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Porträt von James Baldwin auf einem Fensterladen des Chalets Burg Hüsli, wo Baldwin Gast gewesen war, geschaffen von der Schweizer Künstlerin Sasha Huber (2018)
Porträt von James Baldwin auf einem Fensterladen des Chalets Burg Hüsli, wo Baldwin Gast gewesen war, geschaffen von der Schweizer Künstlerin Sasha Huber (2018)

Buchempfehlungen der Bibliothek

James Baldwin, Teju Cole: Fremder im Dorf / Schwarzer Körper. Zürich, 2024

In den frühen 1950er Jahren besuchte James Baldwin dreimal Leukerbad, ein Dorf in den Walliser Alpen mit damals ca. 600 Einwohner:innen. Auf Einladung seines Partners, des Schweizer Malers Lucien Harppersberger, den er in Paris kennengelernt hatte, wohnte er in einem kleinen Chalet der Familie. Dort beendete er seinen Roman «Go tell it on the Mountain» und schrieb den Essay «Fremder im Dorf» für das Harpers‘ Magazine. Baldwin reflektiert darin seine Erfahrungen in Leukerbad und vergleicht den Rassismus, den er hier als erster Schwarzer im Dorf antrifft, mit dem Rassismus, den er in den USA und Frankreich erlebt hat. Baldwin beschreibt eindrücklich, wie ihm die Dorfgesellschaft begegnet: Im einzigen Restaurant tanzt er mit Einheimischen, die Kinder fragen sich, ob er wohl abfärbe, in der Kirche wird Geld gesammelt, um das Seelenheil der Menschen in Afrika zu retten, und die Leukerbadner möchten ihm das Skifahren beibringen.
Sechzig Jahre später begibt sich Teju Cole auf Baldwins Spuren nach Leukerbad. Sind die älteren Menschen, denen er auf der Strasse begegnet, die Kinder von damals? In «Schwarzer Körper» tritt Cole mit Baldwin in einen Dialog. Cole ist nicht mehr der einzige Fremde, der einzige Schwarze im Dorf, jedoch empfindet er die gleiche Wut über den Rassismus wie Baldwin.
James Baldwin kehrte 1962 für den (sehr sehenswerten) Dokumentarfilm «Un étranger au village» von Pierre Koralnik noch einmal nach Leukerbad zurück. Am 2. August 2024 wäre er hundert Jahre alt geworden.

Weitere Literatur von und über James Baldwin in der Bibliothek des Sozialarchivs (Auswahl):

  • Céline Eidenbenz (Hg.): Stranger in the Village. Rassismus im Spiegel von James Baldwin = le racisme au miroir de James Baldwin. Aarau, Zürich, 2023 (Signatur 151578)
  • René Aguigah: James Baldwin. Der Zeuge. Ein Porträt. München, 2024 (Signatur 152764)
  • James Baldwin: Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung oder The Fire Next Time. Eine Warnung an die Weissen. Hamburg, 1964 (Signatur 33375)
  • François Bondy: Gespräche mit James Baldwin, Carl J. Burckhardt, Mary McCarthy, E. M. Cioran, Witold Gombrowicz, Eugène Ionesco, Karl Jaspers, Hans Mayer, Slawomir Mrozek, Nathalie Sarraute, Ignazio Silone, Jean Starobinski. Wien, 1972 (Signatur 48787)
  • James Baldwin: Nobody Knows My Name. More Notes of a Native Son. New York, 1961 (Signatur 44515)
  • James Baldwin: Eine andere Welt. Roman. Hamburg, 1965 (Signatur 45165)
  • James Baldwin: Schwarz und Weiss. Oder was es heisst, ein Amerikaner zu sein. 11 Essays. Reinbek, 1963 (Signatur 29882)

Jo Hedwig Teeuwisse: Fake History. Hartnäckige Mythen aus der Geschichte. 101 Dinge, die so nie passiert sind, aber alle für wahr halten. München, 2023

