Ingrid Robeyns: Limitarismus. Warum Reichtum begrenzt werden muss. Frankfurt am Main, 2024
Die Ethikerin Ingrid Robeyns vertritt mit ihrem Konzept des «Limitarismus» den gut begründeten Anspruch, dass es eine Obergrenze des Reichtums für Einzelpersonen geben bzw. dass die Ungleichheit (= der Abstand zwischen Arm und Reich) begrenzt sein sollte. Niemand der Superreichen hat es «verdient», umgerechnet einen lebenslangen Lohn von 40’000 Dollar und mehr pro Stunde (!) zu verdienen. Extremen Reichtum infrage zu stellen, hat dabei nichts mit Neid zu tun, sondern mit einem Sinn für Gerechtigkeit.
Bei der Umsetzung in die Praxis stehen an erster Stelle strukturelle Massnahmen, welche die Ungleichheit eindämmen und die Chancengleichheit erhöhen. Als zweite Strategie dienen fiskalische Instrumente wie höhere und stärker progressive Vermögenssteuern. Doch erst ein allgemeines «ethisches Handeln» als dritte Komponente macht den Limitarismus komplett. Denn die Politik, die stark vom Lobbyismus der Superreichen beeinflusst wird, agiert nur zaghaft in die angezeigten Richtungen. Viele Menschen sehen aber sehr wohl die Gefahren, welche für Gesellschaft und Demokratie mit dem extremen Reichtum Einzelner verbunden sind, und die ökologischen Schäden, die dieser anrichtet.
Als Schwellenwert des Reichtums schlägt die Autorin eine doppelte Grenze vor: eine obere, politisch gesetzte, mit den oben erwähnten Massnahmen herbeigeführte und eine untere, persönliche, ethisch motivierte. In persönlichen Gesprächen mit Superreichen stellte Robeyns nämlich fest, dass zwar eine Mehrheit von ihnen das Thema vermeidet, eine Minderheit jedoch durchaus limitaristische Ansichten teilt, obwohl sie davon selber «negativ» betroffen wäre. Daran gilt es anzuknüpfen!
Stefan Berger/Christian Koller (Hg.): Memory and Social Movements in Modern and Contemporary History. Remembering Past Struggles and Resourcing Protest. Cham, 2024
Soziale Bewegungen beziehen sich in ihren Forderungen und Argumenten stets auch auf vergangene Erfahrungen und sind ihrerseits Gegenstände kollektiver Erinnerungsprozesse. Diese komplexe Beziehung wird von den Forschungsfeldern der «Memory Studies» und «Social Movement Studies» erst in jüngster Zeit detaillierter diskutiert. Der Band «Memory and Social Movements in Modern and Contemporary History» versammelt die Beiträge einer gemeinsamen Tagung des Instituts für Soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum und des Schweizerischen Sozialarchivs. Sie loten ein breites thematisches und geografisches Feld aus.
Fallstudien befassen sich mit dem Zusammenspiel von Antisklaverei-Bewegung und frühem Feminismus im 19. Jahrhundert, Bauern- und Arbeiteraufständen in Polen um die Jahrhundertwende, Stadtbewegungen in der Bundesrepublik in den 70er/80er Jahren, tolstojanischen Friedensbewegungen in der Sowjetunion und Russland, der Memorialisierung von homosexuellen KZ-Opfern, ökologischen Bewegungen in Indien um die Jahrtausendwende, der Memorialisierung von Protesttoten in der schweizerischen Arbeiter:innenbewegung, historischen Analogien in den Diskursen der Bewegung gegen den Bosnienkrieg, der kolonialen Erinnerung im Generalstreik von Guadeloupe und Martinique von 2009 sowie der Geschichtspolitik rechtsradikaler Parteien in der Bundesrepublik von der 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei bis zur AfD.
Samira Akbarian: Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams. München, 2024
Die Rechtswissenschaftlerin Samira Akbarian hinterfragt in ihrem Buch die Auffassung, ziviler Ungehorsam schade der Demokratie und dem Rechtsstaat. Dazu untersucht sie verschiedene Formen des zivilen Ungehorsams von Sokrates über H.D. Thoreau, Rosa Parks und Martin Luther King bis Greta Thunberg und die Klimakleber:innen.
