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16.11.2017, 19 Uhr: Russlands Gesellschaft

Zwischen Apathie, patriotischem Enthusiasmus und kreativer Rebellion


Die russische Gesellschaft ist tief gespalten: Enttäuschte Demokratie-Befürworter sehen sich dem erstarkenden aggressiven Patriotismus breiter Massen ausgesetzt. Die politische Führung setzt zunehmend auf konservative Werte und den Rechtspopulismus und duldet kein oppositionelles Denken. Selbst friedliche Proteste der Jugend gegen die Korruption werden im Keim erstickt.

In der Veranstaltung werden die aktuelle Lage analysiert und Optionen für die Zukunft diskutiert.

Mit Ekaterina Emeliantseva (Universität Zürich), Svetlana Boltovskaja (Herder-Institut Marburg) und Gleb Albert (Universität Zürich)

Donnerstag, 16. November 2017, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv (Theater Stadelhofen)

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 189 KB)
> Veranstaltungsreihe 2017: «Russland aktuell»

Der hundertste Jahrestag der russischen Revolution(en) ist dieses Jahr Gegenstand zahlreicher Veranstaltungen und Ausstellungen. Im Gegensatz zu diesen Erinnerungsaktivitäten steht in der Reihe «Russland aktuell» des Schweizerischen Sozialarchivs und des Center for Eastern European Studies der Universität Zürich das gegenwärtige Russland im Zentrum.
Nach einem Blick auf die vielfältigen und wechselhaften Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz, die ihre Spuren auch im Schweizerischen Sozialarchiv hinterlassen haben (9.11.2017), befassen sich zwei Expertendiskussionen mit der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation in der Russischen Föderation (16.11.2017) sowie der geopolitischen Rolle des heutigen Russland in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt (14.12.2017).

9.11.2017, 19 Uhr: Russland und die Schweiz

Lenins wohlbekanntes Schweizer Exil ist nur ein Element der jahrhundertelangen schweizerisch-russischen Verflechtungsgeschichte. Die Veranstaltung stellt Aspekte dieser politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und migratorischen Beziehungen vor und präsentiert Beispiele der vielfältigen Quellenbestände des Schweizerischen Sozialarchivs zur Thematik.

 

Mit Peter Collmer (Universität Zürich) und Christian Koller (Schweizerisches Sozialarchiv)

Donnerstag, 9. November 2017, 19 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv (Theater Stadelhofen)

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 189 KB)
> Veranstaltungsreihe 2017: «Russland aktuell»

Der hundertste Jahrestag der russischen Revolution(en) ist dieses Jahr Gegenstand zahlreicher Veranstaltungen und Ausstellungen. Im Gegensatz zu diesen Erinnerungsaktivitäten steht in der Reihe «Russland aktuell» des Schweizerischen Sozialarchivs und des Center for Eastern European Studies der Universität Zürich das gegenwärtige Russland im Zentrum.
Nach einem Blick auf die vielfältigen und wechselhaften Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz, die ihre Spuren auch im Schweizerischen Sozialarchiv hinterlassen haben (9.11.2017), befassen sich zwei Expertendiskussionen mit der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation in der Russischen Föderation (16.11.2017) sowie der geopolitischen Rolle des heutigen Russland in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt (14.12.2017).

Vor 25 Jahren: Die Schliessung des «Needle Park»

Als die Zürcher Polizei am 5. Februar 1992 den Platzspitzpark hinter dem Landesmuseum schloss, war dies ein unter grossem öffentlichem Druck gefällter Entscheid der Politik, die den Schlussstrich unter einem seit Jahren bestehenden Problem zu ziehen versuchte: der offenen Drogenszene. Zunächst von Polizei und Politik toleriert, war der Platzspitz als «Needle Park» international bekannt geworden. Bald stammte nur noch eine Minderheit der DrogenkonsumentInnen aus der Stadt Zürich. Süchtige aus der ganzen Schweiz und darüber hinaus kamen zum Platzspitz, wo zeitweise rund 3’000 Personen pro Tag verkehrten und bis zu 200 auch übernachteten. An Spitzentagen musste die Sanität 25 Wiederbelebungen vornehmen und allein im Jahr 1991 starben auf dem Platzspitz 21 Menschen. Im selben Jahr entstand mit der «Aktion betroffener Anrainer», deren Vereinsakten sich heute im Schweizerischen Sozialarchiv befinden, eine Organisation, die die Drogenpolitik der Stadt Zürich kritisierte und die Räumung offener Drogenszenen forderte. Im Oktober 1991 erliess Statthalter Bruno Graf, der sich gerade im Wahlkampf um ein Nationalratsmandat befand, eine aufsichtsrechtliche Weisung zur Schliessung des Platzspitz-Parks, worauf die Stadtpolizei eine Spezial-Einsatztruppe namens «Turicum» ins Leben rief. Ab Mitte Januar 1992 gab es um den Hauptbahnhof herum verstärkte Polizeikontrollen und wurde das Shop-Ville nachts geschlossen. Am 5. Februar riegelte die Polizei den Platzspitz ab, am Eingang wurden Gittertore angebracht. In den folgenden Wochen verhinderte intensive polizeiliche Patrouillentätigkeit ein erneutes Festsetzen der Drogenszene hinter dem Hauptbahnhof.

Der «Needle Park» auf dem Platzspitz stellte zwar den Höhepunkt der stark medialisierten Drogendiskussion dar, war indessen weder Anfang noch Endpunkt der zürcherischen und schweizerischen Drogengeschichte. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte sich die Diskussion um Sucht und Drogen auf den Alkohol konzentriert. Unter den industriellen Lebensbedingungen wurde der Schnaps zu einem beliebten Nahrungs-Surrogat der Unterschichten. Eine erstmalige Erhebung in den frühen 1880er Jahren konstatierte einen Pro-Kopf-Konsum von 14,3 Litern Alkohol pro Jahr. Solche Befunde schreckten die gesellschaftlichen Eliten auf und mündeten in Zivilisationskritik und Degenerationsdiskurse. Die Formierung der Antialkoholbewegung mit verschiedenen weltanschaulichen Variationen fiel genau in diese Zeit. So entstand 1877 das Blaue Kreuz, 1892 die Guttempler-Organisation, 1895 die Katholische Abstinenten-Liga, 1900 der Sozialistische Abstinentenbund und 1902 der Bund abstinenter Frauen. Der 1885 in der Volksabstimmung mit knapp 60% gutgeheissene Alkoholartikel der Bundesverfassung, der den Alkoholkonsum mittels Besteuerung einschränken wollte, wurde zeitgenössisch als Sozialreform zugunsten der Arbeiterschaft gesehen. Zwei Jahre darauf konstituierte das «Bundesgesetz betreffend gebrannte Wasser» ein Bundesmonopol für Kartoffel- und Getreideschnaps. Im Jahre 1908 hiessen dann 63,5% der Stimmenden die Eidgenössische Volksinitiative für ein Absinthverbot gut. Nach dem Ersten Weltkrieg witterte die internationale Abstinenzbewegung mit dem totalen Alkoholverbot in den Vereinigten Staaten von 1920 bis 1933 Morgenluft, allerdings zeigte sich rasch, dass die Prohibition zwar das organisierte Verbrechen stärkte, den Alkoholismus aber nicht wesentlich eindämmte. Die dem Prohibitionsgedanken verpflichtete Eidgenössische Volksinitiative für ein Branntweinverbot scheiterte denn auch 1929 mit weniger als einem Drittel Ja-Stimmen deutlich.

Andere Formen des Drogenkonsums wurden im Windschatten der Alkoholismusdiskussion demgegenüber kaum wahrgenommen. Die Schweiz trat der Haager Konvention zur Kontrolle von Opiumproduktion und -handel von 1912 vorerst nicht bei, da das Problem nach Ansicht des Bundesrates das Land nicht betraf. Dass gerade zu jenem Zeitpunkt eine internationale Opium-Konvention abgeschlossen wurde, hing mit politischen Vorgängen in Ostasien zusammen. Im Jahre 1911 war in China, einem der globalen Brennpunkte von Opiumproduktion und -konsum, das Kaisertum gestürzt und im Anschluss daran die Anti-Opium-Gesetzgebung verschärft worden. China war ab Anfang des 19. Jahrhunderts von Opium aus Bengalen überflutet worden. Die königlich privilegierte «British East India Company», die im Auftrag Londons weite Teile Indiens verwaltete, war zu jener Zeit der weltweit bedeutendste Drogenhändler. Die Briten wollten damit ihr beträchtliches Handelsbilanzdefizit mit dem Reich der Mitte ausgleichen, aus dem sie Seide, Tee und Porzellan importierten. Chinesische Widerstände gegen diese Handelspolitik, die zu grossen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Problemen führte, wurden in den beiden Opiumkriegen (1840–1842 und 1856–1860) gewaltsam gebrochen. China musste sich dem internationalen Handel (inklusive Drogenhandel) öffnen, Territorien wie Hongkong abtreten und geriet in informelle Abhängigkeit von den westlichen Imperialmächten. Bis 1880 stiegen die jährlichen Opiumeinfuhren nach China auf 6’500 Tonnen und es gab geschätzte 20 Millionen Süchtige. Die chinesische Regierung förderte nunmehr die Opiumproduktion im Inland, die in der Folge nicht nur die Importe aus Britisch-Indien zunehmend substituierte, sondern ihrerseits auch für den Export arbeitete.

Ausgehend von Ostasien hatte sich im 19. Jahrhundert der Opiumkonsum als Produkt der frühen Globalisierung auch nach Europa und Nordamerika ausgebreitet. Insbesondere in Hafenstädten entstanden sogenannte «Opiumhöhlen», die zumeist von Chinesen betrieben wurden. Schon 1840 existierten solche sowohl von Arbeitern als auch von Künstlern und Intellektuellen frequentierte Lokalitäten etwa in London, Marseille und Le Havre, in den folgenden Jahrzehnten zogen zahlreiche europäische Städte nach. Karl Marxens bekanntes Diktum von der Religion als «das Opium des Volkes» aus seiner um die Jahreswende 1843/44 verfassten Einleitung zur «Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie» sowie Heinrich Heines noch drei Jahre ältere Formulierung von der Religion als «geistiges Opium» zeugen von der allgemeinen Bekanntheit des Opiums bereits zu diesem Zeitpunkt. Zugleich verbreitete sich auch der Kokainkonsum. Nachdem die ersten Coca-Sträucher Mitte des 18. Jahrhunderts aus Südamerika nach Europa gekommen waren, wurde Kokain im späten 19. Jahrhundert zur Behandlung von Morphinabhängigkeiten verwendet, geriet aber zugleich selber als Droge durchaus auch in gehobenen Gesellschaftsschichten in Gebrauch (literarisch verarbeitet etwa in der Figur des Meisterdetektivs Sherlock Holmes). Die Gefährlichkeit des Kokains wurde zunächst kaum beachtet. Die erste Rezeptur von Coca-Cola, das 1886 zuerst als Medizin, bald aber als Erfrischungsgetränk vermarktet wurde, enthielt bis 1906 250 Milligramm Kokain pro Liter.

Auch an der Schweiz gingen diese globalhistorischen Vorgänge nicht spurlos vorbei und in der Zwischenkriegszeit wurde der Konsum von Morphinen dann auch hierzulande zunehmend problematisiert. Man schätzte zu jener Zeit 500 bis 700 Süchtige, unter ihnen etwa der Schriftsteller Friedrich Glauser. Unter internationalem Druck führte die Eidgenossenschaft 1924 mit dem ersten Betäubungsmittelgesetz eine Bewilligungspflicht für Produktion und Handel mit Opiaten und Kokain ein – gegen den Widerstand der chemischen Industrie. Im folgenden Jahr unterzeichnete die Schweiz das Erste Genfer Opiumabkommen, das hauptsächlich aus Ergänzungen zum Haager Abkommen von 1912 bestand und den internationalen Betäubungsmittelhandel nicht verbot, sondern lediglich kontingentierte. Die vom neugegründeten Völkerbund in den 20er Jahren vorangetriebenen Bemühungen zur Austrocknung der internationalen Drogenschwarzmärkte wurden von den Schweizer Pharma-Produzenten als Bedrohung empfunden. Im Ersten Weltkrieg hatte die Schweizer Chemie mit der Massenproduktion von Morphin und Kokain, auf deren Basis Schmerzmittel hergestellt werden konnten, eine lukrative Exportstrategie entwickelt. In den frühen 20ern tauchten dann unter den von der Opiumkommission des Völkerbundes beschlagnahmten Waren auch Drogen aus Basler Produktion auf. Japan führte zu jener Zeit als Teil einer aggressiven imperialen Expansionspolitik einen Grossangriff mit Heroin-Lieferungen nach China. Die schweizerischen Heroinexporte nach Japan stiegen massiv an; von dort aus wurde die Ware ins Reich der Mitte geschmuggelt. Im Jahre 1930 einigten sich die deutschen, britischen und schweizerischen Produzenten auf verbindliche Quoten und Preise für Opiate, ein Jahr darauf wurde im Rahmen des Völkerbundes ein Abkommen zur Begrenzung der Herstellung von Narkotika abgeschlossen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das schweizerische Betäubungsmittelgesetz in zwei Revisionen verschärft: Ab 1951 erfasste es auch die Cannabisprodukte und ab 1968 die Halluzinogene (wie das vom Basler Chemiker Albert Hofmann entdeckte LSD). Der Konsum war aber nach wie vor legal. Quantitativ blieb der Alkohol auch im späten 20. Jahrhundert das Suchtmittel Nummer eins. Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch nahm von den frühen 40er bis in die frühen 70er Jahre sogar wieder von 7,8 auf 11 Liter zu. In der öffentlichen Wahrnehmung verlor das Thema aber an Aktualität. Eine Eidgenössische Volksinitiative «Zur Bekämpfung des Alkoholismus» des Landesrings der Unabhängigen, die eine verstärkte und nach dem Alkoholgehalt abgestufte fiskalische Belastung alkoholischer Getränke sowie Massnahmen gegen den Schwarzhandel mit Branntwein verlangte, erlitt 1966 mit lediglich 23,4% Zustimmung deutlich Schiffbruch.

