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Zeitnah nach dem Pertinenzprinzip dokumentieren

Eine kleine Theorie der Praxis

«Dokumentationen bereiten publizierte Dokumente so auf, dass sie gezielt auffindbar sind.» In diesem Satz ist der Zweck dokumentarischer Arbeit auf die kürzest mögliche Formel gebracht. Aber wie bereitet man Dokumente auf, dass sie für Nutzer/innen «gezielt auffindbar» sind? – Im Folgenden möchte ich als Verantwortliche für die Sachdokumentation im Sozialarchiv schildern, wie das konkret geht, wo die Praxis an die Grenzen der Theorie stösst und was das alles mit Foucault zu tun hat.

Sammeln

«Nahe am Puls der Zeit wurden im Berichtsjahr wiederum die gesellschaftlichen und politischen Geschehnisse in der Schweiz dokumentiert, indem die publizierte graue Literatur dazu laufend gesammelt, erschlossen und den Benutzenden zur Verfügung gestellt wurde.» So (2019) oder ähnlich beginnen jeweils die Texte zur Sachdokumentation für den Jahresbericht des Sozialarchivs. Um aktuelle Broschüren/Flugschriften zeitnah zu sammeln, muss man ihren Urhebern auf der Spur sein, denn es gibt keine Verlagskataloge, welche die Publikationen von Parteien, NGOs, Gewerkschaften, Think-Tanks, sozialen Bewegungen, Verbänden oder Abstimmungskomitees vermitteln.

Um graue Literatur zu sammeln, muss man also «an der Quelle» sein, weshalb die Broschüren/Flugschriften ab 1960 im Sozialarchiv auch «Quellenschriften» (QS) heissen. Früher operierte man mit einer Adresskartei der «Lieferanten», aber da war die Welt der Flugschriften noch analog und die Welt generell noch relativ statisch. Mit der Beschleunigung durch die Digitalisierung sind nicht nur viele Flugschriften auf Papier zu Netzschriften im «Portable Document Format» (PDF) mutiert, auch ihre Urheberschaft ist dynamischer geworden. Jede Gruppierung, die in unserem Sammelgebiet als Akteurin auftritt, kann ad hoc und ohne grossen Aufwand eine Website oder einen Social-Media-Kanal betreiben und ihre Positionen publizieren. Das gibt auch kurzlebigen Organisationen und Bewegungen die Chance, im öffentlichen Diskurs mitzuwirken. Also sollte das Sozialarchiv diese Verlautbarungen, sind ein paar formelle Voraussetzungen erfüllt, auch sammeln. Um sowohl traditionsreichen (z.B. Regierungsparteien oder Gewerkschaften) als auch jüngeren Organisationen (z.B. diverse Think-Tanks oder NGOs), sowohl älteren als auch neuen sozialen Bewegungen (z.B. Frauen-, Jugend- oder Friedensbewegung ebenso wie Klimastreik- oder LGBTQ-Bewegung) auf den Fersen zu bleiben, habe ich entweder deren Newsletter abonniert oder ich folge ihnen auf Social Media. Gesammelt wird, was den Sammelkriterien des Sozialarchivs im Allgemeinen und denjenigen der Sachdokumentation im Speziellen entspricht.

Erschliessen

Gedruckte Broschüren/Flugschriften (QS) werden für die Sachdokumentation erschlossen, indem sie datiert (Publikationsjahr) und einem (oder mehreren) der rund 1’200 Sachthemen zugeordnet werden. Bei digitalen Quellenschriften (DS) erfolgt die Datierung wenn möglich bis auf den Tag genau, und es werden noch einige Metadaten zusätzlich erfasst. Die Sacherschliessung folgt dabei dem Pertinenzprinzip: Für die Zuweisung zu einem Sachthema ist das in der Publikation behandelte Thema, nicht der Urheber ausschlaggebend. Ein Factsheet der SVP über die Schweizer Landwirtschaft kommt also ins Dossier «Agrarpolitik & Landwirtschaft in der Schweiz», nicht ins Dossier «Schweizerische Volkspartei (SVP)». Das Faktenblatt der FDP mit dem Titel «Was tut die FDP für KMU? – Vor und während der Corona-Zeit» wird dem Dossier «KMU» zugeordnet.

