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Vor 115 Jahren: Die Gründung des Sozialarchivs im «Kosakensommer»

Am 27. Juni 1906 wurde im Zürcher Zunfthaus zur Waag die «Zentralstelle für Soziale Literatur der Schweiz», das heutige Sozialarchiv, gegründet. Am selben Abend ereigneten sich wenige Kilometer entfernt hitzige Szenen zwischen Streikenden und Streikbrechern vor der Fabrik der Automobilwerke Arbenz in Albisrieden. Wie hingen die beiden Ereignisse zusammen?

Streiks und Unruhen im In- und Ausland

Die Unruhen in Albisrieden waren Teil einer Streikwelle, die in den Jahren 1904 bis 1907 ganz Europa erfasste und auch in der Schweiz heftige Ausläufer zeitigte: Hatte es in der Stadt Zürich 1902 und 1903 je 15 Streiks gegeben, so waren es 1904 28 und 1905 38, 1906 aber deren 50. Schweizweit gab es in den Spitzenjahren 1906 265 Streiks mit 25’329 Beteiligten und 1907 sogar 282 Streiks mit 52’777 Beteiligten, etwa viermal so viele wie in den vorangegangenen Jahren. Auch andere Länder verzeichneten Spitzenwerte, die weit über dem Durchschnitt der Vorjahre lagen: 1906 ereigneten sich im Deutschen Reich 3’626 Streiks, in Frankreich 1’309, in der österreichischen Reichshälfte der Donaumonarchie 1’083 und in England 486. Diese Streikwelle erfolgte auf dem Höhepunkt eines Konjunkturzyklus. Die Industrie war seit 1904 rasch gewachsen, die Reallöhne stiegen aber weit weniger stark. Zugleich nahm etwa in der Stadt Zürich die Wohnungsnot zu. Hinzu kamen politische Massenstreiks im Ausland: Während der durch den russisch-japanischen Krieg ausgelösten revolutionären Unruhen in Russland von 1905/06 gab es zahlreiche Arbeitsniederlegungen, die Ende 1905 in einen Generalstreik und den Moskauer Aufstand mündeten. In der Donaumonarchie weiteten sich Bummelstreiks der böhmischen Eisenbahner im November 1905 zu grossen Kundgebungen in Wien und Prag aus, an denen Hunderttausende das allgemeine Männerwahlrecht forderten, das dann in der österreichischen Reichshälfte in der Tat kurz darauf eingeführt wurde. Wie in anderen westeuropäischen Staaten nahm man in der Schweiz an den Vorgängen in Russland und Österreich lebhaften Anteil. In der Arbeiterbewegung intensivierten sich die Diskussionen um den politischen Massenstreik. Daran nahm auch Robert Grimm teil, der dann 1918 die zentrale Figur im schweizerischen Landesstreik wurde.

Die Ereignisse von 1906 in Zürich sollten fünf Jahre später von Max Tobler, dem Präsidenten der Zürcher Arbeiterunion, als «Kosakensommer» bezeichnet werden. Bereits im Februar traten die Gipser und Parkettleger in den Ausstand, im April die Maler und Maurer, im Mai die Bauhandlanger, Steinhauer, Gipser und Zimmerleute. Am 15. Juni begannen 76 Metallarbeiter der Automobilwerke Arbenz in der damals noch selbständigen Vorortsgemeinde Albisrieden zu streiken. Sie forderten die Wiedereinstellung eines Arbeiters, dem wegen seiner Funktion als Werkstattdelegierter gekündigt worden war, die Entlassung zweier Werkmeister sowie 10 Prozent mehr Lohn. Tags darauf entliess der junge Firmeninhaber die gesamte Belegschaft und stellte Streikbrecher ein. Hinter Arbenz stand der kurz zuvor gegründete Arbeitgeberverband Schweizerischer Maschinenindustrieller (ASM), die Streikenden, die zunächst auf eigene Faust gehandelt hatten, wurden von der Metallarbeitergewerkschaft unterstützt. Nach einigen Tagen begann der Arbeitskampf zu eskalieren: Am 27. Juni demonstrierten etwa 500 Arbeiter vor der Fabrik und verfolgten einzelne Streikbrecher. Fünf Tage darauf trafen Steinwürfe das Auto des Firmeninhabers, was zwei Verhaftungen nach sich zog. Daraufhin versetzte die Kantonsregierung militärische Einheiten in Alarmbereitschaft. Wenig später wurden in der Nähe der Kaserne Zürich zahlreiche antimilitaristische Plakate angebracht. Am 5. Juli traten auch die Maurer erneut in den Ausstand. Am folgenden Abend fanden Delegiertenversammlungen der Arbeiterorganisationen statt, die für den Fall eines Truppenaufgebots den Generalstreik androhten. Am 10. Juli legte das neugeschaffene städtische Einigungsamt einen Vergleichsvorschlag für den Bau vor, den die Arbeitgeber jedoch ablehnten.