Stattdessen rückten nun zunehmend die in der neuen jugendlichen Subkultur konsumierten Drogen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, etwa im Gefolge der legendären Rockkonzerte der Rolling Stones (1967) und von Jimi Hendrix (1968) im Hallenstadion. Als nach dem Haschisch in den 70er Jahren vermehrt harte Drogen wie Heroin und Kokain in Gebrauch kamen und 1972 der erste Drogentote in Zürich zu beklagen war, reagierte die Gesetzgebung 1975 mit dem Verbot des Drogenkonsums. Dies tat dem rasanten Wachstum des Konsums harter Drogen aber keinen Abbruch: 1976 wurde die Zahl der intravenös injizierenden DrogenkonsumentInnen in der Schweiz auf 4’000 geschätzt, 1985 auf 10’000 und 1988 auf 20’000 bis 30’000, eine Grössenordnung, die sich dann in den frühen 90er Jahren stabilisierte, bevor sie aufgrund von Substitution (insbesondere durch Methadon) zurückging. Die Zahl der direkt oder indirekt durch den Konsum illegaler Drogen verursachten Todesfälle stieg von 52 im Jahre 1976 auf 118 bis 1985, 205 im Jahre 1988 und 420 im Jahre 1991. Bis 1995 ging die Zahl dann auf 360 zurück.

Grob gesagt etablierten sich drei, sich allerdings überlappende Gruppen von DrogenkonsumentInnen: Mitglieder der aus der Aufbruchsbewegung der 60er Jahre erwachsenen Subkulturen, weitgehend «unsichtbare», sozial integrierte KonsumentInnen und die Angehörigen der offenen Drogenszenen, die nun in verschiedenen Städten entstanden. Es war vor allem diese dritte Gruppe, die das öffentliche Drogenbild prägte und von der staatlichen Drogenpolitik ins Blickfeld genommen wurde. In der Stadt Zürich verschob sich in den zwei Jahrzehnten vor der Entstehung des «Needle Park» auf dem Platzspitz der topographische Schwerpunkt der Drogenszene mehrfach: Die «Autonome Republik Bunker» unter dem Lindenhof wurde im Winter 1970/71 nach wenig mehr als zwei Monaten wegen zunehmender Drogenfälle wieder geschlossen. Dasselbe Schicksal ereilte das im November 1977 eröffnete Jugendzentrum Schindlergut («Schigu»), das im Juni 1978 wegen illegaler Übernachtungen und Drogenkonsums polizeilich geräumt wurde. Zeitgleich entstand Anfang der 70er Jahre am Limmatufer beim Bellevue die erste offene Drogenszene, genannt «Riviera», an der Jugendliche zunächst vor allem Haschisch konsumierten, bald aber auch 100 bis 300 Heroinabhängige verkehrten. Rasch begann ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und DrogenkonsumentInnen. Die Drogenszene wechselte mehrfach zwischen Central, Hirschenplatz, Bellevue-Rondell und der «Riviera». Während der Zeit der 80er-Bewegung zogen Teile der Drogenszene dann ins Autonome Jugendzentrum, bereits im Frühjahr 1982, nach der bürgerlichen Wende bei den Stadt- und Gemeindesratswahlen, wurde das AJZ aber geschlossen.

Die Drogenszene verlagerte sich nun wieder zu Bellevue, Stadelhoferplatz, Drahtschmidli («Haschisch-Brücke») und Central, bevor sie sich ab 1986 auf dem Platzspitz konzentrierte, wo der Polizei die Kontrolle zunehmend entglitt. Einher mit dem Wachstum der Szene ging eine zunehmende Verelendung. Anders als die «unsichtbaren» DrogenkonsumentInnen, die in integrierten Verhältnissen mit Wohnung und Arbeit lebten, waren viele der permanent auf dem Platzspitz Anwesenden mittel- und obdachlos und hielten sich mit Drogenkleinhandel, Prostitution oder Einbrüchen über Wasser. Verschiedentlich entstanden am Limmatufer kleine Siedlungen aus improvisierten Behausungen, die jeweils nach kurzer Zeit wieder abgebrochen wurden. Weitere Probleme waren die Verbreitung von HIV und Hepatitis durch den Gebrauch unsauberer Spritzen sowie die Prostitution. Dokumentiert ist das Elend vom Platzspitz etwa in unzähligen Aufnahmen der Fotografin Getrud Vogler, deren Vorlass das Schweizerische Sozialarchiv zurzeit erschliesst und digitalisiert (www.bild-video-ton.ch/bestand/signatur/F_5107).

Die städtische Politik blieb in dieser Situation nicht untätig. Bereits 1985 war die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eingerichtet worden. Im selben Jahr erliess der Zürcher Kantonsarzt Gonzague Kistler indessen ein striktes Verbot der Abgabe sauberen Injektionsmaterials an DrogenkonsumentInnen, das sich aber wenig mehr als ein Jahr hielt. 1988 beschloss der Stadtrat neben Repression, Prävention und Therapie die Überlebenshilfe als vierte Säule der städtischen Drogenpolitik. 1988 wurde das «Zürcher Interventionspilotprojekt gegen Aids» (ZIPP-AIDS) als gemeinsames Unternehmen des Roten Kreuzes, des Universitätsspitals, der Psychiatrischen Universitätsklinik und der Stadt Zürich gestartet, das Hepatitis-Impfungen, ambulante medizinische Beratungen und die Spritzenabgabe umfasste. ZIPP-AIDS gab auf dem Platzspitz jährlich 1,5 bis 3,3 Millionen sterile Spritzen ab, ferner 50’000 bis 125’000 Kondome sowie Nadeln, Alkoholtupfer und Venensalben. 1989 forderte die städtische Sozialvorsteherin Emilie Lieberherr erstmals die staatliche Heroinabgabe an Süchtige, wozu der Bund aber erst vier Jahre später grünes Licht gab. 1990 beschloss der nunmehr mitte-links dominierte Stadtrat 10 drogenpolitische Grundsätze, in denen unter anderem festgehalten wurde, dass «eine offene, überwachte Drogenszene in der Stadt Zürich vorerst toleriert werden muss». Im Dezember gleichen Jahres hiessen die städtischen Stimmberechtigten die niederschwellige Methadonabgabe an Süchtige gut. Die Drogenpolitik avancierte in den frühen 90er Jahren zu einem heftig umstrittenen Politikfeld, bei dessen Diskussion neben dem Ringen um valable Handlungsvarianten auch parteipolitische Profilierung mitspielte.

Die vom Statthalteramt erzwungene Platzspitz-Schliessung im Februar 1992 führte dann abermals zu einer räumlichen Verlagerung der Drogenszene. Da die Räumung vielen vorgängig bekannt war, hatten manche Dealer Anfang Februar bereits alternative Standorte bezogen. Zunächst wurde der Drogenhandel in Hauseingängen in den Stadtkreisen 4, 5 und 6 abgewickelt. Ab 1993 sammelte sich die Szene auf dem stillgelegten Bahnhof Letten, wo rasch ein neuer «Needle Park» entstand, der im ersten Jahr von täglich 800 Drogensüchtigen und 300 Dealern frequentiert wurde. Die Schliessung des Lettenareals am 15. Februar 1995 war dann viel stärker in präventive, aber auch repressive Begleitmassnahmen eingebettet als diejenige des Platzspitzes drei Jahre zuvor. Dazu gehörten einerseits die Einrichtung von Fixerräumen, andererseits vermehrte Zwangspsychiatrisierungen mittels fürsorglichen Freiheitsentzugs (FFE) und die konsequente Rückführung kantonsfremder DrogenkonsumentInnen.

Die offene Drogenszene konnte dadurch weit nachhaltiger aufgelöst werden als noch 1992. Nach einer Versuchsphase billigte 1999 das Stimmvolk die ärztlich kontrollierte Heroinabgabe. Auch auf Bundesebene wurde der Mittelweg der Drogenpolitik zwischen Repression und Liberalisierung vom Stimmvolk in diesen Jahren bestätigt: Die auf eine stark repressive Politik setzende Volksinitiative «Jugend ohne Drogen» scheiterte 1997 (mit 70,7% Nein) ebenso wie im folgenden Jahr die auf eine Liberalisierung des Konsums abzielende Volksinitiative «Für eine vernünftige Drogenpolitik» (DroLeg), welche 74% der Stimmenden ablehnten. Die Volksinitiative «Für eine vernünftige Hanf-Politik mit wirksamem Jugendschutz» (Hanf-Initiative) wurde vom Elektorat 2008 mit 63,2% Nein-Stimmen bachab geschickt. Am selben Abstimmungstag hiessen 68% der Stimmenden eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes gut, das die von der Stadt Zürich schon zwei Jahrzehnte zuvor implementierte Vier-Säulen-Strategie übernahm. Mittlerweile hatte die Drogenpolitik indessen in den Augen der BürgerInnen stark an Aktualität verloren. Hatten Mitte der 90er Jahre in Umfragen noch drei Viertel der Befragten das Thema Drogen als wichtig eingestuft, so sank dieser Anteil seither kontinuierlich und liegt in der Gegenwart nur noch bei etwa 10%.

Dies heisst nun allerdings nicht, dass der Drogenkonsum zurückgegangen wäre; er ist indessen weniger sichtbar als zu Platzspitz-Zeiten. Die Palette konsumierter Substanzen hat zugenommen, nebst den «traditionellen» Drogen Haschisch, Heroin, Kokain, Marihuana und LSD werden in der Partyszene Ecstasy, Amphetamine (Speed), Psilo-Pilze, Methamphetamine, K.o.-Tropfen und andere Substanzen konsumiert. Schätzungen gehen davon aus, dass gegen eine Million Menschen, also etwa 12% der Schweizer Bevölkerung, schon illegale Drogen konsumiert hat, wovon etwa ein Drittel dies mindestens wöchentlich tut. Der Anteil der KonsumentInnen illegaler Drogen an der Street Parade wird mit 5 bis 10% geschätzt, was allerdings weit hinter dem exzessiven Konsum von Alkohol und Medikamenten an diesem Anlass zurückliegt. Zürich gilt europaweit als eine Metropole sowohl des Koksens als auch des Ecstasy-Konsums. Die Zahl der KonsumentInnen harter Drogen in der Stadt Zürich wird auf 4’500 geschätzt; im Unterschied zu den HeroinkonsumentInnen auf dem Platzspitz und am Letten sind sie aber zumeist sozial und beruflich integriert. Zwar hat sich seit der Letten-Räumung keine grosse offene Drogenszene mehr gebildet, verdeckte Szenen gab und gibt es aber immer wieder, so in den späten 90er Jahren an der Kreuzung Langstrasse-Dienerstrasse, später auch wieder auf dem Platzspitz, beim Bahnhof Oerlikon, an der Konradstrasse («Haschgasse») oder um die sogenannten «Gammelhäuser» an der Neufrankengasse. Wie beim Alkohol korreliert auch bei anderen Drogen die mediale und politische Aufmerksamkeit also keineswegs mit der quantitativen Verbreitung ihres Konsums.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 1.114.9 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Kommission Drogenpolitik
  • Ar 1.114.9 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Kommission Drogenpolitik
  • Ar 182 Vorlass Liliane Waldner
  • Ar 184 Vorlass Hermann T. Meyer
  • Ar 201.52 Blaukreuz-Verein Ottenbach
  • Ar 201.58 Aktion betroffener Anrainer (ABA)
  • Ar 201.76 Autonome Republik Bunker
  • Ar 201.90 Alchemilla – Verein Wohnprojekte für drogengebrauchende Frauen
  • Ar 210.89 Dokumentation Umberto Blumati
  • Ar 417 Schweizerischer Fachverband der Alkohol- und Suchtfachleute
  • Ar 436 Sozialistischer Abstinentenbund der Schweiz SAB
  • Ar 437.57.1 Frauen/Lesben-Archiv: Diverses zur Sucht ca. 1983–2004
  • Ar 472.10 Dokumentation Subkultur Bern: Kultur- und Drogenpolitik Kanton Bern
  • Ar 473.30.1 Dokumentation Strafvollzug: AIDS und Drogen im Strafvollzug
  • Ar 578 Vereinigung unabhängiger Ärztinnen, Ärzte und Medizinstudierender
  • Ar SGG Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft

