit inhaltlich ein Glücksfall! Quantitativ hat er das Sozialarchiv vor neue Herausforderungen gestellt – noch nie hatten wir es mit solchen Dimensionen zu tun. Zuerst wurde 2013 der Gesamtbestand inventarisiert; seit 2014 werden die Negative digitalisiert, bewertet und in der Datenbank Bild + Ton erschlossen. Mehr als 5’000 Aufnahmen zu den Themen Wohnungsnot, Jugendbewegung, Asylwesen und Ausländer in der Schweiz sind inzwischen bereits online zugänglich. Dank grosszügigen Zuschüssen der Ernst Göhner Stiftung und der Sophie und Karl Binding Stiftung können wir nun im kommenden Jahr die Digitalisierungs- und Erschliessungsarbeit fortsetzen und den Kernbestand von Gertrud Voglers Werk publizieren.

> Bestand in der Datenbank Bild + Ton: F 5107

Vor 60 Jahren: Die Ungarnkrise und die Schweiz

Wenn in den letzten Monaten von Ungarn und Flüchtlingspolitik die Rede war, so handelte es sich in aller Regel um Nachrichten über Massnahmen der Regierung Orbán zur Abschottung ihres Landes gegen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Dass sechs Jahrzehnte zuvor nach dem ungarischen Volksaufstand, dessen Jahrestag seit dem Ende des Kommunismus als Nationalfeiertag begangen wird, über 200’000 Ungarn ihrerseits aus ihrem Land geflohen waren und im Westen Aufnahme gefunden hatten, stellt für die gegenwärtige ungarische Regierung keinen Anlass für eine liberalere Politik dar – im Gegenteil: Gerade in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Beginns des Volksaufstandes verteidigte Ministerpräsident Viktor Orbán seine Haltung und zog gar einen abstrusen Vergleich zwischen der damaligen Intervention der Sowjetunion und der heutigen Flüchtlingspolitik der EU. Die vor 60 Jahren je nach politischem Standpunkt als «Revolution» oder «Konterrevolution» bezeichneten Ereignisse sind indessen nicht nur ein Thema der ungarischen, sondern auch der europäischen und globalen Geschichte und sie tangierten auch die Schweiz in erheblichem Ausmass. Tatsächlich hat kaum ein internationales Ereignis des an Blutvergiessen so reichen und vom Historiker Eric Hobsbawm zu Recht als «Age of Extremes» charakterisierten 20. Jahrhunderts in der Eidgenossenschaft eine derartige innenpolitische Resonanz ausgelöst. Die Ungarn erschienen weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung als heldenmütiges Kleinvolk, mit dem man sich ausgezeichnet identifizieren konnte.

Die Krise eskalierte am 23. Oktober 1956 mit einer studentischen Grossdemonstration in Budapest, an der Forderungen nach demokratischen Reformen erhoben wurden. Als die Regierung in die rasch wachsende Menge von DemonstrantInnen schiessen liess, schlug der friedliche Protest in gewaltsamen Widerstand um und es setzten bewaffnete Kämpfe ein. Das bisherige Einparteiregime kollabierte rasch. Eine neue Regierung unter dem Reformkommunisten Imre Nagy nahm auch Vertreter der Ende der 40er Jahre unterdrückten Parteien der Kleinlandlandwirte, der Sozialdemokraten und der Bauern auf, erklärte den Austritt Ungarns aus dem im Vorjahr gegründeten Warschauer Pakt und die Neutralität des Landes und forderte die sowjetischen Truppen zum Verlassen des Landes auf. Ganz im Gegenteil marschierten Anfang November aber zusätzliche Truppen der Roten Armee in Ungarn ein und installierten am 4. November eine prosowjetische Regierung unter János Kádár. Es kam zu neuen Kämpfen, die in Budapest eine Woche anhielten, an anderen Orten indessen bedeutend länger dauerten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurden Hunderte hingerichtet, unter ihnen im Sommer 1958 Imre Nagy, und Zehntausende inhaftiert. Die nichtkommunistischen Parteien und die im Zuge des Aufstandes entstandenen Arbeiterräte wurden wieder unterdrückt und erst nach Jahren der Repression fand Ungarn zum sogenannten «Gulaschkommunismus», der seinen BürgerInnen geringfügige Freiheiten zugestand.

