«Platzspitz» – der Begriff löst visuelle Reminiszenzen unterschiedlichster Art aus. Die einen sehen die grosszügige, gepflegte Anlage hinter dem Landesmuseum in Zürich vor dem inneren Auge, bei anderen dominieren die Schreckensbilder aus der Zeit der offenen Drogenszene. Für viele, zumindest für viele ältere Personen, werden sich beide Bildwelten überlagern und vermischen. Es bleibt ein Staunen, und zwar sowohl darüber, wie es einst hatte soweit kommen können, als auch über den Umstand, dass heute vor Ort vom Schrecken jener Zeit überhaupt nichts mehr zeugt.
Die Jahre zwischen 1986 und 1995 werden ordnungs- und drogenpolitisch allgemein als verheerendes Jahrzehnt wahrgenommen. Der Konsum illegaler Substanzen fand in Zürich (und anderen grossen Schweizer Städten) unter den Augen der Öffentlichkeit und in einem Ausmass statt, der zuerst lähmte und dann zur überstürzten und wenig weitsichtigen Räumungsaktion führte. In Zürich spielten sich der offene Drogenhandel und auch der Konsum zwischen 1986 und 1992 im Platzspitz ab, nach der Räumung im Februar 1992 dann zwischenzeitlich in den umliegenden Quartierstrassen und -höfen und schliesslich auf dem Areal des stillgelegten Bahnhofs Letten. Im Februar 1995 räumte die Polizei auch diesen Ort.
Die Erinnerung an diese Jahre ist wie bei allen intensiven Erlebnissen sinnlich geprägt. Die blauen Lichter in Hauseingängen und Toiletten, die den Süchtigen das Finden der Venen verunmöglichen sollten. Der unerträgliche Gestank nach Exkrementen, Erbrochenem und Blut in dunklen Ecken. Die Bilder der Verelendung jener Menschen, die das Pech hatten, ohne Obdach auf dem Platzspitz, dem Letten oder «auf der Gasse» leben zu müssen. Die Medien sorgten in jener Zeit mit ihrer dichten Berichterstattung dafür, dass krasse Motive Alltagsgut wurden: Der Süchtige, der im vernarbtem Arm nach einer Einstichstelle sucht. Die junge Frau, die sich, notdürftig geschminkt, prostituiert, um sich den nächsten Schuss zu finanzieren. Die Polizei, die einen Kleindealer stellt und ihn nötigt, alle Säcke zu leeren.
Die Motivvarianz der Bilder ist erstaunlich schmal. Gerade deshalb prägten aber Fotos die Wahrnehmung der Öffentlichkeit umso eindeutiger: Auf dem Platzspitz (und später auf dem Letten) manifestierte sich eine grauenerregende Unterwelt, die es so eigentlich gar nicht geben durfte, die aber offenbar doch genug faszinierend war, dass sie in den Printmedien und in der Fernsehberichterstattung permanent visuell wiedergekäut wurde. Dabei darf man nicht vergessen, dass die betroffenen Gebiete damals für Medienschaffende nicht einfach zugänglich waren. FotografInnen und Kameraleuten schlugen Ablehnung, Verweigerung oder Aggression entgegen. Die Arbeit, die sie dort verrichteten, war oft nur gegen Bezahlung oder im Schutz der Polizei möglich. Viele Agenturbilder entstanden deshalb mit dem Teleobjektiv aus sicherer Distanz oder aus der Vogelperspektive. Besonders gut für diese Zoo- oder Safariperspektive eignete sich dafür die Kornhausbrücke, die über den Bahnhof Letten führt.
Kosmos Platzspitz und Lila Bus
Ein wesentlich differenzierteres Bild dieses Jahrzehnts ergibt sich bei der Beschäftigung mit den Aufnahmen der Zürcher Fotografin Gertrud Vogler (1936-2018). Sie hat noch zu Lebzeiten ihr fotografisches Werk – es umfasst rund eine Viertelmillion Negative – dem Sozialarchiv vermacht. Allein aus der Platzspitz- und Letten-Periode sind rund 10’000 Negative vorhanden. Die allermeisten Bilder sind aus eigenem Interesse und abseits journalistischer Verwertbarkeitsüberlegungen entstanden. Zahlreiche Bilder erschienen aber auch im Rahmen der Berichterstattung der WoZ, wo sie als Bildredaktorin angestellt war und die Themen Drogenkonsum und Drogenpolitik mit ihrer Kamera begleitete. Was aber genau hat Vogler auf Film gebannt? Und unterscheidet sich ihr Blick vom fotografischen Mainstream?