Archiv Bild + Ton

  • F 5107 Vogler, Gertrud
  • F 9056-003 TV-Beitrag einer französischen Station über die Zustände auf dem Platzspitz, Zürich, um 1990

Sachdokumentation

  • KS 610/25 Rauschgifte; Drogenpolitik
  • QS 64.4 * 1 Sucht & Suchtmittel allg.; Suchtverhalten; Suchtprävention
  • QS 64.4 * 2 Drogenpolitik
  • QS 66.3 Soziale Hilfe für Drogenabhängige & Süchtige
  • ZA 64.4 * 1 Sucht & Suchtmittel allg.; Suchtverhalten
  • ZA 64.4 * 2 Drogenpolitik: Allg.
  • ZA 64.4 * 3 Drogen: Suchtprävention
  • ZA 64.4 * 4 Drogenszenen
  • ZA 64.4 * 5 Drogen: Statistisches
  • ZA 64.4 * 6 Drogenarten: Anbau & Wirkung
  • ZA 64.4 * 8 Drogenkriminalität: Beschaffungsdelinquenz
  • ZA 64.4 * 21 Drogenpolitik: Abgabe von Spritzen, Methadon, Heroin etc.
  • ZA 64.4 * 81 Drogenkriminalität: Grosshandel; Internationaler Handel
  • ZA 66.3 * 1 Drogenabhängige & Süchtige: Therapien; Entzugsstationen
  • ZA 66.3 * 2 Drogenabhängige & Süchtige: Gassenarbeit, Fixerräume etc.
  • ZA 66.3 * 3 Drogenabhängige & Süchtige: Selbsthilfe- & Angehörigengruppen
  • DS 520 Schweizer Suchtpanorama 2017

Bibliothek

  • Aarburg, Hans-Peter von Heroindampfscheibenwirbel: Eine kulturanthropologische und ethnopsychoanalytische Studie des Folienrauchens in Zürich zwischen 1990 und 1995. Berlin 1998, 104358
  • Amendt, Günter: Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. Hg. Andreas Loebell. Zürich 2014, 129584
  • Berger, E.: Haschisch – Rauschgift oder Bürgerschreck? Ein Bericht über die wirklichen und mutmasslichen Gefahren des Haschischrauchens auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen Zürich 1970, Hg 326
  • Boller, Boris: Drogen und Öffentlichkeit in der Schweiz: Eine sozialanthropologische Analyse der drogenpolitischen Kommunikation der 1990er Jahre. Wien 2007, 118994
  • Brandstätter, Christian: Kokain: Mythos und Realität: Eine kritisch dokumentierte Anthologie. Wien 1989, 93094
  • Braun, Norman et al.: Illegale Märkte für Heroin und Kokain. Bern 2001, 107906
  • Burkart, Gabriella et al.: Methadon und soziale Stabilisierung: Probleme im Zusammenhang mit der Zürcher Methadonabgabepraxis und neue Vorschläge für die Soziale Arbeit mit DrogenkonsumentInnen. Zürich 1988, GR 6488
  • Clarke, Robert Connell: Haschisch: Geschichte, Kultur, Inhaltsstoffe, Genuss, Heilkunde, Herstellung. Aarau 2000, Gr 9963
  • Cousto, Hans: DrogenMischKonsum: Safer-use-info: Das Wichtigste in Kürze zu den gängigsten (Party-)Drogen. Solothurn 2003, 112225
  • Darke, Shane: Heroinabhängigkeit im Lebenslauf: Typische Biografien, Verläufe und Ergebnisse. Bern 2013, 128431
  • Degonda, Martina Andrea: Konsumverhalten von Männern und Frauen zwischen 20 und 35: Über den Einfluss psychosozialer Faktoren auf den Verlauf von Tabak-, Cannabis- und Alkoholkonsum. Zürich 1995, 99448
  • Dobler-Mikola, Anja: Frauen und Männer mit harten Drogen: Eine empirische Analyse der geschlechtsspezifischen Unterschiede im Alltag der Teilnehmenden vor und während der heroinunterstützten Behandlung. Zürich 2000, 106882
  • Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (EKDF): Drogenpolitik als Gesellschaftspolitik: Ein Rückblick auf dreissig Jahre Schweizer Drogenpolitik, 1981–2011. Zürich 2012, 126207
  • Feustel, Robert: Grenzgänge: Kulturen des Rauschs seit der Renaissance. München 2013, 128045
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  • Friedrichs, Jan-Henrik: Urban spaces of deviance and rebellion: Youth, squatted houses and the heroin scene in West Germany and Switzerland in the 1970s and 1980s. Vancouver 2013, online
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  • Giger, Andreas: Unser gutes Kraut: Das Porträt der Hanfkultur. Hg. Arbeitsgruppe Hanf & Fuss. Solothurn 1994, 97187
  • Grob, Peter J.: Zürcher «Needle-Park»: Ein Stück Drogengeschichte und -politik, 1968–2008. Zürich 2009, 121787
  • Grob, Peter J.: Illegale Drogen und ihre medizinischen, sozialen und politischen Folgen: Eine Chronologie der Ereignisse in der Schweiz 1967–2016. Zürich 2017, Gr 14313
  • Grosse, Judith et al. (Hg.): Biopolitik und Sittlichkeitsreform: Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution 1880-1950. Frankfurt 2014, 130864
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  • Hagenbach, Dieter und Lucius Werthmüller Albert Hofmann und sein LSD. Aarau 2011, 125836
  • Halbheer, Michelle: Platzspitzbaby: Meine Mutter, ihre Drogen und ich. Gockhausen 2014, 129350
  • Hell, Daniel: Der Gebrauch von Cannabis unter den Jugendlichen Zürichs. Zürich 1971, 44943
  • Holenstein, Peter: Zum Beispiel Stefan: Aufzeichnung einer tödlichen Sucht. Aarau 1984, 76061
  • Ingold, Susanne: Geliebter Junkie: Leben und Sterben meines Bruders. Gümligen 1995, 98307
  • Jay, Mike: High Society: Eine Kulturgeschichte der Drogen. Darmstadt 2011, 124294
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  • Kessler, Thomas (Hg.): Cannabis helvetica: Hanf in der Schweiz, Hoffnung für die Drogenpolitik. Zürich 1985, 79566
  • Kraushaar, Beat und Emilie Lieberherr: Drogenland in Mafiahand: Entwicklung, Kommentar und Materialien zur Drogensituation in der Schweiz. Zürich 1996, 66613
  • Kreis, Georg und Beat von Wartburg (Hg.): Chemie und Pharma in Basel. 2 Bde. Basel 2016, Gr 14197
  • Kübler, Daniel et al.: Consommateurs d’héroïne et/ou de cocaïne hors traitement médical: Etude exploratoire auprès d’une population cachée. Lausanne 1996, GR 8607
  • Künzler, Hans Peter: Analyse der offenen Drogenszene «Platzspitz» in Zürich: Sozio-ökonomische und medizinische Aspekte. Zürich 1993, Hg 279
  • Kuntsche, Sandra und Marina Delgrande Jordan: Suchtprävention in mikro-, klein- und mittelständigen Betrieben: Ergebnisse einer Umfrage in schweizerischen KMU. Lausanne 2014, K 726: 74
  • Liggenstorfer, Roger et al.: Hanf-Szene Schweiz: Für eine Regulierung des Cannabis-Marktes. Solothurn 1999, 106492
  • Leuthold, Ruedi: Das schwächste Glied der Kette: Frauen zwischen Koka und Kokain. Zürich 1988, 84224
  • Matthys, Lilian: Neue Wege in der Kokainproblembehandlung: Angebot in der Stadt Zürich: Grundlagen, Ressourcen und Ausblick. Zürich 2006, Gr 11603
  • McCoy, Alfred W.: Die CIA und das Heroin: Weltpolitik durch Drogenhandel. Frankfurt/Main 2016, 133669
  • Meyer, Gonzague de : Les conventions de l’opium: La production illicite des stupéfiants et de l’opium en particulier. Genf 1950, 18191
  • Mills, James H.: Cannabis Britannica: Empire, trade, and prohibition 1800–1928. Oxford 2003, 115752
  • Möller, Christoph (Hg.): Drogenmissbrauch im Jugendalter: Ursachen und Auswirkungen. Göttingen 2005, 114436
  • Müller, Richard et al. (Hg.): Cannabis, Stand der Dinge in der Schweiz. Lausanne 2004, Gr 11407
  • Müller, Thomas und Peter J. Grob: Medizinische und soziale Aspekte der offenen Drogenszene Platzspitz in Zürich 1991: Vergleichende repräsentative Befragung von 758 DrogenkonsumentInnen. Zürich 1992, Hg 281
  • Oertle, Daniela: Räumliche Interventionen der Zürcher Stadtbehörden gegen die offene Drogenszene von 1989 bis 1995: Auflösung der Drogenszene und Überlagerung der städtischen Drogenpolitik mit der Asyldebatte. Zürich 2010, erwartet
  • Pérez, Ana Lilia: Kokainmeere: Die Wege des weltweiten Drogenhandels. München 2016, 135366
  • Peterhans, Heinz: «Love, Peace & Unity»: Eine Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung 1993 bis 1995 zum Thema ‹Ecstasy› und deren Bedeutung für die Sozialarbeit. Brugg 1996, GR 9311
  • Rihs-Middel, M. et al. (Hg.): Ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln: Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Erfahrungen Bern 1996, 100903
  • Rippchen, Ronald (Hg.): Das Recht auf Rausch: Materialien zur Haschisch Diskussion. Solothurn 1994, 95088
  • Saner, Luc (Hg.): Auf dem Weg zu einer neuen Drogenpolitik. Basel 1998, 104259
  • Schmid, Holger et al.: Trends im Konsum psychoaktiver Substanzen von Schülerinnen und Schülern in der Schweiz: Ausgewählte Ergebnisse einer Studie, durchgeführt unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Lausanne 2003, K 726:39
  • Schnyder, Marco: Drogenfeuer: Erinnerungen an den Platzspitz: Ein Erlebnis- und Erfahrungsbericht aus der Zürcher Drogenszene. Gümligen 1992, 94717
  • Schumann, Kolja et al.: Das Kiffer Lexikon: Das ultimative ABC der Hanfkultur. Solothurn 2004, 113285
  • Seddon, Toby: A history of drugs: Drugs and freedom in the liberal age. Abingdon 2010, 123942
  • Seefelder, Matthias: Opium: Eine Kulturgeschichte. München 1990, 90672
  • Seidenberg, A. et al.: Methadon als Alternative zum Gasenleben? Zürich 1992, Hg 264
  • Sieber, Ernst: Platzspitz, Spitze des Eisbergs: Jugend- und Erwachsenenprobleme unserer Zeit: Begegnungen, Begebenheiten und eine Vision für die Zukunft. Bern 1991, 91085
  • Stadler, Markus: Das Polizeiproblem und die Drogen: Beobachtungen im Platzspitz. o. O. 1987, Hg 221
  • Tanner, Jakob: Rauschgiftgefahr und Revolutionstrauma: Drogenkonsum und Betäubungsmittelgesetzgebung in der Schweiz der 1920er Jahre, in: Brändli, Sebastian et al. (Hg.): Schweiz im Wandel: Studien zur neueren Gesellschaftsgeschichte: Festschrift für Rudolf Braun zum 60. Geburtstag. Basel 1990. S. 397-416, 90671
  • Tornay, Magaly: Zugriffe auf das Ich: Psychoaktive Stoffe und Personenkonzepte in der Schweiz, 1945 bis 1980. Tübingen 2016, 134748
  • Treeck, Bernhard van (Hg.): Drogen: Alles über Drogen und Drogenwirkung, Prävention und Strafverfolgung, Beratung und Therapie. Berlin 2002, 110745
  • Uchtenhagen, Ambros und Dagmar Zimmer-Höfler: Heroinabhängige und ihre «normalen» Altersgenossen: Herkunft, Lebenssituation, Zweijahresverlauf im Quervergleich. Bern 1985, 79578
  • Walder, Patrick und Günter Amendt : Ecstasy & Co.: XTC: Alles über Partydrogen. Reinbeck 1997, 101642
  • Zobel, Frank und Marc Marthaler: Neue Entwicklungen in der Regulierung des Cannabismarktes: Von A (Anchorage) bis Z (Zürich). Lausanne 2016, Gr 14055

Periodika

  • Drogenabstinenz Schweiz: Mitteilungsblatt für abstinenzorientierte Gruppierungen. Bern 2003–2006, D 5802
  • Eltern gegen Drogen: Informationsbulletin der Schweizerischen Vereinigung Eltern gegen Drogen und des Dachverbandes Drogenabstinenz Schweiz. Bern 2007–, D 5803
  • Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme: Zahlen und Fakten. Lausanne 2001–, K 726 A

Frauenbewegungsgeschichte digital

Ende August ist die interaktive Website „Neue Frauenbewegung 2.0“ mit einem grossen Launch-Event im Schweizerischen Sozialarchiv online gegangen. Die Seite wurde in einjähriger Arbeit von einem Forschungsteam der Universität Bern unter Leitung von Kristina Schulz im Rahmen eines Agora-Projekts des Schweizerischen Nationalfonds entwickelt und wird vom Sozialarchiv gehostet. An der Entwicklung hat ein Beirat mit Spezialistinnen und Spezialisten des Sozialarchivs, der Pädagogischen Hochschule Bern, der British Library, von lernetz.ch und weiteren Institutionen mitgewirkt.