Am Abend des 16. Juli eskalierte in Albisrieden die Gewalt. Zahlreiche Streikende waren vor die Arbenz-Fabrik gezogen, um die Streikbrecher abzupassen. Als das mit drei Kantonspolizisten bestückte Automobil des Direktors vorfuhr, legten Streikende eine Zementröhre über die Strasse. Inzwischen hatten sich auch zahlreiche Albisrieder auf dem Platz versammelt, die von den Streikenden mit Begriffen wie «Bauernlümmel» beschimpft wurden. Plötzlich verbreitete sich das Gerücht, aus der Nachbargemeinde Altstetten sei ein Zug von mehreren hundert Arbeitern im Anmarsch. Die Albisrieder Bauern statteten sich daraufhin mit Äxten, Knütteln, Mistgabeln, Dreschflegeln, Sensen, Hacken und Peitschen aus. In dieser Situation, als sich die beiden Gruppen feindselig gegenüberstanden, traf eine Einheit der Kantonspolizei ein und führte die Arbeiter nach Zürich ab. Nachdem Polizei und Streikende verschwunden waren, verprügelten die Bauern einen Heizer und versuchten auch eines Gastwirts mit sozialdemokratischen Sympathien habhaft zu werden, der sich aber in seinem Weinkeller versteckte. Als auch noch eine Gruppe von Schlossern und Mechanikern aus Altstetten, die den Streikenden zu Hilfe eilen wollte, an der Gemeindegrenze auftauchte, kam es zu einer Massenschlägerei, bei der etwa 30 Revolverschüsse abgegeben wurden. Schliesslich erschien ein zweites Mal die Polizei und nahm 32 Arbeiter fest.

Zwei Tage später erliess der Regierungsrat ein Verbot des Streikpostenstehens. Regelmässig kam es nun auch im angrenzenden Stadtquartier Aussersihl zu Menschenansammlungen und Attacken auf Streikbrecher. Am 17. Juli zertrümmerte eine Menge, in der sich auch Frauen und Jugendliche befanden, einen Tramwagen. Zwei Tage darauf bot der Regierungsrat 2’500 Mann Infanterie und 111 Kavalleristen aus der Zürcher Landschaft auf und versetzte ein weiteres Bataillon in Alarmbereitschaft. Noch am selben Tag kam es zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Kavallerie, die mit gezogenem Säbel Arbeiter durch die Strassen trieb. Es gab zahlreiche Verletzte. Trotzdem lehnten die Delegiertenversammlungen der Arbeiterunion und der Gewerkschaften mit deutlichem Mehr einen Generalstreik ab. Tags darauf wurden mehrere Personen wegen der Verbreitung antimilitaristischer Pamphlete verhaftet, darunter zwei sozialdemokratische Kantonsräte. Auch kam es erneut zu Zusammenstössen zwischen Militär und Demonstranten. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte, wurden die Truppen am 31. Juli entlassen.

