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Frauen geben ihre Stimme ab, 1970er Jahre (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5032-Fb-0125)
Frauen geben ihre Stimme ab, 1970er Jahre (Foto: Urheber:in unbekannt/SozArch F 5032-Fb-0125)

Buchempfehlungen der Bibliothek

David Hesse, Philipp Loser: Heute Abstimmung! 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben. Zürich, 2024

Seit der Gründung des modernen Bundesstaats im Jahr 1848 haben die Stimmberechtigten in der Schweiz mehr als 670 Mal an der Urne über Veränderungen der Nation entschieden – sei es durch ein «Ja», ein «Nein» oder einen leeren Stimmzettel. Lange Zeit waren es jedoch ausschliesslich Männer, die über politische Anliegen mitbestimmen durften. Erst 1971 votierten sie dafür, Frauen den Zugang zu diesem demokratischen Prozess zu gewähren. Und seit 1991 dürfen auch Personen unter 20 Jahren abstimmen, nachdem das Stimmrechtsalter auf 18 Jahre herabgesetzt wurde.
Immer wieder haben Volksentscheide Weichen gestellt. Wir könnten heute in einer Schweiz ohne Armee leben. In einem EU-Staat. In einem Bund von nur 25 Kantonen. In einem Land ohne Frauenstimmrecht. Die Bevölkerung hat dafür gesorgt, dass es anders ist. «Heute Abstimmung» stellt dreissig Urnengänge vor, die bis heute nachwirken und das Land zu dem gemacht haben, das es heute ist. Das Buch ist bebildert mit Originalplakaten aus den Beständen des Sozialarchivs und beleuchtet zugleich die Herausforderungen der direkten Demokratie, denn «Volksabstimmungen sind nicht perfekt».

In der Sachdokumentation des Sozialarchivs findet sich Material zu fast allen eidgenössischen Abstimmungen seit 1848, abgelegt beim jeweiligen Thema.
Die Datenbank Bild + Ton bietet eine grosse Auswahl an digitalisierten Abstimmungsplakaten zum freien Download.

Joe Bürli: Der Bub hat nichts Italienisches an sich. Zürich, 2024

Joe Bürli ist der Besitzer des Kiosks Quellenstrasse in Zürich. In seiner Autobiografie erzählt er seine berührende Geschichte.
Als unehelicher Sohn einer Italienerin und eines Schweizers 1962 geboren, verbringt er die ersten vier Jahre seines Lebens in Kinderheimen. Danach lebt er einige Jahre im Luzernischen bei seinen Grosseltern, die sich liebevoll um ihn kümmern. Als sein Vater heiratet, holt er den inzwischen neunjährigen Josefli zu sich. Das Verhältnis zur Stiefmutter ist für den Jungen schwierig, sie verweigert ihm jegliche Zuneigung. Später kommt er zu einer Pflegefamilie nach Olten. Mit 19 Jahren will er eigentlich nach seiner leiblichen Mutter suchen, doch erst als Joe 35 Jahre alt ist und in Zürich lebt, lernt er seine Mutter und seine zwei Halbschwestern kennen. Die Begegnung mit seiner italienischen Familie ist nicht nur einfach.
Das Buch ist auch eine Geschichte über die 1970er/80er Jahre in Zürich: über die unbeschwerte Zeit in der Schwulenszene vor Aids, über Musik, Partys und Plattenläden. Über Joes Arbeit als Tierpfleger, in einem CD-Vertrieb oder in der Gastrobranche. Mitte der 1990er Jahre wird Bürli Geschäftsführer des Kiosks Quellenstrasse, seit 2007 ist er dessen glücklicher Besitzer. Der Kiosk ist Treffpunkt und Tante-Emma-Laden in einem. Er führt ein breites Angebot an Zeitungen, Zeitschriften, Heftli, Tabakwaren, Getränken, Snacks, Sandwiches und sogar im Quartier hergestellten Ravioli. Die Schaufenster sind legendär, er gestaltet sie oft zusammen mit Kunstschaffenden.

In «Kiosk. Ein Kaleidoskop» (Gr 15895) über Kioske in Zürich, herausgegeben von der Plattform Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste, kommt auch der Kiosk Quellenstrasse vor.

Anneli Furmark: Roter Winter. Berlin, 2024

Anneli Furmarks Graphic Novel beginnt mit einem heimlichen Treffen eines Liebespaares im Schneegestöber einer nordschwedischen Industriestadt. Es handelt sich um eine geheime Liebe. Der Grund für die Heimlichkeit liegt nicht primär im Altersunterschied der Liebenden. Auch nicht darin, dass ein Partner verheiratet ist und drei Kinder hat. Der schwerwiegendste Grund ist, dass die Verliebten unterschiedlichen ideologischen Lagern angehören. Siv ist Sozialdemokratin, Ulrik ist Maoist. Die Kluft zwischen diesen beiden Lagern scheint im Schweden der ausgehenden 1970er Jahre unüberwindbar.
Die vier Jahrzehnte währende Vormachtstellung der Sozialdemokratie ist zu Ende. Die linken Parteien radikalisieren sich als Reaktion darauf zunehmend, das linke politische Lager zersplittert in Fraktionen, die sich teilweise spinnefeind sind und einander misstrauisch gegenüberstehen. Sivs und Ulriks Zugehörigkeit zu unterschiedlichen politischen Lagern ist in dieser gesellschaftlichen Atmosphäre für ihre Umgebung weit weniger annehmbar als dass das Outing ihrer Liebe zum Zerbrechen einer Ehe führen würde. Wie sich diese Polarisierung unaufhaltsam auf das Liebespaar auswirkt, zeichnet Furmark in düsteren Bildern nach und vermittelt uns die melancholische Stimmung eines Winters nahe dem Polarkreis so, dass sie sich uns visuell einprägt und nachdenklich zurücklässt.