Die Seite enthält thematisch geordnete Video-Clips von 18 Oral-History-Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie weitere Materialien, Hintergrundinformationen, didaktische Vorschläge und ein Quiz zur Schweizer Frauenbewegung seit 1968. Dabei werden die folgenden Themenfelder abgedeckt: Aktivismus und Emanzipation, Körper, Kunst und Kultur, Politik und Institutionen, feministische Räume, Netzwerke, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Familie und Beziehungen.

Die Website vermittelt nicht nur historisches Grundlagenwissen, sondern bietet auch eine Plattform, die einen übergreifenden Dialog zwischen Forschung und Öffentlichkeit ermöglicht. Das Publikum erhält auf unterhaltsame Weise Gelegenheit, sich über die Neue Frauenbewegung in der Schweiz zu informieren, kann interaktiv eigene Erfahrungen hinzufügen und Diskussionen lancieren. Die Website ist primär für den Unterricht auf der Sekundarstufe II konzipiert, kann aber auch für die universitäre Lehre sowie die individuelle Bildung genutzt werden.

> www.neuefrauenbewegung.sozialarchiv.ch

Buch zur Website:
Kristina Schulz, Leena Schmitter, Sarah Kiani: Frauenbewegung – Die Schweiz seit 1968: Analysen, Dokumente, Archive. Baden 2014

Buchempfehlungen der Bibliothek

Magdalena Nadolska et al.: RABE – 20 Jahre alternatives Kulturradio Bern. Bern, 2017

Das nichtkommerzielle Berner Alternativradio Radio RaBe («Radio Bern») wurde 1996 gegründet und feierte 2016 sein 20-Jahr-Jubiläum mit verschiedenen Veranstaltungen, darunter Spezialsendungen, Konzerte und eine Ausstellung.
Nun ist das Buch zum Jubiläumsjahr erschienen und hält Rückschau auf eine bewegte Zeit. Die Geschichte des «krächzenden RaBen» wird mit zahlreichen Abbildungen von Dokumenten, Plakaten und Zeitungsausschnitten aufgerollt, die Gründungspersonen sowie heutigen SendungsmacherInnen berichten über die Arbeit hinter den Kulissen und auf der beigelegten CD gibt es Audio-Perlen aus dem Archiv beziehungsweise «RaBe-Horst».

> Im Tonarchivbestand der Radioschule klipp+klang (SozArch F 1032) hat es auch Audio-Dokumente von Radio Rabe.

Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land – Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt am Main, 2017

Nach dem Sieg von Donald Trump bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 2016 erschien in der New York Times ein Artikel mit dem Titel «6 Books to Help Understand Trump’s Win». Ausgewählt wurde auch das Buch der Berkley-Soziologin Arlie Russell Hochschild «Strangers in their Own Land».
Russell Hochschild reiste für ihre Recherchen nach Louisiana ins sogenannte «geografische Herz der Rechten» und machte sich ein Bild der dortigen Tea-Party-UnterstützerInnen. Selber eine entschiedene Anhängerin der Linken gelingt es Russell Hochschild in ihrem Buch, die Sorgen und Ängste derjenigen einzufangen, die sich vom Staat abgehängt und vergessen glauben. Doch stiess sie bei ihren Gesprächen auch immer wieder auf das «grosse Paradox», welches sie beispielsweise im Bereich Umweltpolitik ausmacht: Obwohl in Louisiana viele Gebiete durch Giftabfälle grosser Industriekonzerne zerstört wurden, wählen viele der betroffenen EinwohnerInnen rechte Politiker, die sich gegen staatlich finanzierte Umweltschutzprogramme einsetzen. Eine eindeutige Erklärung für dieses Verhalten findet sie nicht, vermag aber die Zusammenhänge zwischen den Interessen der Bevölkerung, Wirtschaftsvertretern und Politikern auf unvoreingenommene Art und Weise aufzuzeigen.

Stephanie Kleiner, Robert Suter (Hrsg.): Guter Rat – Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900–1940. Berlin, 2015

Als erster einer auf drei Bände angelegten Reihe zu Glücks- und Erfolgswissen im 20. Jahrhundert untersucht «Guter Rat» die vielfältigen Beziehungen zwischen Glück und Erfolg. Im April 2013 fand an der Universität Konstanz ein von Stephanie Kleiner und Robert Suter organisierter erster Workshop zur Ratgeberliteratur zwischen 1900 und 1940 statt, dessen Ergebnisse der Band versammelt.
Glück und Erfolg können gemäss den AutorInnen als «Leitideen bei der Gestaltung individueller Lebensläufe im 20. Jahrhundert» gelten, was die Analyse der frühen Ratgeberliteratur in acht Texten zeigt. Astrid Ackermann beispielsweise legt in ihrem Beitrag dar, wie die Glücksratgeber anfangs des 20. Jahrhunderts predigten, dass das Glück nur im Kleinen zu finden sei, zu viel Glück aber auch gefährlich sein könne. Lu Seeger schreibt über den Lebens- und Eheberater Walther von Hollander, dessen populärer Ratgeber «Das Leben zu Zweien» 1940 erschien und einerseits mit nationalsozialistischen Ideologien korrespondierte, sich diesen andererseits aber auch entzog.
Auch im Bibliotheksbestand des Sozialarchivs finden sich Ratgeber-Klassiker aus dieser Zeit mit Titeln wie «Wege zum Erfolg», in 15. Auflage (!) «Sich selbst rationalisieren» oder auch – sehr eindeutig – «Mache dein Glück vor Vierzig!».

14.9.2017, 18.30 Uhr: Bücherabend «Grazie a voi»

Der Bildband «Grazie a voi», der begleitend zur Ausstellung «Ricordi e Stima» entstanden ist, zeigt anhand von Fotografien das Leben von Italienerinnen und Italienern, die während des Aufschwungs der Nachkriegszeit in die Schweiz kamen. Mit einer erheblichen Fremdenfeindlichkeit konfrontiert, gründeten sie hierzulande ihre eigenen Vereine, organisierten kulturelle Anlässe und Feste und eröffneten eigene Schulen und Kindertagesstätten. Das Buch versammelt vorwiegend private Fotografien dieser Welt, die sich die italienische Gemeinschaft in der Schweiz schuf und aus welcher heraus sie sich selbst, aber auch die Schweiz veränderte.

Die HerausgeberInnen berichten von der Entstehung des Buches und führen Gespräche mit ZeitzeugInnen. Begleitend dazu präsentiert das Sozialarchiv Medien zum Thema aus den eigenen Beständen.

Donnerstag, 14. September 2017, 18.30 bis ca. 20.00 Uhr
Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum

Eintritt frei, Anmeldung nicht nötig.
Alle Interessierten sind herzlich eingeladen!

> Veranstaltungsflyer herunterladen (PDF, 468 KB)

Das Schweizerische Sozialarchiv neu im NEBIS-Ausleihverbund

Im Bibliotheksverbund NEBIS arbeiten rund 140 Bibliotheken in der ganzen Schweiz zusammen: u.a. Bibliotheken der ETH Zürich, der Universität Zürich, der EPF Lausanne und der eidgenössischen Forschungsanstalten, die Zentralbibliothek Zürich, Bibliotheken von Fachhochschulen, das Schweizerische Sozialarchiv, die Bibliotheken des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft, des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien sowie des Schweizerischen Nationalmuseums Landesmuseum Zürich. Die NEBIS-Bibliotheken verfügen gesamthaft über einen Bestand von rund 15 Mio. Dokumenten (Bücher, Serien, Zeitschriften, elektronische Publikationen und Non-Book-Materialien), von denen ca. 10.5 Mio. in einem gemeinsamen Online-Katalog nachgewiesen sind.

Um den Zugang zu all diesen Dokumenten zu erleichtern, betreibt der Bibliotheksverbund NEBIS den sogenannten NEBIS-Ausleihverbund – ein gesamtschweizerisches Netzwerk von insgesamt 57 Verbundbibliotheken an verschiedenen Standorten, die ihre Medien per Postkurier untereinander austauschen. Den Benutzenden ermöglicht der NEBIS-Ausleihverbund die standortunabhängige Ausleihe von Medien aus den beteiligten Bibliotheken und deren Rückgabe in einer Verbundbibliothek am von ihnen bevorzugten Standort. Die Bücher müssen somit nicht getrennt nach Bibliothek separat an den jeweiligen Standorten ausgeliehen und zurückgegeben werden.

Seit August 2017 ist auch das Schweizerische Sozialarchiv im NEBIS-Ausleihverbund. Bücher aus dem Sozialarchiv sind damit in den NEBIS-Ausleihverbund bestellbar, zum Beispiel an den Standort ETH-Bibliothek; auch müssen sie nicht mehr zwingend am Standort Sozialarchiv retourniert werden. Die Dienstleistung ist für die Benutzenden kostenlos. Die Nutzungsbedingungen im Ausleihverbund entsprechen den bisherigen Nutzungsbedingungen des Sozialarchivs: Die Grundleihfrist beträgt 4 Wochen und ist verlängerbar, sofern keine Reservation vorliegt; das Mahnwesen ist NEBIS-weit dasselbe und bleibt somit ebenfalls unverändert.

Seinen Benutzenden bietet das Schweizerische Sozialarchiv durch den Beitritt zum Ausleihverbund einen bequemeren und direkteren Zugriff auf das Gesamtangebot der diversen NEBIS-Verbundbibliotheken.

Antirassistisches Grümpelturnier in Solothurn, 2012 (SozArch F Pb-0005-002, Plakatausschnitt)
Antirassistisches Grümpelturnier in Solothurn, 2012 (SozArch F Pb-0005-002, Plakatausschnitt)

Jahresbericht 2016 des Schweizerischen Sozialarchivs

Sport ist ein integraler Bestandteil der modernen Gesellschaft und kann mit seinen zahlreichen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bezügen als Spiegel des sozialen Wandels gelten. So transportiert er nicht nur Körperbilder und eine Wettbewerbsphilosophie, sondern er spielte in der modernen Geschichte auch Rollen etwa als Träger politischer Propaganda, massenmedialisiertes Geschäft, Reproduktionsraum von Geschlechterstereotypen und gesellschaftlichen Ungleichheiten, Objekt weltanschaulich definierter Vergemeinschaftungsformen oder Medium der Einschliessung, aber auch Ausgrenzung. Dass der Sport in den Beständen des Schweizerischen Sozialarchivs mit seinen Themenschwerpunkten auf dem gesellschaftlichen Wandel und sozialen Bewegungen prominent vertreten ist, liegt deshalb auf der Hand. Aus aktuellen Anlässen war das Thema Sport im vergangenen Jahr auch mehrfach Gegenstand von Veranstaltungen im Sozialarchiv. Die Illustrationen des vorliegenden Jahresberichts verdeutlichen am Beispiel des Sports die Vielfalt und soziokulturelle Relevanz der im Schweizerischen Inventar der Kulturgüter von nationaler Bedeutung verzeichneten Sammlungen des Sozialarchivs.