Am 3. August lancierte der rechts von den beiden grossen bürgerlichen Parteien der Demokraten und Freisinnigen stehende «Bürgerverband» eine Volksinitiative für eine bedeutende Verschärfung des kantonalen Strafgesetzbuches bezüglich Streikvergehen. In zwei Monaten wurden dafür 18’776 Unterschriften gesammelt. Anderthalb Jahre später sollte das Zürcher Stimmvolk einen gemässigteren Gegenvorschlag des Kantonsrates gutheissen. Nachdem der Zürcher Stadtrat eine Demonstration der Arbeiterunion verboten hatte, führte diese am 7. August einen kollektiven «Spaziergang» durch, tags darauf «spazierten» die Mitglieder des Holzarbeiterverbandes. Daraufhin erliess der Stadtrat ein Verbot für weitere «Spaziergänge», und der Regierungsrat bot die Kavallerieschwadron 18 auf. Mitte August wurde die Ausweisung von 30 Ausländern verfügt, darunter des seit 13 Jahren in Zürich lebenden «Volksrecht»-Redaktors Emil Hauth. Gleichzeitig erliess der Regierungsrat ein generelles Demonstrationsverbot im Zusammenhang mit den Streiks. Die Arbeiterpresse zog nun allenthalben Parallelen zum Vorgehen des zaristischen Sicherheitsapparates bei den Aufständen von 1905/06.

Am 20. August wurde der Maurerstreik abgebrochen. Vier Tage darauf fand ein Militärgerichtsprozess gegen sechs Personen statt, die der Verbreitung antimilitaristischer Propaganda beschuldigt wurden. Das Gericht verurteilte den sozialdemokratischen Kantonsrat Johannes Sigg wegen «vollendeter Meuterei» zu acht Monaten Gefängnis. Die übrigen Angeklagten, darunter auch eine Frau, wurden freigesprochen. Vom 27. August bis 17. September debattierte der Kantonsrat über den Regierungsbericht zu den Ereignissen, bei denen 165 Personen festgenommen worden waren, sowie über mehrere Interpellationen. Die bürgerliche Ratsmehrheit hiess die Truppenaufgebote, deren Kosten sich auf 75’000 Franken beliefen, sowie die übrigen Massnahmen der Regierung gut. Herman Greulich, der «Vater» der Zürcher Arbeiterbewegung, rief dagegen aus: «Wir haben keine Niederlage erlitten. […] Wir wollen keine Revolution, aber das kann ich Ihnen sagen, wenn Sie unsere jahrzehntelangen Bestrebungen zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage noch weiter mit Polizei und Militär unterdrücken, so wird die Zeit nicht mehr ferne sein, wo wir in Zürich die Mehrheit haben.» Tatsächlich entstanden in den folgenden Monaten zahlreiche neue sozialdemokratische Parteisektionen und die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften stiegen massiv an; bis zur «roten» Mehrheit in Stadt- und Gemeinderat sollte es aber noch 22 Jahre dauern.

Schweizweit verzeichnete der Schweizerische Gewerkschaftsbund zwischen 1905 und 1907 eine Verdoppelung seiner Mitgliederzahlen. Auf der anderen Seite gründeten die Unternehmer, die seit dem späten 19. Jahrhundert in verschiedenen Wirtschaftsverbänden zusammengeschlossen waren, von 1905 bis 1907 in den unterschiedlichen Branchen eigentliche Arbeitgeberverbände, die sich spezifisch mit Arbeitsmarktkonflikten befassten und deren Mitgliederzahlen ebenfalls rasch anstiegen. 1908 wurde dann der Zentralverband schweizerischer Arbeitgeberorganisationen aus der Taufe gehoben. Auch auf der politischen Ebene verhärteten sich die Fronten: Nachdem die SP 1904 ein stärker marxistisch geprägtes Parteiprogramm beschlossen hatte, verzichteten die Freisinnigen in den Nationalratswahlen von 1905 auf den bislang zuweilen praktizierten «freiwilligen Proporz». Unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts hatte dies zur Folge, dass die SP trotz Stimmenzuwachs auf knapp 15 Prozent fünf ihrer bisherigen sieben Mandate verlor, darunter sämtliche Sitze im Kanton Zürich (vgl. Sozialarchiv Info 4/2019).

