Im Schatten der Achtziger Jugendunruhen in den Schweizer Grossstädten kam es auch in Winterthur zu wiederholten gewaltsamen Konfrontationen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Der Historiker Miguel Garcia hat nun vierzig Jahre nach dem tragischen Kulminationspunkt der sogenannten «Winterthurer Ereignisse» Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt.
Die frühen 1980er Jahre waren vielerorts äusserst unruhig und konfliktreich, die Jugend in Zürich, Bern, Basel und Lausanne rebellierte. Sie forderte autonome Jugendzentren, günstigen Wohnraum, ein grösseres Kulturangebot und ganz allgemein weniger Spiessigkeit. Die bürgerlich dominierte Schweiz reagierte weitgehend verständnislos und mit einem Übermass an polizeilicher Repression bei Demonstrationen und Hausbesetzungen; die Jugendbewegung ihrerseits verhielt sich wenig kompromissbereit. Es herrschte ein kaltes und gleichzeitig erhitztes Klima der gegenseitigen Feindschaft.
In Zürich entspannte sich die Lage erst nach zwei Jahren wieder. Allerdings war der Preis dafür hoch: Die Stadtregierung hatte beschlossen, das «Autonome Jugendzentrum», Sinnbild und zentrale Forderung der «Bewegung», zu schleifen. Viele Bewegte gerieten daraufhin in eine Art Schockstarre, aus der manche in eine Depression oder in die Drogensucht abglitten, manche in Resignation verfielen. Andere orientierten sich neu und landeten in der Kreativwirtschaft, der Gastronomie oder bei den Medien.
In Winterthur rebellierten die Jugendlichen zwar in den frühen 1980er Jahren etwa gegen einen Grossauftrag des Industrieunternehmens Sulzer für die argentinische Militärjunta oder gegen die Wehrschau der Schweizer Armee, regelmässige Demonstrationen wie in den Grossstädten fanden jedoch nicht statt. Die alternative Szene blieb überschaubar, man traf sich in wenigen Lokalen und wohnte in WGs. Polizei und Justizbehörden auf der anderen Seite agierten mit einer Mischung aus Übereifer, Misstrauen und Abneigung gegen alles, was nicht dem bürgerlichen Mainstream entsprach: WGs wurden überwacht, Telefonleitungen angezapft, Personen willkürlich kontrolliert. Übergriffe auf die körperliche Integrität durch die Polizei waren an der Tagesordnung. Die «Wintis», wie die Winterthurer Bewegten bald bezeichnet wurden, reagierten mit Farb- und später mit Brandanschlägen, im Visier waren Infrastruktureinrichtungen oder Militärfahrzeuge, einmal auch das Stadthaus.
1984 spitzte sich die Lage zu: Im August kam es zu einem Sprengstoffanschlag auf das Wohnhaus des damaligen Bundesrats Rudolf Friedrich. Die Polizei reagierte auf diese nächste Eskalationsstufe mit einer koordinierten Razzia in den einschlägigen Winterthurer WGs und verhaftete Dutzende Jugendliche, darunter auch den Künstler Aleks Weber als vermeintlichen Drahtzieher der Gewaltaktionen und seine Freundin Gaby. Was genau in den Wochen danach im Winterthurer Untersuchungsgefängnis geschah, wird wohl erst nach Aktenöffnung klar werden. Traurige Tatsache ist, dass sich Gaby nach einem stundenlangen Verhör durch die ermittelnde Bundespolizei in der Zelle erhängte.