Das Angebot an analogen, digitalen und audiovisuellen Quellen, wissenschaftlicher und grauer Literatur zu den Schwerpunktthemen des Sozialarchivs hat im Berichtsjahr wiederum deutlich zugenommen. Im Archiv wurde eine Reihe interessanter Bestände übernommen, verzeichnet und zugänglich gemacht. Auch die Angebote der Abteilungen Bibliothek und Dokumentation wurden ausgebaut. Als neue Dienstleistung werden seit Ende Januar 2016 genuin elektronisch publizierte Dokumente elektronisch archiviert und als „Digitale Schriften“ in der Datenbank Sachdokumentation erschlossen und online zur Verfügung gestellt. Mit der Neuprogrammierung der globalen Volltext-Suche wurde die Möglichkeit der parallelen Recherche in den Beständen verschiedener Abteilungen des Sozialarchivs erheblich verbessert. Das umfangreiche Angebot an Dokumenten und Dienstleistungen wurde intensiv genutzt. Die Ausleihe hat gegenüber dem Vorjahr leicht zugenommen. Im Mai 2016 wurde der Lesesaal einer sanften Renovation unterzogen und den gewandelten Bedürfnissen der Benutzerinnen und Benutzer angepasst. Neben einer teilweisen Erneuerung des Mobiliars wurde eine funktionale Differenzierung der Raumaufteilung vorgenommen, die nun neben Einzelarbeitsplätzen einen Gruppenarbeitsraum, eine Zeitungslounge und einen grosszügigen Recherchebereich umfasst.

Einen hohen Stellenwert hatten wiederum die Vermittlungsaktivitäten und die Öffentlichkeitsarbeit. Die Reihe „Gast im Sozialarchiv“ wurde mit dem Historiker Dr. Erich Keller und dem Thema „Popmusik, Archiv, Geschichte“ erfolgreich fortgesetzt. Die Veranstaltungen der Reihe stiessen auf ein grosses Publikumsinteresse und hatten ein beachtliches Medienecho. Auf eine gute Resonanz trafen auch die öffentlichen Präsentationen und Buchvernissagen, der Facebook-Auftritt und die Führungen für Studierende aller Stufen. Der 2015 gestartete elektronische Newsletter beliefert mittlerweile fast 2‘000 Adressen mit Informationen rund um das Sozialarchiv. Als neue Dienstleistung wurde im Herbst 2016 auf unserer Website eine Liste mit Themenideen für studentische Arbeiten und den dazu relevanten Quellenbeständen des Sozialarchivs aufgeschaltet. Der Fonds „Forschung Ellen Rifkin Hill“ förderte im Berichtsjahr fünf Promotions- und zwei PostDoc-Vorhaben an schweizerischen Hochschulen.

Das Schweizerische Sozialarchiv dankt allen, die es 2016 unterstützt haben: den Behörden, den Vereinsmitgliedern, den Partnerinstitutionen und -vereinigungen, den Benutzerinnen und Benutzern sowie allen Personen und Organisationen, die uns Schenkungen und Leihgaben anvertraut haben. Ein besonderer Dank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

> Vollständiger Jahresbericht 2016 als PDF-Dokument (834 KB)

Vor 105 Jahren: Der erste Zürcher Generalstreik

Am 2. August 1912 kommentierte Robert Grimm in der deutschen sozialdemokratischen Theoriezeitschrift „Die Neue Zeit“ den eintägigen Generalstreik, der rund zwei Wochen zuvor in Zürich stattgefunden hatte, folgendermassen: „Die am 12. Juli zutage getretene Solidarität der zürcherischen Arbeiterschaft – die um so höher anzuschlagen ist, als sprachliche Unterschiede, Verschiedenheiten des nordischen und südländischen Temperamentes überwunden werden mussten – wird nicht nur für die Arbeiterschaft Zürichs, sondern für das Proletariat der ganzen Schweiz den Ausgangspunkt zu einer neuen Etappe der Entwicklung sein und sie zu weiterer Machtentfaltung anspornen. Die Arbeiterschaft der Stadt Zürich hat weiter bewiesen, dass sie nicht leichtfertig eine derartige Massenaktion unternimmt und die Voraussetzungen für ihr Gelingen abzuwägen weiss. Und darin liegt die Garantie für die Wiederholung des Kampfes auf breiter Grundlage, sobald die objektiven Bedingungen dazu vorhanden sind.“ Grimm wertete den ersten Zürcher Generalstreik insgesamt also trotz des letztlichen Scheiterns der Branchenarbeitskämpfe, die durch den Generalstreik unterstützt werden sollten, als einen Erfolg, wies auf verschiedene Probleme hin, die erfolgreich überwunden worden waren, und machte auch deutlich, dass er den Generalausstand nicht als einmaliges Ereignis betrachtete, sondern als Modell für zukünftige Aktionen. Tatsächlich sollte der erste Zürcher Generalstreik nicht isoliert betrachtet, sondern in verschiedene zeitgenössische Zusammenhänge gestellt werden, bei denen sich lokale, nationale und transnationale Faktoren und Kontinuitäten überkreuzten.

Der Zürcher Generalstreik von 1912 war eines der markantesten Ereignisse in der streikintensivsten Zeitspanne der Schweizer Geschichte zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg. Dazu zählten etwa auch der Genfer Generalstreik von 1902, der Zürcher Streiksommer 1906, während dem im Anschluss an ein Militäraufgebot im Kontext des Streiks in der Automobilfabrik Arbenz in Albisrieden bereits ein Generalstreik diskutiert, aber verworfen wurde, der Winterthurer Bauarbeiterstreik von 1909/10, der als längster Streik der Schweizer Geschichte genau ein Jahr und einen Tag dauerte, sowie schliesslich der Landesstreik vom November 1918. Im Umfeld eines konjunkturellen Aufschwungs erlebte die Schweiz in den Jahren vor 1914 eine vorher ungesehene Streikwelle, die danach lediglich noch in der Krisenzeit von 1917 bis 1919 vor einem allerdings ganz anders gearteten Hintergrund ein Pendant fand. Im Jahre 1905 beteiligten sich 23’110 Personen an 167 Streiks, 1906 24’636 Personen an 264 Streiks und 1907 gar 31’927 Personen an 276 Streiks. Diese Ereignisse bescherten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung einen grossen Zulauf: Die Zahl der Mitglieder der im Schweizerischen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Verbände vervielfachte sich von rund 12’000 kurz vor der Jahrhundertwende auf über 86’000 im Jahre 1913 und der Wähleranteil der Sozialdemokratischen Partei bei Nationalratswahlen wuchs von 3,6% im Jahre 1890 auf 20% im Jahre 1911.

Zugleich entstanden in diesen Jahren auch erstmals eigentliche Arbeitgeberorganisationen auf Landesebene. Zwar hatten sich die lokalen und kantonalen Wirtschaftsverbände bereits zuvor zu nationalen Dachorganisationen zusammengeschlossen, diese waren aber primär wirtschafts- und nicht sozialpolitisch motiviert. Im Jahre 1905 wurde als Prototyp der auf arbeitsmarktliche Konflikte und sozialpolitische Fragen spezialisierten Verbände der Arbeitgeberverband schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller aus der Taufe gehoben. Bestehende Organisationen wie der Baumeisterverband strafften ihre Strukturen und gaben sich Streikreglemente. Zu ihren hauptsächlichen Kampfmitteln gehörten die Aussperrung, schwarze Listen, der Einsatz von Streikbrechern und Unterstützungskassen. 1908 wurde als Dachstruktur der Zentralverband schweizerischer Arbeitgeberorganisationen gegründet.

Den Auslöser des ersten Zürcher Generalstreiks stellten zwei lokale Branchenstreiks im Frühjahr 1912 dar. Am 19. März traten in der Stadt Zürich etwa 800 Maler in den Ausstand, am 1. April folgten ihnen die etwa 400 Schlosser. In beiden Branchen wurde eine Arbeitszeitverkürzung von täglich einer halben Stunde gefordert. Die beiden Arbeitskämpfe verliefen zunächst in den damals üblichen Bahnen: Die Streikenden postierten vor den bestreikten Arbeitsstellen Streikposten, die Arbeitgeber liessen in ihren Reihen schwarze Listen zirkulieren und versuchten, aus Deutschland importierte Streikbrecher einzusetzen. Die grenzüberschreitende Rekrutierung von „Arbeitswilligen“ war damals gang und gäbe und geschah etwa durch Inserate in der in- und ausländischen Presse, die Entsendung von Streikbrecheragenten in Nachbarländer und die Zusammenarbeit mit grenzüberschreitend tätigen Vermittlungsagenturen. Beispielsweise existierte in Zürich zwischen 1906 und 1908 eine von einem Elsässer geführte Streikbrecheragentur, die auch die antisozialistische „Gelbe Arbeiter-Zeitung“ herausgab. „Arbeitswillige“ für die Schweiz wurden in der Regel in Deutschland, Norditalien, Frankreich, Vorarlberg und Tirol rekrutiert, also in den Regionen, aus denen auch die sonstigen Arbeitsmigranten kamen. Ab der Jahrhundertwende wurde diese Praxis aufgrund des wachsenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades in diesen Regionen sowie der zunehmenden internationalen Vernetzung der Gewerkschaften indessen erschwert. So konnte es vorkommen, dass die Angeworbenen, sobald sie vom Streik an ihrem Destinationsort erfuhren, ebenfalls die Arbeit niederlegten und zu den Streikenden „überliefen“. Nebst der Rekrutierung von Streikbrechern in geografisch wie linguistisch weiter entfernten und gewerkschaftlich weniger gut erschlossenen Gebieten – während des Winterthurer Bauarbeiterstreiks 1909/10 etwa kamen Streikbrecher aus Slowenien, Kroatien, Galizien, Bosnien, Serbien und Makedonien in die Ostschweizer Industriemetropole – griffen bestreikte Arbeitgeber nun vermehrt auf Berufsstreikbrecher zurück, die von Organisationen wie der „Hintze-Garde“ und der Agentur Gauer in Berlin oder dem „Internationalen Arbeitsnachweis“ in Hamburg vermittelt wurden. Die häufig bewaffneten Berufsstreikbrecher rekrutierten sich aus den untersten Schichten der norddeutschen Grossstädte und entstammten teilweise dem kriminellen Milieu. Neben den Zürcher Streiks von 1912 gelangten sie etwa auch beim Streik in der Zürcher Möbelfabrik Aschbacher 1909, als es bei ihrer Ankunft rund um den Bahnhof Stadelhofen zu Tumulten kam, und beim Berner Sattlerstreik 1913 zum Einsatz. Nach dem Ersten Weltkrieg betätigten sich dann in mindestens zwei Fällen, Bauarbeiterstreiks in Yverdon 1925 und in Lausanne 1929, auch italienische Faschisten als Streikbrecher. Die Schweiz war im internationalen Streikbruchbusiness aber nicht nur Destinationsort, sondern auch Rekrutierungsgebiet. In den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg gab es bei Streiks im Deutschen Reich wiederholt Versuche, durch Inserate oder Agenten Streikbrecher im kleinen Nachbarland anzuwerben – teilweise mit Erfolg.

Die bewaffneten Berufsstreikbrecher aus Berlin stiessen 1912 in der Zürcher Arbeiterschaft auf vehemente Ablehnung, zumal sie sich auch durch ein als schamlos empfundenes Verhalten gegenüber Arbeiterinnen hervortaten. Wiederholt kam es zu Zusammenstössen zwischen Streikbrechern und Streikposten. Eine Eskalation trat Mitte April ein, als ein deutscher Berufsstreikbrecher den Streikposten Karl Wydler erschoss. Wydlers Beerdigung am 24. April wurde zu einer Massendemonstration, an der sich 5’000 Arbeiter beteiligten. Ende April sprach ein Gericht in Pfäffikon den Streikbrecher wegen Notwehr frei, was die Arbeiterbewegung als einen Akt der Klassenjustiz interpretierte. Nach der Verkündigung des Urteils beteiligten sich 9’000 Personen an einer Protestveranstaltung.

Beide Konfliktparteien suchten nun nach Unterstützung durch die kantonalen und städtischen Behörden. Die Arbeiterorganisationen verlangten erfolglos ein Einfuhrverbot ausländischer Streikbrecher. Stattdessen hatten die Behörden schon im April mit der Ausweisung ausländischer Streikender begonnen, darunter seit vielen Jahren in der Schweiz ansässiger Familienväter. Die Unternehmer drängten beim Regierungsrat auf ein Streikpostenverbot. Am 17. Juni forderte der Kantonsrat den Regierungsrat zum Einschreiten gegen die Streikposten auf. Dieser reichte das Begehren an den Stadtrat weiter, der am 6. Juli ein teilweises Streikpostenverbot erliess.