«Auf dem Boden strenger Neutralität»: Gründung der «Zentralstelle für Soziale Literatur» als überparteiliches Forum

Angesichts dieser gesellschaftlichen Konflikte, zunehmender Klassenkampfrhetorik und politischer Polarisierung war die Gründung einer Institution zum Studium sozialer, wirtschaftlicher und politischer Themen und Probleme mit überparteilicher Trägerschaft umso bemerkenswerter. Sie hatte einen ähnlichen Hintergrund wie zeitgenössische sozialreformerische Bestrebungen auf nationaler und internationaler Ebene, bei denen sich teilweise reformbürgerliche und kirchliche Kräfte, der reformistische Flügel der Arbeiterbewegung und für sozialpolitische Fragen sensibilisierte Nationalökonomen zusammentaten. So fand 1897 in Zürich auf Anregung des schweizerischen Arbeiterbundes eine internationale Konferenz mit Delegierten gemässigt sozialistischer Arbeiterverbände, Vertretern der katholischen Sozialreform und reformbürgerlichen Ökonomen statt, die ein umfassendes Arbeiterschutzprogramm postulierte. Drei Jahre später entstanden die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (IALL) und die Schweizerische Vereinigung zur Förderung des internationalen Arbeiterschutzes. Auf Initiative der IALL beschloss 1906 eine diplomatische Konferenz in Bern Abkommen zu Verboten der industriellen Nachtarbeit für Frauen sowie der Verwendung von weissem Phosphor in der Zündholzindustrie (vgl. Sozialarchiv Info 2/2019).

Die massgebliche Gründerfigur der «Zentralstelle für Soziale Literatur der Schweiz», der reformierte Pfarrer von Aussersihl und spätere sozialdemokratische Stadt- und Nationalrat Paul Pflüger, liess sich vom «Musée social» inspirieren, einem 1894 entstandenen sozialwissenschaftlichen Think-Tank in Paris mit Museum, Bibliothek und Forschungszentrum. Eine ähnliche Institution sollte auch in der Schweiz Wissen im Bereich der «sozialen Frage» im Dienste reformerischen Handelns bereitstellen und damit zum gesellschaftlichen Ausgleich beitragen. Im Vorfeld der Gründung besuchte der nachmalige erste Vorsteher Gustav Büscher ähnliche Institutionen im Ausland. Pflüger gab dann an der Gründungsversammlung seiner Hoffnung Ausdruck, «dass ein solches Institut nach dem Vorbilde des Musée social auf dem Boden strenger Neutralität einem guten Gedeihen entgegengehen möge».

Im Gründungsvorstand und der Bibliothekskommission der Zentralstelle sassen neben Pflüger je ein Vertreter der Stadt Zürich, der Kantons- und Stadtbibliothek, der «Neuen Zürcher Zeitung», der Sozialdemokratischen Partei und der katholischen «Neuen Zürcher Nachrichten» sowie drei Ökonomieprofessoren der Universitäten Zürich und Bern. Zu den Kollektivmitgliedern gehörten in der Gründungsphase unter anderem der Schweizerische Handels- und Industrieverein («Vorort»), der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein, der Schweizerische Katholische Volksverein, verschiedene sozialdemokratische und christlich-soziale Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände der Maschinen- und Textilindustrie, die Zürcher Handelskammer, der Kaufmännische Verein Zürich, der Zürcher Juristen-Verein, verschiedene Arbeiterinnen- und Arbeitervereine, der Lebensmittelverein Zürich, der Naturheilverein Zürich sowie verschiedene Kantons-, Stadt- und Gemeinderegierungen. Einzelmitglieder waren unter anderem zahlreiche Stadt-, Stände-, National- und Regierungsräte unterschiedlicher Parteien, der Bischof von St. Gallen, der Maschinenindustrielle Eduard Sulzer-Ziegler, der eidgenössische Arbeitersekretär Herman Greulich, ein Bankier, der zum Anarchismus neigende Aussersihler Arbeiterarzt Fritz Brupbacher und wenige Persönlichkeiten aus der Frauenstimmrechtsbewegung.