Ereignisgeschichtlich sind die Vorfälle in Winterthur gut aufgearbeitet: Es existieren neben unzähligen Zeitungsartikeln ein faktenreicher Wikipedia-Artikel und ein Eintrag im «Winterthur Glossar» der Winterthurer Bibliotheken (www.winterthur-glossar.ch/winterthurer-ereignisse). Bereits 1986 veröffentlichte der Journalist Erich Schmid seine Reportage «Verhör und Tod in Winterthur», welche wiederum die Grundlage für den gleichnamigen Film von Richard Dindo aus dem Jahr 2001 bildete. Trotzdem blieb vieles im Dunkeln. Vor allem die Frage, weshalb in Winterthur die Ereignisse derart eskalierten und warum Polizei und Justizbehörden zu Mitteln griffen, die der Sachlage nicht angepasst waren. Das Oral-History-Projekt «Winterthurs wilde 80er» von Miguel Garcia versucht deshalb, die dramatischen Ereignisse von 1984 zeitlich und thematisch in einen erweiterten Kontext zu stellen. Er führte im Sommer und Herbst 2023 Interviews mit dreizehn Personen aus Winterthur, die direkt oder indirekt in die Ereignisse involviert waren oder sich beruflich und politisch intensiv damit auseinandergesetzt haben. Die ausführlichen Gespräche dauern je rund eine Stunde.
Am bewegendsten sind die Interviews mit den direkt am Geschehen Beteiligten: Francisco Manzanares, Reynald Braun, Robert Schneider und Jürg Feuz gehörten zum harten Kern der «Wintis» und tauchten zum Teil schon in Schmids Buch oder Dindos Film auf. Sie schildern anschaulich, wie polizeiliche Repression und behördliche Überwachung sich auf ihr Leben auswirkten. Die Folgen waren teilweise einschneidend: Einer der Protagonisten tauchte jahrelang im Ausland unter, mehrere wandten sich – teils aus aktivem Protest, teils aus Verzweiflung – den harten Drogen zu. Interessant sind auch die Einblicke in das Innenleben der «Szene», deren radikaler Kern offenbar kaum mehr als zwanzig Personen umfasste. Zu diesen gesellten sich knapp hundert Sympathisant:innen, die in den Winterthurer WGs verkehrten. Auch das Interview mit Aleks Webers Mutter Anna-Maria führt vor Augen, wie existenziell die Konsequenzen der harten Haltung der Behörden sein konnten: Nach Gabys Selbstmord Ende 1984 wurde Aleks selber 1985 in einem Jahre später als unverhältnismässig aufgehobenen Urteil zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Mutmasslich im Gefängnis infizierte er sich mit AIDS und verstarb 1994. Im selben Jahr starb auch sein Vater, der als Folge der «Ereignisse» schon in den 1980er Jahren erkrankt war.
In den Interviews mit Ernst Wohlwend, Andreas Mösli oder Françoise Gremaud erfährt man, wie sich die Parteienlandschaft in Winterthur ab den 1970er Jahren diversifizierte, wer in der Presse das Sagen hatte und wie kümmerlich sich die Gastroszene präsentierte. Die über Jahrzehnte in Winterthur verankerten Persönlichkeiten betten die Ereignisse in einen grösseren Kontext ein und erweitern den Horizont der bisherigen, stark auf den dramatischen Höhepunkt 1984/85 fixierten Darstellungen um die gesellschaftlichen Veränderungen in der Zeit danach. Denn nachdem ihre Autonomieexperimente von staatlicher Seite abgewürgt worden waren, hatte die Jugendbewegung der 1980er mit ihrem kreativen Aufbruch, ihrem Experimentieren mit alternativen Lebens- und Arbeitsformen und ihrer Suche nach Alternativen zum Konsum als Lebensinhalt in der Folge doch wesentlichen Anteil an der Gründung diverser Genossenschaften, bei der überfälligen Liberalisierung des Gastronomiegewerbes und an vielfältigen gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen.
Insgesamt schlägt einem aus vielen Interviews eine unversöhnliche Grundhaltung entgegen, die repressiven Massnahmen und Übergriffe sind offensichtlich nicht vergessen, eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Ereignissen hat offenbar bis heute nicht stattgefunden. Die Behörden haben sich auch nachträglich nie zu ihrer Verantwortung geäussert. Der damalige stellvertretende Bezirksanwalt Peter Marti, der mit seinen Ermittlungsmethoden für viel Kritik gesorgt hatte und bei den «Wintis» noch heute als Feindbild gilt, wollte sich trotz eines Vorgesprächs nicht an Garcias Oral-History-Projekt beteiligen. Dennoch bleibt zu hoffen, dass dieses Anlass für eine erneute und umfassende Beschäftigung mit den «Winterthurer Ereignissen» bietet.