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Neue Chronologie der Schweizer Drogenpolitik von Peter J. Grob

Peter J. Grob, Prof. em., Dr. med., ehemals Leiter der Klinischen Immunologie
am Universitätsspital Zürich, war in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien insbesondere zur Bekämpfung von Hepatitis und Aids tätig. 2009 veröffentlichte er das Buch «Zürcher ‹Needle-Park› – Ein Stück Drogengeschichte und -politik 1968–2008» (eine 2. Auflage erschien 2012), welches das Alltagsleben auf dem Platzspitz, den Drogenhandel und die Reaktionen aus Politik und Medien der damaligen Zeit beschreibt. Diese Publikation war mit Fotos von Gertrud Vogler bebildert. Die Fotografin übergab ihr Negativarchiv im Jahr 2013 dem Sozialarchiv und die neu erschlossenen Fotos werden laufend über die Datenbank Bild + Ton zugänglich gemacht.
Nun hat Peter J. Grob in einem 50-seitigen Dokument mit dem Titel «Illegale Drogen und ihre medizinischen, sozialen und politischen Folgen: Eine Chronologie der Ereignisse in der Schweiz 1967–2016» die wichtigsten Begebenheiten und Entwicklungen in der Schweizer Drogenpolitik chronologisch zusammengefasst. Der Bericht wird von der Bibliothek des Sozialarchivs in digitaler Form zur Verfügung gestellt und ist über den NEBIS-Katalog zugänglich.

Susanne Brügger, Leiterin der Bibliothek des Sozialarchivs, hat sich mit Peter J. Grob zu einem kurzen Gespräch getroffen und ihm einige Fragen zur Thematik gestellt:

SB: Herr Grob, wie kamen Sie in den späten 1960er Jahren mit dem Drogenproblem in Berührung?
PG: Die klinische Immunologie des Universitätsspitals war damals europäisches Referenzlabor für die neu entdeckten Hepatitisviren geworden und erhielt Blutproben von vielen Ärzten, immer häufiger mit der Angabe, dass diese von Drogenkonsument/innen stammten. Von Drogen wusste ich wenig, wollte mir ein Bild machen, verliess den universitären Elfenbeinturm und kam mit der Realität ausserhalb in Berührung.

SB: Wie sah diese Realität aus?
PG: Ich traf auf Menschen, verstreut und in Gruppen, die aus der Normalität, wie ich sie selber kannte, herausgefallen waren. Sie befanden sich in verschiedenen Stadien: dahin dösend, in Trance oder verzweifelt nach Drogen, Geld und einer Bleibe suchend. Was vor allem beeindruckte, war die soziale und medizinische Verwahrlosung.

SB: Wie hat sich die Problematik nach 1968 weiterentwickelt?
PG: Die Zahl von intravenös spritzenden Konsument/innen von Heroin und Kokain nahm immer mehr zu, auch die Drogenkriminalität. Um den Anfängen zu wehren, beschloss das Schweizer Stimmvolk 1975, das Betäubungsmittelgesetz in Richtung Repression zu verschärfen. Zwei Lager standen sich danach gegenüber: einerseits die Befürworter des Betäubungsmittelgesetzes, das vorschrieb, dass die Drogensucht nur durch Repression und Entzug zu lösen sei, und andererseits die soziale und medizinische Seite, welche die Sucht als Krankheit einstufte. Die Hepatitis-Epidemie in den 1970er Jahren hatte die Bevölkerung und auch die Politik wenig aufgeschreckt. In Zusammenarbeit mit allen Zürcher Spitälern und zahlreichen Privatärzten hatte bereits 1981/82 die weltweit grösste Hepatitis-B-Impfaktion stattgefunden, die auch Drogenkonsument/innen miteinbezog, die aber kaum Beachtung fand. Dies änderte sich erst ab Mitte der 1980er Jahre mit dem Auftreten von HIV/Aids und der Erkenntnis, dass intravenös spritzende Drogenkonsument/innen besonders betroffen waren. Das machte Angst, Handeln war gefragt.

SB: Welche Änderung bewirkte HIV/Aids für Ihre Anliegen?
PG: Es waren nicht meine Anliegen, sondern es war generell eine neue Herausforderung für die Behörden und vor allem auch die sozio-medizinischen Kreise. Man hatte die Drogenkonsument/innen während Jahren von einem Ort zum anderen getrieben, was auch für die Ordnungskräfte und die Bevölkerung frustrierend war. Es gab zwar erste Drogenhilfestellen, die aber bald überlastet waren. Auch die Behörden der Stadt Zürich waren überfordert und suchten nach Alternativen. 1986 wurde der Platzspitz als Ort für geduldeten Drogenkonsum «freigegeben». Es entstand die weltweit erste offene Drogenszene dieser Art. Bald einmal versammelten sich dort Hunderte, dann Tausende Drogenkonsument/innen aus der ganzen Schweiz, weitgehend sich selbst überlassen, viele sozial und medizinisch verwahrlost, einige mit Hepatitisviren und HIV infiziert. Der Platzspitz war zu einem Ort geworden, wo sich Hepatitis und HIV auf die Bevölkerung ausbreiten konnten. Man musste handeln. Schliesslich kam das «Wunder von Zürich», so nannte ich das.