Aufbauend auf Pflügers privater Literatursammlung erwarb die neue Institution, die 1907 den Betrieb in einer Zweizimmerwohnung am Seilergraben aufnahm, zunächst primär Bücher und Kleinschriften zu gesellschaftlichen und politischen Themen, die in den bestehenden Zürcher Bibliotheken unterrepräsentiert waren. Dazu gehörte auch «graue» Literatur, Traktate und Flugblätter, die nicht über Verlage und den Buchhandel verbreitet und von den Bibliotheken kaum gesammelt wurden. Das rasche Wachstum der Bestände und der nationalen und internationalen Benutzerschaft widerspiegelte die Intensität der politischen und gesellschaftlichen Debatten der Zeit und machte bereits 1919 einen ersten Umzug (ins Erdgeschoss des ehemaligen Chors der Predigerkirche) nötig (vgl. Sozialarchiv Info 1/2016). Nicht abheben konnte dagegen ein verwandtes Projekt Pflügers, das «Schweizerische Sozialmuseum». Die 1916 gegründete, mit dem Statistischen Amt der Stadt Zürich verbundene Institution, die Objekte und Schautafeln zu wirtschaftlichen, demografischen, finanzwissenschaftlichen, sozial- und gesundheitspolitischen Themen präsentierte und die Verbreitung sozialwissenschaftlicher Kenntnisse in breiteren Bevölkerungskreisen bezweckte, war zunächst im Helmhaus untergebracht, dann ab 1928 im Beckenhof, vermochte jedoch nie ein grösseres Publikumsinteresse zu wecken.

Umstrittene Sozialwissenschaften an der Universität

Brachte die neue «Zentralstelle für Soziale Literatur der Schweiz» Interessengruppen und zivilgesellschaftliche Akteure aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kirchen und Wissenschaft zusammen, so waren an den Deutschschweizer Hochschulen die Gesellschaftswissenschaften zu jenem Zeitpunkt erst schwach vertreten. Es waren vor allem einzelne Nationalökonomen wie die in der Zentralstelle engagierten sozialliberalen Zürcher Professoren Heinrich Herkner und Heinrich Sieveking und der sozialdemokratische Berner Professor Naum Reichesberg, die sich mit der «sozialen Frage», Möglichkeiten der «sozialen Reform» sowie der sich herausbildenden Soziologie auseinandersetzten. Daneben befassten sich mit der «sozialen Frage» aber auch Mediziner, Psychiater und Naturwissenschaftler, die der um 1900 rasch aufkommenden Eugenik anhingen und als problematisch betrachtete soziale Phänomene wie Alkoholismus, Prostitution oder Kriminalität auf dem Weg des Eingriffs in die Vererbung bekämpfen zu können glaubten. Auch Paul Pflüger war als Vorsteher das Vormundschaftswesens im Zürcher Stadtrat solchen Ideen nicht abgeneigt. Diese Richtung, die die sozialen Probleme vor dem Hintergrund eines biologistischen Weltbildes angehen wollte, besass vor ihrer Diskreditierung im Nationalsozialismus auch in der Schweiz eine breite gesellschaftliche und politische Akzeptanz. An der Universität Zürich wurde sie ab 1921/22 von der «Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene» gepusht, der bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit Abstand finanzkräftigsten Institution der Forschungsförderung, die universitäre Projekte unterstützte.

Dagegen hatte die in anderen Ländern und auch an den Universitäten der Romandie zeitgleich aufkommende Soziologie in der Deutschschweiz einen schweren Stand. An der Universität Zürich gab es zwar im späten 19. Jahrhundert erste Impulse von Gustav Vogt, der zunächst Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amtes gewesen war, seit 1870 den Lehrstuhl für demokratisches Staatsrecht innehatte und zugleich von 1878 bis 1886 als Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» fungierte. Vogt machte sich 1897 in einem Gutachten für die Institutionalisierung der Soziologie stark und hielt dann, nachdem er damit nicht durchgedrungen war, in den Folgejahren selber gelegentlich soziologische Vorlesungen. Danach bot ab 1903 der Philosophie-Privatdozent Abroteles Eleutheropulos regelmässig sozialwissenschaftliche Lehrveranstaltungen an. 1904 publizierte er auch ein 196-seitiges Einführungswerk zur Soziologie, das allerdings die «soziale Frage» nur auf wenigen Seiten ansprach. Seine Bemühungen um Aufwertung des Faches Soziologie und Einrichtung eines Lehrstuhls blieben über Jahrzehnte vergeblich. 1929 wechselte er deshalb an die Universität Saloniki, verlor 1940 aber seine Professur aus politischen Gründen und verbrachte seinen Lebensabend als politisch Verfolgter in bitterer Armut.