Oder doch eher dem Dossier «Krankheiten», in welchem alle QS und DS zu COVID-19 versammelt sind? Oder sogar zusätzlich auch dem Dossier «FDP», weil die Liberalen hier über sich selber schreiben? Wo wird ein zukünftiger Nutzer eher nach dem Faktenblatt suchen? Für welche Fragestellung einer zukünftigen Forschung könnte das Dokument von Interesse sein? – Zum Glück können Dokumente auch mehreren Dossiers zugeordnet werden, so dass in der Zukunft verschiedene Recherchepfade zum Ziel führen. Trotzdem stösst das Pertinenzprinzip in der Praxis oft an seine Grenzen.

Im Prinzip das Pertinenzprinzip

Im Sozialarchiv werden die Quellen in der Abteilung Archiv nach dem Provenienzprinzip erschlossen, d.h. die Ordnung der Ablage richtet sich nach der Herkunft der Archivalien, deren Entstehungszusammenhang damit weitestgehend erhalten bleibt. Im Gegensatz dazu ordnet die Abteilung Dokumentation ihre Unterlagen nach dem Pertinenzprinzip (von lateinisch «pertinere», deutsch «dazugehören»). Die Bestandesbildung folgt also der Logik einer vorher festgelegten Sachsystematik und nimmt im Regelfall keine Rücksicht auf den Ursprungskontext oder Urheber. Die Systematik der «Sachdokumentation» im Sozialarchiv basiert auf einer Dezimalklassifikation mit 10 Hauptgruppen, die wiederum in maximal 10 Sachgruppen unterteilt sind. In diese hierarchische Struktur sind rund 1’200 Sachthemen eingebettet, zu denen es «Dossiers» mit Dokumenten gibt.

Keine Regel ohne Ausnahme – dies gilt auch für das Pertinenzprinzip, denn nicht immer ist es sinnvoll, ein Dokument strikt dem Thema zuzuordnen, von dem sein Inhalt handelt. Ein gutes Beispiel hierfür ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit (Dossier 50.6). Jedes Jahr sammeln wir von diesem Anlass zahlreiche Flugblätter unterschiedlichster Gruppierungen und Organisationen, die Anliegen reichen dabei von Kurdistan und Strafvollzug in Spanien über Tierrecht und Marxismus bis zu Feminismus und Lohngleichheit. Wenn die Texte mit einem üblichen Solidaritätsaufruf zum 1. Mai verbunden sind, lege ich sie – mindestens zusätzlich zu den anderen Themen – auch im Dossier zum «Ersten Mai» ab. – Weshalb? Den angesprochenen Anliegen wird nicht nur am 1. Mai Gehör verschafft, es gibt dazu auch zahlreiche weitere Dokumente in den entsprechenden Sachdossiers, wo gezielt fündig wird, wer nach diesem Thema sucht. Weil eine zukünftige Forschung vielleicht aber danach fragen könnte, wie sich das Profil des Tages der Arbeit im Lauf der Geschichte verändert hat, sammle und erschliesse ich hier also nicht pertinent, sondern vielmehr anlassbezogen.

Ein jüngeres Beispiel war die «Occupy»-Bewegung, in der Schweiz «Occupy Paradeplatz». Die ziemlich heterogene internationale soziale Bewegung vertrat Positionen in verschiedensten Bereichen: Banken, Wirtschaftssystem, Ökologie, Klimaschutz, Demokratie, Gentrifizierung, Landwirtschaft, Ernährung usw. Der Anlass für die Bewegung war aber eindeutig die globale Finanzkrise, die 2007 in den USA als Subprimekrise begonnen hatte und eigentlich eine Bankenkrise war. Es erschien sinnvoller, die Dokumente – wenn nur ein einziges Exemplar vorhanden war – an einem Ort (Dossier 96.1 C «Banken: Schweiz») zu versammeln, als sie in alle thematischen Winde zu zerstreuen und damit ihren Entstehungszusammenhang zum Verschwinden zu bringen. Es ist wahrscheinlicher, dass eine zukünftige Nutzerin erfahren möchte, welches die Anliegen der Occupy-Bewegung (in der Schweiz) waren, als dass ein anderer Nutzer das eine unter ganz vielen anderen Dokumenten zum Thema Gentrifizierung vermissen wird.

Auch anlässlich der gegenwärtigen Corona-Pandemie wurde und wird von verschiedenster Seite zu unterschiedlichsten Themen publiziert. Indem sie in der Sachdokumentation anlassbezogen immer auch dem Dossier «Krankheiten» (64.0 *8) zugeordnet werden, kann später einmal nachvollzogen werden, welche gesellschaftlichen Fragen dieses neuartige Virus aufgeworfen und welche politischen Reaktionen es provoziert hat.

