Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer; Jenny Erpenbeck, Anja Maier, Steffen Mau, Gary Van Zante: Ein Dorf, 1950-2022. Stuttgart, 2024
Filmische und fotografische Langzeitdokumentationen sind zugleich Momentaufnahmen als auch Zeugnisse der Spuren der Zeit. Für die ehemalige DDR waren bisher die Dokumentarfilmreihen «Wittstock» (1975-1997) von Volker Koepp über die Veränderungen im Leben von drei Arbeiterinnen der dortigen Textilindustrie oder «Die Kinder von Golzow» (1961-2007) über die unterschiedlichen Lebensläufe von achtzehn ehemaligen Schüler:innen einer Landschulklasse in Brandenburg zu nennen.
Ein sehr spezielles Langzeitfotoprojekt gesellt sich mit dem vorliegenden, vollendet konzipierten und gestalteten Bildband über das thüringische Dorf Berka hinzu. Speziell, weil hier drei unterschiedliche Fotograf:innen aus zwei verschiedenen Generationen am Werk waren, die aber untereinander familiär und selber biografisch mit dem Dorf Berka verbunden sind. Ihre Fotografien aus den 1950er Jahren, von 1977/78, 1998 und 2021/22 bestehen in ihrer künstlerischen Bildsprache je für sich, ergeben in ihrer Gesamtheit jedoch zusätzlich eine einmalig präzise «Anschauung» davon, was der «Wandel der Zeit», zumal mit einer Zäsur, wie sie Ostdeutschland 1989/90 erlebt hat, gesellschaftlich in einem Dorfleben anrichtet.
Die begleitenden Textbeiträge schmiegen sich wunderbar an das, was in den Fotos bereits da ist: Sie reflektieren das in den Fotos sichtbar Konkrete, ohne es intellektuell zu überblenden. Während der Soziologe Steffen Mau die Fotochronik aus dorfsoziologischer Perspektive liest, lässt sich die Autorin Jenny Erpenbeck auf das fotografisch ermöglichte Erinnern ein und streut in ihren literarischen Text mündliche Kommentarsplitter aus den Dialogen ein, welche die Berk’schen beim gemeinsamen Ansehen der Fotos von ihrem Dorf geführt haben.
Bruno Meier, Denise Schmid: 25 x die Schweiz. Eine Zeitreise. Zürich, 2024
Der Buchverlag «Hier und Jetzt» feiert sein 25-Jahr-Jubiläum – natürlich mit einem Buch. Seit der Gründung des Verlags verfolgen die Verleger:innen die Idee, Bücher herauszugeben, welche historische Inhalte einem breiten Publikum zugänglich machen und dabei einen hohen gestalterischen Anspruch erfüllen. Lokal verwurzelt und politisch unabhängig will der Verlag einen Beitrag an eine vielfältige, weltoffene Schweiz leisten und hat so im wahrsten Sinn des Wortes ein Stück Schweizer Geschichte geschrieben.
In 25 Essays zeigen Denise Schmid und Bruno Meier die Themenvielfalt des Verlagsprogramms auf, welches mittlerweile 700 Titel zählt. Dabei bedienen sie nicht die immer gleichen Mythen und Klischees über die Schweiz, sondern legen ihr Augenmerk auf Besonderheiten, welche die Schweiz ausmachen. So erzählen die unterhaltsamen Artikel beispielsweise, wie sich das Birchermüesli international durchsetzen konnte, wie man in der Schweiz stirbt oder über den jahrzehntelangen «Chrampf» um die Gleichstellung der Frauen. Am Ende jedes Essays ist vermerkt, welche Bücher zum Thema bei «Hier und Jetzt» erschienen sind.
Der Grossteil der Titel ist im Bestand des Sozialarchivs auffind- und via swisscovery bestellbar.
Franz Mauelshagen: Geschichte des Klimas. Von der Steinzeit bis zur Gegenwart. München, 2023
Das Buch des Bielefelder (ehemals Zürcher) Historikers Franz Mauelshagen gibt auf 120 Seiten einen gut lesbaren Überblick über 15’000 Jahre Mensch-Klima-Beziehungen. Mit dem Übergang ins Erdzeitalter des Holozäns vor 11’700 Jahren begann eine bis heute anhaltende Warmzeit. Periodische Vereisungen weiter Teile Europas wie zuvor im Pleistozän gab es nicht mehr. Dies ermöglichte die jungsteinzeitliche Etablierung der Landwirtschaft als grösste gesellschaftliche Umwälzung der Menschheitsgeschichte. Kleinere Klimaschwankungen, die weiterhin vorkamen, hatten aber oft gravierende Konsequenzen und werden als Ursachen für den Kollaps verschiedener Kulturen diskutiert. Auch die ersten zwei nachchristlichen Jahrtausende waren von solchen Schwankungen geprägt: Auf das «römische Optimum» folgten die «spätantike kleine Eiszeit», die «mittelalterliche Klimaanomalie» und die «kleine Eiszeit» von 1450 bis 1850.
Mit der Industrialisierung wurde die Mensch-Klima-Beziehung komplexer. Die Menschheit muss seither nicht mehr nur auf Klimaschwankungen reagieren, sondern ist durch den Ausstoss von Kohlendioxid infolge der massiven Expansion fossiler Energienutzung selber zu deren wichtigstem Treiber geworden. Die entsprechende Erderwärmung begann um 1900, stagnierte dann von 1945 bis 1975 und setzt sich seither beschleunigt fort. Wie das Buch verdeutlicht, unterscheidet sie sich in ihrem Ausmass wie auch in ihrer Geschwindigkeit dramatisch von den Klimaschwankungen der vorangegangenen Jahrtausende.