SB: Was bedeutet «Wunder von Zürich»?
PG: Die Behörden Zürichs und des Bundes ermöglichten das Zürcher Interventions-Pilotprojekt für Drogenabhängige gegen Aids (Zipp-Aids), dies unter der Trägerschaft der Sektion Zürich des Schweizerischen Roten Kreuzes, des Stadtärztlichen Dienstes, dreier Universitätsinstitute sowie des Bundesamtes für Gesundheit. Zürich sprach einen tranchenweisen Kredit von 3 Mio. Franken und das Bundesamt für Gesundheit einen von 2.4 Mio. Franken, obwohl vieles von dem, was wir dort taten – etwa die Spritzenabgabe – eigentlich gegen das geltende Betäubungsmittelgesetz verstiess. Innerhalb von 38 Monaten hatte man über zwei Millionen Kontakte zu Drogenkonsument/innen hergestellt, über 7 Mio. gebrauchte gegen sterile Spritzen ausgetauscht und tausendfach medizinische Hilfe geleistet.

SB: Was wäre geschehen, wenn man den Platzspitz nicht «erlaubt» hätte?
PG: Dann hätte sich HIV und Hepatitis in der Bevölkerung wohl noch stärker und rascher verbreitet. Schliesslich aber waren es die Verhältnisse auf dem Platzspitz, der inzwischen international «Needle Park» genannt wurde, die zu einem Umdenken in der eidgenössischen Drogenpolitik und Drogenhilfe hin zur Vier-Säulen-Strategie führten.

SB: Wie kam es zu dieser Vier-Säulen-Strategie und was beinhaltet sie?
PG: Man realisierte, dass man mit Repression keine Chance hatte, gegen Infektionen wie Hepatitis oder HIV zu kämpfen, und ebenfalls, dass eine Drogensucht so nicht einfach gestoppt werden konnte. Indem man die Repression um die Prophylaxe, Therapie und Schadensminderung erweiterte, entstand das Vier-Säulen-Modell – eine Pionierleistung der Schweiz, die in der Folge in vielen Ländern der Welt Nachahmung fand.

SB: Was denken Sie über den Platzspitz im Nachhinein?
PG: Er zeigte nicht nur die Bedrohung durch Hepatitis und HIV/Aids, sondern das ganze gesellschaftliche Ausmass der Drogenepidemie. Zuvor hatten Studien immer selektive Gruppen von Drogenkonsument/innen betroffen. Nun erkannte man deren ganzes Spektrum, das von höheren Angestellten, Student/innen, Lehrlingen, Prostituierten bis zu Aussteigern reichte, Personen auch «aus gutem Haus» umfasste, nicht nur aus der Stadt, auch vom Land. Ein Drittel der Platzspitz-Besucher/innen führte ein normales Leben, ein Drittel fiel aus dem System und fand wieder zurück, und ein Drittel landete einfach auf der Strasse.

SB: Ihre Chronologie endet nicht 1992 mit der Schliessung des Platzspitzes, sondern geht bis 2016. Was waren die Meilensteine in dieser Zeit?
PG: Ich möchte diese Frage in zwei Teilen beantworten. In der Schweiz entstand ein grosses Netzwerk von sozialer und medizinischer Drogenhilfe. Zwecks Schadensminderung der Drogensucht wurden die Methadonsubstitution und die heroingestützte Therapie eingeführt, was bei Tausenden Drogenabhängigen zumindest eine Stabilisierung der Sucht erlaubte. Prophylaktische medizinische Massnahmen wie die Hepatitis-B-Impfung und die immer erfolgreichere Behandlung von HIV/Aids führten zu einer starken Abnahme dieser Infektionen und deren Folgen, wobei bis heute aber noch namhafte «Altlasten» bestehen.

SB: Wie lautet der zweite Teil der Antwort?
PG: Vormals war der intravenöse Konsum illegaler Drogen das überragende Problem gewesen. Dann kamen zunehmend neue Drogen, Designerdrogen, in der Party- und Livestyle-Welt auf und brachten neue soziale und medizinische Probleme mit sich – eine neue Herausforderung. Man führte u.a. das Pillentesting ein. Ein Meilenstein war, dass das Schweizer Stimmvolk 2008 eine weitere Revision des Betäubungsmittelgesetzes annahm, welche die Vier-Säulen-Strategie weitgehend verankerte.

SB: Was sind Ihre wichtigsten Schlussfolgerungen 2017?
PG: Zum Schluss der Chronik 1967–2016 äussere ich meine persönliche Hoffnung, dass die Lehren, die sich daraus ziehen lassen, etwas zur Meinungsbildung für die zukünftige Drogenpolitik beitragen: hin zu einem weiteren Abbau der Stigmatisierung und Kriminalisierung von Konsument/innen illegaler Drogen, zur Aufhebung der Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen sowie zum Festhalten am Vier-Säulen-Prinzip, an Prophylaxe, Therapie, Schadensminderung und adäquater Repression.

13. Juli 2017Susanne Brügger zurück