Damit hatten die Behörden in den Augen der Arbeiterorganisationen ihre Neutralität aufgegeben und sich auf die Seite der Arbeitgeber gestellt, womit fast automatisch das in jenen Jahren intensiv debattierte Thema Generalstreik auf den Tisch kam. Am 9. Juli befürwortete eine Delegiertenversammlung der Zürcher Arbeiterunion im Grundsatz einen 24-stündigen Generalstreik gegen das Streikpostenverbot. Die Gewerkschaften stimmten in der Folge in gesonderten Versammlungen mit insgesamt 6’200 gegen 800 Stimmen zu. Am 11. Juli fasste die Arbeiterunion mit 295 gegen 170 Stimmen den Beschluss, für den folgenden Tag den Generalstreik auszurufen. Allerdings sprachen sich die sozialdemokratischen Parteiführer und Behördenmitglieder mehrheitlich gegen diese Form des Protests aus. Die Druckergewerkschaft Typographia lehnte eine Beteiligung am Generalstreik ab, so dass die bürgerlichen Blätter normal erscheinen konnten.

Der Generalstreik begann am Freitag, 12. Juli 1912, um 9 Uhr mit einer Protestversammlung auf der Rotwandwiese in Aussersihl, an der sich zwischen 15’000 und 23’000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten. Anschliessend formierte sich ein Demonstrationszug durch die Stadt. Der Tramverkehr wurde durch Besetzung der Depots lahmgelegt und am Freitagnachmittag war es auf den Strassen der Limmatstadt ruhig wie an einem Sonntag. Arbeiterfamilien schlenderten in der Bahnhofstrasse oder verweilten in den Grünanlagen der Aussenquartiere. Auf Anordnung der Streikleitung, die jegliche Eskalation unbedingt verhindern wollte, herrschte während des ganzen Tages in den Arbeiterkneipen ein striktes Alkoholverbot. Robert Grimm, der über die Vorgänge in Zürich offenbar nicht vollständig auf dem Laufenden war, wurde am Morgen des Streiktages von der Streikleitung telefonisch eingeladen und hielt am Nachmittag vor 18’000 Personen eine Rede. Derweil versammelten sich im grossen Tonhallensaal auf Einladung des Bürgerverbands Zürich und der Industrie-, Gewerbe- und Handelsverbände etwa 3’000 Personen zu einer Gegenversammlung. Insgesamt verlief der Streiktag friedlich und ohne Zwischenfälle.

Unternehmer und Behörden reagierten auf den Generalstreik prompt und massiv. Noch am 12. Juli verkündeten die Arbeitgeber als Vergeltung eine zweitägige Aussperrung für Samstag, 13. Juli, und Montag, 15. Juli. Der Zürcher Regierungsrat bot im Einvernehmen mit dem Bundesrat drei Füsilier-Bataillone und eine Kavallerieschwadron, insgesamt etwa 3’000 Mann, als Ordnungstruppen auf. Das Grossaufgebot von Polizei und Militär war kein Einzelfall. In aller Regel erschienen zu jener Zeit bei Streiks Polizeikräfte auf dem Platz, die sich aber in der überwiegenden Zahl der Fälle passiv verhielten. Zwischen 1880 und 1914 intervenierte die Polizei bei 193 Streiks, das heisst 8% der Fälle, aktiv ins Geschehen und machte neun Mal von der Schusswaffe Gebrauch. Aufgrund der teilweise noch kleinen kantonalen und kommunalen Polizeikorps kamen auch wiederholt Armeeeinheiten zum Einsatz. Die ersten Militäraufgebote im Streikkontext ereigneten sich bereits 1868/69 in Lausanne, Genf und Basel. 1875 gab es bei einem Tunnelarbeiterstreik in Göschenen erstmals bei einem Armeeeinsatz vier Tote sowie zwölf Schwerverletzte. Im selben Jahr wurden Armeeeinheiten auch bei Streiks in Wohlen und im Solothurner und Baselbieter Jura eingesetzt. Grössere militärische Ordnungseinsätze gab es sodann in den Jahren 1898 (Genfer Bauarbeiterstreik), 1899 und 1901 (Streiks der Simplon-Tunnelarbeiter), 1902 (Genfer Generalstreik), 1903 (Basler Maurerstreik), 1904 (Maurerstreik in La Chaux-de-Fonds und Rickentunnelstreik), 1905 (Metallarbeiterstreik in Rorschach), 1906 (Arbenzstreik in Zürich) und 1907 (Metallarbeiterstreik in Hochdorf, Maurerstreik in St. Moritz, Generalstreik in der Waadt). Insgesamt wurde zwischen 1880 und 1914 wegen Arbeitskämpfen 38 Mal Militär aufgeboten oder auf Pikett gestellt, wobei der Einsatz in 22 Fällen über blosse Bewachungsaufgaben hinausreichte. Die zahlreichen Streikeinsätze der Armee waren ab der Jahrhundertwende ein ständiges Thema in den militärpolitischen Debatten der SP, die seit ihrer Gründung 1888 die militärische Landesverteidigung grundsätzlich befürwortet, aber stets Reformen der Armee gefordert hatte und seit etwa 1905 einen erstarkenden antimilitaristischen Flügel besass.

Zusätzlich zum Truppenaufgebot erliessen die Zürcher Behörden auf den 12. Juli 1912 auch ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot und kündigten die Massregelung streikender städtischer Beamter an. Im Anschluss an den Generalstreik erfolgten polizeiliche Hausdurchsuchungen bei allen Sekretariaten der Arbeiterorganisationen in der Stadt Zürich. Am 15. Juli wurde das Volkshaus von Polizei und Militär besetzt, der Vorstand der Arbeiterunion verhaftet und das offenbar als Revolutionszentrale wahrgenommene Gebäude fünf Stunden lang durchsucht. Allerdings waren die wesentlichen Dokumente zum Generalstreik bereits zuvor von jungen Arbeiterinnen herausgeschmuggelt worden. Erst am Dienstag, 16. Juli, wurde die Arbeit in der Stadt Zürich allgemein wieder aufgenommen. Am folgenden Tag entliess die Kantonsregierung die aufgebotenen Ordnungstruppen. Am 18. Juli erfolgte die Ausweisung von 13 Ausländern, die sich beim Streik führend beteiligt hatten, und die Entlassung von Streikführern im städtischen Personal. Die Streiks der Maler und Schlosser wurden schliesslich ergebnislos abgebrochen.

Im Rahmen der Arbeiterunion Zürich formierte sich in der Folge ein Unterstützungskomitee für die wegen der Beteiligung am Generalstreik Gemassregelten und Angeklagten, das bis etwa 1915 aktiv blieb. Bereits in den ersten drei Wochen nach dem Generalstreik wurden 10’000 Franken Spendengelder gesammelt. Am 24. Juli 1912 fand im Velodrom in Wiedikon eine grosse Protestversammlung gegen die Massregelungen statt, an der sich 4’000 Personen beteiligten. Noch 1912 wurde der Zürcher Generalstreik in Jakob Lorenz’ Schwank „Der Generalstreik oder die Zürcher Bürgerwehr“ auch literarisch verarbeitet. Lorenz, zu jener Zeit Sozialdemokrat und wissenschaftlicher Adjunkt des Schweizerischen Arbeitersekretariats, später dann Soziologieprofessor und Vertreter eines autoritär-korporatistischen Katholizismus, gab in dem Stück einen versoffenen und grossmäuligen Gewerbler der Lächerlichkeit preis und führte als männlichen Helden einen deutschen Gewerkschafter ein, der über die Agitation für die proletarische Solidarität der Serviertochter eines stramm bürgerlichen Wirtshauses näher kommt. Auch international wurde das Ereignis beachtet. So bat etwa das „sociale Sekretariat & Bibliotek“ Kopenhagen den eidgenössischen Arbeitersekretär Herman Greulich um Übersendung des regierungsrätlichen Berichts zum Generalstreik.

Der Zürcher Generalstreik von 1912 bettete sich ein in eine intensive Debatte um den Massenstreik in der internationalen Arbeiterbewegung. Das Mittel des Generalstreiks war bereits im frühen 19. Jahrhundert von der britischen Reformbewegung der Chartisten diskutiert worden. William Benbows Schrift „Grand National Holiday and Congress of the Productive Classes“ hatte 1832 den Generalstreik als Mittel zur Durchsetzung einer demokratischen Wahlrechtsreform propagiert. Ein 1839 von den Chartisten geplanter Generalstreik wurde abgesagt, drei Jahre darauf kam es aber in weiten Teilen Grossbritanniens zu Massenstreiks („Plug Plot Riots“) mit Lohn- und Arbeitszeitforderungen, an denen sich etwa eine halbe Million Fabrik- und Bergarbeiter beteiligten. Der Bezug dieser Arbeitsniederlegungen zum Chartismus ist umstritten. 1868 bezeichnete die Erste Internationale in einem Beschluss den Generalstreik als geeignetes Mittel zur Verhinderung künftiger Kriege. In den theoretischen Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden zur Massenstreikfrage grob drei unterschiedliche Positionen vertreten: Marxistische Sozialdemokraten sahen in ihm ein Abwehrmittel, für reformerische Syndikalisten war er sowohl Abwehrmittel als auch Mittel zur Durchsetzung noch nicht erreichter Rechte und die Anarchisten propagierten ihn als direkten Angriff auf den Klassenstaat und als Beginn der sozialen Revolution. Die Zweite Internationale, in der sich vor allem französische Sozialisten für den Massenstreik stark machten, lehnte auf ihren Kongressen von 1896 und 1900 internationale Generalstreiks als Kampfmittel ab. Auf dem Kongress von 1904 erfolgte dann die Anerkennung des Massenstreiks als äusserstes Mittel zur Abwehr von Angriffen auf die Arbeiterrechte oder Herbeiführung bedeutender gesellschaftlicher Veränderungen. Die Idee, durch einen internationalen Generalstreik einen drohenden europäischen Grosskrieg am Ausbruch zu hindern, tauchte in diesen Debatten immer wieder auf.

Konnte davon im Sommer 1914 dann bekanntlich keine Rede sein, so hatte es in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten auf nationaler und regionaler Ebene eine ganze Reihe von teilweise erfolgreichen Generalstreiks gegeben. Bereits 1893 fand in Belgien ein Generalstreik für die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts statt; gewährt wurde schliesslich ein allgemeines, aber ungleiches Männerwahlrecht. Ein neuerlicher Generalstreik für das gleiche Wahlrecht im Jahre 1902 wurde von Polizei und Militär unterdrückt. Um die Jahrhundertwende fanden auch Generalstreiks in Schweden, den Niederlanden, Spanien und Italien statt. Während der russischen Revolution von 1905, die im Zusammenhang mit einem erfolglosen Krieg gegen Japan ausbrach und zur Einrichtung eines (allerdings schwachen und nicht demokratisch gewählten) Parlaments führte, gab es im Oktober und Dezember in den russischen Metropolen mehrere Generalstreiks. Gleichzeitig fanden im November 1905 in verschiedenen österreichischen Städten Massenstreiks für die Demokratisierung des Wahlrechts statt. Im Juni 1906 führte dann bereits die Androhung neuer Massenstreiks zur Gewährung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts in der österreichischen Reichshälfte der Donaumonarchie.

Während und nach der russischen Revolution von 1905 intensivierte sich in der europäischen Arbeiterbewegung die Debatte über den politischen Massenstreik. In der deutschen Sozialdemokratie waren die Meinungen gespalten. Auf dem Parteitag von 1905 rief Rosa Luxemburg als Wortführerin des linken Flügels aus: „Wir sehen die russische Revolution, und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten.“ Das Parteizentrum um den in Zürich lebenden August Bebel befürwortete den Massenstreik indessen nur im Notfall und setzte sich bei den Delegierten mit dieser Position durch. Im Jahr darauf warnte Karl Kautsky vor einer Parallelisierung Deutschlands und Russlands und sah im politischen Massenstreik in Russland eine Art Naturereignis, das auf die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes zurückzuführen sei. Demgegenüber übte Rosa Luxemburg in einer Broschüre mit dem Titel „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ Kritik an SPD und Gewerkschaften. Das russische Beispiel habe gezeigt, dass sogar ein wenig organisiertes Proletariat jahrelange Kämpfe auszufechten imstande sei, während die wohlorganisierte deutsche Arbeiterschaft nur sporadisch in Streiks in Erscheinung trete. Im Jahre 1907 diskutierte der Kongress der Zweiten Internationale den Massenstreik als Mittel zur Abwendung eines drohenden Krieges und einigte sich diesbezüglich auf eine Kompromissformel. Drei Jahre später lehnte er die explizite Erwähnung des Generalstreiks als Anti-Kriegsmittel ab. Zeitlich zusammen mit der europäischen Debatte um den politischen Massenstreik fiel die Entstehung von Gandhis Konzept des zivilen Ungehorsams („Satyagraha“), welches er erstmals 1906 als Rechtsanwalt in Südafrika im Kampf um politische Rechte der dortigen Inder propagierte und das auch das Mittel des Streiks beinhaltete. Inwiefern hier ein globalhistorischer Zusammenhang besteht, ist m. W. noch nicht untersucht.