Nikolaj Schultz: Landkrank. Ein Essay. Berlin, 2024
Der «ethnografiktive» Essay kombiniert persönliche Erzählung mit philosophischer Reflexion. Dass Schultz ein enger Mitarbeiter von Bruno Latour war, merkt man an den philosophischen und soziologischen Referenzen, aber auch daran, dass der Text manchmal nur knapp am intellektuellen Kitsch vorbeischrammt. Das Vorwort der deutschen Ausgabe schrieb die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, das Nachwort Dipesh Chakrabarty.
Der Plot: Der Erzähler flieht vor der ihn physisch und mental niederdrückenden Pariser Hitze auf eine Insel. Vergeblich. Wegen des Klimawandels und wegen des Massentourismus wird auf Porquerolles das Trinkwasser knapp; der Boden, auf und von dem die Einheimischen leben, verschwindet sukzessive im Meer. Allegorische Segelschifffahrt zurück aufs Festland.
Schlaflos in Paris: «Während mein Körper mit den Bettlaken kämpft, wird mir klar, dass meine Zukunft in der Vergangenheit meiner Grossmutter begraben ist. Die räumliche Trennung zwischen der Welt, in der man lebt, und der Welt, von der man lebt, war stets verbunden mit einer zeitlichen Trennung zwischen der Zeit, in der man lebt, und der Zeit, von der man lebt.» (S. 29) In solchen Passagen konvergiert körperlich erfahrene Betroffenheit mit abstrakten Konzepten wie der Klimagerechtigkeit, wobei sich der privilegierte westeuropäische Intellektuelle eingestehen muss: «Das Problem bin ich.» (S. 20)
Einsichten auf der Insel: Menschliche Subjekte hinterlassen Spuren, die für andere biologische und geologische Entitäten existenzielle Konsequenzen haben. Der Mensch interagiert permanent und unausweichlich mit anderen «terrestrischen Agenzien» (S. 60). Der aufklärerische Mythos vom autonomen Individuum hat in der Ära des Anthropozäns ausgedient.
Morena Pedruzzi : Risollevarsi. La mia vita dopo un attentato terroristico. Bellinzona, 2021
Il 28 aprile, alle 10.30, una bomba è esplosa nel Café Argana, nel centro di Marrakech (Marocco). Il sanguinoso bilancio: 17 morti e 30 feriti. Tra le vittime ci sono quattro ticinesi. Tre di loro sono morti. Corrado Mondada († 27) e André da Silva († 23) sono morti sul posto. Cristina Caccia († 25) ha ceduto alle ferite il 6 maggio. Solo Morena Pedruzzi (26 anni) è sopravvissuta.
I piedi di Morena sono stati strappati nell’attacco di Al-Qaeda. Le schegge di bomba nel suo corpo hanno causato pericolose infezioni. La 26enne ha trascorso un lungo periodo in terapia intensiva del reparto ustioni dell’Ospedale Universitario di Zurigo e in riabilitazione presso la Clinica Balgrist a Zurigo. Dopo ben tre mesi, poté tornare a casa dalla sua famiglia in Ticino. Dieci anni dopo, ha scritto questo libro sull’attentato, che divide la sua vita in un prima e un dopo.
Descrive vividamente i giorni spensierati in Marocco, la bomba che ha sconvolto la sua vita come un fulmine, il lungo percorso di recupero, la vita con le ferite fisiche ed emotive, il suo ritorno al lavoro come ergoterapista pediatrica. Una donna eritrea le parla della sua infermità e le dice che è abituata alle persone disabili. Fa parte della vita quotidiana del suo Paese.
Una storia toccante che purtroppo è disponibile solo in italiano.
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Wieder aufstehen. Mein Leben nach einem terroristischen Attentat
Am 28. April um 10.30 Uhr explodierte im Café Argana im Zentrum von Marrakesch (Marokko) eine Bombe. Die blutige Bilanz: 17 Tote und 30 Verletzte. Unter den Opfern vier Tessiner:innen. Drei von ihnen starben. Corrado Mondada († 27) und André da Silva († 23) sind vor Ort gestorben. Cristina Caccia († 25) ist ihren Verletzungen am 6. Mai erlegen. Nur Morena Pedruzzi (26) überlebte.
Morenas Füsse wurden beim al-Qaida-Attentat zerfetzt. Bombensplitter in ihrem Körper lösten gefährliche Infektionen aus. Die 26-Jährige verbrachte längere Zeit auf der Intensivstation der Verbrennungsabteilung des Unispitals Zürich und in der Reha in der Balgrist-Klinik in Zürich. Nach gut drei Monaten konnte sie nach Hause zu ihrer Familie ins Tessin. Zehn Jahre später schreibt sie dieses Buch über das Attentat, das ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt.
Eindrücklich beschreibt sie die unbeschwerten Tage in Marokko, die Bombe, die wie ein Donnerschlag ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellt, ihren langen Weg zur Genesung, ihr Leben mit den körperlichen und seelischen Wunden, ihr Weg zurück zur Arbeit als Ergotherapeutin mit Kindern. Eine Eritreerin spricht sie auf ihr Gebrechen an und sagt ihr, dass sie an versehrte Menschen gewohnt ist. In ihrem Land gehört dies zum Alltag.
Ein berührender Bericht, den es leider nur auf Italienisch gibt.