Ab 1898 bot an der Universität Zürich auch der aus Odessa stammende Joseph Goldstein als Privatdozent für Statistik und Wirtschaftspolitik Lehrveranstaltungen mit soziologischen, sozialstatistischen, kriminologischen und sozialpolitischen Inhalten an. Just während der Streikwelle nach der Jahrhundertwende geriet er aber deswegen in einen Konflikt mit den Bildungsbehörden. Stein des Anstosses war eine Exkursion Goldsteins mit rund 40 Studierenden nach Winterthur zur Besichtigung der Fabriken der Gebrüder Sulzer im Juni 1904. Ende Oktober erhielt Goldstein einen Brief des Erziehungsdirektors, der ihn aufforderte, zu Klagen der Gebrüder Sulzer unverzüglich Stellung zu nehmen, dass er den Fabrikbesuch zu Zwecken «missbraucht» habe, «die ausserhalb der Bestimmung unserer staatlichen Lehranstalten liegen und die sich nicht einmal mit der Ehre des gewöhnlichen Mannes vertragen würden». Erziehungsdirektor Albert Locher war zuvor von Mitinhaber Eduard Sulzer-Ziegler, freisinnigem Nationalrat und wichtiger Figur in den Verbänden der Maschinenindustriellen, darüber informiert worden, Goldstein habe sich beim Fabrikbesuch «auf eigene Faust herumgetrieben», um die Belegschaft über die Arbeitsverhältnisse auszuhorchen. Weiter kritisierte Sulzer-Ziegler auch, «dass die Besucher bei uns in der Mehrheit aus russischen Studentinnen bestanden». Zwar habe Goldstein angekündigt, dass der Exkursionsgruppe auch Frauen angehören würden; «hätten wir aber gewusst, dass es die Mehrheit sei, hätten wir den Besuch, als nicht ernsthaft, überhaupt nicht zugelassen».

In seiner Antwort wies Goldstein Sulzers Beschuldigungen empört zurück und betonte, dass er beim Fabrikbesuch kaum ein paar Worte mit Arbeitern gewechselt habe und die Exkursionsgruppe lediglich zu einem Drittel weiblich gewesen sei. Auch beantragte er die Einleitung einer öffentlichen Untersuchung über die Angelegenheit. In der Folge wurden in Anwesenheit von Goldstein und Sulzer-Ziegler unter der Leitung des Erziehungsdirektors mehrere Exkursionsteilnehmer einvernommen. Gleich zu Beginn der ersten Sitzung fuhr Sulzer-Ziegler seinen Kontrahenten an, er wisse, dass dieser Sozialist sei, und die Sozialisten hätten ihm gegenüber «wiederholt die grössten Gemeinheiten begangen». Goldstein stellte demgegenüber klar, dass er keiner Partei angehöre. Nachdem die Befragungen der Studenten keine Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten oder parteiisches Benehmen Goldsteins geliefert und sich Sulzer-Ziegler mündlich entschuldigt hatte, verlangte Goldstein von Sulzer-Ziegler und Locher schriftliche Entschuldigungen und als Wiedergutmachung für seine durch die Affäre verursachte mehrwöchige Arbeitsunfähigkeit eine Spende Sulzer-Zieglers an verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen. Dies lehnten Locher und Sulzer-Ziegler ab.

