Soziale Gerechtigkeit, Standortwettbewerb und Staatsfinanzierung.
Die Steuerpolitiken der Schweiz im 20. Jahrhundert
Denkwürdige 94 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten sagten vor 100 Jahren – am 6. Juni 1915 – Ja zur "einmaligen Kriegssteuer". Zum ersten Mal erhob der Bundesstaat eine direkte Steuer, die mit ihrem Schwerpunkt auf dem Vermögen und ihrer progressiven Ausgestaltung vielen als gerecht galt. Doch was als temporärer Beitrag an die Finanzierung der Kriegslasten gedacht war, verstetigte sich durch die Krise der 1930er Jahre und im nächsten Weltkrieg bald. Nach 1945 rangen die politischen Lager darum, ob und wie der Bund die "siamesischen Zwillinge – die von bürgerlich-föderalistischen und Wirtschaftskreisen unerwünschte direkte Bundessteuer und die von linker, kleingewerblicher und KonsumentInnen-Seite verachtete Warenumsatz-steuer – weiterhin erheben sollte. Sie einigten sich 1958 auf den noch heute existierenden föderalistisch-fiskalischen und sozialpolitischen Kompromiss: Die direkte Bundessteuer ergänzt kantonale und gemeindliche Steuern und erfasst mit ihrer stärkeren Progression vor allem die Besserverdienenden. Und die allgemeine Umsatzsteuer – ab 1995 als Mehrwertsteuer – soll nicht zuletzt auch wachsende Wohlfahrts- und Infrastrukturleistungen mitfinanzieren. Seither gleicht die schweizerische Steuerpolitik einem Seiltanz zwischen kantonalem Steuerwettbewerb, dem Wunsch nach Ausgleich, dem Ringen um steuerliche Gerechtigkeit und der Frage, ob und wie Steuern Wohlstand umverteilen (sollen). Das Referat analysiert diesen spannungs- und aufschlussreichen Konnex auch im internationalen Kontext und beleuchtet entscheidende Akzentverschiebungen.
Mittwoch, 27. Mai 2015, 18.45 Uhr,
im Anschluss an die Jahresversammlung des Vereins Schweizerisches Sozialarchiv im Theater Stadelhofen
Die Historikerin Gisela Hürlimann arbeitet und lehrt an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich und am Institut für Geschichte der ETH Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Finanzsoziologie, die wirtschaftliche und technische Entwicklung, Bahn- und Verkehrspolitik, Migration sowie Anstalts- und Fürsorgegeschichte.