Ein wichtiger Aspekt des zivilen Ungehorsams ist für die Autorin die Gewaltlosigkeit der Aktivist:innen und das Einsetzen der eigenen Verletzlichkeit. Die Demonstrierenden stehen unbewaffnet vor einem Panzer, die Klimaaktivist:innen sitzen auf einer stark befahrenen Strasse oder versuchen das Abbaggern eines ganzen Dorfes durch Besetzung desselben zu verhindern und Rosa Parks setzte sich auf einen Platz im Bus, der nicht für sie gedacht war.
Samira Akbarian beleuchtet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der aktivistischen Widerstandsformen und zeigt deren Potenzial für die Demokratie auf. Ziviler Ungehorsam wird von ihr als Protest, der von einer Richtigkeitsüberzeugung getragen wird und im Handeln mündet, definiert. In diesem Sinn weist er einen zivilen Charakter auf und sollte daher als Teil eines aktiven und lebendigen demokratischen Rechtsstaats begriffen werden. Mit ihrer Theorie entwickelt Akbarian ein Konzept, das demokratische Teilhabe durch ein inklusives und dynamisches Verfassungsverständnis fördert. Demokratie heisst auch die Möglichkeit zum Widerspruch und der Wunsch, in einer gerechten und guten Gesellschaft zu leben.
Luzia Tschirky: Live aus der Ukraine. Basel, 2024
«Vögel zwitschern vor meinem Hotel im Stadtzentrum von Kyjiw. Dazwischen aus der Ferne ein dumpfer Schall. Wumm. Wumm. Wumm.»
Der Beginn des Buches setzt direkt am 24. Februar 2022, am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, ein. Die Journalistin war an diesem Tag selbst in Kiew unterwegs und kommentierte anschliessend laufend das Kriegsgeschehen.
Luzia Tschirky berichtete ab 2019 während fünf Jahren für das Schweizer Fernsehen SRF aus Russland, der Ukraine, Belarus und dem Kaukasus. In dem Buch gibt sie Einblick in ihre Zeit als Korrespondentin. Sie erzählt von der Repression, welche sie in Russland vor dem Krieg erlebt hatte, und schildert eindrücklich ihre persönlichen Erfahrungen während dem Krieg. So bekommen die Lesenden auch den ersten Tag des russischen Grossangriffs hautnah mit und verstehen, warum die Autorin diesen als Zeitenwende empfand. Tschirky schreibt mitfühlend und authentisch von ihren Begegnungen mit Menschen im Kriegsgebiet der Ukraine und bringt den Lesenden so die Lebensrealität der Kriegsbetroffenen näher. Sie stellt die Menschen in den Mittelpunkt und dokumentiert anschaulich, was die erlittene Gewalt für diese bedeutet.
Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte. München, 2024
Die Frage, ob Krieg dem Menschen angeboren oder kulturell erworben ist, wird seit Langem diskutiert. Das Autorenteam aus einem Evolutionsbiologen, einem Archäologen und einem Historiker verortet sich auf der kulturalistischen Seite und lehnt simple biologistische, aber auch ökonomistische Erklärungen ab. Den Hinweis auf «Kriege» zwischen Schimpansengruppen kontern sie mit dem Gegenbeispiel der Bonobo mit ihrer Soziabilität des «make love not war» sowie dem Fakt, dass für die ersten 95% der Menschheitsgeschichte keine archäologischen Hinweise auf kriegerische Gewalt vorliegen. Erst mit dem allmählichen Übergang zur Sesshaftigkeit finden sich auf Gewalteinwirkung hindeutende Skelette, eindeutig dem Krieg und nicht der Jagd dienende Waffen sowie Befestigungsbauten. Jungsteinzeitliche Funde zeigen eigentliche Massaker. Die Herausbildung von Staatlichkeit mit autokratischer, religiös legitimierter Herrschaft, ungleicher Gesellschaft und verstärkt asymmetrischer Geschlechterordnung führte dann zur Entstehung organisierter Armeen und zum «Krieg als Lebensprinzip». Daran hat sich trotz steter Weiterentwicklung der Waffentechnologie in den letzten 5’000 Jahren nicht viel geändert. Die Reflexion über Einhegungen der «Bestie Krieg» habe in den letzten Jahrhunderten aber zugenommen und in Teilen der Welt zu kriegsvermindernden Praktiken und Strukturen wie Demokratie, Geschlechtergleichberechtigung und überstaatlichen Organisationen geführt, so das verhalten optimistische, ein kulturelles «Verlernen» des Krieges nicht ausschliessende Fazit der Autoren.