Der Westen unterstützte die Aufständischen zwar verbal, die NATO hielt sich jedoch vor einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion tunlichst zurück. In der Schweiz gab es ab dem 23. Oktober unzählige Solidaritätskundgebungen, Sammel- und Hilfsaktionen und antisowjetische Demonstrationen. Gebannt verfolgten die Menschen am Rundfunk die Nachrichten über die Geschehnisse in Ungarn. Insgesamt wurden 6,5 Millionen Franken gespendet und 2 Millionen Pakete mit Medikamenten und Nahrungsmitteln verschickt. Am Abend des 4. November gab der Bundesrat in einem Communiqué seiner Bestürzung über den sowjetischen Einmarsch Ausdruck und betonte «das Selbstbestimmungsrecht des mit der Schweiz befreundeten ungarischen Volkes». Alle politischen Parteien mit Ausnahme der PdA beschlossen Resolutionen, die das sowjetische Vorgehen verurteilten, die Parteileitung der SPS gab ihrer Empörung sogar in einer direkten Eingabe an die sowjetische Botschaft Ausdruck. Forderungen aus der Öffentlichkeit nach einem Abbruch der – erst 1946 aufgenommenen – diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion und einer Unterbindung des wirtschaftlichen Austausches mit Ostblockstaaten, dem sogenannten «Osthandel», drangen indessen nicht durch.

Die Sympathieaktionen für die aufständischen Ungarn erreichten ihren Höhepunkt am 20. November mit einer landesweiten Demonstration. Um halb 12 Uhr läuteten sämtliche Kirchglocken, danach folgten drei Schweigeminuten. Die Menschen verharrten in Stille, Autos und Trams hielten an, der Bundesrat unterbrach seine Sitzung und die Fahnen auf dem Bundeshaus wurden auf halbmast gesetzt. Bereits zuvor hatte sich eine intensive Debatte über die Schweizer Teilnahme an den Olympischen Spielen in Melbourne entsponnen, die am 22. November begannen. Die Aussicht, dass in «down under» schweizerische und sowjetische AthletInnen aufeinandertreffen würden, liess in den Sportverbänden und der öffentlichen Meinung zahlreiche Stimmen laut werden, die einen Boykott forderten. Auch in anderen westlichen Ländern gab es solche Diskussionen, die meisten entschieden sich aber für eine Teilnahme. In der Schweiz zog sich die Debatte so lange hin, dass, als man sich schliesslich gegen einen Vollboykott entschieden hatte, die Zeit zur Organisation der Flüge zu knapp geworden war und die Schweiz in Melbourne fehlte. Auch an der Eishockey-Weltmeisterschaft vom Frühjahr 1957 in Moskau nahm die Schweiz nicht teil. Während die NATO-Staaten USA, Kanada, Bundesrepublik Deutschland, Norwegen und Italien den Anlass aus politischen Gründen boykottierten, hatte die Schweiz ihre Teilnahme bereits vor der Ungarnkrise aufgrund des desolaten Zustandes der Nationalmannschaft abgesagt, konnte sich dann aber nachträglich auch in die Boykott-Front einreihen. Der Schweizerische Landesverband für Leibesübungen empfahl im April 1957, einstweilen von bilateralen Sportkontakten mit Ostblockstaaten abzusehen.