Gertrud Voglers Bilder vom Platzspitz zeigen Drogenkonsumierende beim Vorbereiten ihrer Spritzen, PolizistInnen bei Razzien, freiwillige HelferInnen beim Kochen, medizinisches Personal bei der Abgabe von sterilen Injektionsutensilien oder bei der Betreuung von Drogenkonsumierenden, Putzequipen bei der Reinigung der Parkanlage und vieles mehr. Regelmässig machte sie Aufnahmen von den sogenannten Filterlifixern. Die über Monate und Jahre entstandenen Bildserien zeigen die überaus harten Lebensumstände dieser schwächsten Gruppe auf dem Platzspitz und illustrieren zugleich beispielhaft den Leerlauf einer auf Repression ausgerichteten Drogenpolitik. Die Filterlifixer standen oder sassen meist beim Rondell hinter aus Brettern, Kisten und SBB-Gepäckwagen zusammengebauten Tischen. Darauf boten sie den Drogenkonsumierenden saubere Spritzen, Löffel, Ascorbin-Säure, Tupfer, Wasser und Feuerzeug an. Im Gegenzug erhielten sie die Zigarettenfilter, durch die die Süchtigen das unreine Heroin in die Spritzen aufgezogen hatten. 5 bis 15 solcher Filter, die erst ausgekocht werden mussten, ergaben einen Kick. In einem Artikel der WoZ vom 28.4.1989 bezeichnete Gertrud Vogler die Infrastruktur der Filterlifixer als «Selbsthilfe» und «Überlebenshilfe». «Liebevoll und zweckmässig» seien die Filterlitische errichtet worden. An ihnen werde geredet und gestritten, würden Probleme geteilt und Neuigkeiten ausgetauscht. Umso stossender empfand sie die unter Polizeischutz erfolgten Räumungen und Vertreibungen. Zahlreiche Bildserien der Jahre 1989 und 1991 zeigen Angestellte des Gartenbaumamtes und einer Reinigungsfirma, die unter Polizeischutz mit einem Wasserschlauch das Rondell und den davorliegenden Platz abspritzen, während sich die Süchtigen mit ihren Brettern, SBB-Gepäckwagen und weiteren Habseligkeiten davon machen, nur um kurze Zeit später an gleicher Stelle erneut ihre Tische aufzustellen.
Die Behörden rechtfertigten die repressive Drogenpolitik und den mit ihr einhergehenden Sisyphos-Aktionismus mit der vielzitierten «Sogwirkung», die um jeden Preis möglichst minimiert werden sollte. Um die Attraktivität des Platzspitzes für weitere Drogenkonsumierende zu verringern, wurde den Filterlifixern das Leben noch schwerer gemacht. Aber auch Hilfsangebote von Freiwilligen oder die Arbeit von GassenarbeiterInnen litten unter Polizeieinsätzen und Razzien. Für Gertrud Vogler waren solche Massnahmen nichts Anderes als kalte Verwaltungsakte, ähnlich der Errichtung unmenschlicher Notunterkünfte (von ihr als «Notschlafbunker» bezeichnet), die – im Untergrund erstellt – die Segregation von Süchtigen und übriger Bevölkerung förderten, an den Bedürfnissen der Drogenabhängigen aber weitgehend vorbeizielten.
Gegen dauernde Polizeipräsenz und Repression auf dem Platzspitz setzte sich auch die Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Jugendprobleme ZAGJP ein. Der gemeinnützige Verein wurde bereits 1971 gegründet und leistete einen unverzichtbaren Beitrag zur Lösung der drängenden Jugendprobleme. Gertrud Vogler fotografierte über mehrere Jahre die Gassenküche auf der Kronenwiese, die Gassenstation zur schwarzen Krähe an der Hörnlistrasse und die Auffangstation Tiefenbrunnen. Aussen- und Innenansichten der Gebäude wechseln sich ab und gewähren Einblicke in die Lebenswelt der BesucherInnen. Auf dem Platzspitz begleitete sie ab 1985 die ZAGJP-Projektgruppe «Parklüüt». Die «Parklüüt» verrichteten zwischen 1985 und 1990 einfache Gartenarbeiten und putzten im Auftrag des Gartenbaumtes die Parkanlage. Leuten aus der Drogenszene wurde so die Möglichkeit einer niederschwelligen Erwerbsmöglichkeit gegeben. Zudem sollte ein Beitrag zur