Weitere Literatur zum Thema (Auswahl):
- Philip Dwyer und Joy Damousi (Hg.): The Cambridge world history of violence. 4 Bde. Cambridge 2020, 153010
- Daniel Gerster et al. (Hg.): Historische Friedens- und Konfliktforschung. Die Quadratur des Kreises? Frankfurt 2023, 151640
- Christian Koller: Krieg und Frieden in der Geschichtswissenschaft. Neuere Perspektiven und Ansätze der Militär- und Gewaltgeschichte und der Historischen Friedensforschung, in: conexus 7 (2024). S. 8–28. URL: https://www.hope.uzh.ch/conexus/article/view/8798/7274
- Karl Heinz Metz: Geschichte der Gewalt. Krieg, Revolution, Terror. Darmstadt 2010, 123513
- Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt 2011, 128206
Michael Fischer: Atomfieber. Eine Geschichte der Atomenergie in der Schweiz. Baden, 2019
Die Debatte um die Atomenergie erlebt zurzeit in der Schweiz ein Revival. Zur historischen Einordnung bietet Michael Fischers Buch einen hervorragenden Einstieg. Den Auftakt machten ab 1945 Pläne für eine eigene Atombewaffnung, die ab den späten 50er Jahren zur ersten Antiatombewegung führten. Spätestens mit der Unterzeichnung des Atomsperrvertrags 1969 wurden diese Pläne Makulatur. Nun rückte die zivile Nutzung der Atomenergie ins Blickfeld. 1955 gründeten in Würenlingen 125 Firmen die vom Bund stark subventionierte Reaktor AG, die zwei Forschungsreaktoren testete. 1968 nahm in Lucens ein Versuchsreaktor den Betrieb auf, der aber schon nach wenigen Monaten durch eine Kernschmelze zerstört wurde. 1969 ging das AKW Beznau I ans Netz, es folgten Beznau II (1972), Mühleberg (1972), Gösgen (1979) und Leibstadt (1984). In den frühen 70er Jahren formierte sich eine neue Antiatombewegung, die ihren Höhepunkt in den Auseinandersetzungen um das geplante AKW Kaiseraugst erreichte. Im Nachgang zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) hiessen Volk und Stände 1990 die Initiative für ein zehnjähriges AKW-Bau-Moratorium gut. 2011 entschied sich dann der Bundesrat angesichts der Katastrophe von Fukushima für den langfristigen Atomausstieg, der 2017 mit dem Ja zur «Energiestrategie 2050» vom Volk unterstützt wurde. Als letztes Thema behandelt Fischer das «Strahlende Erbe», die anhaltenden Kontroversen um die Endlagerung der radioaktiven Abfälle.
Weitere Literatur zum Thema (Auswahl):
- Marcos Buser: Wohin mit dem Atommüll? Das nukleare Abenteuer und seine Folgen. Ein Tatsachenbericht. Zürich 2019, 141216
- Monika Gisler: Erzählte Physik. Paul Scherrer und die Anfänge der Kernforschung. Zürich 2023, Gr 15585
- Patrick Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst. Zürich 2003, 111271
- Sibylle Marti: Strahlen im Kalten Krieg. Nuklearer Alltag und atomarer Notfall in der Schweiz. Paderborn 2021, 144846
- Albert Ulrich und René Baumann: Zur Frage der Atombewaffnung der Schweizer Armee in den fünfziger und sechziger Jahren. Zürich 1997, Gr 9275
- Tobias Wildi: Der Traum vom eigenen Reaktor. Die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945–1969. Zürich 2003, 111207
- Reto Wollenmann: Atomwaffe und Atomsperrvertrag. Die Schweiz auf dem Weg von der nuklearen Option zum Nonproliferationsvertrag (1958–1969). Zürich 2004, 117115