Die theoretischen Debatten und praktischen Generalstreikerfahrungen hatten auch Auswirkungen auf die Schweiz. In der Schweizer Presse fanden sich im frühen 20. Jahrhundert immer wieder Berichte über nationale und lokale Generalstreiks im Ausland. Während des einmonatigen schwedischen Generalstreiks von 1909 organisierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit Unterstützung der SP und des Grütlivereins eine Hilfsaktion, bei der innerhalb von zwei Wochen 6’000 Franken Spendengelder zusammenkamen. Dasselbe Ereignis hatte auch bei den helvetischen Arbeitgebern Resonanz: An der Delegiertenversammlung 1910 des Zentralverbandes schweizerischer Arbeitgeberorganisationen hielt Verbandssekretär Otto Steinmann ein Referat, das sich detailliert den „Lehren“ aus dem schwedischen Generalstreik widmete. Insbesondere befürwortete Steinmann einen Arbeitgeber-Kampffonds, eine stärkere Zentralisierung der Arbeitgeberorganisationen sowie ein Streik- und Koalitionsverbot für Arbeiter und Angestellte von Infrastrukturbetrieben, unabhängig davon, ob sich diese in öffentlicher oder privater Hand befanden.

In der Schweizer Arbeiterbewegung war die Generalstreikidee umstritten. Bezeichnete Herman Greulich 1903 Generalstreiks als „nichtsbewirkende Geplänkel“ und „Kinderphantasien“, so befürwortete Robert Grimm drei Jahre darauf den politischen Massenstreik als Mittel zur Systemveränderung in Ergänzung des Parlamentarismus. Eine Umfrage unter den Gewerkschaften zeigte 1912 eine ähnliche Skepsis gegenüber der Generalstreikidee wie bei den deutschen Bruderorganisationen. Der SP-Parteitag von 1913 lehnte den „sogenannten revolutionären Generalstreik“ ab, befürwortete aber Massenstreiks „als Notwehr- und Protestaktion“ zur Verhinderung von „Massnahmen der Behörden, durch die gemeinsame Lebensinteressen oder unentbehrliche Rechte und Freiheiten der Arbeiterklasse ernsthaft bedroht werden“, oder „in solchen Fällen, wo die Arbeiterklasse in ihrem Ehrgefühl derart verletzt wurde, dass das Ansehen der Organisation durch kein anderes Protestmittel besser gewahrt werden kann“.

Parallel dazu gab es in der Schweiz zwischen 1902 und 1912 eine Reihe von lokalen Generalstreiks. Der erste entzündete sich im Oktober 1902 in Genf an einem Arbeitskonflikt bei der Strassenbahn, die sich in privatem, britischem Besitz befand und deren amerikanischer Manager ältere Angestellte durch jüngere, billigere Kräfte ersetzen wollte. Nach Massregelungen gegen streikende Strassenbahner löste der Genfer Gewerkschaftsbund einen Generalstreik aus, um die Kantonsregierung zum Eingreifen zu bewegen. Etwa 15’000 Personen schlossen sich dem Ausstand an. Die Regierung bot 2’500 Mann Ordnungstruppen auf. Nach drei Tagen und zahlreichen Zusammenstössen zwischen Demonstrierenden und Ordnungstruppen wurde der Generalstreik erfolglos abgebrochen; etwa 100 Strassenbahner verloren ihre Stelle. Nach Ende des Generalstreiks fand in Genf ein Defilee der Ordnungstruppen statt, das ähnlich polarisierte wie 16 Jahre später der entsprechende Vorgang in Zürich nach dem Ende des Landesstreiks. Die Streikwelle von 1905 bis 1907 mündete in weitere lokale Generalstreiks. 1906 gab es in Basel und Zürich Generalstreikforderungen zur Unterstützung lokaler Arbeitskämpfe, die indessen nicht in die Realität umgesetzt wurden, während es in Neuchâtel in der Tat zu einem Generalstreik kam. Im folgenden Jahr gab es Generalstreiks in Genf und im Kanton Waadt mit Schwerpunkten auf Lausanne, Vevey und Montreux. Ebenso fand ein Generalstreik in Hochdorf statt. 1910 gab es einen Generalstreik in Arosa.

Der Zürcher Generalstreik von 1912 war damit lediglich ein Glied in einer Ereigniskette, die schliesslich im November 1918 in den Landesstreik hineinführen sollte. Dazwischen lagen weitere Protestaktionen in der zweiten Kriegshälfte, die sich hauptsächlich um die Versorgungs- und Teuerungsproblematik drehten. Am 30. August 1917 gab es einen überregionalen halbtägigen Generalstreik, bei dem in den meisten grösseren Städten während der Arbeitszeit grosse Teuerungsdemonstrationen stattfanden. Diese Aktion trug dazu bei, dass ab Herbst 1917 endlich die wichtigsten Nahrungsmittel rationiert wurden. Am 8. und 9. Juli 1918 traten in Lugano rund 3’000 Arbeiter zur Unterstützung streikender Nebenbahn-, Tram- und Dampfschiffangestellter in den Ausstand. Die Streikforderungen, welche Lohnerhöhungen und eine gerechtere Verteilung rationierter Lebensmittel umfassten, wurden nach Verhandlungen vor dem kantonalen Einigungsamt teilweise erfüllt. Und als am 30. September 1918 das Zürcher Bankpersonal in einen aufsehenerregenden Streik für höhere Löhne und die Anerkennung des Bankpersonalverbands trat, rief die Zürcher Arbeiterunion zu einem lokalen Generalstreik zur Unterstützung der Bankangestellten auf, deren Forderungen am zweiten Streiktag vollumfänglich bewilligt wurden.

Der November 1918 bedeutete noch nicht das Ende der helvetischen Generalstreikgeschichte. Ein im Juni 1919 in Genf proklamierter Generalstreik wurde wenig befolgt, am 7. Juli kam es aber in Bern anlässlich des Haftantritts von Robert Grimm, der im Landesstreikprozess zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden war, zu einem halbtägigen Generalstreik. Anfang August 1919 gab es Generalstreiks in Basel und Zürich, bei denen Ordnungstruppen in Basel fünf und in Zürich einen Demonstranten töteten. Einen weiteren Generalstreikversuch gab es im November 1932, nachdem in Genf bei einer linken Demonstration gegen die faschistische Union Nationale militärische Ordnungstruppen 13 Personen getötet und über 60 weitere verletzt hatten. Die Genfer Gewerkschaftsunion proklamierte daraufhin einen eintägigen Generalstreik, der nur teilweise befolgt wurde. Der Versuch der Kommunistischen Partei, deren Genfer Vorsitzender Henri Fürst eines der Todesopfer war, einen landesweiten Generalstreik zu lancieren, scheiterte vollkommen. Sehr viel erfolgreicher war sechs Jahrzehnte später der landesweite Frauenstreiktag vom 14. Juni 1991, bei dem eine halbe Million Frauen die Arbeit niederlegten (vgl. SozialarchivInfo 2/2016). Die Beteiligung war damit in absoluten Zahlen fast doppelt so hoch wie beim Landesstreik. Aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Verankerung des Gleichberechtigungsartikels in der Bundesverfassung hatte der Schweizerische Gewerkschaftsbund zum Protest gegen die zögerliche Umsetzung des Verfassungsartikels und anhaltende Ungleichheiten in zahlreichen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aufgerufen. Die meisten Frauenorganisationen des Landes schlossen sich an. Im ganzen Land beteiligten sich Frauen an vielfältigen Streikaktionen und tauchten Strassen und Plätze in ein Meer von Lila.

Materialien zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 2.50.4 Arbeiterunion Zürich, Gewerkschaftskartell Zürich, GBZ: Generalstreik 1912: Akten des Unterstützungskomitees
  • Ar 2.50.5 Arbeiterunion Zürich, Gewerkschaftskartell Zürich, GBZ: Generalstreik 1912: Zeitungsausschnitte
  • Ar 2.50.7 Arbeiterunion Zürich, Gewerkschaftskartell Zürich, GBZ: Generalstreik 1912: Akten 1912–1915
  • Ar 170.15.17 Nachlass Herman Greulich: Diverse Dokumente
  • Ar 422.84.4 SMUV Sektion Zürich: Spengler

Sachdokumentation

  • KS 331/255a Generalstreik Zürich 1912
  • KS 331/255b Generalstreik Zürich 1912: Nachlass Otto Lang

Bibliothek

  • 54290 Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich: Schweizerische Arbeiterbewegung: Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart. Zürich 1975.
  • Gr 5438 Balthasar, Andreas et al. (Hg.): Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914: Soziale Lage, Organisation und Kämpfe von Arbeitern und Unternehmern, politische Organisationen und Sozialpolitik, Bd. II/2. Zürich 1988.
  • 95554 Eigenheer, Susanne: Bäder, Bildung, Bolschewismus: Interessenkonflikte rund um das Zürcher Volkshaus 1890–1920. Zürich 1993.
  • 91199 Frei, Annette: Die Welt ist mein Haus: Das Leben der Anny Klawa-Morf. Zürich 1990.
  • 38424 Gautschi, Willi: Der Landesstreik 1918. Zürich 1968.
  • 78028 Goodstein, Phil H.: The Theory of the General Strike from the French Revolution to Poland. Boulder 1984.
  • 36444 Grimm, Robert: Der politische Massenstreik: Ein Vortrag. Basel 1906.
  • NN 154 Grimm, Robert: Der Generalstreik in Zürich, in: Die Neue Zeit 30/2 (1912).
  • 42416 Grunenberg, Antonia (Hg.): Die Massenstreikdebatte. Frankfurt/M 1970.
  • GR 3103 Jacob, Urs: Der Zürcher Generalstreik vom 12. Juli 1912, Teil I: Allgemeine und besondere Vorgeschichte bis zur Streikdebatte im Kantonsrat von Anfang Juni 1912. Unpubl. Lizentiatsarbeit, Universität Zürich 1977.
  • MFB 31 Klassenurteil, in: Gewerkschaftliche Rundschau 4 (1912). S. 86-88.
  • 121626 Koller, Christian: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950). Münster/Wien 2009.
  • D 5429 Koller, Christian: Local Strikes as Transnational Events: Migration, Donations, and Organizational Cooperation in the Context of Strikes in Switzerland (1860–1914), in: Labour History Review 74/3 (2009). S. 305-318.
  • N 2463 Lang, Karl: La grève générale de 1912 à Zurich, in: Cahiers Vilfredo Pareto 42 (1977). S. 129-141.
  • 100168 Ragaz, Leonhard: Der Zürcher Generalstreik vom 12. Juli 1912, in: Eingriffe ins Zeitgeschehen: Reich Gottes und Politik: Texte von 1900–1945. Hg. Ruedi Brassel und Willy Spieler. Luzern 1995, S. 102-111.
  • 55987 Schaffner, Alfred: Wirtschaftslage, gewerkschaftliche Organisation, Streikhäufigkeit und ihre Beziehung zueinander: Eine Untersuchung am Beispiel der Stadt Zürich 1897–1915. Aarau 1977.
  • 331/247-2 Steinmann, Otto: Betrachtungen über den Schwedischen Generalstreik des Jahres 1909. o. O. u. J. [1910].
  • 23569 Traber, Alfred: Vom Werden der zürcherischen Arbeiterbewegung: Jubiläumsschrift der Sozialdemokratischen Partei Zürich 4. Zürich 1957.
  • Gr 12817 Traber, Alfred: Ich war der „Trämlergeneral“: Rückblick auf mein Leben. Zürich 2011.
  • 90235 Zeller, René: Ruhe und Ordnung in der Schweiz: Die Organisation des militärischen Ordnungsdienstes von 1848 bis 1939. Bern 1990.
Porträt von Fritz Schwarz, Aufnahmedatum unbekannt (SozArch F 5051-Fx-011)
Porträt von Fritz Schwarz, Aufnahmedatum unbekannt (SozArch F 5051-Fx-011)

Der Nachlass von Fritz Schwarz im Sozialarchiv

Mit dem Nachlass von Fritz Schwarz (1887-1958) befinden sich Unterlagen eines der wichtigsten Schweizer Vertreter der Freiwirtschaftsbewegung im Sozialarchiv. Der Grossteil des Bestandes wurde 2008 übergeben. Nun ist er um zwei Nachlieferungen erweitert und bietet verschiedene Ansätze für wissenschaftliche Arbeiten.