Waren sich die wesentlichen politischen Kräfte des Landes in ihrer Sympathie für den «Winkelried Ungarn» (Basler Nachrichten, 1.11.1956) und ihrer Empörung über die sowjetische Politik einig, so zeigen die in der Sachdokumentation des Sozialarchivs gesammelten Kommentare in ihren Leitmedien dennoch je spezifische Akzentuierungen und semantische Differenzen. Gemäss der NZZ hatte «ein kleines, tapferes Volk, seit Jahrhunderten der europäischen Familie zugehörig, […] in einer plötzlichen Erhebung, die wie der Aufschrei von Millionen durch das düstere Gefängnis des sowjetischen Kolonialreiches gellte, [versucht], die Fremdherrschaft und das ihm von der Fremdherrschaft auferlegte kommunistische Joch abzuschütteln» (NZZ, 5.11.1956). Für NZZ-Chefredaktor und FDP-Nationalrat Willy Bretscher hatten die Ereignisse in Ungarn gezeigt, «dass in der trüben Mischung von kommunistischer Heilslehre, russischem Nationalismus und antiwestlerischem Panslawismus, die der Bolschewismus darstellt, das Element der Macht und die Idee der Weltherrschaft den Vorrang vor allen geistigen, ideologischen Bestandteilen haben und die eigentliche Substanz des Sowjetkommunismus ausmachen» (NZZ, 14.11.1956). Das freisinnige Leitmedium zog daraus auch innenpolitische Konsequenzen und forderte die Priorität der Aufrüstung vor dem Ausbau des Sozialstaats: «In diesen Stunden, die mit niederdrückender Wucht die Erinnerung an Europas Schicksal vor zwanzig Jahren heraufbeschwören, bekennt sich das Schweizervolk geschlossen zu seinem freiheitlichen Erbe und bekräftigt den unerschütterlichen Willen, für die Verteidigung der Unabhängigkeit vor keinem Opfer zurückzuscheuen.» Deshalb solle die Budgetpolitik «künftig nicht mehr durch die Illusion belastet werden, dass man russische Panzer zum Stehen bringen könnte, indem man den AHV-Ausweis schwenkt» (NZZ, 5.11.1956). Tatsächlich verabschiedeten die eidgenössischen Räte noch im Dezember 1956 ein Sofortprogramm zur Beschaffung von Kriegsmaterial, insbesondere Panzern.

Die sozialdemokratische Presse sah sich durch die Ereignisse in Ungarn in ihrer Ablehnung des Kommunismus und dem Einstehen für den «freiheitlichen Sozialismus» bestärkt und zeigte sich überzeugt, dass «aus dem frevlerischen Blute der Märtyrer» in Ungarn «die Flamme der Freiheit um so mächtiger und um so leidenschaftlicher emporschlagen» würde (Volksrecht, 5.11.1956). Gemäss SP-Präsident Walther Bringolf hatten die Kommunisten in Ungarn «ein staatskapitalistisches Regime, gestützt durch Terror und eine Armee von Geheimpolizei, geleitet von Emporkömmlingen und Verrätern an den Idealen der Arbeiterbewegung» errichtet, das in diametralem Gegensatz zu den Zielen der Sozialdemokratie stand und «ein neues und verschärftes System der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft» geschaffen hatte (Volksrecht, 14.12.1956). Jakob Ragaz, Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Schweizerischen Sozialarchivs, begrüsste die gemeinsamen Solidaritätsaktionen von Sozialdemokraten und Bürgerlichen, wies indessen auf die Diskrepanz zum Verhalten der Bürgerlichen bei ähnlichen Ereignissen in der Vergangenheit wie dem Aufstand der österreichischen Arbeiter gegen den Austrofaschismus im Februar 1934 oder dem Widerstand der spanischen Republikaner gegen die Putschisten um General Franco im Spanischen Bürgerkrieg hin, als die Schweizer Arbeiterschaft mit ihrer Solidarität für die Kämpfer gegen Diktatur und Unterdrückung weitgehend allein stand (Der Aufbau, 7.12.1956).

Das katholisch-konservative «Vaterland» sah in den Vorgängen in Ungarn den «Beweis dafür, dass noch mächtige Kräfte abendländischer christlicher Kultur jenseits des Eisernen Vorhanges lebendig sind, deren Träger man unterjochen und tyrannisieren, deren Geist aber man nicht brechen kann» (Vaterland, 31.10.1956). Teilweise schrieb es den ungarischen Aufstand und seine Unterdrückung rhetorisch in die apokalyptische Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan ein, etwa am 5. November in der Artikelüberschrift «Von der göttlichen Freiheit und von der teuflischen Gewalt» oder fünf Tage darauf mit der Behauptung, das, «was jetzt in Ungarn geschieht», könne «nur eine Ausgeburt der Hölle sein.»