Zeitphänomene

Die Dezimal-Klassifikation, welche die ca. 1’200 Themen der Sachdokumentation systematisch gruppiert und hierarchisiert, ist der Versuch, alle gesellschaftlichen Fragen, welche von den sozialen Bewegungen aufgeworfen werden, unter ihren verschiedenen Aspekten und in all ihren Dimensionen in eine Ordnung zu bringen, welche einen sachbezogenen Zugang zu diesen diversen Feldern der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ermöglicht, die entsprechenden Dokumente also «gezielt auffindbar» macht. Diese im und spezifisch für das Sammelgebiet des Sozialarchivs entwickelte Systematik mit numerischen Notationen und einem kontrollierten Vokabular für deren natürlichsprachliche Benennungen repräsentiert dabei naturgemäss nicht die Sphäre der Phänomene selbst, sondern nur die Sphäre der Begriffe und Konzepte, mit denen wir Ereignisse und Zeiterscheinungen in ihrem historischen Kontext zu verstehen, «einzuordnen» versuchen. Es ist bei einer solchen kategorialen Systematik nicht unangebracht, an Michel Foucaults Begriff der «Episteme» zu denken, mit welcher dieser die Bedingung der Möglichkeit von Wissen innerhalb einer geschichtlichen Epoche zu fassen versuchte, welche als unartikulierte Voraussetzung allen zeitgenössischen Diskursen vorausgeht und sie grundiert.

In der Dezimal-Klassifikation des Sozialarchivs spiegelt sich aber nicht nur die Episteme ihrer Entstehungszeit – sie wurde in den 1950er Jahren entwickelt und 1960 eingeführt –, sondern Dezimal-Klassifikationen stellen generell ziemlich statische Ordnungen dar und sind viel weniger flexibel als (kontrollierte) Schlagwortsysteme. Und so sind denn die bestehenden Kategorien der Dossiers nicht immer bestens geeignet, um Phänomene aus der jüngsten Zeit unter ihnen zu subsumieren. Beim «Land Grabbing» etwa, bei dem es sich eigentlich um eine neue Form der Kolonialisierung in Zeiten des Neoliberalismus handelt, stellt sich die Frage, bei welchem bestehenden Thema es am besten anschlussfähig ist, denn «Kolonialismus» gibt es als Dossier in der Sachdokumentation des Sozialarchivs gar nicht, da die Schweiz nie eine selbständige Kolonialmacht war und der Fokus der Sammlung auf der Schweiz liegt. Am überzeugendsten schien mir schliesslich das Dossier 91.8 zum «Bodenrecht» im Bereich der Landwirtschaft, was sich aber nicht von selbst versteht, weshalb ich den Begriff als Zusatz-Information zur entsprechenden Schachtel erfassen musste.

Auch auf den «Rohstoffhandel», für den die Schweiz eine der wichtigsten Drehscheiben darstellt, ist die Klassifikation des Sozialarchivs nicht optimal vorbereitet. In der Sachgruppe 83 «Geld, Währung, Preise» befindet sich unter der Notation 83.5 zwar das Dossier «Börse ; Rohstoffmarkt», unter welches man den Handel natürlich subsumieren kann. Jedoch bildet diese Klassierung weder den Charakter der Akteure (multinationale Konzerne) noch ihre Art zu operieren (Erwerb von Abbaulizenzen im Tausch gegen Einmalkredite an Regierungsvertreter korrupter Machtapparate in meist afrikanischen Staaten) ab, obwohl gerade diese beiden Aspekte den eigentlichen Inhalt der neueren Broschüren in diesem Dossier wesentlich bestimmen.

Nicht besser geht es den aktuell virulenten Pestiziden in der Landwirtschaft und der Agrochemie(kritik) insgesamt. Dass das Problem mit wenigen grossen global agierenden Agrochemiekonzernen vor allem darin liegt, dass sie in der internationalen Landwirtschaft zunehmend die gesamte vertikale Wertschöpfungskette beherrschen und damit eine beängstigende Kontrollmacht über alle Aspekte der menschlichen Nahrungsversorgung erhalten haben, wird mit der Ablage im Dossier «Chemische Industrie» (93.5) unzureichend erfasst.