Sauberkeit geleistet werden, ohne die «gestressten DrogenkonsumentInnen» zusätzlich zu belästigen. Ein weiteres Projekt der ZAGJP war der Kiosk an der Walchebrücke. Die Gründe für die Errichtung eines Kioskes beschrieb die ZAGJP im August 1986 so: Der Platzspitz sei heute «ein Aufenthaltsort von verschiedenen Randgruppen-Szenen». Durch Kontrollen der Polizei werde eine «negative Stimmung» verbreitet, so dass «Gruppierungen, die nicht der Drogenszene angehören, den Park immer mehr meiden». Um zu verhindern, dass die «Gassenszene isoliert und gesellschaftlich abgeschottet» werde, sei es nötig, eine «positive Veränderung gegen die repressive Stimmung zu erwirken». Der freistehende Kiosk beim Parkeingang sollte von «gassenfreundlichen Leuten und Gassenleuten» zusammen betrieben werden. Die Eröffnungsveranstaltung am 6.9.1986 wurde mit Querflöte und Fagott musikalisch begleitet. Die an diesem Anlass porträtierten MitarbeiterInnen strahlen allesamt eine grosse Ungezwungenheit aus und zeugen von einer Vertrautheit mit der Fotografin. Bemerkenswert ist auch der von Gertrud Vogler am Eröffnungstag fotografierte NZZ-Aushang «Zürcher Drogenpolitik – Verbot der Spritzenabgabe aufgehoben», der Bezug nimmt auf das 1985 erlassene Spritzenabgabeverbot und somit auf eines der kontroversesten drogenpolitischen Ereignisse der 1980er Jahre. Zwischen 1986 und 1992 schuf Gertrud Vogler eine Reihe von Bildern des «letzten Kiosks vor der Autobahn», den Mitarbeitenden und den diesen Ort frequentierenden Menschen. Neben Zeitungen, Zeitschriften und dem üblichen Kiosksortiment gehörten Sitzgelegenheiten, Bartische und eine Infovitrine zur Ausstattung. Die Vitrine wurde insbesondere genutzt, um auf die Gefahren von Aids, die Möglichkeit einer kostenlosen Gelbsuchtimpfung und auf weitere nützliche Informationen für Drogenkonsumierende aufmerksam zu machen. Der Kiosk war täglich tagsüber geöffnet und prägte die Situation beim Landesmuseum und Eingang zum Platzspitz auf seine ganz besondere Weise.
Zivilgesellschaftliches Engagement war auch der Auslöser für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Platzspitz. Nachdem die «Arbeitsgemeinschaft Weihnachten 88 am Platzspitz» ein Zelt mit Festbetrieb errichtet hatte, gründete sich Ende Januar 1989 die ARGE Platzspitz. Der heterogen zusammengesetzte Verein umfasste Einzelpersonen verschiedenen Alters, unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Vorstellungen. «Was uns eint, ist unser Anliegen, für die Drogenabhängigen humanere Bedingungen zu schaffen auf politischer, medizinscher und menschlicher Ebene», heisst es im ersten Jahresbericht von 1989. Der Zweck der Arbeitsgemeinschaft bestand darin, auf dem Platzspitz präsent zu sein, um das «Ghetto» zu durchbrechen und der polizeilichen Repression entgegenzuwirken. Ferner förderte der Verein in der Öffentlichkeit das Verständnis für die Betroffenen und setzte sich für eine Entkriminalisierung der Drogenabhängigen ein. Gertrud Vogler begleitete die Arbeit der freiwilligen HelferInnen. Sie dokumentierte in eindrücklichen Bildern die Zeltaktion, das Aufstellen eines Baugespannes für einen Pavillon und den Transport einer mobilen Baubaracke, die von einer Baufirma mit einem Lastwagen im Auftrag der ARGE Platzspitz in den Park gebracht und bereits zweieinhalb Stunden nach der illegalen Errichtung unter Polizeischutz wieder entfernt wurde. Weitere Bildserien behandeln die Teegruppe und die Kochgruppe, die ab 1989 mit Kochutensilien und später mit einem Holzwagen täglich an die hundert warme Mahlzeiten zubereitete, mit den Süchtigen ins Gespräch zu kommen und sie allenfalls zur Mitarbeit beim Kochen zu motivieren versuchte.