Was als politisch motivierter Konflikt begonnen hatte, entwickelte sich nun zunehmend zu einem Ehrenhandel. Goldstein, der seine Ehre nicht wiederhergestellt fühlte, wandte sich an die Staatswissenschaftliche Fakultät, deren Dekan Emil Zürcher als Nationalrat Fraktionskollege von Sulzer-Ziegler und Locher war. Als die Fakultät beschloss, die Angelegenheit für abgeschlossen zu betrachten, richtete Goldstein schliesslich eine Beschwerdeschrift an den Kantonsrat, in der er schwere Vorwürfe gegen den Erziehungsdirektor erhob und die Lehrfreiheit in Gefahr sah. Die Presse berichtete nun ausführlich über den «Fall Goldstein». So enthüllten sozialdemokratische Blätter, die Affäre gehe auf die Denunziation durch einen Sohn des freisinnigen Nationalrats Eduard Bally zurück, der im Parlament zusammen mit Sulzer-Ziegler die Interessengruppe der Industriellen anführte. Die konservative «Freitagszeitung» meinte dagegen, Goldstein fehle als «Landesfremdem» zur Appellation an den Kantonsrat «jedes Recht», so dass dieser auf die «leidige und langweilige Geschichte» wohl nicht eintreten werde. Sogar in der Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie «Die Neue Zeit» erschien eine Rezension von Goldsteins Beschwerdeschrift durch den führenden marxistischen Theoretiker Karl Kautsky, welcher meinte, der «Fall Goldstein» beweise bloss, «dass das Protzentum und Philistertum in Zürich borniert genug ist, gegen Leute Misstrauen zu hegen, die in Breslau und München, ja selbst in Berlin als sichere Stützen des Staates betrachtet würden». Der Kantonsrat beschloss im «heissen» Juni 1906 mit 145 zu 60 Stimmen, auf Goldsteins Beschwerde nicht einzutreten. Dieser legte kurz darauf seine Privatdozentur nieder und übernahm eine Professur an der neu gegründeten Handelshochschule Moskau. Daraufhin sollte es noch sechs Jahrzehnte dauern, bis an der Universität Zürich 1966 nach Druck aus dem Kantonsrat endlich ein Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet wurde. Dessen erster Inhaber Peter Heintz übernahm dann 1966 auch sofort das Präsidium des Schweizerischen Sozialarchivs, das er bis 1971 innehatte.

Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl)

Archiv

  • Ar 2.20.5 Arbeiterunion Zürich: Vorstandsprotokolle 1905–1908
  • Ar 2.30.3 Arbeiterunion Zürich: Delegierten-Protokolle 1904–1907
  • Ar 22.60.1 Holzarbeiter-Verband Zürich: Protokoll der Sektions-Versammlung, 1904–1907
  • Ar 22.60.21 Holzarbeiter-Verband Zürich, Protokoll der Vorstands-Sitzung 1902–1907
  • Ar 42 Schweizerische Vereinigung für Sozialpolitik
  • Ar 101.20.2 Nachlass Fritz Brupbacher: Briefe 1904–1907
  • Ar 111 Nachlass Paul Pflüger
  • Hausarchiv des Schweizerischen Sozialarchivs VII/1 Historische Akten 1906–1940

Sachdokumentation

  • KS 000/30 Sozialwissenschaftliche Institutionen & Vereine: Frankreich
  • KS 000/33 Sozialwissenschaftliche Institutionen & Vereine: Schweiz
  • KS 335/79 Arbeiterunruhen & Streiks in der Schweiz
  • KS 335/79a Arbeiterunruhen & Streiks in der Schweiz
  • ZA 10.4 *1 Bibliotheken: Schweizerisches Sozialarchiv