Schliesslich ist auch die hängige «Konzernverantwortungs-Initiative» schwer eindeutig zu verorten: Es geht um Menschenrechte (Dossier 22.0), Nachhaltigkeit (Dossier 19.0 *3), Unternehmensführung (Dossier 86.1) und – vor allem rechtlich relevant – um multinationale Konzerne (Dossier 87.3) mit Sitz in der Schweiz. Insbesondere Print-Dokumente je in vierfacher Ausführung in allen aufgezählten Dossiers abzulegen, ist nicht praktikabel, weshalb Dokumente zur Konzernverantwortungs-Initiative dem zuletzt genannten Dossier zugeordnet werden. – Zum Glück erfahren eidgenössische Volksabstimmungen eine besondere Erschliessung, indem sie zusätzlich erfasst werden, so dass die Benutzenden alle Broschüren/Flugschriften zur Konzernverantwortungs-Initiative «gezielt auffinden» können.

Entwickelt ein neues Zeitphänomen eine gewisse Kontinuität und Beständigkeit, kann die Dezimal-Klassifikation zwar entsprechend erweitert bzw. ausdifferenziert werden. In den letzten Jahren wurden so die Dossiers zu den Sans-Papiers (22.5 *1) und zur Gentrifizierung (94.8 *G) neu eröffnet. Dies will aber gut überlegt sein, denn in einem aufwändigen Arbeitsschritt müssen alle bestehenden Dokumente in den Nachbarthemen gesichtet, aussortiert und bei Neuzuordnung umsigniert werden. Wurden sie mit ihrer alten Signatur in einer früheren Bibliografie erwähnt, stimmt diese Referenz nach der Umklassierung zudem nicht mehr, was ein unschöner Nebeneffekt ist.

Historische Distanz

Eine Dokumentalistin ist auch nur eine Zeitgenossin mit limitierter Übersicht und ein Subjekt (Foucault), das dem herrschenden Diskurs unterworfen ist. Dies wird im Rückblick und mit zunehmender zeitgeschichtlicher Distanz sowohl bei der verwendeten Nomenklatur als auch in der strukturellen Einordnung von Sachthemen auf problematische und aufschlussreiche Weise sichtbar.

Besonders deutlich wird die mangelnde Flughöhe bei einer «zeitnahen Dokumentation» bei den alten Beschriftungen der Zeitungsausschnitt-Mappen. Im Dossier 34.53 zu den nationalsozialistischen Verbrechen gibt es beispielsweise zahlreiche sogenannte ZA-«Sonderdossiers». In ZA 23.8 *VKV waren die einzelnen Mappen u.a. folgendermassen beschriftet: «Die ewige Jagd von Wiesenthal und anderen auf Nazi-Kriegsverbrecher» und «Die unermüdlichen Bemühungen der Nazikriegsverbrecher-Jägerin B. Klarsfeld»; heute heisst die Schachtel «Verfolgung und Enttarnung von Kriegsverbrechern ; Fluchtversuche von Kriegsverbrechern» und die Mappen sind mit «Beate Klarsfeld (1968-1984) ; Simon Wiesenthal (enth. auch: Fahndung nach Joseph Mengele)» beschriftet. Dass hingegen die «Ausländerfrage» (Dossier 02.3 C «Ausländerfrage, Ausländerintegration ; Einwanderung ; multikulturelle Gesellschaft: Schweiz»), die eines der umfangreichsten Dossiers in der Sachdokumentation überhaupt benennt, bis heute überlebt hat, ist nicht nur der Trägheit der Sozialarchiv-Klassifikation, sondern auch dem tatsächlichen Diskurs über Ausländer in der Schweizer Politik geschuldet. Im Gegensatz dazu hiessen die ZA-Sonderdossiers zur «Rassendiskriminierung in den USA» (in den Dossiers 05.3 und WUS 3) «nur» bis zum Jahr 1978 «Negerfrage». Sie wurden umbenannt, nachdem in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in den Zeitungsartikeln zwar noch von «Negern» zu lesen war, aber statt des Begriffs «Negerfrage» nun der Terminus «Rassenintegration» o.Ä. verwendet wurde, während in den ersten dokumentierten Jahren (1948-58) vom «Aufbau» (15.10.1948) über das «Volksrecht» (27.11.1948 und 25.2.1952) bis zur «Berner Tagwacht» (26.8.1958) in den Überschriften in einer Selbstverständlichkeit von «Negerfrage», «Negerproblem» und «Neger-Krise» die Rede gewesen war.