Frauenspezifische und -gerechte Suchtarbeit fand in Zürich mit dem im Seefeld platzierten Lila Bus erstmals 1989 einen Ort. Als Teil der städtischen Kontakt- und Anlaufstellen wandte sich die Pioniereinrichtung an Frauen, die sich ihren Drogenkonsum mit Prostitution finanzierten. In der Folge entstanden durch das beharrliche Engagement zahlreicher Frauen und insbesondere ihrer umfangreichen Vernetzungsarbeit weitere Angebote, auch in anderen Regionen der Schweiz. Im Lila Bus konnten sich die Drogenkonsumentinnen ausruhen, einen Rechtsdienst in Anspruch nehmen oder ärztliche Betreuung erhalten. Es gab die Möglichkeit auf Verpflegung und natürlich auf unterstützende Gespräche mit den Mitarbeiterinnen. Im Innern der Sozialeinrichtung hing ein Ordner, der mit «Schwarze Liste Freier» beschriftet war und vor skrupellosen Freiern warnte. Personal und Benützerinnen erlaubten Gertrud Vogler, den Innenraum dieses intimen und geschützten Ortes zu fotografieren. Gleiches gilt für das Atelier Purpur der ZAGIP. Auch hier dokumentierte sie den Alltag von Frauen, die – um ihre Sucht zu finanzieren – keinen anderen Weg als den Gang in die Prostitution sahen. Im geschützten Raum des Ateliers fanden sie Geborgenheit, aber auch Zeit für einen stressfreien Drogenkonsum, konnten sich künstlerisch betätigen oder ihren Ängsten auf Plakaten Ausdruck verleihen.
Der andere Blick
Gertrud Vogler erfasste durch ihre intensive fotografische Arbeit den Alltag verschiedener Personengruppen. Sie fotografierte herumliegende Spritzenverpackungen, Graffiti, Transparente, Infotafeln, Infozettel, Hausordnungen und ein an die Wand geheftetes Gedicht über die Heroinsucht. Kontinuierlich entstanden Aufnahmen in Notschlafstellen, medizinischen Einrichtungen und an Manifestationen, Veranstaltungen und Demonstrationen gegen die Drogenpolitik. Von grosser Bedeutung sind zudem Bilder, die nach der Schliessung des Platzspitzes entstanden sind. Hierbei standen neben der Situation am Bahnhof Letten vorab der Kreis 5 und seine Bevölkerung im Mittelpunkt ihres Interesses. Und ein besonderes Augenmerk richtete Gertrud Vogler auf Gitterabsperrungen, die während Jahren die visuelle Wahrnehmung der Zürcher Innenstadt prägten.
Der Fotografin gelang es, die Vielschichtigkeit von Drogenpolitik, Drogenkonsum und Drogensucht in unzähligen Nuancen bildlich einzufangen. Dank Empathie mit den Süchtigen, langjährigen persönlichen Bekanntschaften und einem Zugang jenseits jeder Sensationslust erweiterte und diversifizierte sie das landläufige Bild des Drogensüchtigen und nahm Partei, ohne vereinnahmend zu wirken. Als aufmerksame Augenzeugin und Chronistin setzte sie sich für eine humanere Drogenpolitik und vor allem für die Würde der von der Sucht Betroffenen ein. 1990 veröffentlichte Gertrud Vogler zusammen mit Chris Bänziger «Nur saubergekämmt sind wir frei»: Bänziger schrieb aus der Innensicht eines Junkies, Vogler steuerte den Bildteil bei. Das Gemeinschaftswerk wurde zu einem Erfolg, 1991 erschien bereits die dritte Auflage.
Gertrud Vogler hat dem Sozialarchiv keine Auflagen gemacht im Umgang mit ihren Fotos. Einzige Ausnahme: Nie sollte eines ihrer Fotos für Werbezwecke verwendet werden. Im Fall der Platzspitz- und Letten-Aufnahmen haben wir uns bei der Selektion für eine Publikation auf der Datenbank Bild + Ton für folgendes Vorgehen entschieden: Grundsätzlich von einer Veröffentlichung ausgeschlossen bleiben aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes Aufnahmen, bei denen die Abgebildeten eindeutig identifizierbar sind. Wir sind damit bewusst rigider als Gertrud Vogler es beispielsweise bei ihrer Buchpublikation war – sie kannte die Fotografierten und konnte vor einer Veröffentlichung deren Einwilligung einholen. Die anderen Negative haben den üblichen archivischen Bewertungsprozess durchlaufen: Motivwiederholungen, nicht metadatierbare sowie technisch nicht gelungene Fotos wurden nicht in die Datenbank Bild + Ton aufgenommen. Online sind nun über 3’000 Fotos aus dem Zeitraum 1985-1995 zugänglich, die mit der Suchtproblematik, dem Platzspitz oder dem Letten zu tun haben. Es bleibt zu hoffen, dass sie unser Bild jenes Jahrzehnts ergänzen und in visuellem Sinn bereichern.
Stefan Länzlinger / Alexander Lekkas
(Alexander Lekkas wirkte 2017/18 als Mitarbeiter des Sozialarchivs an der Erschliessung der Fotos von Gertrud Vogler mit; er arbeitet als Archivar bei Schneider History AG.)