Napoleon Bonaparte war ein kleingewachsener Mann? Die Schnabelmasken der Pestdoktoren stammen aus dem Mittelalter? Thomas Edison hat die Glühbirne erfunden? – Das stimmt «leider» alles nicht, haben Sie, liebe Leser:innen, aber bestimmt schon so gehört. Und möglicherweise auch 98 weitere regelmässig kolportierte Anekdoten, die Ihnen die niederländische Historikerin Jo Hedwig Teeuwisse in ihrem neuen Buch präsentiert. Teeuwisse bezeichnet sich selber als «Fake History Hunter» und meint damit Folgendes: «Fake History hat viel mit Fake News gemein, nur dass die News hier ziemlich alt sind.»
Die Beispiele findet Teeuwisse im Internet, sie recherchiert stundenlang nach Hinweisen und findet dabei viele harmlose oder skurrile Falschheiten («Das allererste Katzenfoto stammt von 1880»), entlarvt aber auch beispielsweise diskriminierende Mythen («Die ersten Frauen in kurzen Hosen provozierten einen Autounfall»). Das unterhaltsame Buch streift alle möglichen Epochen und die unterschiedlichsten Orte dieser Welt. Und abschliessend erklärt die Autorin in einem Nachwort, wie man «Fake History» selber auf die Spur kommen kann.
Übrigens: Napoleon Bonaparte war für seine Zeit ein durchschnittlich grosser Mann, aber er wurde von britischen Karikaturisten oft als kleiner Mann gezeichnet (S. 137). Thomas Edison hat die Glühbirne nicht erfunden, sondern baute auf den Entwicklungen verschiedener anderer Akteure auf. Im 19. Jahrhundert tüftelten mindestens zwanzig Personen an funktionierenden Glühlampen herum. Immerhin: Edison vermochte verschiedene Bausteine miteinander zu kombinieren und lieferte schliesslich das Endprodukt (S. 129). Die Schnabelmaske hat es zwar gegeben, sie stammt aber nicht aus dem Mittelalter, sondern aus dem 17. Jahrhundert: Einen ersten Hinweis darauf findet sich in einem Bericht zum Pestausbruch in Paris 1618/19 (S. 91).

Ueli Mäder: Mein Bruder Marco. Eine Annäherung. Zürich, 2024

«Lieber Marco. Du verfehltest deinen 66. Geburtstag nur knapp. Wer hätte das gedacht. Du wurdest trotz ruinösem Lebenswandel ziemlich alt. Und starbst doch viel zu früh.» Mit diesen Worten beginnt Ueli Mäder einen rund zweihundertseitigen Brief an seinen Bruder Marco, der nach langer Alkoholsucht vor rund zehn Jahren gestorben ist. Der Autor schildert in seinem Buch das Leben eines Getriebenen, der aber trotz aller Tragik ein vielfältiges und geselliges Leben führte. Es ist die Biografie eines Menschen, der im Zeitgeist der 1968er-Generation in das Erwachsenenalter eintrat, eines sozial engagierten Viellesers, der schliesslich zwar «kein ehrwürdiger Herr Bundesrat […], sondern eher ein origineller Dorfindianer» geworden ist.
Ueli Mäder ist Soziologe und verknüpft wohl nicht zuletzt deshalb die Lebensstationen von Marco mit den Weltereignissen und dem sozialen Wandel der Zeit. Welche gesellschaftlichen Umstände, unter denen sein Bruder häufig litt, prägten dessen Weg? Wie konnte dieses an Möglichkeiten so reiche Leben so destruktiv zu Ende gehen? Was machen wir aus dem, was unsere Umwelt mit uns macht? Und inwiefern dokumentieren sich im Biografischen auch soziale Kontexte? «Wir Menschen sind eben Kinder unserer Zeit», so formuliert es Ueli Mäder an einer Stelle, worauf der Bruder antwortet: «Aber das rechtfertigt nichts.»

Frank-Walter Steinmeier: Wir. Berlin, 2024

Anlässlich der beiden Jubiläen – 75 Jahre deutsches Grundgesetz, 35 Jahre Friedliche Revolution – richtet sich der Bundespräsident mit einer Standortbestimmung, die im Erinnern an die deutsche Geschichte den Mut, nach vorne zu schauen, sucht, auf 142 Seiten an seine Mitbürger:innen. Die prospektiv angelegte Zeitdiagnose ist aber auch für Nicht-Deutsche lesenswert.
Wenn Steinmeier die multiplen Krisen und epochalen Herausforderungen unserer Zeit beleuchtet, berücksichtigt er auch die Perspektive der davon unterschiedlich betroffenen Menschen. In den Chor derer, welche die deutsche Gesellschaft als zersplittert und polarisiert beschreiben, stimmt er nicht ein. Vielmehr sieht er die Diversität der Biografien im «Land mit Migrationshintergrund» (S. 136) als Basis für eine plurale deutsche Republik, wo Zusammenhalt nicht durch Nationalismus, sondern durch Kooperation und demokratische Praxis entsteht.
Deutschland muss nicht nur eine gigantische ökologisch-ökonomische Transformation bewältigen, sondern auch «eine Gesellschaft einen, die durch viele Herkünfte und Identitäten geprägt ist» (S. 124). Steinmeier will seine Landsleute angesichts dieser kolossalen Aufgaben dazu ermutigen, «politikfähig» zu werden, statt nur «Objekt der Verhältnisse zu sein» (S. 115) – konkret: an demokratischen Institutionen zu partizipieren und sich in Parteien und sozialen Verbänden zu engagieren, um gemeinsam «politische Handlungskraft» zurückzugewinnen (S. 117).