Gerade dieses letzte Beispiel veranschaulicht, dass auch Sammlungen ihre Geschichte haben bzw. dass sich die Geschichte auch in eine vermeintlich neutrale Pressedokumentation einschreibt. Der Umgang mit solch zwiespältigem Erbe im Sozialarchiv verläuft doppelspurig: Auf den analogen Behältnissen werden die alten Beschriftungen belassen (ausser sie werden sowieso revidiert), die Bezeichnungen in der Online-Datenbank wurden und werden aber im Lauf der Zeit modernisiert.

Problematischer als überholte Begrifflichkeiten in den expliziten Dossier-Benennungen sind allerdings strukturell bedingte, implizite Bedeutungszuweisungen, die nicht mit einer einfachen Umbenennung aus der Welt geschafft werden können. Semantisch wirksam sind nämlich auch die Nachbarschaften bzw. umgekehrt die kategorialen Abgrenzungen, die innerhalb bzw. zwischen den Sachgruppen, zu denen die fraglichen Dossiers gehören, entstehen. Dabei ist dieser ordnende sachsystematische Zusammenhang, in welchen die Themen gestellt werden, selber nicht wertfrei, sondern von der Episteme seiner Entstehungszeit, also von den Diskursen der 1950er/60er Jahren geprägt. So befinden sich «Frauen» (Dossiers 04.5ff.), «Männer» (Dossier 04.7) ebenso wie «Kinder, Jugendliche» (Dossiers 04.1f.) innerhalb der Hauptgruppe 0 in der Sachgruppe «Mensch in der Gesellschaft» (04) in guter Gesellschaft untereinander. Sonderdossiers dazu versammeln Dokumente etwa zur «Gleichberechtigung» von Frau und Mann (04.5 C *1), zu «Gewalt an Frauen» (04.5 *4) oder zu «Jugendkulturen» (04.11). Die Dossiers zu «Feminismus & Frauenbewegung» (04.6ff.) schliessen numerisch an die Frauen an. LGBTQ-Menschen jedoch gehören klassifikatorisch nicht zu den «Mensch(en) in der Gesellschaft», sie sind in der nachfolgenden Hauptgruppe 1 der Sachgruppe «Psychologie, Sexualität» (13) zugewiesen worden (Dossier 13.9). Wie rassistische Diskurse die Hautfarbe (bei nicht-weissen Menschen) zum Hauptkriterium machen, reduziert eine solche klassifikatorische Kontextualisierung LGBTQ-Menschen auf ihre sexuelle Dimension, die, indem sie auf diese Weise hervorgehoben wird, zumindest problematisiert, wenn nicht gar pathologisiert wird. Nach dem gesellschaftlichen Lernprozess der letzten Jahrzehnte, in dessen Verlauf die heterosexuelle Mann-Frau-Matrix erweitert und ein gesellschaftlicher und rechtlicher Integrationsprozess von Nicht-Cis- und Nicht-Hetero-Menschen eingeleitet wurde, würde man Schwule und Lesben ebenso wie die entsprechenden identitätspolitischen Bewegungen wohl eher in Form von Sonderdossiers den «Männern» (Dossier 04.7) und den «Frauen» (Dossiers 04.5ff.) zugesellen. Und die Bisexuellen, Transmenschen und Queeren bekämen die noch unbesetzte Dezimal-Position 04.8 zugewiesen.

Eine solche Umklassierung wäre allerdings, wie weiter oben beschrieben, sehr aufwändig – und ist in Zeiten der digitalen Informationsverwaltung auch nicht mehr unbedingt nötig: Klassifikationen als Instrumente der Sacherschliessung stammen noch aus der analogen Welt, aber heutige Benutzer*innen finden nicht mehr über die systematische Baumstruktur, sondern über einfache Begriffssuchen zu den von ihnen gewünschten Dossiers. Und terminologisch sowie mithilfe eines ausgebauten Verweissystems lässt sich die Sachdokumentation des Sozialarchivs datenbanktechnisch einfacher als mit einer Umklassierung modernisieren, und zwar so, dass sie dem zeitgemässen «gezielten Auffinden» von Dokumenten dient. Latent liegt ihr jedoch immer noch eine ordnende Klassifikationsstruktur aus der Mitte des letzten Jahrhunderts zugrunde, welche ihre eigene Geschichtlichkeit offenbart, wenn man sie auf ihre «Archäologie des Wissens» (Foucault) hin untersucht.

24. September 2020Ulrike Schelling zurück