Der all diesen parteipolitischen Positionen gemeinsame Antikommunismus kochte auch in der Bevölkerung hoch. In Bern mussten Sicherheitskräfte mehrfach das Eindringen von Demonstranten in die sowjetische Botschaft verhindern. In Genf kam es am 7. November vor dem Hotel Beau-Rivage, wo eine sowjetische Delegation den Jahrestag der Oktoberrevolution feierte, und vor der Druckerei der kommunistischen «Voix Ouvrière» zu gewaltsamen Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei. In Basel zog am selben Abend nach einer Grossdemonstration der Studentenschaft, an der sich 12‘000 Personen beteiligt hatten, eine Gruppe von gegen 800 Jugendlichen vor das Parteisekretariat der lokalen PdA, zertrümmerte die Eingangstüren und musste von der Polizei vor einem Sturm auf das Gebäude abgehalten werden. Anschliessend versuchte ein Teil von ihnen erfolglos, sich Zugang zur Wohnung von PdA-Nationalrat Marino Bodenmann zu verschaffen. Am folgenden Tag schrieb der junge VPOD-Sekretär und SP-Grossrat Helmut Hubacher in der Basler «Arbeiter-Zeitung» in einer «Grabrede auf die PdA Basel»: «Die Ereignisse in Ungarn machen es nötig, sich mit der moskauhörigen Kadavergehorsamspartei zu befassen. Jener einfache Arbeiter, der kürzlich im Tram erklärte, man sollte die Herren Bodenmann, Dübi, Krebs, Bobby Stohler, Stebler und wie sie alle heissen, öffentlich auf dem Marktplatz hinter Drahtgehegen ausstellen, hat gar nicht so unrecht. Sie würden es verdienen, diese führend tätigen Moskauanhänger, dass man sie öffentlich brandmarken, blossstellen und dem Spott und Hohn preisgeben würde. Das beste, was mit diesem politischen Lumpenpack geschehen könnte, wäre eine direkte Verfrachtung nach Moskau. Sie sind es nicht würdig, den Schweizer Pass und den Schweizer Heimatschein auf sich zu tragen. […] Wer jetzt noch Mitglied der PdA bleibt, […] bekennt sich als Anhänger der russischen Mordgesellen am ungarischen Volk. […] Die korrupten Hauptfunktionäre dieser Partei, die mit russischem Geld gekauft sind und sich dafür mit Leib und Seele Moskau verschrieben haben, bleiben Mitglieder der PdA, um weiterhin Verräter, Spione, Agenten und Söldlinge einer ausländischen Macht zu bleiben. […] Möge inskünftig der ganze Grosse Rat, wenn eine dieser Moskaukreaturen, dieser volksdemokratischen Henkerslehrlinge ans grossrätliche Mikrophon tritt, den Saal sofort verlassen. Diesen Ungarnmördern mit demokratischer Schafsgeduld zuzuhören, hiesse sich selbst verleugnen. Sie sollen behandelt werden wie die Pest und Cholera, als Seuche in unserem Lande, die vertrieben werden muss.»

In Zürich gab es vor dem PdA-Parteisekretariat mehrfach Aufläufe jugendlicher Demonstranten, die das Gebäude mit Steinen bewarfen, und ein Gastauftritt der tschechoslowakischen Eishockey-Nationalmannschaft musste abgesagt werden, nachdem beim veranstaltenden Zürcher SC zahlreiche Drohungen eingegangen waren. Ein besonders drastisches Beispiel waren die Übergriffe gegen den Kunsthistoriker und Publizisten Konrad Farner und dessen Familie. Am 13. November 1956 beklagte NZZ-Inlandredaktor und nachmaliger FDP-Stadt- und Nationalrat Ernst Bieri in einem Artikel über die «Krise der PdA», führende Schweizer Kommunisten hätten sich «unbequemen Fragen an der Wohnungstüre und am Telephon» durch Untertauchen entzogen. Vielleicht könne aber Dr. Konrad Farner Auskunft geben: «Er ist jetzt zurück aus Berlin und wohnt in Thalwil an der Mühlebachstrasse 11». Nach ähnlichen Artikeln in der Lokalpresse versammelte sich drei Tage darauf eine Menschenmenge vor Farners Wohnung und drohte ihm mit dem Galgen. In der Folge wurde die Hausfassade mit Schmierereien wie «Kreml» verunstaltet und jahrelang schmähten Schilder an der Mühlebachstrasse den Kommunisten Farner. Auch dessen Familie wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die Kinder wurden auf der Strasse bespuckt und mit Steinen beworfen, ein normaler Schulbesuch wurde unmöglich. Das lokale Gewerbe erklärte Boykotte gegen Farners Familie und telefonische Beschimpfungen waren an der Tagesordnung.