Florian Bieber: Pulverfass Balkan. Wie Diktaturen Einfluss in Europa nehmen. Berlin, 2023

Der Westen ist auf dem (West-)Balkan gescheitert. Dies ist das Fazit des Politologen Florian Bieber. Weil es vor allem der EU nicht gelungen ist, den Westbalkan in ihre Strukturen zu integrieren, gerieten die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens in den Zustand des «State Capture». Mit diesem Begriff ist mehr als schlichte Korruption gemeint. Er steht für einen Sachverhalt, in dem der gesamte Staatsapparat von einzelnen Parteien und Individuen kontrolliert und systematisch für deren eigene Zwecke missbraucht und ausgeblutet wird. Die auf diese Weise gekaperten Staaten bilden ein bequemes Einfallstor für Länder, die Bieber als die «Illiberale Internationale» bezeichnet: Russland, China, Türkei sowie die Arabischen Emirate zusammen mit Saudi-Arabien.
Anhand von Fallbeispielen rekonstruiert Bieber die Einflussnahmen der «Illiberalen Internationale». Darunter zu finden sind äusserst fragwürdige Infrastrukturprojekte wie Autobahnen ins Nirgendwo, Slapstick-reife Putschversuche, persönliche Beziehungen der Autokraten untereinander oder kulturelle Erzeugnisse mit propagandistisch-populistischen Inhalten. So profitieren die lokalen fragilen Autokratien von ihren internationalen und mächtigeren Pendants. Dies zu Schaden der Bewohner:innen des Westbalkans und der Stabilität Gesamteuropas.
Biebers allgemeines Fazit fällt etwas schwachbrüstig aus, doch sind seine Darstellungen der verschiedenen Verstrickungen fesselnd und aufschlussreich. Damit stellt sein Buch eine wertvolle Analyse der Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre auf dem Westbalkan dar und einen konzisen Überblick zur aktuellen Sachlage, die leider nicht sehr ermutigend ist.

Sofi Oksanen: Putins Krieg gegen die Frauen. Köln, 2024

Der 300-seitige Essay der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen analysiert Dimensionen und Funktionen der Frauenfeindschaft im Putin-Regime. Aus estnischer Sicht, so Oksanen, wirke der Ukrainekrieg, «als würde der Replay-Knopf ständig gedrückt gehalten, denn Russland folgt dem gleichen Handbuch wie in seinen früheren Eroberungskriegen». Neben Zerstörung, Propagandalügen und Deportationen gehöre dazu der Einsatz sexueller Gewalt. Oksanen stellt dabei den Bezug zu ihrer Familiengeschichte her: Ihre Grosstante wurde bei der sowjetischen Invasion im Zweiten Weltkrieg beim Verhör durch Rotarmisten vergewaltigt und blieb danach zeitlebens stumm. Anhand des Krieges gegen die Ukraine rekonstruiert Oksanen die physischen, psychischen und symbolischen Dimensionen sexueller Gewalt als Werkzeug kolonialer Expansion und Machtausübung. Zugleich analysiert sie die wichtige Rolle von Sexismus und Homophobie für die autokratische Herrschaft in Russland mit dem machistischen Personenkult um den Präsidenten, Desinformationskampagnen, deren antiwestliches Narrativ sich auch auf Frauenrechte bezieht, und Kontinuitäten aus dem Sowjetregime in Herrschaftssprache und Feindbildern. Im Kontrast dazu steht etwa der Aufstieg von Politikerinnen in Spitzenämter in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und Ostblockstaaten. Oksanens Essay verwebt historisches Sachwissen, persönliche Erfahrungen und Gegenwartsanalyse zu einem scharfsinnigen, freilich deprimierenden Gesamtbild.

Weitere Literatur zum Thema in der Bibliothek des Sozialarchivs (Auswahl):

  • Stanislav Aseyev: Heller Weg. Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017–2019. Stuttgart, 2021 (Signatur 148047)
  • Stanislaw Assejew: In der Isolation. Texte aus dem Donbass. Berlin, 2020 (Signatur 147698)
  • Kerstin Bischl: Frontbeziehungen. Geschlechterverhältnisse und Gewaltdynamiken in der Roten Armee 1941–1945. Hamburg, 2019 (Signatur 141219)
  • Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft. Frankfurt, 1978 (Signatur 61374)
  • Sarah K. Danielsson (Hg.): War and sexual violence. New perspectives in a new era. Paderborn, 2019 (Signatur 143220)
  • Miriam Gebhardt: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs. München, 2015 (Signatur 131520)
  • Dan Healey: Russian homophobia from Stalin to Sochi. London, 2018 (Signatur 146090)
  • Christina Lamb: Unsere Körper sind euer Schlachtfeld. Frauen, Krieg und Gewalt. München, 2020 (erwartet)
  • Pussy Riot: Ein Punkgebet für Freiheit. Hamburg, 2012 (Signatur 127892)
  • Martina Ritter (Hg): Zivilgesellschaft und Gender-Politik in Russland. Frankfurt, 2001 (Signatur 108114)
  • Alexandra Stiglmayer (Hg.): Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen. Freiburg, 1993 (Signatur 95182)
  • Marcel H. van Herpen: Putin’s wars. The rise of Russia’s new imperialism. Lanham, 2015 (Signatur 136069)
  • Gaby Zipfel et al. (Hg.): Vor aller Augen. Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten. Hamburg, 2021 (Signatur 147087)
16. September 2024Susanne Brügger zurück