Bibliothek

  • Bericht des Regierungsrates an den h. Kantonsrat betreffend die Streikunruhen in Zürich und Umgebung im Sommer 1906 (Vom 18. August 1906). o. O. u. J. [Zürich 1906], 331/256-16
  • Eleutheropulos, Abroteles: Soziologie. Jena 1904, 3075
  • Germann, Pascal: Laboratorien der Vererbung: Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz, 1900–1970. Göttingen 2016, 134822
  • Goldstein, J.[oseph]: Herr Regierungsrat Dr. A. Locher als Erziehungs-Direktor und die Lehrfreiheit an der Universität Zürich: Eine Beschwerde, dem hohen Kantonsrat des Kantons Zürich überreicht. Zürich 1906, 37/59-1
  • Grimm, Robert: Der politische Massenstreik. Basel 1906, 331/257-15
  • Grunenberg, Antonia (Hg.): Die Massenstreikdebatte. Frankfurt/M 1970, 42416
  • Häusler, Jacqueline: 100 Jahre soziales Wissen: Schweizerisches Sozialarchiv, 1906–2006 Zürich 2006, Gr 11277
  • Hirter, Hans: Die Streiks in der Schweiz in den Jahren 1880–1914: Quantitative Streikanalyse, in: ders. et al. (Hg.): Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914: Soziale Lage, Organisation und Kämpfe von Arbeitern und Unternehmern, politische Organisationen und Sozialpolitik, Bd. II/2. Zürich 1988. S. 837-1008, Gr 5438: 2/2
  • Huonker, Thomas: Diagnose: «moralisch defekt»: Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970. Zürich 2003, 111709
  • Kautsky, Karl: Rezension zu: Dr. J. Goldstein, Dozent an der Universität Zürich, Herr Regierungsrat Dr. A. Locher als Erziehungsdirektor und die Lehrfreiheit an der Universität Zürich, in: Die Neue Zeit 24/2 (1905/06). S. 236, NN 154
  • Koller, Christian: «Die russische Revolution ist ein reines Kinderspiel gegenüber derjenigen in Albisrieden!»: Der Arbenzstreik von 1906 in mikro- und kulturhistorischer Perspektive, in: Historische Anthropologie 11 (2003). S. 370-396, D 5365
  • Koller, Christian: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950). Münster/Wien 2009, 121626
  • Koller, Christian: Bibliotheksgeschichte als histoire croisée: Das Schweizerische Sozialarchiv und das Phänomen des Exils, in: Ball, Rafael und Stefan Wiederkehr (Hg.): Vernetztes Wissen – Online – Die Bibliothek als Managementaufgabe. Berlin 2015. S. 365-392, 132218
  • Koller, Christian: Die Rückkehr der Kosaken: Ordnungsdiensteinsätze bei Streiks vor und im Ersten Weltkrieg und die Schweizer Arbeiterbewegung, in: Olsansky, Michael (Hg.): Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg. Baden 2018. S. 241-258, 141525
  • Lengwiler, Martin: Undiszipliniert und prägend: Die Sozialgeschichte in der schweizerischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Maeder, Pascal et al. (Hg.): Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch: Festschrift für Josef Mooser zum 65. Geburtstag. Göttingen 2012. S. 57-87, 126748
  • Masé, Aline: Naum Reichesberg (1867–1928): Sozialwissenschaftler im Dienst der Arbeiterklasse. Zürich 2019, 142686
  • Platten, Fritz N. und Miroslav Tucek: Das Schweizerische Sozialarchiv. Zürich 1971, Hf 2935
  • Schaffner, Alfred: Wirtschaftslage, gewerkschaftliche Organisation, Streikhäufigkeit und ihre Beziehung zueinander: Eine Untersuchung am Beispiel der Stadt Zürich 1897–1915. Aarau 1977, 55987
  • Schweizerisches Sozialmuseum, in: Gewerkschaftliche Rundschau 20/4 (1928). S. 139, N 59
  • Steinemann, Eugen und Eduard Eichholzer: 50 Jahre Schweizerisches Sozialarchiv 1907–1957: Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen und zur Einweihung des neuen Sitzes des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich. Zürich 1958, Hf 2937
  • Tobler, Max: Ein Stück Klassenkampf in der Schweiz: Das Streikjahr 1906 in Zürich. Zürich o. J. [1911], B 161
  • Zürcher, Markus: Die Anfänge der Soziologie in der Schweiz. Diss. Univ. Bern 1994, Gr 8730
18. Juli 2021Christian Koller zurück