 

Freiwirtschaftliche Ideen gestern und heute

Die Freiwirtschaftsbewegung entstand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie fusst auf den Ideen von Silvio Gesell. Die zentralen Forderungen: Grundbesitz sollte in Gemeineigentum übergehen und gegen Abgaben von Einzelpersonen genutzt werden können. Durch eine Regulierung der Geldmenge und sogenanntes Freigeld, das periodisch an Wert einbüsst, sollten Konjunkturschwankungen gemindert und Krisen verhindert werden. Geld sollte demnach nicht gehortet werden (was passiert, wenn es genügend Zinsen abwirft), sondern ständig in Umlauf bleiben.
Den grössten Zulauf hatte die Bewegung in den 1930er Jahren. In der Schweiz standen ihr etliche prominente Personen vor allem auch aus Kulturkreisen nahe, wie die archivierte Korrespondenz von Fritz Schwarz zeigt. Ihre Ideen wurden hingegen von Politikern des gesamten Parteienspektrums und auch von Ökonomen in der Regel ignoriert, belächelt oder bekämpft.
Trotzdem sind öffentliches Baurecht oder die Aufgabe des Goldstandards seit Jahrzehnten Tatsache, ebenso wie Negativzinsen heute von verschiedenen Finanzinstituten praktiziert werden. Auch aktuelle Regionalgeld-Projekte, die Idee einer bargeldlosen Gesellschaft oder die Vollgeld-Initiative, die vermutlich 2018 zur Abstimmung gelangt, knüpfen zumindest teilweise an freiwirtschaftliche Theorien an oder stehen in deren Tradition. Ob die Freiwirtschaft auf einzelne finanzpolitische Massnahmen reduziert werden kann oder als umfassendes Konzept gesellschaftlicher Organisation jenseits des Schemas Kapitalismus/Marktwirtschaft und Kommunismus/Planwirtschaft betrachtet werden muss, darf diskutiert werden.

Zur Person Fritz Schwarz

Soziale Gerechtigkeit war jedenfalls das Hauptanliegen von Fritz Schwarz. Er wurde am 1. Mai 1887 im oberen Krautberg (Oberthal) geboren. Zwischen 1902 und 1906 besuchte er das Lehrerseminar in Hofwil, Klassenkollege war unter anderem der spätere SP-Bundesrat Ernst Nobs. Zunächst noch überzeugter Sozialdemokrat, wandte sich Fritz Schwarz der Freiwirtschaft zu und war ab 1917 Geschäftsführer des Freiland-Freigeld-Bunds (später Liberalsozialistische Partei) sowie Redaktor der „Freistatt“ (später „Freiwirtschaftliche Zeitung“ und „Freies Volk“). Der definitive Bruch mit der SP manifestierte sich 1922 in einem Disput zwischen Schwarz und seinem früheren Kollegen Nobs. Schwarz kritisierte vermeintliche Inkonsistenzen in der marxistischen Wirtschaftstheorie. Nicht das Eigentum an Produktionsmitteln sei Hauptursache von Ungleichheit, sondern ganz im Sinne der Freiwirtschafter der Boden- und der Geldzins, welcher den Besitzenden Einnahmen ohne Arbeitsaufwand erlaube.
Umgekehrt werten marxistische Kritiker auch heute die Fokussierung auf den Zins als verkürzte Kapitalismuskritik, die zudem im Falle von Gesells Schriften anschlussfähig an antisemitische und sozialdarwinistische Ideen sei. Tatsächlich biederten sich in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren Teile der Freiwirtschaftsbewegung (vergeblich) bei den Nationalsozialisten an. In der Schweiz ist keine solche Tendenz auszumachen.

Finanz- und Sozialpolitik

Von 1934 bis 1958 sass Fritz Schwarz für den Schweizer Freiwirtschaftsbund bzw. die Liberalsozialistische Partei im Berner Kantonsparlament, von 1936 bis 1958 im Stadtrat von Bern. Er kritisierte die Deflationspolitik, welche die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre verschärfte. Daneben machte er sich für die Rechte von Frauen und Flüchtlingen stark, kritisierte Administrativversorgung ebenso wie die Zensur, von welcher auch die Freiwirtschaftlichen Publikationen betroffen waren.
Als Redaktor und Verleger zeichnete Schwarz für eine Vielzahl von Publikationen verantwortlich. In seinen Hauptwerken setzte er sich mit den Ursachen von Finanzkrisen auseinander und formulierte seine Idee von einer neuen Geld- und Bodenpolitik. Als Referent versuchte Schwarz die Bevölkerung mit unzähligen Vorträgen von den Ideen der Freiwirtschafter zu überzeugen.
Dass trotz ausbleibendem Durchbruch in der nationalen Politik einzelne Aspekte der Freiwirtschaftslehre durchaus Umsetzung durch ihre „Gegner“ fanden, illustriert folgende (nicht datierte) Anekdote aus der Biografie „Lebensbild eines Volksfreundes“, verfasst von Werner Schmid: „Einmal traf Fritz Schwarz … mit Jean Hotz, dem späteren Minister, zusammen. Etwas herablassend fragte Hotz, der einst die Freiwirtschaftslehre als ,Mist› definiert hatte, ob Fritz immer noch daran glaube. Darauf Fritz Schwarz ,Nume-no halb›. (Nur noch halb.) Erstaunt erkundigte sich Hotz nach dem Grund. Darauf Fritz: ,Will mer die angeri Hälfti afe im Bundeshus gloubt.› (Weil man die andere Hälfte schon im Bundeshaus glaubt.)“

Pädagoge, Reformer, Verleger

Schwarz stand Reformbewegungen nahe. Er ernährte sich zeitweise vegetarisch und war abstinent, leitete als Pädagoge das Institut „Pestalozzi-Fellenberg-Haus“ mit zugehörendem Verlag und Buchhandlung. Finanziell lebte Schwarz in schwierigen Verhältnissen. Er investierte viel Zeit unentgeltlich in seine politische und publizistische Tätigkeit und verschuldete sich u.a. mit den Druckkosten für die Werke des Schriftstellers Carl Albert Loosli.
Schwarz war ab 1910 verheiratet mit Anna Zaugg, aus der Ehe gingen die zwei Töchter Anny und Hedy hervor. Anna Schwarz-Zaugg litt an Lähmungen. Noch während der Ehe mit ihr verliebte sich Fritz Schwarz in Elly Glaser (1897-1978), welche er 1929 heiratete. Elly Schwarz übernahm die Leitung der zum Verlag gehörenden Buchhandlung. Kinder aus dieser Ehe sind Hans Schwarz und Ruth Binde, welche den Nachlass ihrer Eltern zusammenstellte und dem Sozialarchiv übergab.
Fritz Schwarz verstarb 1958. Seine Hauptwerke wurden in den letzten Jahren vom Synergia-Verlag neu publiziert. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich exemplarisch, wie stark sich die Wertung freiwirtschaftlicher Theorien geändert hat: Der damalige Nationalbank-Präsident Philipp M. Hildebrand liess sich 2010 wie folgt zitieren: „In der Tat sollten sich viele Ideen und Ansichten von Fritz Schwarz als visionär erweisen.“

Die Unterlagen im Sozialarchiv (Ar 162)

Der Nachlass gibt Einblick in das von Idealismus geprägte Schaffen eines der führenden Köpfe der Schweizer Freiwirtschaftsbewegung. Er enthält u.a. umfangreiche private und politische Korrespondenz mit prominenten Zeitgenossen (u.a. diverse Bundesräte, General Guisan, Albert Einstein), Freiwirtschaftern (u.a. Silvio Gesell, Hans Bernoulli, Werner Zimmermann, Theophil Christen, Friedrich Salzmann, Max Bill), Schriftstellern und Journalisten (Emil Ludwig, Hermann Hesse, Meinrad Liener, Jakob Bührer, Carl Albert Loosli). Zudem enthält der Bestand Werke, Fotografien, Zeichnungen und Objekte. Ebenfalls vorhanden sind die Korrespondenz von Ruth Binde rund um die Publikationen der Werke von Fritz Schwarz nach dessen Tod sowie Unterlagen zur Rezeption und zur Familiengeschichte.

Als konkrete Ansatzpunkte für wissenschaftliche Arbeiten bieten sich folgende Themen an:

  • Freiwirtschaft und Sozialdemokratie (Archivalien/Publikationen: Korrespondenz zwischen Fritz Schwarz und Ernst Nobs / Fritz Schwarz’ Ausführungen „Robert Grimm gegen Silvio Gesell!“ sowie „Der grosse Irrtum der Sozialdemokratie“)
  • Freiwirtschaft in der Schweizer Politiklandschaft während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre: Kritik an Deflationspolitik / Appellation an Bundesrat / Verhältnis zu anderen Parteien (div. Korrespondenz u. Publikationen)
  • Journalisten, Architekten, Lebensreformer, Abstinenzler? Die Schweizer Freiwirtschafter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Korrespondenz zw. Schwarz u. div. Exponenten der Bewegung)
  • Das „Experiment von Wörgl“ und seine Rezeption in der Schweizer Freiwirtschaftsbewegung (Dossier mit Korrespondenz / Publikation)
  • Fritz Schwarz als Verleger von Carl Albert Loosli (Korrespondenz Schwarz-Loosli)
  • Fritz Schwarz, die Schweizer Freiwirtschafter und ihr Vordenker Silvio Gesell: Adaption der Gesell‘schen Lehre / Verhältnis Schwarz-Gesell (Korrespondenz zw. Schwarz u. Gesell)
  • Privatkorrespondenz eines Politikers: Welchen Stellenwert nimmt das Politische in Fritz Schwarz’ Briefwechsel mit Elly Schwarz-Glaser ein? (Korrespondenz zw. Fritz Schwarz u. Elly Glaser)

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl):

Archiv

  • Ar 162 Schwarz, Fritz und Elly, Privatarchiv

Bild + Ton

  • F 5051 Schwarz, Fritz (1887-1958)

Sachdokumentation

  • KS 32/229 Liberalsozialistische Partei der Schweiz LSP
  • KS 332/45 bis KS 332/49 Freiwirtschaft, z.B.:
    KS 332/45b-5 Schwarz, Fritz: Der grosse Irrtum der Sozialdemokratie. Erfurt, 1922.
    KS 332/45b-7 Schwarz, Fritz (Hg.): Robert Grimm gegen Silvio Gesell!, oder, Der Kampf gegen Freiland-Freigeld. Bern, 1921.
  • QS 38.31 Liberalsozialistische Partei der Schweiz LSP
  • ZA 38.31 Liberalsozialistische Partei der Schweiz LSP

Bibliothek

Zeitschriften

  • Die Freistatt: Zeitschrift für Kultur und Schulpolitik (1917-1921); Das Freigeld: Zeitschrift des Schweizer Freiland-Freigeld-Bundes (1922-1923) (Signatur: NN 64)
  • Freiwirtschaftliche Zeitung: Organ des Schweizer Freiland-Freigeld-Bundes (Signatur: Z 47 A)
  • Freies Volk: Wochenzeitschrift für das Schweizervolk (Signatur: Z 47)

Bücher

  • Schmid, Werner: Fritz Schwarz: Lebensbild eines Volksfreundes. Darmstadt 2008. (Signatur: 119611)
  • Schwarz, Fritz: Autosuggestion – die positive Kraft. Darmstadt 2007 (Signatur: 119165)
  • Schwarz, Fritz: Das Experiment von Wörgl. Darmstadt 2007 (Signatur: 119162)
  • Schwarz Fritz: Der Christ und das Geld. Darmstadt 2008 (Signatur: 119164)
  • Schwarz Fritz: Morgan: der ungekrönte König der Welt. Darmstadt 2008 (Signatur: 119166)
  • Schwarz, Fritz: Segen und Fluch des Geldes in der Geschichte der Völker, 2 Bde. Darmstadt 2010-2012 (Signaturen: 122447:1 / 122447:2)
  • Schwarz, Fritz: Vorwärts: zur festen Kaufkraft des Geldes und zur zinsbefreiten Wirtschaft. Darmstadt 2007 (Signatur: 119163)
  • Schwarz, Fritz: Wenn ich an meine Jugend denke. Darmstadt 2010 (Signatur: 122691)