Thomas Knellwolf: Enttarnt. Die grössten Schweizer Spionagefälle. Lachen, 2024

Im Kalten Krieg war die Schweiz ein Hotspot von Geheimdienstaktivitäten. Thomas Knellwolf, Bundeshaus-Korrespondent beim Tages-Anzeiger mit Schwerpunkt Justiz und Nachrichtendienst, zeigt in seinem neuen Buch, dass sich daran nichts geändert hat. Er rekonstruiert sieben Fälle des letzten Vierteljahrhunderts, von einer missglückten Mossad-Operation gegen einen Hisbollah-Aktivisten, bei der sich die von der Berner Kantonspolizei ertappten Agent:innen durch vorgetäuschten Dreiersex aus der Falle zu winden versuchten, über schweizerisch-deutsche Agentenkonfrontationen in der Endphase des Bankgeheimnisses und türkische Geheimdienstaktionen gegen Oppositionelle in der Schweiz bis hin zum «Fall Rössli», als chinesische Agent:innen ein Hotel mit Blick auf den Militärflugplatz Meiringen übernahmen.
Dargestellt wird auch die Rolle Genfs als Operationsbasis des russländischen Militärgeheimdienstes GRU, sei es von Hackerteams, die Cyberattacken auf die Bundesverwaltung, nach Auffliegen des russländischen Staatsdopingprogramms auch gegen das Internationale Olympische Komitee und andere in der Schweiz domizilierte Sportinstitutionen verübten, sei es von Spezialisten für «feuchte» (d.h. blutige) Operationen wie die Annexion der Krim, Destabilisierungskampagnen in Moldawien oder Montenegro oder die Vergiftung des Doppelagenten Sergej Skripal. Knellwolf thematisiert auch die schwache Schweizer Spionageabwehr und lässt offen, ob die Reformen der letzten Jahre eine Stärkung bewirkt haben.

Weitere Literatur zum Thema (Auswahl):

  • Robert Dover: Hacker, influencer, faker, spy. Intelligence agencies in the digital age. London 2022, 152141
  • Roger Faligot: Les services secrets chinois. De Mao au Covid-19. Paris 2022, 147799
  • Jan Helmig: Nachrichtendienste in der Weltgesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven. Wiesbaden 2022, 149806
  • Rhodri Jeffreys-Jones: A question of standing. The history of the CIA. Oxford 2022, 152196
  • Kristie Macrakis: Nothing is beyond our reach. America’s techno-spy empire. Washington DC 2023, 152647
  • Kevin P. Riehle: The Russian FSB. A concise history of the Federal Security Service. Washington DC 2024, in Erwerbung
  • Matthias Uhl: GRU. Die unbekannte Geschichte des sowjetisch-russischen Militärgeheimdienstes von 1918 bis heute. Freiburg i. Br. 2024, 153487
  • Amy B. Zegart: Spies, lies, and algorithms. The history and future of American intelligence. Princeton 2022, 149717

Claude Calame: Déni d’humanité. Le rejet européen des personnes conduites à l’exil. Vulaines sur Seine, 2024

Im Gegensatz zu den Abteilungen Archiv und Dokumentation erwirbt die Abteilung Bibliothek auch Bücher, die im Ausland publiziert werden, wenn sie zentrale Themen aus unserem Sammelgebiet betreffen. Das Sozialarchiv ist dann oft die einzige Bibliothek im swisscovery-Verbund, die den Titel in ihren Beständen führt. Dies trifft auch auf die rund 60 Seiten dünne Streitschrift von Claude Calame zu. Das Pamphlet des in Lausanne geborenen Altphilologen, Kulturanthropologen und Attac-Aktivisten ist in der Reihe «Carton rouge» der Éditions du Croquant in Frankreich erschienen und zeigt der europäischen Migrationspolitik die «Rote Karte».
Calame prangert das inhumane EU-Grenzregime, das todbringende Agieren von Frontex, die erniedrigende Behandlung und illegalen Pushbacks von Migrant:innen durch Grenzpatrouillen sowie die menschenrechtlich zweifelhaften Migrationsabkommen mit Ländern wie der Türkei oder Libyen an. Die EU-Migrationspolitik, die sich gegen die «irreguläre» Migration, faktisch aber genauso gegen Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention von 1951 richtet, brandmarkt er als utilitaristisch. Eindringlich erinnert er daran, dass die Verweigerung, Migrant:innen als Individuen mit einer sozialen und kulturellen Identität anzuerkennen und ihre Menschenwürde zu achten, auf uns selbst zurückfällt: «Vergessen wir nicht, dass […] die Rechte von Migrant:innen zu verteidigen […] auch heisst, die individuellen und sozialen Rechte der ansässigen Bevölkerung zu verteidigen […].» (S. 47)

Eine lesenswerte Besprechung von Calames Anklageschrift findet sich auch im «Bulletin» Nr. 4/2024 von Solidarité sans frontières, verfasst von Sophie Guignard, der politischen Sekretärin von Sosf. Das Sosf-«Bulletin» (SozArch D 6396) liefert vierteljährlich fundiertes und aktuelles Hintergrundwissen zur schweizerischen und europäischen Migrationspolitik, zum Asyl- und Ausländerrecht und zu dessen Anwendung und Umsetzung in der Praxis.

26. Februar 2025Susanne Brügger zurück