Insgesamt 12’462 ungarische Flüchtlinge kamen nach der Niederschlagung des Volksaufstands vorübergehend oder dauerhaft in die Schweiz. Sie wurden vom Roten Kreuz in österreichischen Lagern abgeholt, mit Sonderzügen bis nach Buchs gebracht und dann in Gruppen von 50 bis 100 Personen auf Kantone und Gemeinden verteilt. Zunächst kümmerten sich Hilfsorganisationen, Gemeinden, Kirchen und Privatpersonen um ihre Unterbringung, Versorgung und Arbeitsvermittlung. Neben bestehenden Organisationen wie dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk betätigte sich eine Vielzahl ad hoc entstandener Initiativen in der Ungarn-Hilfe. So gründeten beispielsweise im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung an der Universität Zürich am 29. Oktober 1956 Studierende von Universität und ETH Zürich die «Studentische Direkthilfe Schweiz-Ungarn» (SDSU), die vom nachmaligen SP-Nationalrat Walter Renschler präsidiert wurde. Weitere SDSU-Aktive waren die spätere Bundesrätin Elisabeth Kopp und der nachmalige Flüchtlingsdelegierte Peter Arbenz. Nachdem die SDSU zunächst Hilfsgüter nach Ungarn geliefert und an Flüchtlingstransporten in die Schweiz mitgewirkt hatte, registrierte und betreute sie ab Ende November 1956 im Auftrag des Bundes sämtliche in die Schweiz gelangten ungarischen Studenten. 565 von ihnen wurde an Schweizer Hochschulen ein Studienplatz angewiesen. Für zehn Jahre bestand ein «Ungarn-Stipendienfonds», in den jeder Student bei der Einschreibung 15 Franken einzuzahlen hatte.

Die helvetische Willkommenskultur war allerdings nicht unbedingt. Waren die ersten 4’000 ungarischen Flüchtlinge, die Mitte November 1956 in die Schweiz kamen, noch ohne Durchführung eines individuellen Verfahrens als politische Flüchtlinge mit Recht auf Dauerasyl anerkannt worden, so erhielten die nächsten 6’000 Ende November nur noch einen «vorübergehenden Aufenthalt» zur Klärung ihrer Weiterreise in ein Drittland. Ihre Betreuung wurde nun von der Armee übernommen, die Einquartierung erfolgte in kollektiven Unterkünften, zumeist Kasernen, und Kontakte zwischen Flüchtlingen und der Presse waren untersagt. Auch gab es neben den unzähligen Hilfsgesten aus der Bevölkerung bald auch Klagen  über ungewohntes Benehmen. Insgesamt reisten 5’000 ungarische Flüchtlinge in andere Staaten weiter, während 7’000 dauerhaft in der Schweiz blieben. Ihre Integration vollzog sich rasch und relativ problemlos. Schon Ende der 50er Jahren entstanden in der Schweiz ungarische Vereine und Organisationen, deren Akten heute teilweise im Sozialarchiv gelagert werden.

Bestände zum Thema im Schweizerischen Sozialarchiv

Archiv:

  • Ar 1.270.4 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Schweizerisches Arbeiterhilfswerk 1935-1961
  • Ar 1.270.5 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Arbeiterhilfe 1950-1956
  • Ar 20.728 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Akten 1957-1960
  • Ar 20.860.13 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Ansiedlung ungarischer Flüchtlinge in FR
  • Ar 20.893.21 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Darlehensfonds Linz 1959-1971 zur Eingliederung ungarischer Flüchtlinge in Österreich Ende 50er-60er Jahre
  • Ar 20.950.64 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Internationales Arbeiterhilfswerk IAH
  • Ar 20.950.97 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Internationales Arbeiterhilfswerk IAH: Ungarn 1956 + Fotodokumentation
  • Ar 20.971.44 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Bericht Ungarnaktion 1957
  • Ar 20.972.1 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Ungarnhilfe 1956-1958
  • Ar 157.15.1 Nachlass Walter Renschler: Ungarn 1956
  • Ar 157.15.2 Nachlass Walter Renschler: SDSU (Studentische Direkthilfe Schweiz-Ungarn)
  • Ar 459.21.14 Partei der Arbeit der Schweiz: Broschüren, ca. 1935-1968
  • Ar 470 Verband Ungarischer Christlicher Arbeitnehmer in der Schweiz
  • Ar 601 SMESZ Verband Ungarischer Vereine in der Schweiz
  • Ar 602 Comité Vaudois de la Société Suisse-Hongrie/Société Hungaro-Suisse dans le canton de Vaud

Archiv Bild + Ton:

  • F 5025 Schweizerisches Arbeiterhilfswerk (SAH) – Oeuvre suisse d’entraide ouvrière (OSEO): Ordner 01: «Ungarnaktion Flüchtlinge»

Sachdokumentation:

  • KS 32/52b Ungarnaufstand
  • KS 32/52c Ungarnaufstand
  • ZA 38.6 Partei der Arbeit
  • ZA 69.0 *1 Asylpolitik & Flüchtlingswesen: Allg. & Ausland: Sonderdossier «Ungarn-Flüchtlinge (1956-1959)»
  • ZA 69.0 C *2 Asylpolitik & Flüchtlingswesen in der Schweiz: Allg.: Sonderdossier «Ungarn-Flüchtlinge in der Schweiz (1956-1981)»
  • ZA KVH Ungarn

Bibliothek:

  • 23345 Arnet, Edwin et al. (Hg.): Aufstand der Freiheit: Dokumente zur Erhebung des ungarischen Volkes. Zürich 1957.
  • 116614 Dalos, György: 1956: Der Aufstand in Ungarn. München 2006.
  • 58191 Farner, Martha et al.: „Niemals vergessen!“: Betroffene berichten über die Auswirkungen der Ungarn-Ereignisse 1956 in der Schweiz. Zürich 1976.
  • Gr 13677 Gehler, Michael und Erich Lessing: Ungarn 1956: Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa. Innsbruck 2015.
  • 35336 Gosztonyi, Peter (Hg.): Der Ungarische Volksaufstand: In Augenzeugenberichten. Fribourg 1966.
  • 31550 Király, Ernö: Die Arbeiterselbstverwaltung in Ungarn: Aufstieg und Niedergang 1956–1958: Ein Dokumentarbericht. München 1961.
  • 65887 Kopácsi, Sándor: Die ungarische Tragödie: Wie der Aufstand von 1956 liquidiert wurde: Erinnerungen des Polizeipräsidenten von Budapest. Stuttgart 1979.
  • 117083 Lendvai, Paul: Der Ungarnaufstand 1956: Die Revolution und ihre Folgen. München 2006.
  • 134587 Löpfe, Philipp: Schweiz – Ungarn – Sowjetunion: Eidgenössische Stereotype während des Ungarnaufstandes. Saarbrücken 2011.
  • 119528 Tréfás, David: Die Illusion, dass man sich kennt: Schweizerisch-ungarische Beziehungen zwischen 1945 und 1956. Zürich 2008.
  • 116506 Zabratzky, George (Hg.): Flucht in die Schweiz: Ungarische Flüchtlinge in der Schweiz. Zürich 2006.
  • 130807 55 év a magqarság szolgálatában: A Svájci Keresztény Magyar Munkavállalók Szövetségének 55 éve. Zürich 2014.